© 2019 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 035/19 Reform des Bundestagswahlrechts Geschlechterparität und Zwei-Personen-Wahlkreise Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Dezember 2018 wurde ein Vorschlag zur Reform des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag vorgelegt.1 Dieser sieht eine Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise von 299 auf 120 vor. Gleichzeitig sollen auf Grundlage zweier getrennter geschlechterparitätisch aufgestellter Wahlvorschlagslisten – anstatt wie bisher nur eines – künftig zwei Direktmandate je Wahlkreis vergeben werden. Gefragt wird nach der Vereinbarkeit dieser Vorschläge mit dem Grundgesetz. Dabei soll auch darauf eingegangen werden, ob es verfassungsrechtlich zulässig wäre, dass sich Bewerbende des dritten Geschlechts entscheiden müssten, auf welcher der beiden Wahlvorschlagslisten sie kandidieren wollen. 2. Reduzierung der Zahl der Wahlkreise und des Anteils der Mehrheitswahl Nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG werden die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in allgemeiner , unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Ein konkretes Wahlsystem wird weder in Art. 38 GG noch an anderer Stelle im Grundgesetz festgelegt. Stattdessen bestimmt Art. 38 Abs. 3 GG, dass ein Bundesgesetz die nähere Ausgestaltung des Bundeswahlrechts regelt. Dem Gesetzgeber kommt dabei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein weiter Gestaltungsspielraum zu.2 Er darf in Ausführung seines „Regelungsauftrags das Verfahren der Wahl zum Deutschen Bundestag als Mehrheitswahl oder als Verhältniswahl gestalten; er darf auch beide Wahlsysteme miteinander verbinden“.3 Vorgaben, dass ein Mischsystem nur zu gleichen Anteilen auf den Prinzipien der Mehrheits- und Verhältniswahl beruhen darf, lassen sich aus dem Verfassungsrecht nicht ableiten. Mithin wäre grundsätzlich auch ein disparitätisches Mischsystem zulässig, bei dem der Anteil der Direktmandate wie vorgeschlagen auf 40 % abgesenkt und die Listenmandate auf 60 % angehoben würden. Wegen des weiten Gestaltungsspielraums des Bundesgesetzgebers hinsichtlich des Wahlsystems wäre auch eine Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise (etwa auf 240 oder 120) verfassungsrechtlich zulässig, wenn die konkrete Ausgestaltung des Wahlrechts und insbesondere die Einteilung der Wahlkreise den Grundsatz der Gleichheit der Wahl wahrt. Aus diesem folgt, dass die Stimme jedes Wahlberechtigten den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben muss. In seiner Entscheidung zur Berücksichtigung des Anteils der nach geltendem Wahlrecht nicht wahlberechtigten Minderjährigen bei der Festlegung der Wahlkreise hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt: „Die Vorgaben der Wahlgleichheit wirken sich in den Systemen der Mehrheits- und der Verhältniswahl unterschiedlich aus. Dem Zweck der - hier in erster Linie in den Blick zu nehmenden, da die Wahl der Abgeordneten in den Wahlkreisen (§ 5 BWG) betreffenden - Mehrheitswahl entspricht es, dass nur die für den Mehrheitskandidaten abgegebenen Stimmen zur Mandatszuteilung führen. Die auf die Minderheitskandidaten entfallenden Stimmen bleiben hingegen bei der 1 Oppermann/Klecha, Quadratur des Kreises, FAZ, 6.12.2018. 2 Vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997, Az.: 2 BvF 1/95 (= BVerfGE 95, 335), juris Rz. 52. 3 Vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997, Az.: 2 BvF 1/95 (= BVerfGE 95, 335), juris Rz. 53. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 035/19 Seite 5 Vergabe der Mandate unberücksichtigt. Die Wahlgleichheit fordert dabei über den gleichen Zählwert aller Stimmen hinaus nur, dass bei der Wahl alle Wähler auf der Grundlage möglichst gleich großer Wahlkreise und daher mit voraussichtlich annähernd gleichem Stimmgewicht am Kreationsvorgang teilnehmen können […]. Die gleiche Größe der Wahlkreise ist im geltenden Wahlsystem sowohl für den einzelnen Wahlkreis als auch berechnet auf die Bevölkerungsdichte jedes Landes Bedingung der Wahlgleichheit […]. Diese muss nicht nur zwischen den Ländern, sondern auch im Vergleich aller Wahlkreise untereinander gewährleistet sein […]. Für die Beurteilung, ob jeder Erststimme gleiche Erfolgschancen zukommen, kommt es auf die tatsächlichen Verhältnisse bei der Entscheidung des Gesetzgebers über die Wahlkreiseinteilung an […].“4 Das Bundesverfassungsgericht erkennt aber auch bei der Einschätzung der die Grundlage der Gestaltungsentscheidungen bildenden tatsächlichen Gegebenheiten und der Entscheidung über die Einteilung eines Wahlgebietes in gleich große Wahlkreise einen gewissen Gestaltungs- und Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers an.5 Dieser ergebe sich bereits deshalb, weil sich der Grundsatz der Wahlgleichheit bei der Wahlkreiseinteilung nur näherungsweise verwirklichen lasse und die Bevölkerungsverteilung zudem einem steten Wandel unterworfen sei.6 So hat das Bundesverfassungsgericht insbesondere die in § 3 Abs. 1 Nr. 3 S. 2 Bundeswahlgesetz vorgesehene Maximalgrenze für Abweichungen der Größe der Wahlkreise von 25 vom Hundert von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise bei Mehrheitswahlen gebilligt.7 Die früher vorgesehene Maximalabweichung von 33 1/3 v. H. genüge der Wahlrechtsgleichheit hingegen nicht.8 Abweichungen können u. a. dadurch gerechtfertigt sein, dass ein Wahlkreis nach dem Gedanken einer territorialen Verankerung des im Wahlkreis gewählten Abgeordneten zugleich ein zusammengehörendes und abgerundetes Ganzes bilden soll […] und dass sich die historisch verwurzelten Verwaltungsgrenzen nach Möglichkeit mit den Wahlkreisgrenzen decken sollen. Die durch die Erststimme geknüpfte engere persönliche Beziehung der Wahlkreisabgeordneten zu dem Wahlkreis, in dem sie gewählt worden sind, [bedürfe] zudem einer gewissen Kontinuität der räumlichen Gestalt des Wahlkreises.“9 Auch sofern die Orientierung des Wahlrechts am föderalen Aufbau der Bundesrepublik beibehalten werden und die Wahlkreise im Verhältnis der Bevölkerungsanteile auf die einzelnen Länder verteilt werden sollen, lässt das Bundesverfassungsgericht in Anbetracht des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums gewisse Schwankungen der Wahlkreisgrößen zu.10 Der Gesetzgeber habe 4 BVerfG, Beschluss vom 31. Januar 2012, Az.: 2 BvC 3/11 (= BVerfGE 130, 212), juris Rz. 56 ff. (Hervorhebung nur hier). 5 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. Januar 2012, Az.: 2 BvC 3/11 (= BVerfGE 130, 212), juris Rz. 62 f. 6 Vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 22. Mai 1963, Az.: 2 BvC 3/62 (= BVerfGE 16, 130), juris Rz. 28. 7 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. Januar 2012, Az.: 2 BvC 3/11 (= BVerfGE 130, 212), juris Rz. 81 f. 8 Vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997, Az.: 2 BvF 1/95 (= BVerfGE 95, 335), juris Rz. 96. 9 BVerfG, Beschluss vom 31. Januar 2012, Az.: 2 BvC 3/11 (= BVerfGE 130, 212), juris Rz. 64. 10 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. Januar 2012, Az.: 2 BvC 3/11 (= BVerfGE 130, 212), juris Rz. 64. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 035/19 Seite 6 aber die verfassungsrechtlichen Vorgaben insbesondere des Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit auch bei der Ausfüllung seines Gestaltungsspielraums zu beachten und sei verpflichtet, das ausgewählte Wahlsystem in seinen Grundelementen folgerichtig zu gestalten und keine strukturwidrigen Elemente einzuführen.11 Soll die Orientierung an den Ländergrenzen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 BWG) bei der Einteilung der Wahlkreise beibehalten werden, sollte der Anteil der Wahlberechtigten in den jeweiligen Ländern schon bei der Ermittlung der Anzahl der (reduzierten) Wahlkreise berücksichtigt werden, um den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit zu wahren. Eine starke Verringerung der Wahlkreise könnte andernfalls insbesondere in den Ländern mit der kleinsten12 Zahl an Wahlberechtigten zu besonderen Problemen hinsichtlich der Wahlrechtsgleichheit führen . „Die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Grenzen des Gestaltungs- und Beurteilungsspielraums unterliegt jedenfalls einer strengen verfassungsgerichtlichen Überprüfung, soweit mit Regelungen , die die Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, die parlamentarische Mehrheit gewissermaßen in eigener Sache tätig wird und die Gefahr besteht, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten [lasse]. Zu diesen Regelungen gehören grundsätzlich auch die Entscheidungen des Gesetzgebers über die Einteilung des Wahlgebiets in Wahlkreise.“13 Ob darüber hinaus der Problematik der Überhang- und Ausgleichsmandate durch einen im Vorschlag angesprochenen „Puffer von 59 Mandaten“ in verfassungsrechtlich zulässiger Weise begegnet werden kann, hängt davon ab, wie dieser konkret errechnet bzw. ausgeschöpft werden soll und ob die entsprechenden Bestimmungen einfachgesetzlich bzw. in der Verfassung geregelt werden sollen. 3. Geschlechterparitätische Wahlvorschlagslisten für Direktmandate Um den Anteil von Frauen im Bundestag zu erhöhen schlagen Oppermann/Klecha vor, in den auf 120 reduzierten Wahlkreisen jeweils zwei Direktmandate zu vergeben, die auf der Grundlage zweier getrennter geschlechterparitätisch aufgestellter Wahlvorschlagslisten gewählt werden. 3.1. Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz Die Zulässigkeit von Wahlrechtsbestimmungen zugunsten der Geschlechterparität ist bislang nicht Gegenstand einer Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht gewesen und in der verfassungsrechtlichen Literatur umstritten. Unter Geltung des Grundgesetzes (GG) in seiner aktuellen Fassung wird zum einen diskutiert, ob und in welcher Intensität mögliche Wahlrechtsbestimmungen zur Geschlechterparität in die Wahlrechtsfreiheit und Wahlrechtsgleichheit (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG) bzw. die Parteienfreiheit (Art. 21 GG) eingreifen. Zum anderen bestehen starke 11 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. Januar 2012, Az.: 2 BvC 3/11 (= BVerfGE 130, 212), juris Rz. 65. 12 Bremen (0,5 Millionen) und Saarland (0,8 Millionen), vgl. Bundeswahlleiter, Pressemitteilung Nr. 02/17 vom 7. Februar 2017, Bundestagswahl 2017: Wahlberechtigte nach Ländern, abrufbar unter: https://www.bundeswahlleiter .de/info/presse/mitteilungen/bundestagswahl-2017/02_17_wahlberechtigte_laender.html. 13 BVerfG, Beschluss vom 31. Januar 2012, Az.: 2 BvC 3/11 (= BVerfGE 130, 212), juris Rz. 66 (Hervorhebung nur hier). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 035/19 Seite 7 Kontroversen bezüglich der Frage, ob der verfolgte Zweck der Geschlechterparität speziell bei Wahlen bzw. bei der Zusammensetzung der Parlamente überhaupt aus dem Grundgesetz in seiner derzeitigen Fassung abgeleitet werden kann. Diskutiert wird eine Verankerung dieses Ziels im Demokratieprinzip (Art. 20 Abs.1 und 2 GG), welches gemäß Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG auch als innerparteiliches Prinzip gilt, oder im besonderen Gleichstellungsgebot des Art. 3 Abs. 2 GG. Abhängig von der jeweiligen Positionierung zu den genannten Grundfragen werden unterschiedliche Ansichten bezüglich der Erforderlichkeit und Angemessenheit von Paritätsvorgaben vertreten, die zusätzlich je nach konkreter Ausgestaltung der Paritätsbestimmungen und etwaigen Ausnahmeregelungen variieren. Darüber hinaus ist umstritten, ob das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG auch im Rahmen von Art. 38 GG gilt und ob und wie dieses durch geschlechterparitätische Bestimmungen gewahrt werden kann. Die überwiegende Zahl der Autoren in der Literatur hält zwingende Bestimmungen zugunsten der Parität bei Wahlen für verfassungsrechtlich bedenklich bzw. sogar mit dem Grundgesetz in seiner jetzigen Fassung für unvereinbar. Eine Übersicht über den Meinungsstand und die dabei vertretenen wesentlichen Argumentationslinien enthält die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Geschlechterparität bei Wahlen nach französischem und tunesischem Vorbild, WD 3 - 3000 - 101/17.14 Der Bayerische Verfassungsgerichtshof lehnte 2018 in einer Entscheidung über eine Popularklage gegen das geschlechtsneutral formulierte bayerische Landeswahlrecht jedenfalls die Herleitung einer Pflicht zur Schaffung geschlechterparitätischer Wahlbestimmungen aus dem inhaltlich mit Art. 3 Abs. 2 GG übereinstimmenden Gleichstellungsgebot des Art. 118 Abs. 2 Satz 2 der bayerischen Verfassung (BV) sowie aus dem in Art. 2, 4 und 5 BV verankerten Demokratieprinzip explizit ab.15 Über eine dagegen eingelegte Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht noch nicht entschieden. Die Frage der Verankerung des Interesses an der Herstellung einer Geschlechterparität in der Verfassung könnte grundsätzlich durch eine entsprechende Änderung des Grundgesetzes rechtspolitisch durch den Gesetzgeber entschieden werden.16 Soweit ersichtlich, wird derzeit jedenfalls von der herrschenden Meinung im Schrifttum nicht vertreten, dass die Aufnahme einer Bestimmung zur Förderung der Parität bei Bundestagswahlen gegen den bei Verfassungsänderungen stets zu beachtenden Art. 79 Abs. 3 GG verstoßen würde. Die kollidierenden Verfassungsprinzipien müssten jedoch auch nach einer Verfassungsänderung bei der näheren einfachge- 14 Abrufbar unter: https://www.bundestag.de/blob/514844/e0cecb0d69da524b36c1e88ef25a9292/wd-3-101-17- pdf-data.pdf. 15 Vgl. Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 26. März 2018, Az.: Vf. 15-VII-16, juris. 16 So schon Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Möglichkeiten einer paritätischen Besetzung des Bundestages mit beiden Geschlechtern, WD 3 - 3000 - 008/08, S. 7; vgl. zuletzt auch Ungern- Sternberg, Beitrag vom 8. Februar 2019, http://zurgeschaeftsordnung.de/kein-parite-gesetz-ohne-grundgesetzaenderung/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 035/19 Seite 8 setzlichen Ausgestaltung des Wahlrechts zu einem den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrenden Ausgleich gebracht werden.17 Sollen geschlechterparitätische Wahlvorschlagslisten für Direktmandate in Zwei-Personen-Wahlkreisen eingeführt werden, müsste dabei folgendem Problem hinsichtlich der Wahlrechtsgleichheit besonders Rechnung getragen werden: Bei einem Wechsel von Ein-Personen- zu Zwei-Personen-Wahlkreisen ohne geschlechterparitätische Wahlvorschlagslisten wäre nach dem Prinzip der Mehrheitswahl auf Grundlage einer einheitlichen Liste jeweils der Kandidat mit den meisten und den zweitmeisten Stimmen gewählt. Nach dem Vorschlag wären dagegen der Erstplatzierte der einen Liste sowie die Erstplatzierte der anderen Liste gewählt. Dies könnte dazu führen, dass die oder der Erstplatzierte der einen Liste in absoluten Zahlen ggf. sogar weniger Stimmen auf sich vereint, als die oder der (dann unberücksichtigte ) Zweitplatzierte der anderen Liste.18 Zur Wahrung der Wahlrechtsgleichheit könnten jedenfalls für solche Fälle Ausnahmebestimmungen geboten sein, in denen die Zahl der auf eine oder einen Erstplatzierten entfallenden Stimmen in einem so erheblichen Umfang unter der Anzahl der auf den Zweitplatzierten der anderen Liste entfallenden Stimmen liegt, dass die damit verbundene Beeinträchtigung der Wahlrechtsgleichheit auch nicht mehr durch ein in ggf. ausdrücklich im Grundgesetz verankertes Ziel der Geschlechterparität bei Wahlen zu rechtfertigen wäre. 3.2. Berücksichtigung von Personen des dritten Geschlechts Der Vorschlag von Oppermann/Klecha lässt bislang offen, wie Personen des dritten Geschlechts in verfassungsrechtlich zulässiger Weise berücksichtigt werden können. Diskutiert wird insbesondere eine Wahlmöglichkeit von Personen des dritten Geschlechts, ob sie auf der für Frauen oder der für Männer vorgesehenen Wahlvorschlagsliste aufgestellt werden wollen. Eine vergleichbare Regelung gilt künftig im brandenburgischen Landeswahlrecht. In seiner Entscheidung zum früheren Personenstandsrecht hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass dieses gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) in seiner Ausprägung als Schutz der geschlechtlichen Identität sowie gegen das in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG normierte Diskriminierungsverbot verstoßen habe, soweit im Geburtenregister neben dem Eintrag „männlich“ oder „weiblich“ kein weiterer positiver Geschlechtseintrag vorgesehen war.19 Mit Wirkung zum 22. Dezember 2018 wurde das Personenstandsgesetz (PStG) dahingehend geändert, dass nunmehr auch der Eintrag „divers“ zulässig ist, sofern eine Zuordnung zum weiblichen oder männlichen Geschlecht nicht möglich ist, § 22 Abs. 3 PStG. Unabhängig von der Frage, ob das Gleichstellungsgebot überhaupt als verfassungsrechtliche Verankerung von Geschlechterparität speziell bei Wahlen herangezogen werden kann20, wird aus 17 Vgl. auch Bericht der Landesregierung Brandenburg, Geschlechterparitätische Regelungen im Landtags- und Kommunalwahlrecht – Ein Problemaufriss mit Vorschlägen und Empfehlungen, Drs. 6/9699, S. 10 ff. 18 Dazu näher Bericht der Landesregierung Brandenburg, (Fn. 17), S. 7. 19 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2017, Az.: 1 BvR 2019/16, juris. 20 Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, WD 3 - 3000 - 101/17, S. 7. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 035/19 Seite 9 Art. 3 Abs. 2 GG auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgrund seines nur auf die binären Geschlechter abstellenden Wortlauts soweit ersichtlich derzeit keine allgemeine Pflicht zur Schaffung von Regelungen zur Förderung von Personen des dritten Geschlechts abgeleitet.21 Entschließt sich der Gesetzgeber jedoch, an das Geschlecht anknüpfende Bestimmungen im Wahlrecht zugunsten einer Geschlechterparität zu schaffen, ist grundsätzlich auch das Verbot der Diskriminierung aufgrund der geschlechtlichen Identität (Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG) zu beachten.22 Der Verfassungsgerichtshof (VGH) Rheinland-Pfalz hat in der als Soll-Vorschrift ausgestalteten Paritätsbestimmung des § 15 Kommunalwahlgesetz (KWG RhPf) keine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts von Kandidaten, denen eine Geschlechtsangabe unmöglich ist, bzw. des Diskriminierungsverbotes gesehen, da ein Verstoß gemäß § 23 Abs. 2 Satz 3 KWG RhPf nicht automatisch zur Ungültigkeit des Wahlvorschlags führe. „Insoweit [ließen] die Regelungen auch Spielraum für die Berücksichtigung besonderer Einzelfälle, in denen ein biologisches Geschlecht eines Wahlbewerbers aus vorrangigen Gründen nicht angegeben werden kann.“23 Da es dabei um die individuellen Rechte der betroffenen Mitglieder gehe, könnten politische Parteien als solche daraus überdies ohnehin keine eigene Rechtsbetroffenheit ableiten.24 Sofern zwingende Vorgaben zur Geschlechterparität in das Wahlrecht aufgenommen werden, gebietet das Diskriminierungsverbot auch die Schaffung von Bestimmungen für Personen, die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden können.25 Zwar dürfte die Eingriffsintensität eines Wahlvorschlagsrechts zugunsten der Parität von Männern und Frauen ohne Ausnahmebestimmungen für Personen des dritten Geschlechts „sowohl hinsichtlich seiner Wirkung in der Öffentlichkeit als auch hinsichtlich der hieraus resultierenden Folgen für die Betroffenen sicherlich deutlich unterhalb der des Personenstandsrechts“26 anzusiedeln sein. Allerdings messe der Gesetzgeber dem Geschlecht nach einem Gutachten des Parlamentarischen Beratungsdienstes des Landtages Brandenburg auch über das Wahlvorschlagsrecht eine „erhebliche Bedeutung für die Beschreibung einer Person und ihrer Rechtsstellung bei“27.28 Zudem ist die 21 So wohl auch Parlamentarischer Beratungsdienst des brandenburgischen Landtags, Geschlechterparität bei Landtagswahlen, S. 67, abrufbar unter: https://www.parlamentsdokumentation.brandenburg.de/starweb /LBB/ELVIS/parladoku/w6/gu/48.pdf. 22 Vgl. Bericht der Landesregierung Brandenburg, (Fn. 17), S. 14 ff.; Parlamentarischer Beratungsdienst des brandenburgischen Landtags, (Fn. 21), S. 8 ff. und 63 ff. 23 VGH Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 13. Juni 2014, Az.: VGH N 14/14 und VGH B 16/14, juris Rz. 85; ebenso Urteil vom 15. Dezember 2014, Az.: VGH O 22/14, juris Rz. 88. 24 Vgl. VGH Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15. Dezember 2014, Az.: VGH O 22/14, juris Rz. 88. 25 Vgl. Bericht der Landesregierung Brandenburg, (Fn. 17), S. 14 f. 26 Vgl. Parlamentarischer Beratungsdienst des brandenburgischen Landtags, (Fn. 21), S. 67. 27 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2017, Az.: 1 BvR 2019/16, juris Rz. 47. 28 Vgl. Parlamentarischer Beratungsdienst des brandenburgischen Landtags, (Fn. 21), S. 67. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 035/19 Seite 10 Vulnerabilität von Menschen, die sich nicht dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zuordnen können, laut Bundesverfassungsgericht besonders hoch.29 Vor diesem Hintergrund sieht der neugeschaffene § 25 Abs. 3 des Brandenburgischen Landeswahlgesetzes (LWG Bbg) künftig eine Wahlmöglichkeit von Personen des dritten Geschlechts vor, ob sie auf der Liste der Bewerberinnen oder der Liste der Bewerber aufgestellt werden wollen . Die Regelung scheint grundsätzlich geeignet, um die Interessen von Personen des dritten Geschlechts angemessen zu berücksichtigen. Dennoch kann der Umstand, dass ihnen nach dem brandenburgischen Model nur die Möglichkeit verbleibt, sich auf einer eigentlich für Frauen bzw. Männer ausgewiesenen Liste aufstellen zu lassen , aufgrund der damit einhergehenden Öffentlichkeitswirkung30 der Offenlegung31 bzw. sogar einer ggf. unzutreffenden Zuschreibung der geschlechtlichen Identität einen weiteren Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht darstellen. Letzterem könnte aber ggf. durch ein weiteres Wahlbzw . Mitspracherecht der Personen des dritten Geschlechts bei der konkreten Gestaltung des Eintrags in einer der beiden Listen (bspw. durch einen optionalen Zusatz) angemessen begegnet werden. Morlok/Hobusch sehen jedoch darüber hinaus in der Eröffnung der Möglichkeit für Personen des dritten Geschlechts, sich auf alle der ansonsten für Frauen oder Männer jeweils nur hälftig zur Verfügung stehenden Listenplätze zu bewerben, eine offensichtliche Verletzung der Wahlrechtsgleichheit der Bewerbenden.32 Dagegen ließe sich einwenden, dass Personen des dritten Geschlechts jedenfalls nach Ausübung ihres Auswahlrechts nicht für beide, sondern ebenso wie Frauen und Männer nur für eine der Wahlvorschlagslisten kandidieren können. Allerdings eröffnet das Auswahlrecht den Bewerbenden des dritten Geschlechts anders als Frauen und Männern grundsätzlich die Möglichkeit, ggf. die prognostisch für den Wahlerfolg „günstigere Liste“ auszuwählen. Sofern darin eine Beeinträchtigung der Wahlrechtsgleichheit und eine Ungleichbehandlung der männlichen und weiblichen Bewerbenden gegenüber den Bewerbenden des dritten Geschlechts liegt, könnte diese nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur durch zwingende, durch die Verfassung legitimierte Gründe gerechtfertigt werden.33 Diesbezüglich wird auf den allgemeinen Meinungsstand zu der Frage verwiesen, ob das Ziel der Geschlechterparität bei Wahlen derzeit überhaupt verfassungsrechtlich verankert ist (sh. 2.1.). Dabei kommt jedoch das Gleichstellungsgebot (Art. 3 Abs. 2 GG) nicht in Betracht, da sich dieses nach seinem Wortlaut nur auf die binären Geschlechter Frau und Mann bezieht. Vor diesem Hintergrund erhält die Frage, ob das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG auch im Rahmen der Wahlrechtsgleichheit (Art. 38 29 Vgl. Parlamentarischer Beratungsdienst des brandenburgischen Landtags, (Fn. 21), S. 67. 30 Vgl. zur besonderen Relevanz dieses Kriteriums bzgl. des Vorliegens und Gewichts eines Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2017, Az.: 1 BvR 2019/16, juris Rn. 48 ff. 31 Vgl. dazu auch Bericht der Landesregierung Brandenburg, (Fn. 17), S. 15. 32 Vgl. Morlok/Hobusch, DÖV 2019, 14 (20). 33 St. Rspr., vgl. z.B. BVerfGE 95, 408 (420); BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2014, Az.: 2 BvE 2/13, juris Rz. 53; ebenso Klein in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Bd. IV, Art. 38 Rn. 85 f. (Stand: 08/2018). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 035/19 Seite 11 GG) gilt, für die Vereinbarkeit von Paritätsbestimmungen zur Berücksichtigung von Personen des dritten Geschlechts mit dem Grundgesetz in seiner aktuellen Fassung eine größere Bedeutung. Die Bestimmungen des LWG Bbg könnten künftig Gegenstand einer Prüfung durch das Landesverfassungsgericht Brandenburg werden. Eine entsprechende Verfassungsbeschwerde planen derzeit sowohl die Piratenpartei Brandenburg34 als auch die Jungen Liberalen Brandenburg35. *** 34 Vgl. Pressemeldung der Piratenpartei Brandenburg vom 1. Februar 2019, abrufbar unter: https://www.piratenbrandenburg .de/2019/02/einladung-zur-pressekonferenz-anlaesslich-der-geplanten-verfassungsbeschwerde-gegen -das-parite-gesetz/. 35 Vgl. Pressemitteilung vom 22. Januar 2019, abrufbar unter https://julis-brandenburg.de/2019/junge-liberale-kuendigen -verfassungsbeschwerde-gegen-paritaetsgesetz-an.