AUSARBEITUNG Thema: Was ist Daseinsvorsorge ? Historische Entwicklung, aktueller Stand, Aufgaben der Kommunen, Bedeutung des Begriffs in der aktuellen Debatte Fachbereich III Verfassung und Verwaltung Tel.: Verfasser/in: Abschluss der Arbeit: 6. Februar 2006 Reg.-Nr.: WF III - 035/06 Ausarbeitungen von Angehörigen der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung des einzelnen Verfassers und der Fachbereichsleitung. Die Ausarbeitungen sind dazu bestimmt, das Mitglied des Deutschen Bundestages, das sie in Auftrag gegeben hat, bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. - 2 - 1. Historischer Hintergrund Die Verwaltung im liberalen Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts beschränkte sich weitgehend auf die Gewährleistung von Recht und Sicherheit und respektierte den von der bürgerlichen Gesellschaft in Anspruch genommenen Freiheitsbereich. Im sozialen Rechtsstaat des 20. Jahrhunderts stand die Verwaltung unter dem Druck der zunehmenden Industrialisierung und Technisierung, die Zusammenballung vieler Menschen auf engem Raum in Großstädten, die Verarmung weiter Bevölkerungsgruppen durch Kriegs- und Nachkriegszeiten, die Auflösung familiärer und nachbarschaftlicher Bindungen und Hilfen. Auf der anderen Seite fordern die steigenden Bedürfnisse und die wachsenden Ansprüche des Einzelnen den Staat immer mehr zur sozialen Aktivität heraus. In diesem Zusammenhang wird der von Forsthoff geprägte Begriff der „Daseinsvorsorge “ bedeutsam. Forsthoff hat mit seiner 1938 erschienen Schrift „Die Verwaltung als Leistungsträger“ als erster nachdrücklich auf die Entwicklung zur Leistungsverwaltung hingewiesen und mit dem Ausdruck der Daseinsvorsorge die staatliche Aufgabe zur Bereitstellung der für ein sinnvolles menschliches Dasein notwendigen Güter und Leistungen umschrieben1. Der Begriff der „Daseinsvorsorge“, teilweise auch als „Dienste, die im allgemeinen Interesse erbracht werden“, bezeichnet2, ist inzwischen zum Allgemeingut geworden, zugleich aber auch sowohl hinsichtlich seines inhaltlichen Umfangs als auch hinsichtlich seiner juristischen Relevanz umstritten. Nach deutschem Staats- und Verfassungsrecht werden unter Leistungen der Daseinsvorsorge wirtschafts-, gesellschafts-, sozialoder kulturpolitische Leistungen verstanden, die mit staatlichen Mitteln erbracht werden . Die Daseinsvorsorge erfasst somit Aufgaben, an deren Erfüllung ein besonderes allgemeines Interesse besteht, und deckt sich damit in weiten Teilen mit der öffentlichen Leistungsverwaltung. Zu den gemeinwohlorientierten Dienstleistungen zählen in Deutschland die Versorgung mit Energie und Wasser, Entsorgung der Abwässer und des Abfalls, Unterhaltung eines öffentlichen Personennahverkehrs, Post- und Telekommunikationsdienstleistungen, öffentlich-rechtlichen Medien, besondere Finanz- und Versicherungsdienstleistungen, Bereitstellung eines grundlegenden Schul- und Bildungssystems, zahlreiche soziale und karitative Dienste, 1 Hartmut Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Auflage, 2004, Rn. 6 ff. 2 So ist in deutschen Texten häufig von „Leistungen der Daseinsvorsorge“ die Rede oder es finden sich Ausdrücke wie „öffentliche Dienste“ oder „gemeinwohlorientierte Dienste“. Die direkte Übersetzung von Dokumenten der europäischen Institutionen aus anderen Sprachen trifft am ehesten der Begriff des „Allgemeininteresses“. Art. 86 Abs.2 EGV spricht von „öffentlichen Diensten“. Ungeachtet der begrifflichen Unschärfe ist damit in allen Fällen im Wesentlichen das Gleiche gemeint. Es handelt sich dabei um Dienste, die von der öffentlichen Verwaltung oder in ihrem Auftrag durch Dritte nicht- wettbewerblich erbracht werden. - 3 - die Erfüllung fundamentaler staatlicher Aufgaben, die Pflege eines Polizei- und Justizwesens und die Gewährleistung der äußeren und inneren Sicherheit. Ein weiteres Charakteristikum dieser gemeinwohlorientierten Dienstleitungen ist die Garantie des freien Zugangs zu ihnen in allen Regionen und zu erschwinglichen Preisen 3. 2. Kommunale Daseinsvorsorge Die kommunale Daseinsvorsorge ist verfassungsrechtlich im Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) verankert4 und wird in den Gemeindeordnungen der Bundesländer konkretisiert. Aus dem Zusammenhang von Daseinsvorsorge und Sozialstaatsprinzip folgt, dass DV die Umsetzung des Verfassungsauftrags zur staatlichen Fürsorge ist, die sich nicht in der Sicherung des Existenzminimums erschöpft5. Die Daseinsvorsorge hat somit eine mikro- und eine makrosoziale Komponente. In der Art und Weise der Umsetzung dieses Infrastrukturauftrags sind die Kommunen, wie das Recht auf kommunale Selbstverwaltung nach Art. 28 Abs. 2 GG zeigt, weitgehend frei6. Auch wenn sich aus dem Sozialstaatsprinzip die Pflicht zur Daseinsvorsorge ergibt, steht dies einer Privatisierung von Infrastrukturleistungen nicht entgegen. Es ist nur das „Was“ und nicht das „Wie“ vorgegeben7. Spätestens seit den achtziger Jahren des vergangen Jahrhunderts haben die Kommunen in großem Umfang Leistungen der Daseinsvorsorge aus ihren Kernverwaltungen ausgegliedert und auf rechtlich selbstständige Organisationseinheiten übertragen. „Vor allem die gemeindliche Daseinsvorsorge und der selbstverwaltungsrechtliche Garantiegehalt gemäß Art. 28 Abs. 2 GG verpflichten die Gemeinden nicht etwa, gemeindliche Verkehrs- und Versorgungsunternehmen, gemeindliche öffentliche Einrichtungen etc. in strikt eigener Vollzugszuständigkeit zu unterhalten, eröffnet den Kommunen vielmehr und durchaus auch das Mandat, private bzw. privatisierte Formen der Aufgabenverwaltung einzuführen und sich selbst auf die grundsätzlich subsidiäre Gewährleistungsverantwortung zu beschränken. Eine effektive Privatisierungspolitik von Bund, Ländern und Gemeinden muss sich ungleich stärker als bisher der Grundidee einer „Public Private Partnership“ und ihrer vielfältigen Synergien bedienen“8. 3 Peter Becker, Europäische Daseinsvorsorge: die Politik der EU zwischen Wettbewerb und Gemeinwohlverpflichtung , 2005, S.18 4 Herzog in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Kommentar, 2005, Art. 20 VIII, Rn. 12 ff. 5 Cless/Erdmenger/Gohde, Diakonie im europäischen Wettbewerb, 2000, S. 11 6 Articus, Sozialer Bundesstaat 66, 2005, S. 80 7 Schwark, Wirtschaftsordnung und Sozialstaatsprinzip, Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht , 1997, 3, S. 5, 19 8 Daseinsvorsorge und Liberalisierung kommunaler Daseinsvorsorge (www.brangsch.de/partizipation/dasein1.htm), Stellungnahme von Prof. Dr. R. Scholz CDU - 4 - 3. Europäische Marktintegration und mitgliedstaatliche Daseinsvorsorge Durch die Integration des Europäischen Binnenmarktes erfährt die Daseinsvorsorge erhebliche Veränderungen: Im europäischen Binnenmarkt sind Kommunen und von ihnen mit öffentlichen Aufgaben betraute Unternehmen gleichgeordnete Teilnehmer. Hier ist nach Anwendung und Reichweite der europäischen Markt- und Wettbewerbsregeln zu fragen und zu untersuchen, ob diese im Sinne sozialer Marktwirtschaft öffentlichen Aufgaben den nötigen Raum belassen. Problematisch ist auch die Einwirkung von unabhängigen privaten Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten auf die nationale Daseinsvorsorge. So ist z.B. fraglich, ob eine Kommune den Binnenmarkt stört, wenn sie ihr defizitäres Busunternehmen oder ein öffentliches Schwimmbad fördert oder stört der Binnenmarkt die Kommunen, wenn sie in eigener Verantwortung Leistungen für die Bürger organisieren9. Daseinsvorsorge betrifft das Verhältnis von Bürgern zum Staat. Hier ist zu fragen, welche gesicherte Teilhabe an kommunalen Leistungen die Unionsbürgerschaft vermittelt. Hat der Unionsbürger den vollen status positivus10 in Bezug auf kommunale Leistungen? Ist es verboten den Zugang zu diesen Leistungen, an den Wohnsitz anzuknüpfen? Wer über das Ob und Wie der DV entscheidet, betrifft die Kompetenzverteilung zwischen Ebenen öffentlicher Gewalt. Hier ist zu fragen, ob die europäische Ebene die kommunale Selbstverwaltung hinreichend achtet. Sind die Kommunen ohne rechtlichen Schutz, wenn ein „kommunalblindes“ Europa ihnen Aufgaben entzieht? Oder können sie sich auf das Subsidiaritätprinzip berufen11? Weiterhin ist zu klären, wie sich europäische Marktintegration zu mitgliedstaatlicher Daseinsvorsorge verhält. Als mit den Römischen Verträgen 1958 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet wurde, hatten alle Mitgliedstaaten ein ausgebautes System von Diensten im öffentlichen Interesse und Auftrag. Einige Bereiche öffentlicher DV wurden in allen Ländern vorgefunden. Dies sind insbesondere die Versorgungsbereiche Wasser, Strom, Gas und Abfall. Andere Bereiche sind national spezifisch12. 9 Zu den Erfahrungen mit der Liberalisierung einzelner Leistungen der Daseinsvorsorge (Telekommunikation , Verkehr, Energie) siehe: Mitteilung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften : „Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa“, BRats-Drs. 677/00, S.17(als Anlage 1 beigefügt); sowie Weißbuch der Kommission der Europäischen Gemeinschaften zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, BRats-Drs. 466/04 (als Anlage 2 beigefügt) 10 Leistungsrechte (status positivus), die dem Grundrechtsträger Anspruch auf staatliche Leistungen geben. 11 F. Welti, Daseinsvorsorge und Verfassungsvertrag in Archiv des öffentlichen Rechts 130, 2005 4, S.529-569 12 C. Linder, Daseinsvorsorge in der Verfassungsordnung der Europäischen Union, 2004, S. 121; vgl. zur Geltung der Grundfreiheiten für öffentliche Unternehmen: W. Weiß, EuR 2003, S. 165, 171 ff. - 5 - Im EGV (Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 1997) sind staatliche Sphäre und gemeinsamer Markt definiert worden, die weitgehend unverändert in der noch nicht ratifizierten europäischen Verfassung enthalten sind13. Danach finden die Grundfreiheiten des gemeinsamen Marktes keine Anwendung auf Tätigkeiten, die in einem Mitgliedstaat dauernd oder teilweise mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind14. Öffentliche Leistungen fallen danach nicht in den Bereich der Marktfreiheit , wenn kein Entgelt erhoben wird oder kein Bezug zwischen der Höhe eines Betrags und den Kosten der Leistungen besteht. 4. Aktuelle Debatte: Einfluss der Dienstleistungsrichtlinie auf die nationale Daseinsvorsorge 4.1. Zum Hintergrund Die Anfang 2004 von der EU- Kommission vorgeschlagene Richtlinie15 soll den europäischen Binnenmarkt für Dienstleistungen herstellen. Bestehende Hindernisse bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen und im Bereich der Niederlassung von Dienstleistungsunternehmen sollen dazu abgebaut werden. Allerdings geht der Richtlinienvorschlag der Kommission so weit, dass möglicherweise nicht nur Hindernisse abgebaut, sondern auch vorhandene europäische Gesetze und Grundprinzipien ausgehöhlt werden 16. 4.2. Die Richtlinie besteht aus zwei Hauptpfeilern: Abbau diskriminierender und „übermäßig belastender“ Regulierungen Einführung des Herkunftslandprinzips für grenzüberschreitende Dienstleistungen Das Herkunftslandprinzip bedeutet, dass ein Dienstleistungserbringer nur die rechtlichen Anforderungen des Landes erfüllen muss, in dem er niedergelassen ist (Herkunftsland ), auch wenn er in einem anderen Mitgliedstaat Dienste erbringen will, in dem er nicht dauerhaft präsent ist. Die Richtlinie soll, mit einigen Ausnahmen, für alle Arten entgeltpflichtiger Dienstleistungen gelten, das heißt auch für die Dienstleistungen der DV, sofern sie vom Staat gegen Entgelt angeboten werden. Hierbei hat man sich aber nicht klar auf kommerzielle Dienstleistungen beschränkt. Zwar wurden „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ gemäß der Definition der Mitgliedstaaten vom Wirkungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen, nicht jedoch „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“, das heißt Leistungen der DV die gegen Entgelt angeboten werden (Art. 2 KOM(2004)17). 13 Art. 45, 50, 86 EGV (entsprechend Art. III-139, III-145 und III-166 Europäische Verfassung) 14 Art. 45 EGV (Art. III-139 Europäische Verfassung) 15 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Dienstleistungen im Binnenmarkt, KOM(2004) 2 endgültig/2 siehe: europa.eu.int/eurlex /de/com/pdf/2004/com2004_0002de02.pdf 16 hinzuweisen ist auch auf die Verhandlungen zur Dienstleistungsliberalisierung in der WTO (GATS- Abkommen), siehe: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion der PDS – Drucksache 14/8845 (als Anlage 3 beigefügt) 17 siehe Fußnote 14 - 6 - Kritisch kann hierzu angemerkt werden, dass Leistungen der Daseinsvorsorge als ein substanzieller Bestandteil des europäischen Sozialmodells nicht unter den Anwendungsbereich der Dienstleistungsrichtlinie fallen sollten. Eine strikte Begrenzung der Richtlinie auf kommerzielle Dienstleistungen wäre eine mögliche Lösung. 5. Ausblick Trotz der gegenwärtigen heftigen öffentlichen Diskussion gibt sich die Europäische Kommission zuversichtlich, dass die Richtlinie zur Öffnung der Dienstleistungsmärkte doch noch verabschiedet wird18. Dieser optimistischen Prognose von Industriekommissar Verheugen werden sich nicht alle mit der Richtlinie Befassten vorbehaltlos anschließen wollen: Zu groß erscheinen die Vorbehalte, die bei manchen vor allem gegenüber dem Herkunftslandprinzip noch bestehen. Man wird sehen müssen, welche Kompromissmöglichkeiten die Textfassung bieten wird, die nach der Debatte im Plenum des Europäischen Parlaments am 14./15. Februar 2006 verabschiedet werden wird. Nach jetzigem Stand sieht es so aus, als werde der Rat nicht alle Änderungsvorschläge des Parlaments ohne weiteres akzeptieren, so dass eine zweite Lesung und ggf. ein Vermittlungsverfahren erforderlich werden könnten . Die Bundesregierung will noch vor der Debatte im Europäischen Parlament ihre Haltung zur Richtlinie festlegen. Inwieweit dann am Ende ein in Rat und EP mehrheitsfähiger Kompromissvorschlag deutlich über das hinausgehen wird, was die in den Verträgen verankerte und vom EuGH weit verstandene Dienstleistungsfreiheit schon jetzt gewährt, bleibt abzuwarten19. In ihrer Regierungserklärung vom 30.11.2005 nimmt die Bundeskanzlerin Angela Merkel keine Stellung zur Haltung der Bundesregierung zur Europäischen Dienstleistungsrichtlinie 20. Hinzuweisen ist auf die Große Anfrage der Fraktion DIE LINKE., deren Beantwortung durch die Bundesregierung noch aussteht21. 18 Kafsack, Hendrik, Für die Richtlinie und gegen Dumping, F.A.Z. vom 26.01.2006 19 Näheres zur aktuellen Debatte s. Anlage „Die Dienstleistungsrichtlinie - Stand der Diskussion“ (als Anlage 4 beigefügt) 20 PlenProt 16/4, S. 76 ff. (76 C) 21 Drs. 16/136 (als Anlage 5 beigefügt)