© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 040/16 Inhaftierung von minderjährigen Flüchtlingen zum Zwecke der Abschiebung (Abschiebungshaft) Sachstand Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 040/16 Seite 2 Inhaftierung von minderjährigen Flüchtlingen zum Zwecke der Abschiebung (Abschiebungshaft) Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 040/16 Abschluss der Arbeit: 17. Februar 2016 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 040/16 Seite 3 1. Welche Bedingungen zur Inhaftierung von minderjährigen Flüchtlingen und welche Alternativen hierzu gibt es in Deutschland? Gibt es eine Maximaldauer der Haft und welche Behörde entscheidet über eine Inhaftierung? (In your country, what are the national provisions regulating immigration detention and alternatives to detention for children? (Please specify if there is a maximum length of detention and which authority issues the decision for detention.)) Ausländer, die über kein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland verfügen, sind verpflichtet, das Land zu verlassen. Die Aufenthaltsbeendigung kann auch mit Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden. Zwangsmaßnahmen können beispielsweise Ausreiseaufforderungen, Abschiebungsandrohungen , Abschiebungen mit und ohne vorherige Inhaftierung sein. Dabei stellt die Inhaftierung zur Abschiebung lediglich eine Präventivmaßnahme zur Sicherstellung der Aufenthaltsbeendigung dar. Regelungen zur Abschiebungshaft bestimmen sich nach §§ 62, 62a Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Bei dem AufenthG handelt es sich zwar um ein Bundesgesetz. Für die Beantragung und den Vollzug der Abschiebungshaft sind jedoch grundsätzlich die Länder zuständig. Diese können auch weitergehende Verwaltungsvorschriften erlassen, sodass die Regelungen zur Abschiebungshaft in den einzelnen Bundesländern variieren können. Für die Festnahme und Beantragung der Inhaftierung zuständig sind die Ausländerbehörden (§ 71 Abs. 1 AufenthG), die Polizeien der Länder (§ 71 Abs. 5 AufenthG) und die mit der Grenzkontrolle beauftragte Bundespolizei (§ 71 Abs. 3 Nummer 1e AufenthG in Verbindung mit § 2 Abs. 2 Nr. 2 Bundespolizeigesetz). Die Anordnung der Abschiebungshaft ist nach § 62 Abs. 1 AufenthG nur zulässig, wenn der Zweck der Haft durch ein milderes, ebenfalls ausreichendes anderes Mittel nicht erreicht werden kann. Die Inhaftierung ist auf die kürzest mögliche Dauer zu beschränken. Minderjährige und Familien mit Minderjährigen dürfen nur in besonderen Ausnahmefällen und nur so lange in Abschiebungshaft genommen werden, wie es unter Berücksichtigung des Kindeswohls angemessen ist. Ferner sollen nach Ziffer 62.0.5 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum AufenthG Minderjährige, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, grundsätzlich nicht in Abschiebungshaft genommen werden. Minderjährige Ausländer, deren Asylantrag abgelehnt wurde, sollen bis zur Abschiebung regelmäßig in der bisherigen Unterkunft untergebracht werden. Die Jugendämter sind gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII zur Inobhutnahme ausländischer unbegleiteter Kinder und Jugendlicher verpflichtet. Im Falle einer Inhaftierung hat die Ausländerbehörde mit dem zuständigen Jugendamt wegen der Unterbringung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge bis zur Abschiebung Kontakt aufzunehmen. Mögliche mildere Alternativen zur Abschiebungshaft sind die Verhängung von Meldeauflagen (§ 46 Abs. 1 AufenthG) oder von aufenthaltsräumlichen Bestimmungen (§ 61 Abs. 1, 1a, 2 AufenthG), die Abgabe des Passes bzw. der Reisedokumente (§ 50 Abs. 5 AufenthG), die Einrichtung eines Sperrkontos (§ 46 Abs. 1 AufenthG), die Übergabe von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in die Obhut des Jugendamtes (§ 62 Abs. 1 S. 3 AufenthG) oder die verpflichtende Rückkehrberatung (§ 46 Abs. 1 AufenthG). Eine Maximaldauer der Abschiebungshaft ist für Minderjährige nicht definiert. Gemäß dem Wortlaut von § 17 Abs. 1 RL 2008/115/EG wird bei unbegleiteten Minderjährigen und Familien mit minderjährigen Kindern Abschiebungshaft nur im äußersten Falle und für die kürzest mögliche angemessene Dauer eingesetzt. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 040/16 Seite 4 2. Können sie aktuelle statistischen Daten zur Inhaftierung von minderjährigen Flüchtlingen zur Verfügung stellen? Die Daten sollen Aufschlüsse hinsichtlich des Alters, des Geschlechts und des Einwanderungsstatus enthalten. (Could you provide the most recent statistical data on how many migrant children are being detained and on what basis? (Please answer the question so as to allow disaggregating data based on age, gender and immigration status.)) Die Bundesregierung hat im Rahmen einer Großen Anfrage der Opposition Stellung zur Praxis der Abschiebungshaft und zu Fragen zum Haftvollzug genommen. Die Antworten der für die Abschiebungshaft im Regelfall zuständigen Bundesländer finden sich auf den Seiten 10 - 17 der beigefügten Bundestagsdrucksache 18/7196 vom 6. Januar 2016. Anlage 3. Was wird staatlicherseits geleistet, um die Einheit der Familien zu schützen und im Falle einer Inhaftierung eine Trennung der Familien zu verhindern? (What are the measures taken by your legislation, policy or other resource to safeguard family unity and to prevent family separation in case of decisions related to detention?) Familien mit Minderjährigen dürfen gemäß § 62 Abs. 1 S. 3 AufenthG nur in besonderen Ausnahmefällen und nur so lange in Abschiebungshaft genommen werden, wie es unter Berücksichtigung des Kindeswohls angemessen ist. Nach Ziffer 62.0.5 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum AufenthG soll bei Familien mit minderjährigen Kindern in der Regel Abschiebungshaft für nur einen Elternteil beantragt werden. Gemäß dem Wortlaut von § 17 Abs. 1 RL 2008/115/EG wird Abschiebungshaft nur im äußersten Falle und für die kürzest mögliche angemessene Dauer eingesetzt. 4. Welche Systeme zur Unterstützung inhaftierter Kinder gibt es in Deutschland? Geben Sie an, ob es verpflichtende, gesetzliche Hilfe, unentgeltliche Dolmetscherdienste, unabhängige Fallmanagementdienste sowie einen Zugang von Sozialarbeitern zu Abschiebungshaftanstalten gibt. (What support systems are in place in your country? (Specify if there is e.g. mandatory free legal assistance, free interpretation for all children, independent case management services and if social workers have access to immigration detention.)) Gemäß § 62a Abs. 2, 4, 5 AufenthG wird Abschiebungsgefangenen gestattet, mit Rechtsvertretern, Familienangehörigen, den zuständigen Konsularbehörden und einschlägig tätigen Hilfs- und Unterstützungsorganisationen Kontakt aufzunehmen. Mitarbeitern von einschlägig tätigen Hilfsund Unterstützungsorganisationen soll auf Antrag gestattet werden, Abschiebungsgefangene zu besuchen. Eine Inhaftierung ist nur auf richterliche Anordnung zulässig. Vor Gericht hat gemäß Art. 103 Abs. 1 GG jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. Beherrschen Verfahrensbeteiligte nicht die deutsche Sprache, besteht ein Anspruch auf unentgeltlichen Beistand durch einen Dolmetscher. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 040/16 Seite 5 Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII von den Jugendämtern in Obhut zu nehmen. Im Falle einer Inhaftierung hat die Ausländerbehörde im Hinblick auf eine angemessene Berücksichtigung des Kindeswohls mit dem zuständigen Jugendamt Kontakt aufzunehmen (§ 62 Abs. 1 Satz 3 AufenthG). Ferner ist gemäß § 1773 Bürgerliches Gesetzbuch für einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling ein Vormund zu bestellen. Der Vormund fungiert als gesetzlicher Vertreter des unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings. Die Vertretung gilt somit auch bei allen asyl- und ausländerrechtlichen Fragen während des Asyl- oder anderer aufenthaltsbezogener Verfahren. 5. Haben minderjährige Flüchtlinge einen diskriminierungsfreien Zugang zu nationalen Dienstleistungen wie Gesundheit, Bildung und des Jugendschutzes? Führen Sie Beispiele an. (Do migrant children have non-discriminatory access to national services, including health, education and social protection/child protection systems in your country? Please support with examples.) Bei Gewährung von Sozialleistungen gelten für minderjährige Flüchtlinge, die in Begleitung eines für sie verantwortlichen Erwachsenen eingereist sind, grundsätzlich die gleichen Regeln wie für Volljährige. Leistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylblG) umfassen die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften, die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Bekleidung sowie Dingen des persönlichen Bedarfs. Leistungen zur medizinischen Versorgung werden nach § 4 AsylblG nur bei akutem Behandlungsbedarf und Schmerzzuständen gewährt. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind vom Jugendamt in Obhut zu nehmen. Sie erhalten im Falle eines festgestellten Bedarfs zusätzlich Maßnahmen der Jugendhilfe nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) VIII. Dieses sind insbesondere die Vollzeitpflege gemäß § 33 SGB VIII, die in der Regel eine Unterbringung jüngerer Flüchtlingskinder bei Pflegefamilien bedeutet, und die Heimerziehung gemäß § 34 SGB VIII, die alle gängigen Formen von Heimen, Jugendwohngemeinschaften, Wohnheimen und betreutes Einzelwohnen umfasst. Ferner haben unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Regel uneingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung. In Deutschland existiert für Minderjährige grundsätzlich eine allgemeine Pflicht, die Schule zu besuchen. Allerdings liegt die Zuständigkeit für die Bildung bei den Bundesländern, sodass Rechte und Pflichten zum Schulbesuch von minderjährigen Flüchtlingen zwischen den einzelnen Bundesländern variieren können. Prinzipiell haben allerdings minderjährige Flüchtlinge, unabhängig davon ob sie in Begleitung eines für sie verantwortlichen Erwachsenen eingereist sind oder nicht, das Recht auf den Besuch einer Schule beziehungsweise unterliegen der Schulpflicht. Darüber hinaus haben unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die Leistungen der Jugendhilfe nach SGB VIII erhalten, gemäß § 13 SGB VIII einen Rechtsanspruch darauf, durch die Jugendhilfe bei der schulischen und auch beruflichen Ausbildung unterstützt zu werden. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 040/16 Seite 6 6. Welche Prüfungs- und Bewertungsverfahren werden in Deutschland angewandt? (What Screening & Assessment procedures are in place in your country?) 6.1. Wie funktioniert die Altersfeststellung von minderjährigen Flüchtlingen und erhalten sie den Status von Kindern, bis das Gegenteil bewiesen wurde? What is the system for age determination of (undocumented) children – and is there an assumption of child status until proven (burden of proof on the state) otherwise? Gemäß § 49 Abs. 2 AufenthG ist jeder Ausländer verpflichtet, auf Verlangen die erforderlichen Angaben zu seinem Alter, seiner Identität und Staatsangehörigkeit zu machen. Bestehen Zweifel unter anderem hinsichtlich des angegebenen Lebensalters, haben Behörden gemäß § 49 Abs. 3 AufenthG die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um das Alter zu bestimmen. Nach § 49 Abs. 6 sind zum Zweck der Feststellung des Alters auch Untersuchungen durch einen Arzt möglich, sofern das 14. Lebensjahr des Flüchtlings vollendet ist. Zweifel, ob das 14. Lebensjahr vollendet ist, gehen dabei zu Lasten des Ausländers. Das Alter ist schließlich entscheidend für die Frage, ob für den Flüchtling Schutzbestimmungen für Minderjährige nach dem SGB VIII zur Anwendung kommen oder nicht. Gemäß § 42f SGB VIII hat das Jugendamt im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme eines Flüchtlings gemäß § 42a SGB VIII deren Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in deren Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen und festzustellen. In Zweifelsfällen kann eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung veranlasst werden. Die angewendeten Methoden zur Altersbestimmung sind unterschiedlich und reichen von einer reinen Altersschätzung über eine körperliche Untersuchung bis zu radiologischen Untersuchungen der Handwurzel, des Gebisses oder des Schlüsselbeins. Die Durchführung der Altersbestimmungen obliegt den Bundesländern, sodass der Einsatz der angewendeten Methoden zwischen den Bundesländern variieren kann. Flüchtlinge werden bis zur abschließenden Klärung ihres Alters als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge behandelt, sodass die Schutzbestimmungen für Minderjährige gemäß dem SGB VIII zur Anwendung kommen. 6.2. Gibt es für den Fall einer regelwidrigen Einreise bzw. Anwesenheit mit Hilfe Krimineller, ein System zur Identifizierung der unterschiedlichen Kategorien der Einreise von Minderjährigen ? (Asylsuchende, Opfer von Menschenhandel). If your legislation criminalizes irregular entry and/or presence and/or residence is there a screening system to identify the specific categories of children entering and/or residing illegally (potential asylum seekers, victims of human trafficking)? Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat eine Vielzahl von Maßnahmen zur Identifizierung und zum Schutz von Opfern von Menschenhandel durchgeführt. Als Menschenhandel definiert das Strafgesetzbuch (StGB) Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung (§ 232 StGB) und zur Arbeitsausbeutung wie Sklaverei, Leibeigenschaft, Schuldknechtschaft oder Beschäftigung in misslichen Arbeitsbedingungen (§ 233 StGB). Um Opfer von Menschenhandel zu identifizieren und zu schützen hat das BAMF Handlungsanweisungen und Indikatorenlisten für Asylentscheider erstellt. In Anhörungen im Rahmen des Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 040/16 Seite 7 Asylverfahrens können die Schilderungen der Antragsteller durch die Asylentscheider überprüft werden. Neben Indikatorenlisten, die sich allgemein auf die Anwerbung, die Ausbeutung und den Zwang beziehen, wurden beispielsweise auch herkunftslandspezifische Indikatoren entwickelt. Außerdem wurden Sonderbeauftragte für Opfer von Menschenhandel in allen Außenstellen des BAMF eingesetzt und zahlreiche interdisziplinäre Schulungen durchgeführt. Polizei und Fachberatungsstellen werden in Verdachtsfällen frühzeitig eingebunden, um eine adäquate Betreuung der Betroffenen zu garantieren und Strafverfahren gegen die Täter eröffnen zu können. Sozialarbeiter von Fachberatungsstellen betreuen Opfer von Menschenhandel auch in Aufnahmeeinrichtungen und Haftanstalten. Ende der Bearbeitung