© 2021 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 037/21 Zum Begriff des sicheren Herkunftsstaates und zu Abschiebungen in den Irak Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 037/21 Seite 2 Zum Begriff des sicheren Herkunftsstaates und zu Abschiebungen in den Irak Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 037/21 Abschluss der Arbeit: 18. Februar 2021 (auch letzter Abruf der Internetquellen) Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 037/21 Seite 3 1. Fragestellung Der Sachstand erläutert den Begriff des sicheren Herkunftsstaats und befasst sich mit der Frage, ob der Irak in Deutschland, anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union oder durch internationale Organisationen als sicherer Herkunftsstaat eingestuft ist. Des Weiteren werden Statistiken zu Abschiebungen in den Irak sowie zu Abschiebungsverboten und gescheiterten Abschiebungen in Bezug auf irakische Staatsangehörige aufgeführt. 2. Sicherer Herkunftsstaat Nach Art. 16a Abs. 3 S. 1 Grundgesetz (GG) können Staaten bestimmt werden, bei denen aufgrund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet (sichere Herkunftsstaaten). Die Bestimmung von Staaten als sichere Herkunftsstaaten erfolgt nach Art. 16a Abs. 3 S. 1 GG durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf. § 29a Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) regelt, dass der Asylantrag eines Ausländers aus einem Staat im Sinne des Art. 16a Abs. 3 S. 1 GG als offensichtlich unbegründet abzulehnen ist, es sei denn, die von dem Ausländer angegebenen Tatsachen oder Beweismittel begründen die Annahme, dass ihm abweichend von der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG droht. Nach allgemeiner Ansicht in Literatur und Praxis erstreckt sich die widerlegbare Vermutungswirkung des § 29a AsylG nicht nur auf das Verfahren über die Gewährung von Asyl nach Art. 16a GG, sondern auf das Asylverfahren insgesamt und damit auch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.1 § 29a Abs. 2 AsylG bestimmt in Verbindung mit der Anlage II, welche konkreten Herkunftsstaaten als sicher eingestuft sind. Der Irak ist nicht als sicherer Herkunftsstaat bestimmt. Bei den sicheren Herkunftsstaaten handelt es sich aktuell um die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Albanien, Bosnien und Herzegowina, Ghana, Kosovo, Mazedonien (ehemalige jugoslawische Republik), Montenegro, Senegal und Serbien. Der sichere Herkunftsstaat ist zudem auch ein Begriff aus dem Unionsrecht. Gemäß Art. 37 der Asylverfahrensrichtlinie2 können die Mitgliedstaaten Rechts- oder Verwaltungsvorschriften zum Zwecke der Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz beibehalten oder erlassen, auf deren Grundlage sie im Einklang mit Anhang I der Verfahrensrichtlinie sichere Herkunftsstaaten bestimmen . Soweit ersichtlich, ist der Irak in keinem Mitgliedstaat als sicherer Herkunftsstaat eingestuft.3 1 Vgl. Heusch, in: Kluth/Heusch (Hrsg.), BeckOK Ausländerrecht, 28. Edition 1.1.2021, § 29a AsylG Rn. 34. 2 Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 60). 3 Die jeweiligen Listen der Mitgliedstaaten sind in englischer Sprache zu finden auf https://asylumineurope.org/ unter folgendem Pfad: Countries, Country Reports, Asylum Procedure, The safe country concepts, Safe country of origin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 037/21 Seite 4 Deutsche oder internationale Organisationen, die den Irak als sicheren Herkunftsstaat beurteilen, sind nicht bekannt.4 3. Regelung des § 3e AsylG Die Regelungen des Art. 16a Abs. 3 S. 1 GG und des § 29a AsylG beziehen sich auf Staaten. Eine Beurteilung einzelner Landesteile erfolgt in diesem Rahmen daher nicht. Eine Regelung, die auf Landesteile Bezug nimmt, findet sich in § 3e Asylgesetz. Danach wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er zum Zeitpunkt der Entscheidung der Behörde in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder aber Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat. Voraussetzung ist, dass der Ausländer sicher und legal in diesen Landesteil einreisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (sog. innerstaatliche Fluchtalternative). Die Sicherheitslage ist anhand einer individualbezogenen Betrachtungsweise zu überprüfen, wobei sowohl die allgemeinen Gegebenheiten als auch die persönlichen Umstände des Asylsuchenden zu berücksichtigen sind.5 Zur Beurteilung der tatsächlichen Gegebenheiten sind die Behörden gemäß § 3e Abs. 2 AsylG verpflichtet, aktuelle Informationen aus relevanten Quellen einzuholen, beispielsweise Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen. Aufgrund der Tatsache, dass die individuelle Situation der betroffenen Person berücksichtigt werden muss, kann eine generelle Einstufung von Landesteilen als sicher nicht erfolgen. Die jeweiligen behördlichen Entscheidungen gelten nur für den Einzelfall. 4. Abschiebungen in den Irak Die folgende Tabelle enthält Zahlen zu den Abschiebungen in den Zielstaat Irak seit 2007. Die Daten beruhen auf den Antworten der Bundesregierung auf Kleine Anfragen.6 Zahlen für die Jahre 2000 bis 2006 konnten in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht gewonnen werden. Eine Aufschlüsselung nach einzelnen Landesteilen existiert – soweit ersichtlich – nicht. Ebenso sind keine statistischen Daten zum weiteren Aufenthalt bzw. den weiteren Lebensumständen der abgeschobenen Personen verfügbar. Jahr Abschiebungen 2007 17 2008 33 2009 33 2010 31 2011 16 4 Aktuelle Informationen zur Sicherheitslage im Irak und in den einzelnen irakischen Provinzen liefert etwa der Bericht des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) vom Oktober 2020, abrufbar unter https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/10_2020_EASO_COI_Report_Iraq_Security_situation_DE.pdf. 5 Kluth, in: Kluth/Heusch (Hrsg.), BeckOK Ausländerrecht, 28. Edition Stand 1.1.2021, § 3e AsylG Rn. 7. 6 Siehe beispielsweise für das erste Halbjahr 2020 BT-Drs. 19/21406, S. 4. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 037/21 Seite 5 Jahr Abschiebungen 2012 23 2013 21 2014 8 2015 6 2016 10 2017 14 2018 35 2019 30 2020 (erstes Halbjahr) 1 5. Duldungen, Abschiebungsverbote und gescheiterte Abschiebungen 5.1. Duldungen nach § 60a Abs. 2 S. 1 und 3 Aufenthaltsgesetz Nach § 60a Abs. 2 S. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen , solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird (sog. Duldung). Einem Ausländer kann nach § 60a Abs. 2 S. 3 AufenthG zudem eine Duldung erteilt werden, wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern. Statistiken über die jährlich erteilten Duldungen nach § 60a Abs. 2 S. 1 und 3 AufenthG liegen – soweit ersichtlich – auf Bundesebene nicht vor. 5.2. Abschiebungsverbote bei irakischen Staatsangehörigen Asylbewerber, deren Asylanträge abgelehnt wurden, dürfen nicht abgeschoben werden, wenn ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG besteht. Dies ist der Fall, wenn die Abschiebung nach der Europäischen Menschenrechtskonvention7 unzulässig ist oder wenn für den Ausländer im Zielstaat eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die folgende Tabelle enthält Zahlen zu behördlich festgestellten Abschiebungsverboten bei irakischen Staatsangehörigen. Die Daten beruhen auf Berichten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF).8 Ob sich die Entscheidung der Behörden auf den Zielstaat Irak bezog, lässt sich nicht feststellen. Statistiken für die Jahre 2000 bis 2010 konnten nicht eruiert werden. Die Statistiken geben zudem keine Hinweise auf die konkreten Gründe für die Abschiebungsverbote. 7 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685). 8 Relevant sind insbesondere die Publikationen „Das BAMF in Zahlen“, „Aktuelle Zahlen“ und „Asylgeschäftsstatistik “, abrufbar unter https://www.bamf.de/DE/Themen/Statistik/Asylzahlen/asylzahlen-node.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 037/21 Seite 6 Jahr Behördlich festgestellte Abschiebungsverbote 2011 97 2012 123 2013 159 2014 69 2015 81 2016 439 2017 1.637 2018 1.330 2019 841 2020 754 5.3. Gescheiterte Abschiebungen bei irakischen Staatsangehörigen Die folgende Tabelle enthält Zahlen zu Fällen, in denen die Abschiebung während der Durchführung gescheitert ist sowie zu den Gründen für das Scheitern. Die Daten beruhen auf den Antworten der Bundesregierung auf Kleine Anfragen.9 Sie beziehen sich auf irakische Staatsangehörige. Ob die Abschiebungen in den Zielstaat Irak erfolgen sollten, ist nicht ersichtlich. Statistiken für die Jahre 2000 bis 2009 konnten nicht eruiert werden. Jahr Widerstandshandlungen Medizinische Gründe Versuchte Selbstverletzung bzw. Versuchter Suizid Verweigerung der Übernahme durch die Bundespolizei 2010 4 7 nicht angefragt nicht angefragt 2011 0 2 nicht angefragt nicht angefragt 2012 3 2 nicht angefragt nicht angefragt 2013 0 0 nicht angefragt nicht angefragt 2014 3 4 nicht angefragt nicht angefragt 2015 6 2 nicht angefragt nicht angefragt 2016 21 4 nicht angefragt nicht angefragt 2017 14 5 nicht angefragt nicht angefragt 2018 68 4 nicht angefragt nicht angefragt 2019 106 6 1 26 2020 (erstes Halbjahr) 9 3 3 3 *** 9 Siehe beispielsweise für das erste Halbjahr 2020 BT-Drs. 19/21406, S. 23 ff.