© 2021 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 035/21 Verfassungsrechtliche Grenzen einer An- oder Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung im Rahmen der Einführung einer Bürgerversicherung Aktualisierung der Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 429/10 Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. 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Kompetenzrechtliche Vorgaben des Grundgesetzes 5 3.1. Verfassungsrechtlicher Begriff der Sozialversicherung 5 3.2. Verletzung des Äquivalenzprinzips? 6 3.3. Vereinbarkeit mit der Finanzverfassung des GG? 8 4. Grundrechte der Versicherungspflichtigen 10 4.1. Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG 10 4.2. Art. 2 Abs. 1 GG 11 4.3. Art. 3 Abs. 1 GG 12 5. Grundrechte der privaten Versicherungsunternehmen 14 6. Zusammenfassung 15 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 035/21 Seite 4 1. Einleitung Seit längerer Zeit gibt es Überlegungen, das bestehende Sozialversicherungssystem umzugestalten, um Gerechtigkeitslücken in der Krankenversicherung zu beheben. Hierfür sollen gesetzliche und private Krankenversicherungen zu einer sogenannten Bürgerversicherung weiterentwickelt werden . Forderungen nach einer Bürgerversicherung gibt es unter anderem von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,1 der SPD2 und der LINKEN.3 Ein Kernelement aller Modelle ist die Erweiterung des Versichertenkreises durch Einbeziehung aller Bevölkerungsgruppen. Des Weiteren soll die Beitragsbemessungsgrundlage durch Einbeziehung weiterer Einkunftsarten (z.B. Kapitaleinkünfte, hohe Zinserträge, Dividenden) ausgeweitet werden. Unterschiedliche Konzepte gibt es zur Beitragsbemessungsgrenze . Hier reichen die Vorschläge von der Beibehaltung über eine Erhöhung bis zu ihrer vollständigen Abschaffung.4 Gegenstand der vorliegenden Ausarbeitung sind verfassungsrechtliche Fragen zur Erhöhung bzw. Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze im Rahmen der Einführung einer Bürgerversicherung. Nicht geprüft wird die – nach wie vor sehr umstrittene – Verfassungsmäßigkeit der Einführung einer Bürgerversicherung im Allgemeinen sowie die Einbeziehung aller Einkommen der Versicherten (Erweiterung der Beitragsbemessungsgrenze).5 Zur Umgestaltung des Sozialversicherungssystems sind bis hin zur Einführung einer Bürgerversicherung sehr unterschiedliche Varianten denkbar. Je nach gewählter Gestaltungsoption sind die Auswirkungen auf die beteiligten Grundrechtsträger – insbesondere die Pflichtversicherten und die privaten Krankenversicherungsträger – aber von unterschiedlichem Gewicht. Das macht konkrete Aussagen zum verfassungsrechtlichen Spielraum 1 Vgl. Positionen der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Bürgerversicherung unter https://www.gruene-bundestag.de/themen/gesundheit/die-gruene-buergerversicherung-fuer-gesundheit / https://www.gruene-bundestag.de/fileadmin/media/gruenebundestag_de/publikationen/broschueren _und_flyer/flyer_buergerversicherung.pdf. 2 Vgl. für die SPD beispielsweise Hilde Mattheis, Der Weg in die Bürgerversicherung – pragmatisch und praxistauglich , spw 1/2017, S. 17 f. sowie Friedrich-Ebert-Stiftung, Der Weg zur Bürgerversicherung. Solidarität stärken und Parität durchsetzen, WISO DISKURS 24/2016, https://library.fes.de/pdf-files/wiso/12990-20161214.pdf. 3 Vgl. Anträge der Bundestagsfraktion DIE LINKE „Ein System für alle – Privatversicherte in gesetzliche Krankenversicherung überführen“ BT-Drs. 19/9229 vom 9.4.2019, https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/092/1909229.pdf sowie „Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung abschaffen und dadurch den Beitragssatz senken“ BT-Drs. 19/23934 vom 3.11.2020, https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/239/1923934.pdf. Ebenso Wahlprogrammentwurf „Zeit zu handeln: Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit!“, https://www.die-linke.de/fileadmin/download/wahlen2021/BTWP21_Entwurf_Vorsitzende.pdf (S. 32 f.). 4 Eine synoptische Übersicht zu den einzelnen Konzepten einer Bürgerversicherung enthält der Aufsatz von Lambertin /Spiller, Projekt Bürgerversicherung Gesundheit: Stand und Perspektiven, Soziale Sicherheit 6/2018, 221 (226 f.). 5 Siehe verfassungsrechtliche Prüfungen in: Bieback, Sozial- und verfassungsrechtliche Aspekte der Bürgerversicherung , Schriften der Hans-Böckler-Stiftung, Bd. 61, 2. Auflage 2014; Brandt, Bürgerversicherung: europa- und verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen, Berliner Wiss.-Verl., 2014; Depenheuer, „Bürgerversicherung“ und Grundgesetz - Auf dem Weg zu einer Totalisierung des sozialen Sicherheitsdenkens, NZS 2014, 201; Fisahn, Eine Bürgerversicherung ist rechtens - Eine Untersuchung zu den verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Problemen bei der Einführung einer Bürgerversicherung in Deutschland, HSI-Working Paper Nr. 02/2013. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 035/21 Seite 5 des Gesetzgebers schwierig. Gegenstand der folgenden Überlegungen kann deshalb nur eine Zusammenstellung des Meinungsstands in der Literatur und Rechtsprechung sein. 2. Die Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung Die Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung ist in § 223 Abs. 3 SGB V und § 55 Abs. 2 SGB XI definiert. Sie bildet die Grenze, bis zu der beitragspflichtige Einnahmen der Versicherten zu berücksichtigen sind. Gehälter, die diesen Betrag übersteigen, bleiben für die Beitragsberechnung unberücksichtigt. Die Beitragsbemessungsgrenze unterscheidet sich von der Jahresarbeitsentgeltgrenze (Versicherungspflichtgrenze), die das jährliche Bruttoeinkommen eines Arbeitnehmers bestimmt, bis zu dem eine Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung besteht. Die Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung beträgt im Jahr 2021 58.050 Euro (monatlich 4.837,50 Euro), die Versicherungspflichtgrenze liegt im Jahr 2021 bei 64.350 Euro (monatlich 5.362,50 Euro).6 Wird die Beitragsbemessungsgrenze erhöht , erhöht sich auch der Beitrag des Versicherten zur gesetzlichen Krankenversicherung. Wird die Beitragsbemessungsgrenze gänzlich aufgehoben, gibt es keine „Deckelung“ nach oben und der Beitrag würde sich prozentual aus dem gesamten Einkommen berechnen. Die Belastung würde insbesondere bei Spitzenverdienern erheblich zunehmen. Im Gegensatz zu der von solidarischen Elementen bestimmten gesetzlichen Krankenkasse bestimmt sich der Beitrag in der privaten Krankenversicherung nicht nach dem jährlichen Bruttoeinkommen, sondern nach dem individuellen Gesundheitsrisiko des Versicherten. 3. Kompetenzrechtliche Vorgaben des Grundgesetzes Das gegenwärtige Recht der gesetzlichen Krankenversicherung stützt sich auf die Kompetenzzuweisung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Grundgesetz (GG). Danach steht dem Bund auf dem Gebiet der Sozialversicherung die konkurrierende Gesetzgebung zu. 3.1. Verfassungsrechtlicher Begriff der Sozialversicherung Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) versteht den Begriff „Sozialversicherung“ als weit gefassten Gattungsbegriff, der dem Wandel sozialer Verhältnisse angepasst werden könne. 7 In ständiger Rechtsprechung hat das BVerfG klargestellt, dass sich dem Grundgesetz keine Garantie des bestehenden Sozialversicherungssystems entnehmen lässt.8 Der Gesetzgeber könne einen Krankenversicherungsschutz auf eine andere Weise gewährleisten und diesen auch auf andere Weise als bisher finanzieren. Neue Lebenssachverhalte können demnach in das Gesamtsystem „Sozialversi- 6 https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/beitragsbemessungsgrenzen-2021-1796480#:~:text=Die%20Beitragsbemessungsgrenze %20in%20der%20gesetzlichen%20Krankenversicherung %20liegt%202021%20bei%2058.050,monatlich%205.362%2C50%20Euro. 7 BVerfGE 75, 108 (146). 8 BVerfG, Beschluss vom 18.7.2005 - 2 BvF 2/01 - Rn. 136. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 035/21 Seite 6 cherung“ einbezogen werden, wenn die neuen Sozialleistungen in ihren wesentlichen Strukturelementen dem Bild entsprechen, das durch die klassische Sozialversicherung geprägt ist.9 Damit sind gewisse Mindestanforderungen an die organisatorische Durchführung der sozialen Sicherung und an die abzudeckenden Risiken zu beachten. Prägende Elemente der Sozialversicherung sind jedenfalls „die gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit“10, die Aufbringung der Mittel durch Beiträge11 – und damit die Verknüpfung von Beiträgen und Leistungen bei grundsätzlicher Beitragsäquivalenz12 – und die Durchführung durch selbständige juristische Personen des öffentlichen Rechts.13 In Abgrenzung zur privaten Krankenversicherung ist die gesetzliche Krankenversicherung durch ein Moment des sozialen Ausgleichs geprägt.14 3.2. Verletzung des Äquivalenzprinzips? Den kompetenzrechtlichen Begriff der Sozialversicherung zeichnen unter anderem das Versicherungs - und das Solidarprinzip aus. In der gesetzlichen Krankenversicherung wird aus dem Beitragsaufkommen der Beteiligten ein umfassender und unbegrenzter Versicherungsschutz ab dem ersten Tag der Mitgliedschaft finanziert. Damit wird das Versicherungsprinzip verwirklicht. Deutlichstes Merkmal zur Umsetzung dieses Prinzips in der gesetzlichen Krankenversicherung ist die Beitragsbemessungsgrenze. Diese zieht eine Höchstgrenze für die Belastung des Einkommens mit Versicherungsbeiträgen. Das Solidarprinzip begrenzt das Versicherungsprinzip. Der Gesetzgeber ist aus dem Bekenntnis zum Sozialstaat (Art. 20 Abs. 1 GG) gehalten, einen sozialen Ausgleich zwischen Begünstigten und weniger Begünstigten durchzuführen.15 Neben dem Solidarprinzip steht das Äquivalenzprinzip, wonach sich der Versicherungsbeitrag nach dem Gegenwert der Leistung zu bemessen hat.16 Je höher die Beitragsbemessungsgrenze und hierdurch der einzelne Versicherungsbeitrag steigt, desto weniger kann man von einer Individualäquivalenz sprechen, da die Leistungen der Krankenversicherungen nicht mit ansteigen. 9 BVerfGE 11, 105 (112); Broemel, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 7. Auflage 2021, Art. 74, Rn. 52. 10 BVerfGE 75, 108 (146). 11 BVerfGE 75, 108 (146 f.). 12 Degenhart, in: Sachs, GG Kommentar, 8. Auflage 2018, Art. 74, Rn. 57. 13 BVerfGE 75, 108 (146). 14 BVerfGE 17, 1 (9). 15 Huster/Rux, in: BeckOK Grundgesetz, 46. Edition 2021, Art. 20, Rn. 208; Burkhardt, Einer für alle, alle für einen – Das Solidarprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung, bpb vom 16.12.2013, https://www.bpb.de/politik /innenpolitik/gesundheitspolitik/72358/solidarprinzip?p=all. 16 Sodan, in: Sodan, Handbuch des Krankenversicherungsrechts, 3. Auflage 2018, § 1, Rn. 25 ff.; Heun, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2013, Art. 3, Rn. 83. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 035/21 Seite 7 Einige Autoren sehen hierin einen Verstoß gegen die kompetenzrechtlichen Vorgaben des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Unter Berufung auf das klassische Bild der Sozialversicherung lehnen sie eine Erhöhung oder Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze ohne entsprechende Leistungsverbesserungen ab, da sie gegen den Grundsatz der Beitrags- und Leistungsäquivalenz verstoße.17 Es müsse beim Äquivalenzprinzip der Versicherung bleiben, und sei es auch in einer gewissen Erweiterung der Globaläquivalenz für den beitragszahlenden und Leistungen empfangenden Personenkreis.18 Die Leistung müsse dem Interesse der Versicherten entsprechen, für dessen Befriedigung sie Beiträge entrichten.19 Dies sei nicht der Fall, wenn hohen Beiträgen keine auch nur annähernd adäquaten Versicherungsleistungen gegenüberstünden.20 Die Beitragsbemessungsgrenze sei als Gegenleistung für eine bestimmte Leistung konstitutiv für die Sozialversicherung und daher nicht verzichtbar.21 Nach anderer Auffassung verbietet der kompetenzrechtliche Sozialversicherungsbegriff die Erhöhung oder Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze nicht. Eine individuelle Äquivalenz zwischen Beitrag und Leistung sei nicht notwendiges Merkmal des Sozialversicherungsbegriffs.22 Zur Definition der „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG genüge eine beitragsfinanzierte Versicherung gegen Risiken im Wege des sozialen Ausgleichs.23 Die Beitragsäquivalenz entspräche im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung nicht der tatsächlichen Funktionsweise der Sozialversicherung und könne daher schwerlich typusprägend sein.24 Im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung sei lediglich für das Krankengeld ein enger Zusammenhang zwischen Beitragszahlung und Leistungsgewährung vorgesehen, nicht aber für Sachleistungen, die knapp 95 % der Ausgaben ausmachen würden.25 Es stehe weniger der Gedanke der Individualäquivalenz im Sinne eines risikoadäquaten Beitrags oder eines von der Höhe der individuellen Beitragszahlungen abhängigen Leistungsumfangs im Zentrum, sondern allgemein die Verknüpfung 17 Ulmer, in: BeckOK Sozialrecht, 59. Edition 2020, § 223 SGB V, Rn. 3. 18 Sodan (Fn. 16), § 2, Rn. 106 f. 19 Ebenda. 20 Sodan, Schriftliche Stellungnahme im Rahmen einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages am 23.9.2019 zum Antrag der Fraktion DIE LINKE (BT-Drs. 19/9229). https://www.bundestag.de/resource/blob/658778/3d952a221d8489756fd222d4f8f4e508/19_14_0097-11-_ESV- Prof-Dr-Sodan_EinSystem-data.pdf (S. 3). 21 Thüsing im Rahmen einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages am 5.6.2013 zum Antrag der Fraktion DIE LINKE (BT-Drs. 17/7197). Zitiert nach juris. 22 So Bieback, Verfassungs- und sozialrechtliche Probleme einer Änderung der Beitragsbemessungsgrenze in der GKV, Schriften der Hans-Böckler-Stiftung (2014), Edition 280, S. 55. 23 Bieback, An- oder Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung – Ein verfassungsrechtliches Problem?, Soziale Sicherheit 8-9/2013, 312 (313). Ähnlich Brandt (Fn. 5), S. 18. 24 Oeter, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 74, Rn. 105. 25 Greß/Lüngen, Die Einführung einer Bürgerversicherung – Überwindung des ineffizienten Systemwettbewerbs zwischen GKV und PKV, G+S 3-4/2017, 68 (71 f.). Ebenso Schneider, Für eine echte Bürgerversicherung und echte Grundsicherung, Soziale Sicherheit 2/2017, 73 (76) und Bieback (Fn. 22), S. 20. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 035/21 Seite 8 von Versicherungs- und Beitragspflicht mit dem Leistungsversprechen.26 Individualäquivalenz sei ein Element zur Berechnung der Beiträge in der privaten Krankenversicherung.27 Nach Auffassung des BVerfG sei eine „Überdehnung des Solidarprinzips auf Kosten des Versicherungsprinzips “ möglich. Dem Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG seien aber keine definitiven Aussagen über die materiellen Grenzen einer legislatorischen Erstreckung des Solidarprinzips zu entnehmen.28 Hierin sieht Bieback eine verfassungspolitische Unsicherheit im Falle der An- oder Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze.29 Aus dem systematischen Zusammenhang der Kompetenzregelungen „Sozialversicherung“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG), „öffentliche Fürsorge“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) und „Versorgung“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 10 GG) ließe sich schlussfolgern, dass ein Dualismus zwischen privat- und öffentlich-rechtlich bezogen auf den Krankenversicherungsträger nicht maßgeblich ist.30 3.3. Vereinbarkeit mit der Finanzverfassung des GG? Eine erhebliche Ausweitung bzw. ein Verzicht der Beitragsbemessungsgrundlage unter Einbeziehung aller Bundesbürger würde nach der Auffassung einiger Autoren mit der Finanzverfassung des Grundgesetzes in Konflikt stehen. Die den Sozialversicherungsbeitrag bislang konstituierenden und legitimierenden Merkmale gerieten in Wegfall, wenn Staatsbürger- und Bürgerversichertenstatus verschmelzen würden. Der den Sozialversicherungsbeitrag kennzeichnenden und verfassungsrechtlich konstitutive Abstand zur Steuer ginge verloren.31 Sollen gar alle Einkommensarten unter Wegfall der Beitragsbemessungsgrenze berücksichtigt werden, so handele es sich der Wirkung nach um eine unzulässige Gesundheitssteuer.32 Die die Gegenauffassung vertretenden Autoren wenden dagegen ein, dass es der Zweck der finanzverfassungsrechtlichen Betonung der Steuer sei, die Verteilung von Sach- und Finanzierungsverantwortung zwischen Bund und Ländern zu schützen. In Abgrenzung zur Steuer müsse der Sozialversicherungsbeitrag einen engen Zweckbezug auf Vorsorgesysteme, eine Konnexität zwischen 26 Remmert/Schütz in: Orlowski/Remmert, GKV-Kommentar SGB V, 57. AL 12/2020, § 3, Rn. 16. 27 Bieback (Fn. 22), S. 23. Das Äquivalenzprinzip in gesetzlicher und privater Versicherung beleuchtet auch Waltermann , Beitragserhebung in der gesetzlichen Unfallversicherung – Versicherungsprinzip und Gestaltung solidarischen Ausgleichs, SGb 2018, 138 (139 f.). 28 So würden die Regelungen des Risikostrukturausgleichs zwar zu einer vereinzelten Überdehnung des Solidarprinzips auf Kosten des Versicherungsprinzips führen. Der Rahmen des Kompetenztitels des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG sei dadurch aber nicht überschritten (BVerfG, Beschluss vom 18.7.2005, 2 BvF 2/01, zitiert nach juris – Rn. 86). 29 Bieback (Fn. 23), S. 316. 30 Brandt (Fn. 5), S. 17. 31 Depenheuer (Fn. 5), S. 206. 32 Schüffner/Franck, in: Sodan (Fn. 16), § 43, Rn. 182. Paquet sprach im Rahmen einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages am 5.6.2013 zum Antrag der Fraktion DIE LINKE (BT- Drs. 17/7197) von einer „Art Flat-tax“ (zitiert nach juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 035/21 Seite 9 Beitragspflicht, Risikosicherung und Leistungsberechtigung sowie einen Beitragszufluss nicht in den allgemeinen Haushalt, sondern in parafiskalische Organisationen aufweisen. Die Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze würde keins dieser Merkmale verletzen.33 Insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Mittelverwendung sei die Bürgerversicherung nicht als Steuer zu qualifizieren, sodass sich keine kompetenzrechtlichen Bedenken für ihre Einführung als Teil der Sozialversicherung ergeben würden.34 In der Einbeziehung aller Bevölkerungsgruppen sehen einige Autoren das klassische Bild der Sozialversicherung verletzt. Dieses Bild sei nämlich unter anderem von dem Merkmal geprägt, dass sich die Sozialversicherung nur auf einen Teil der Bevölkerung begrenzt.35 Nehme man das BVerfG beim Wort, so ließe sich im Falle einer die gesamte Bevölkerung umfassenden Sozialversicherung nicht von einer „organisierten Vielheit“ sprechen. Bedarfsdeckung durch eine organisierte Vielheit setze vielmehr einen Ausschnitt der Bevölkerung voraus, der zur Deckung des Bedarfs herangezogen werde.36 Der Begriff „Vielheit“ verdeutliche, dass es sich bei der Sozialversicherung nicht um eine „Volksversicherung“ handelt, sondern sie sich auf die Teile der Bevölkerung beschränke, die typischerweise nicht selbst dazu in der Lage sei, Vorsorgemaßnahmen zu treffen.37 Die Sozialversicherung beruhe auch auf der Schutzbedürftigkeit ihrer Mitglieder.38 Dem wird entgegengehalten, dass die Schutzbedürftigkeit nicht zum Begriff und auch nicht zum Prinzip der Sozialversicherung gehören könne. Das Versicherungsprinzip könne nur funktionieren, wenn neben schutzbedürftigen Personen(gruppen) solche existierten, die – gegenwärtig – nicht des staatlichen Schutzes bedürften, aber dennoch versichert seien. Selbst wenn es auf die Schutzbedürftigkeit einer Personengruppe ankäme, ließe sich die Bürgerversicherung allerdings immer noch gut rechtfertigen. Die von der Versicherungspflicht ausgenommen Personengruppen (im Wesentlichen Beamte, Selbstständige und gut verdienende Angestellte) würden – außer bei den Beamten – aufgrund des Wandels in der Arbeitswelt nicht mehr sicher davon ausgehen können, dass sie auch in Zukunft ihren Status halten werden.39 Darüber hinaus gehende Aussagen zu den materiellen Grenzen einer Regelung im Bereich der Sozialversicherung lassen sich der Vorschrift des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG nicht entnehmen. Diese Grenzen ergeben sich vielmehr aus den Grundrechten der Versicherungspflichtigen. 33 Bieback (Fn. 23), S. 313. 34 Fisahn (Fn. 5), S. 80. 35 Kluckert, Schriftliche Stellungnahme im Rahmen einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages am 23.9.2019 zum Antrag der Fraktion DIE LINKE (BT-Drs. 19/9229), https://www.bundestag.de/resource/blob/658776/44fb296d1f186fcf1b30cefae8279582/19_14_0097-10-_ESV- Prof-Dr-Kluckert_EinSystem-data.pdf (S. 2). 36 Sodan (Fn. 20), S. 2 f. 37 Rolfs in: Hauck/Noftz, SGB, 07/17, § 4 SGB I, Rn. 1. 38 Kluckert (Fn. 35), S. 2. 39 Fisahn (Fn. 5), S. 73 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 035/21 Seite 10 3.4. Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG? Lehnt man die Einführung einer Bürgerversicherung und die Anhebung bzw. Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze auf der Kompetenzgrundlage des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ab, so bleibt zu prüfen, ob nicht das Recht der öffentlichen Fürsorge gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG als Kompetenzgrundlage dienen könnte. Nach Auffassung von Zimmermann sollte man dies im Falle einer steuerfinanzierten „Quasi-Sozialversicherung“ jedenfalls „nicht vorschnell ablehnen“.40 4. Grundrechte der Versicherungspflichtigen In Rechtsprechung und Literatur sind nach wie vor keine eindeutigen Kriterien entwickelt worden, anhand derer sich die Verfassungsmäßigkeit einzelner Gestaltungsvarianten der Beitragsbemessungsgrenze abschließend bestimmen ließe. Grenzen des gesetzgeberischen Spielraums könnten sich aber aus der Eigentumsgarantie (Art. 14 GG), dem allgemeinen Gleichheitsrecht (Art. 3 Abs. 1 GG) und der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) ergeben. 4.1. Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG Nicht einschlägig im Hinblick auf die Versicherungspflichtigen ist die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Art. 14 GG schützt nur konkrete Rechtspositionen41 und nicht das Vermögen als solches.42 Öffentlich-rechtliche Geldleistungspflichten unterfallen nur dann dem Schutzbereich des Art. 14 GG, wenn ihnen eine erdrosselnde Wirkung zukommt.43 Zu prüfen ist daher, ob der durch die Erhöhung der Beitrittsbemessungsgrenze eventuell ansteigende Sozialversicherungsbeitrag eine erdrosselnde Wirkung haben könnte. Eine Abgabe wirkt nur dann erdrosselnd, wenn durch ihre Existenz das abgabenbegründende Verhalten praktisch unmöglich gemacht wird.44 Soweit der Beitragssatz auf dem bisherigen Niveau bleibt, werden Personen, deren Einkommen bisher schon unter der Beitragsbemessungsgrenze lag, nicht weiter belastet. Diejenigen Personen, die nach einer Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze nun mit einem zusätzlichen Teil ihres Vermögens herangezogen werden, müssen mit einer erheblichen finanziellen Mehrbelastung rechnen. Eine erdrosselnde Wirkung erkennt Bieback hierin aber nicht. Die Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze zur gesetzlichen Krankenversicherung würde das gesamte Einkommen mit einem festen Prozentsatz belasten, der auch langfristig unter der Bedingung, dass sich die 40 Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung im Kompetenzengefüge des Grundgesetzes: dargestellt unter besonderer Berücksichtigung der gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung, 2009, S. 339 f. 41 Hierzu könnten die Ansprüche der privat Versicherten gegen ihre Versicherer zur Absicherung einer bestimmten Krankenversorgung namentlich im Alter zählen. So Schüffner/Franck, in: Sodan (Fn. 16), § 43, Rn. 183. Zum Umgang mit Alterungsrückstellungen vgl. Fisahn (Fn. 5), S. 63. Mit Hinweisen auf den Streitstand zur verfassungsrechtlichen Qualifikation von Alterungsrückstellungen vgl. Depenheuer (Fn. 5), S. 205. 42 BVerfG 81, 108 (122); 95 267 (300); Wendt, in: Sachs, GG Kommentar, 8. Auflage 2018, Art. 14, Rn. 38. 43 Std. Rspr. des BVerfG, z.B. BVerfGE 82, 159 (190); 95, 267 (300); Axer, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 46. Edition, Art. 14, Rn. 55. 44 BVerfGE 75, 108 (154). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 035/21 Seite 11 Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung durch die demographischen Veränderungen noch erhöhen werden, wohl nicht über 14-15 % liegen würde. Das sei zwar eine erhebliche finanzielle Mehrbelastung, aber für sich genommen noch keine erdrosselnde Beeinträchtigung des finanziellen Leistungsvermögens. Eine absolute Grenze der Belastung durch öffentliche Abgaben gebe es nicht. Zu berücksichtigen sei auch, dass Sozialversicherungsbeiträge, anders als Steuern, eine konkrete Gegenleistung gewähren.45 Art. 14 GG dürfte den Versicherungspflichtigen keinen Schutz vor der Erhöhung oder gar dem Wegfall der Beitragsbemessungsgrenze bieten. 4.2. Art. 2 Abs. 1 GG Eine Anhebung oder Aufhebung der Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenze im Rahmen einer Bürgerversicherung könnte die allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG der Versicherten beeinträchtigen. In den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG, der auch die Vertragsfreiheit umfasst, wird eingegriffen, wenn Personen zum Abschluss eines Versicherungsvertrages verpflichtet werden.46 Das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit ist allerdings nur in den Schranken des Art. 2 Abs. 1 2. HS GG gewährleistet. Die Grundrechtsgarantie der freien Entfaltung der Persönlichkeit steht im Gegensatz zu den meisten Grundrechten nicht ausdrücklich unter einem Gesetzesvorbehalt, sondern unter dem Vorbehalt der in Art. 2 Abs. 1 2. HS GG genannten Schranken. Dies sind die verfassungsmäßige Ordnung, das Sittengesetz und die Rechte anderer. Durch den Zwang der Mitgliedschaft in einer Bürgerversicherung wird die Vertragsfreiheit begrenzt. Die Vertragsfreiheit selbst wird durch die verfassungsmäßige Ordnung begrenzt. Nach der Rechtsprechung des BVerfG zählen die Regelungen über die Gründung öffentlich-rechtlicher Vereinigungen mit Pflichtmitgliedschaft zur verfassungsmäßigen Ordnung.47 Auch Regelungen, die das öffentlich-rechtliche Sozialversicherungsverhältnis, vor allem in Bezug auf die Beiträge der Versicherten und die Leistungen des Versicherungsträgers, näher ausgestalten, sind am Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG zu messen.48 Da in einem System der Sozialversicherung Pflichtversicherte keinen unmittelbaren Einfluss auf die Höhe ihres Beitrages und Art und Ausmaß der Leistungen haben, schützt das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG den beitragspflichtigen Versicherten vor einer Unverhältnismäßigkeit von Beitrag und Leistung.49 Hinsichtlich der Rechtfertigungsfähigkeit eines Eingriffs in Art. 2 Abs. 1 GG durch eine Anhebung oder Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze ergibt sich in der juristischen Literatur ein unterschiedliches Bild. 45 Bieback (Fn. 22), S. 35. 46 BVerfGE 10, 89 (102); 32, 54 (63 f.). 47 BVerfGE 10, 89 (102 f.); 38, 281 (297 ff.). 48 BVerfGE 75, 108 (154); 97, 271 (286 f.); 106, 275 (304 f.). 49 BVerfGE 115, 25 (42 f.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 035/21 Seite 12 Bieback erkennt in der Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze einen starken Eingriff in die durch Art. 2 GG geschützte Vorsorgefreiheit der Versicherten. Sie werde aber gerechtfertigt durch die Ziele, die Solidarität innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung zu stärken und die Finanzierung des Systems zu stabilisieren. Zur Erreichung dieser Ziele sei die Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze auch geeignet und erforderlich. Für die Zumutbarkeit eines solchen Grundrechtseingriffs gebe es keine Maßstäbe, die der vollen Erhebung der Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung nach der Leistungsfähigkeit der Versicherten Grenzen setzen könnte.50 Auch nach der Auffassung von Fisahn sei im Vergleich zu dem hohen Gut der Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens der Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit durch die Pflicht, Beiträge in die Bürgerversicherung zu zahlen, ein zu vernachlässigender Grundrechtseingriff. Selbst bei einem Wegfall der Beitragsbemessungsgrenze falle wertend die Belastung für die gut Verdienenden trotz absolut höherer Beitragszahlungen geringer aus, weil in absoluten Zahlen auch mehr übrig bleibe für den Lebensunterhalt und Luxus, der bei den schlechter Verdienenden von vornherein wegfalle oder bescheiden ausfalle. Seine Abwägung kommt zu dem Ergebnis, dass die Einführung einer Bürgerversicherung – und wohl auch die Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze – nicht dem Verhältnismäßigkeitsprinzip widerspräche.51 Andere Autoren diskutieren eine Anhebung der Beitragsbemessungsgrundlage nur bis auf das Niveau der in der gesetzlichen Rentenversicherung geltenden Beitragsbemessungsgrenze.52 So gehen Greß/Lüngen davon aus, dass eine Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze auf schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken stoßen würde, was in deutlich geringerem Maße für eine Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze auf das Niveau der gesetzlichen Rentenversicherung gelte.53 4.3. Art. 3 Abs. 1 GG Eine Anhebung oder Aufhebung der Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenze im Rahmen einer Bürgerversicherung könnte gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen. Eine verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung setzt voraus, dass vergleichbare Personengruppen oder auch Sachverhalte betroffen sind. Die Feststellung, ob die übereinstimmenden oder die verschiedenen Einzelmerkmale zweier Personengruppen den Ausschlag 50 Bieback (Fn. 22), S. 61 f. 51 Fisahn (Fn. 5), S. 77. 52 Greß/Lüngen (Fn. 25), S. 72. Hinsichtlich der Einführung einer Pflegebürgerversicherung untersucht von Rothgang/ Domhoff, Die Pflegebürgerversicherung als Vollversicherung: Beitragssatz und Verteilungseffekte bei Umwandlung der Pflegeversicherung in eine Bürgerversicherung mit Vollversicherung, Working Paper Forschungsförderung, Nr. 150 2019, Hans-Böckler-Stiftung, https://d-nb.info/1197761500/34 (S. 11). 53 Ebenda. Andere Autoren erkennen eine Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG bereits in der Einführung einer Bürgerversicherung , ohne die An- oder Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze gesondert zu untersuchen. So etwa Sodan, in Sodan (Fn. 16) § 2, Rn 107. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 035/21 Seite 13 geben sollen, ist nur möglich, wenn man ein Differenzierungsmerkmal auswählt, anhand dessen der Vergleich angestellt wird.54 Abgestellt werden kann auf die Gruppe der besser verdienenden Beschäftigten, die höhere Beiträge für die Bürgerversicherung bezahlen muss, sowie auf die Gruppe der niedrig verdienenden Beschäftigten , die geringere Beiträge zahlt, aber die gleichen Leistungen erhält wie die erstgenannte Gruppe. Bieback erkennt zwischen diesen Personengruppen schon keine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung , sondern eine Gleichbehandlung je nach unterschiedlicher finanzieller Leistungsfähigkeit . Der Autor stellt im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz gar die Beitragsbemessungsgrenze selbst in Frage. Er hält es für schwer verständlich, warum die Versicherten oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze für die gleiche Versicherungsleistung einen immer geringer werdenden (prozentualen) Anteil ihres Einkommens zur Finanzierung der Sozialversicherung aufbringen müssen.55 Bejaht man hingegen vorliegend eine Ungleichbehandlung, so stellt sich die Frage nach ihrer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Nach früherer Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts war die Ungleichbehandlung gerechtfertigt, wenn wesentlich Gleiches nicht willkürlich ungleich, und wesentlich Ungleiches nicht willkürlich gleich behandelt wird.56 Danach rechtfertigte das Vorliegen eines sachlichen Grundes eine Ungleichbehandlung. Nach der so genannten „neuen Formel“ müssen in bestimmten Fällen Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass eine Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist.57 Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne fordert dabei eine Gesamtabwägung zur Angemessenheit des Verhältnisses zwischen Zielen, Gründen und Wirkungen für die Betroffenen.58 Es kommt demnach auf die Intensität der Ungleichbehandlung an. Das BVerfG fordert, eine „strenge“ Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Ungleichbehandlung von Personengruppen vorzunehmen.59 In diesem Spannungsfeld bewegt sich die Beurteilung einer hier zu prüfenden Ungleichbehandlung. Sachlicher Grund für die diskutierte Differenzierung könnte das Ziel sein, Strukturdefizite und Gerechtigkeitslücken in der Krankenversicherung zu beheben. Zusätzlich zum Vorliegen eines sachlichen Grundes fordert das BVerfG: „Ungleichbehandlung und rechtfertigender Grund müssen 54 Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 3. Auflage 2013, Art. 3, Rn. 24. 55 Bieback (Fn. 23), S. 317. 56 BVerfGE 4, 144 (155); BVerfGE 27, 364, (371 f.). 57 BVerfGE 55, 72 (88); BVerfGE 71, 146 (154 f.); BVerfGE 82, 126 (146). 58 Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 3, Rn. 22. 59 Ebenda, Rn. 14. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 035/21 Seite 14 in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen“.60 Dabei sei allerdings nicht entscheidend, „ob der Gesetzgeber die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gefunden hat“.61 Nach Auffassung von Bieback sei eine Ungleichbehandlung durch Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze – deren Annahme unterstellt – durch den Grundsatz des sozialen Ausgleichs nach Leistungsfähigkeit legitimiert.62 Andere Autoren halten den Gedanken einer Beitrags- und Leistungsäquivalenz in der Sozialversicherung für entscheidend. Diesen Gedanken sieht Sodan in Gefahr, wenn hohen Beiträgen keine auch nur annähernd adäquaten Versicherungsleistungen entsprechen.63 Anhaltspunkt für eine noch verfassungsgemäße Obergrenze könnte auch hier die in der gesetzlichen Rentenversicherung geltende Beitragsbemessungsgrenze sein.64 5. Grundrechte der privaten Versicherungsunternehmen Die An- bzw. Aufhebung der Versicherungspflichtgrenze und die gleichzeitige Pflichtversicherung für bisher versicherungsfreie Personen hat weitreichende Folgen für das private Krankenversicherungswesen . Je nach Ausgestaltung der Bürgerversicherung würde den privaten Anbietern ihr Kerngeschäft vollständig entzogen, es verbliebe lediglich die Sparte der Zusatzversicherungen. In der Literatur wird daher in der Einführung einer Bürgerversicherung ein Eingriff in die Grundrechte der Versicherungsunternehmen aus Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG gesehen.65 Teilweise wird eine Rechtfertigung angenommen, wenn im Hinblick auf Art. 14 Abs. 1 GG Übergangsregelungen zur Abmilderung der Eingriffsintensität geschaffen werden,66 und im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1 GG den privaten Versicherungsunternehmen ausreichend Raum für eine wirtschaftlich lohnende Tätigkeit im Bereich des Zusatzversicherungsgeschäfts verbleibt.67 Die An- bzw. Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze hat für sich betrachtet keine unmittelbare oder mittelbare Auswirkung für die Versicherungsunternehmen, sondern wirkt sich soweit ersichtlich nur auf die Versicherten aus. 60 BVerfGE 82, 126 (146). 61 BVerfG, Beschluss vom 4.2.2009, 1 BvL 8/05, zitiert nach juris - Rn. 58. 62 Bieback (Fn. 22), S. 57. 63 Sodan (Fn. 20), S. 3. 64 Siehe Fn. 52. 65 Schüffner/Franck, in: Sodan (Fn. 16), Rn. 183; Kluckert (Fn. 35), S. 3 ff.; Paquet (Fn. 32); Depenheuer (Fn. 5), S. 204 f.; Brandt (Fn. 5), S. 32. 66 Brandt (Fn. 5), S. 35. 67 Unter Darstellung des Meinungsstandes jedoch ohne abschließende Wertung: Fisahn (Fn. 5), S. 39, 43. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 035/21 Seite 15 6. Zusammenfassung Die Erhöhung bzw. Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze im Rahmen einer neu zu schaffenden Bürgerversicherung ist in der rechtswissenschaftlichen Literatur nach wie vor sehr umstritten. Insgesamt betrachtet, wird eine „maßvolle“ Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze von den meisten Autoren für zulässig gehalten, hingegen eine erhebliche Anhebung oder der Wegfall der Beitragsbemessungsgrenze von einigen Autoren als verfassungswidrig eingestuft. Das BVerfG hat sich bisher nicht zur Bürgerversicherung geäußert, aber in ständiger Rechtsprechung verdeutlicht, dass sich dem Grundgesetz keine Garantie des bestehenden Sozialversicherungssystems entnehmen lasse. Der Gesetzgeber könne einen Krankenversicherungsschutz auf eine andere Weise gewährleisten und diesen auf andere Weise als bisher finanzieren. Einige Autoren stufen die Erhöhung bzw. die Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze als Verstoß gegen die kompetenzrechtlichen Vorgaben des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ein. Je höher die Beitragsbemessungsgrenze steige, desto mehr steige der Versicherungsbeitrag insbesondere der Spitzenverdiener an, nicht jedoch die von der Krankenversicherung gewährten Leistungen. Dies stelle eine Verletzung des Grundsatzes der Beitrags- und Leistungsäquivalenz dar. Die die Gegenauffassung vertretenden Autoren halten eine individuelle Äquivalenz zwischen Beitrag und Leistung nicht für ein notwendiges Merkmal des Sozialversicherungsbegriffs. Die Kompetenzgrundlage des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG wird von einigen Autoren jedoch noch aus anderen Gründen abgelehnt: Zum einen würde eine erhebliche Ausweitung der Beitragsbemessungsgrenze bzw. ihre Aufhebung dazu führen, dass der Beitrag für die Bürgerversicherung und die Einkommensteuer identisch wären. Eine zweite „Einkommensteuer“ wäre aber nicht mit der Finanzverfassung des Grundgesetzes kompatibel. Zum anderen dürfe eine Sozialversicherung immer nur Teile der Bevölkerung, nicht aber alle Einwohner, erfassen. Das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) der Versicherten stehe nach Auffassung einiger Autoren einer Anhebung der Beitragsbemessungs- und Pflichtversicherungsgrenze grundsätzlich dann nicht entgegen, wenn sich die Anhebung in einem verhältnismäßigen Rahmen bewegt. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlange in materiell-rechtlicher Hinsicht eine gewisse Relation zwischen Beitrag und Leistung. Eine vollständige Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze wird von einigen Autoren als unverhältnismäßig angesehen. Auch im Rahmen der Prüfung des allgemeinen Gleichheitssatzes gemäß Art. 3 Abs. 1 GG ist der Gedanke der Beitrags- und Leistungsäquivalenz nach Auffassung einiger Autoren zu beachten. Da mit wachsendem Einkommen das Äquivalenzprinzip immer mehr an Bedeutung zugunsten des sozialen Ausgleichs verliert, verstoße eine Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze gegen Art. 3 Abs. 1 GG. ***