© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 027/20 Fragen zur Lockerung des allgemeinen Verbots der Ladenöffnung am Sonntag gemäß Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV für den Einzelhandel unter besonderer Berücksichtigung von Spätverkaufsstellen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. 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Gefragt wird zum einen, ob die gesetzliche Erlaubnis einer durchgehenden Ladenöffnung für den allgemeinen stationären Einzelhandel am Sonntag gegen Art. 140 Grundgesetz (GG) i. V. m. Art. 139 Weimarer Verfassung (WRV) verstoßen würde. Es wird weiter um Prüfung gebeten, ob eine Ausnahmeregelung vom allgemeinen sonntäglichen Ladenöffnungsverbot für Spätverkaufsstellen („Spätis“) eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung dieser Verkaufsstellen gegenüber dem stationären Einzelhandel und damit einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG bedeuten würde. Schließlich wird nach den Konsequenzen gefragt, die eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde im Fall einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung durch eine gesetzliche Regelung entfalten würde. 2. Verstoß gegen den verfassungsrechtlich garantierten Sonntagsschutz aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV durch die allgemeine Erlaubnis zur Ladenöffnung am Sonntag Die Gesetzgebungskompetenz für das Ladenschlussrecht liegt bei den Bundesländern, Art. 74 Nr. 11 GG. Grundsätzlich kommt dem Gesetzgeber gerade auch im Bereich der Ladenöffnungszeiten ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Bei der Ausgestaltung der Ladenöffnungszeiten haben die Länder den Schutzauftrag zu beachten, der ihnen gemäß Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV obliegt. Art. 140 GG i. V. m. Art 139 WRV schützt die Sonntage und die staatlich anerkannten Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung.1 Nach allgemeiner Ansicht folgt aus diesen Normen, dass die Institution des Sonntags unmittelbar durch die Verfassung garantiert ist. Ein Kernbestand an Sonn- und Feiertagsruhe ist unantastbar, im Übrigen besteht Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers.2 Der Gesetzgeber hat den Sonn- und Feiertagsschutz gesetzlich auszugestalten. Dabei hat er den Sonntagsschutz auf der einen mit der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG sowie der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG auf der anderen Seite in Ausgleich zu bringen.3 Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts erfordert Art. 140 GG i. V. m. Art 139 WRV ein deutliches Regel-Ausnahme-Verhältnis: Grundsätzlich hat die typische werktägliche Geschäftstätigkeit an diesen Tagen im öffentlichen Leben soweit wie möglich zu ruhen.4 Das Bundesverfassungsgericht erkennt an, dass es weitreichende Ausnahmen von der Arbeitsruhe sowohl durch die 1 BVerfGE 125, 39 (82); BVerfGE 143, 161 Rn. 60. Siehe dazu auch den Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Einschränkungen durch den Sonn- und Feiertagsschutz, WD 3 - 3000 - 362/18 vom 12. Oktober 2018. 2 BVerfGE 111, 10 (50). 3 BVerfGE 125, 39 (85). 4 BVerfGE 125, 39 (85). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 027/20 Seite 4 „Arbeit für den Sonntag“ als auch durch die „Arbeit trotz des Sonntags“ gibt.5 An die Rechtfertigung der Ausnahmen vom Sonn- und Feiertagsschutz sind aber hohe Anforderungen zu stellen, um den Grundsatz des Arbeitsverbotes nicht auszuhöhlen.6 Ausnahmen können nur auf kollidierendes Verfassungsrecht, also auf Grundrechte Dritter oder sonstige Rechtsgüter mit Verfassungsrang gestützt werden.7 Ein bloß wirtschaftliches Umsatzinteresse der Verkaufsstelleninhaber und ein alltägliches Erwerbsinteresse potenzieller Käufer genügen nicht.8 Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2009 zur Ladenöffnung an Adventssonntagen betont, dass die Ladenöffnung wegen ihrer öffentlichen Wirkung den Charakter des Tages in besonderer Weise präge. Es gehe von ihr eine für jedermann wahrnehmbare Geschäftigkeits - und Betriebsamkeitswirkung aus, die typischerweise den Werktagen zugeordnet werde. Die Ladenöffnung bestimme maßgeblich das öffentliche Bild des Tages. Damit würden notwendig auch diejenigen betroffen, die weder arbeiten müssten noch einkaufen wollten, sondern Ruhe und seelische Erhebung suchten.9 Eine Erlaubnis durchgehender Ladenöffnungszeiten am Sonntag für den gesamten stationären Einzelhandel würde das vom Bundesverfassungsgericht geforderte Regel- Ausnahme-Verhältnis verkehren. Aufgrund der vom Gericht festgestellten besonderen öffentlichen Wirkung der Ladenöffnung würde eine generelle Erlaubnis den unantastbaren Kern des Sonntagsschutzes berühren und wäre damit verfassungswidrig.10 3. Zum Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG durch eine Ausnahmeregelung für Spätverkaufsstellen Die Ladenöffnungsgesetze der Bundesländer sehen zahlreiche Ausnahmetatbestände vom allgemeinen Ladenöffnungsverbot am Sonntag vor. So dürfen bestimmte Verkaufsstellen (bspw. Tankstellen) oder Verkaufsstellen, die bestimmte Waren anbieten (bspw. Backwaren, Blumen, touristische Andenken), bzw. die an bestimmten Orten liegen (Fernbahnhof, Flughafen, Busbahnhof) an Sonnund Feiertagen – z. T. zeitlich limitiert – öffnen.11 § 4 Abs. 1 Nr. 3 Hessisches Ladenöffnungsgesetz (HLöG) sieht eine Ausnahmevorschrift für Kioske vor.12 Nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 d) Niedersächsisches Gesetz über Ladenöffnungs- und Verkaufszeiten13 gilt eine Ausnahme für Verkaufsstellen, „für den Verkauf von Waren zum sofortigen Verzehr zwecks Deckung örtlich auftretender Bedürfnisse“. 5 BVerfGE 125, 39 (87). Siehe auch Morlok, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2018, Art. 139 Rn. 28 f. 6 BVerfGE 111, 10 (50). 7 Unruh, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar 7. Auflage 2018, Art. 139 WRV, Rn. 33. 8 BVerfGE 125, 39 (87). 9 BVerfGE 125, 39 (90 f.). 10 Siehe dazu auch OVG Greifswald, Urteil vom 7.4.2010 - 4 K 14/09, BeckRS 2010, 47936 8 (Verbot ganzjähriger Ladenöffnungszeiten an Sonntagen in Kurorten); Ehlers, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 139 Rn. 11. 11 Vgl. bspw. §§ 4, 5 und 6 Abs. 2 Berliner Ladenöffnungsgesetz (BerlLadÖffG) vom 14. November 2006. 12 Hessisches Ladenöffnungsgesetz (HLöG) vom 23. November 2006. 13 Niedersächsisches Gesetz über Ladenöffnungs- und Verkaufszeiten (NLöffVZG) vom 8. März 2007. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 027/20 Seite 5 Für Spätverkaufsstellen gibt es derzeit keine Ausnahmeregelung. Da auch kein entsprechender Gesetzentwurf zur Prüfung vorliegt, können hier nur grundsätzliche Überlegungen angestellt werden. 3.1. Zum Begriff der Spätverkaufsstelle Der Begriff der Spätverkaufsstelle ist nicht legal definiert. Er stammt aus der DDR und bezeichnet eine Verkaufsstelle, die außerhalb der regulären Öffnungszeiten von Lebensmittelgeschäften oder Supermärkten geöffnet ist. Ursprünglich dienten die Spätverkaufsstellen zur Versorgung der Schichtarbeiter . Aufgrund der Ausweitung der allgemeinen Ladenöffnungszeiten14 hat das Alleinstellungsmerkmal der Spätverkaufsstellen an Bedeutung verloren. Das Warensortiment einer Spätverkaufsstelle umfasst regelmäßig Getränke (alkoholische und nicht-alkoholische), Lebensmittel und weitere Waren des täglichen Bedarfs, Printmedien und Tabak. Nicht zuletzt aufgrund der regelmäßig kleinen Ladenfläche ist das Warenangebot begrenzt. Häufig handelt es sich bei den „Spätis“ um inhabergeführte Läden oder Familienbetriebe.15 3.2. Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln, es sei denn, ein abweichendes Vorgehen wäre sachlich gerechtfertigt.16 Bezugspunkt für die verfassungsrechtliche Relevanz einer Ungleichbehandlung von verschiedenen Personengruppen ist deren Vergleichbarkeit. Die Vergleichsgruppenbildung bereitet vorliegend Schwierigkeiten. Es fehlt an einem griffigen Differenzierungsmerkmal zwischen Verkaufsstellen des allgemeinen stationären Einzelhandels einerseits und Spätverkaufsstellen andererseits. Begrifflich werden Spätverkaufsstellen gegenüber anderen Verkaufsstellen durch das Merkmal „Öffnung außerhalb der regulären Öffnungszeiten“ abgegrenzt. Dieses Merkmal beschreibt allerdings die Rechtsfolgen einer Ausnahmeregelung, trägt aber nicht dazu bei, den Adressatenkreises einer solchen zu bestimmen. Eine Differenzierung müsste daher an anderen Merkmalen ansetzen, die derzeit bei Spätverkaufsstellen regelmäßig zu beobachten sind: In Betracht kommen sowohl quantitative Merkmale, bspw. eine kleine Verkaufsfläche, als auch qualitative Merkmale, bspw. ein auf Getränke, Lebensmittel und Waren des täglichen Bedarfs beschränktes Warensortiment sowie die besondere Form der Geschäftsleitung (inhabergeführt, Familienbetrieb). Diese Merkmale sind freilich nicht nur Spätverkaufsstellen eigen, sondern treffen auch auf andere Verkaufsstellen des stationären Einzelhandels zu. Insofern stellt sich für den Gesetzgeber die Herausforderung, eine Regelung zu treffen, die Spätverkaufsstellen mit hinreichender Bestimmtheit von anderen Verkaufsstellen des stationären Einzelhandels abzugrenzen vermag. Da auch einige Supermärkte inhabergeführt sind, kommt als Definition für „Spätverkaufsstellen“ am ehesten eine Regelung in Betracht, die eine bestimmte maximale Größe für die Verkaufsfläche vorsieht , kombiniert mit beschränkenden Vorgaben im Hinblick auf das Warenangebot (bspw. nach 14 Vgl. bspw. § 3 Abs. 1 BerlLadÖffG, durch den die werktäglichen Ladenöffnungszeiten auf 24 Stunden ausgeweitet wurden. 15 Siehe hierzu auch Böttner, Der „Späti“ als Problem des Sächsischen Ladenöffnungsrechts, Sächsische Verwaltungsblätter 2016, 273. 16 Kischel, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, 42. Edition, Stand: 1. Dezember 2019, Einleitung zu Art. 3. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 027/20 Seite 6 dem Vorbild des § 4 Abs. 1 Nr. 3 HLöG: Zeitungen, Zeitschriften, Tabakwaren, Lebens- und Genussmittel in kleineren Mengen). Den auf diese Weise definierten Spätverkaufsstellen stünden als Vergleichsgruppe die Verkaufsstellen des allgemeinen stationären Einzelhandels gegenüber, die über größere Verkaufsflächen und ein breiteres Warenangebot verfügen. Eine gesetzliche Ausnahme vom Verbot der Ladenöffnung am Sonntag für Spätverkaufsstellen führt zu einer Ungleichbehandlung der Verkaufsstellen des allgemeinen stationären Einzelhandels, die nicht am Sonntag öffnen dürfen. 3.3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Für die Frage der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung kommt es darauf an, ob zwischen den Vergleichsgruppen Unterschiede solcher Art bestehen, dass eine Ungleichbehandlung durch einen „hinreichend gewichtigen Grund“17 sachlich gerechtfertigt ist. Nach neuerer Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergeben sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG „je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die stufenlos von gelockerten, auf ein Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen reichen können“18. Verschärfte Anforderungen an den Gesetzgeber gelten nach den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Fallgruppen insbesondere dann, wenn durch die Differenzierung Freiheitsgrundrechte betroffen sind.19 Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit hat umso strenger auszufallen, je stärker sich die Ungleichbehandlung auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann.20 In Betracht kommt hier eine Beeinträchtigung der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG des allgemeinen stationären Einzelhandels, da dieser anders als die Spätverkaufsstellen weiterhin vom Ladenöffnungsverbot am Sonntag betroffen wäre. Der Eingriff in die Berufsfreiheit ist aus folgenden Gründen als wenig intensiv zu bewerten: Es handelt sich bei dem Ladenöffnungsverbot am Sonntag um eine Berufsausübungsregelung, für deren Rechtfertigung nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls“ genügen.21 Solche liegen mit der gesetzgeberischen Umsetzung des Verfassungsgebots der Sonnund Feiertagsruhe aus Art. 140 GG i V m. Ar 139 WRV vor. Das Öffnungsverbot am Sonntag steht zudem umfangreichen Möglichkeiten der Ladenöffnung an Werktagen gegenüber. So haben die Bundesländer die Öffnungszeiten an Werktagen weitgehend liberalisiert; vielfach sind unbeschränkte 17 BVerfGE 100, 138 (174). 18 BVerfGE 129, 49 (1. Leitsatz) Hervorhebungen nur hier; vgl. auch Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, 15. Auflage 2018, Art. 3 Rn. 16. 19 Kischel, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, 42. Edition Stand: 1. Dezember 2019, Art. 3 Rn. 45; Wollenschläger, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 3 Rn. 132. 20 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, 15. Auflage 2018, Art. 3 Rn. 22 mit Rechtsprechungsnachweisen. 21 BVerfGE 7, 377 (405); Knauff, Sonntagsruhe zwischen Verfassungsgebot und Kommerzialisierung, GewArch 2016, 217 (222). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 027/20 Seite 7 Öffnungszeiten an Werktagen möglich. All dies spricht dafür, dass kein strenger Maßstab an die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung zu stellen ist. Es stellt sich die Frage, auf welchen sachgerechten Erwägungen der Gesetzgeber die Ausnahmeregelung für Spätverkaufsstellen stützen kann. In Betracht kommen insbesondere die veränderten Einkaufsgewohnheiten der Kunden und der daraus resultierende Bedarf, Lebensmittel, Getränke und Waren des täglichen Bedarfs an jedem Tag einkaufen zu können.22 In der öffentlichen Diskussion um die Sonntagsöffnung von „Spätis“ in Berlin werden als Argumente zudem das wirtschaftliche Interesse der Inhaber von Spätverkaufsstellen sowie der „Kultstatus“ dieser Verkaufsstellen angeführt . „Spätis“ würden zu Berlin dazu gehören. Ihre Existenz sei bei konsequenter Umsetzung des geltenden Berliner Ladenöffnungsgesetzes gefährdet, da der Sonntag für sie der umsatzstärkste Tag sei.23 Die beiden zuletzt genannten Argumente dürften jedoch nicht geeignet sein, die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen. Wie oben ausgeführt, fällt es äußerst schwer, Spätverkaufsstellen zu definieren und gegenüber dem allgemeinen Einzelhandel abzugrenzen. Dies spricht gegen die Annahme, dass es sich bei „Spätis“ um Einrichtungen handelt, denen ein schutzwürdiger „Kultstatus“ zukommt. Auch kann allein das wirtschaftliche Umsatzinteresse nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts keine Ausnahme vom Sonn- und Feiertagsschutz aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV rechtfertigen.24 Das Umsatzinteresse der „Späti“-Inhaber kann daher auch keinen legitimen Grund zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung darstellen. Einer weitergehenden Prüfung bedarf hingegen das Argument der veränderten Einkaufsgewohnheiten und dem daraus resultierenden Bedarf, an jedem Tag in der Woche Lebensmittel, Getränke und Waren des täglichen Bedarfs einkaufen zu können. Hier gilt es im Hinblick auf die verschieden Arten von Einzelhandelsgeschäften zu differenzieren: Im Hinblick auf den allgemeinen stationären Einzelhandel, der andere Waren wie bspw. Bekleidung , Elektronik, Wohnbedarf anbietet, spricht viel dafür, dass dies die Ungleichbehandlung sachlich rechtfertigen kann: Bei der Gestaltung der Ladenöffnungszeiten hat der Gesetzgeber den verfassungsrechtlichen Schutzauftrag aus Art. 140 GG i. V. m. Art 139 WRV zu beachten. Eine allgemeine Erlaubnis zur Ladenöffnung am Sonntag wäre – wie oben dargestellt – verfassungswidrig . Ausnahmen können nur auf kollidierendes Verfassungsrecht, also auf Grundrechte Dritter oder sonstige Rechtsgüter mit Verfassungsrang gestützt werden.25 Eine Ungleichbehandlung, die darauf beruht, ob Lebensmittel, Getränke sowie Waren des alltäglichen Bedarfs – und damit Gegenstände des unmittelbaren Lebensbedarfs – angeboten werden oder ob dem Bedarf am darüber 22 Siehe dazu Böttner, Der „Späti“ als Problem des Sächsischen Ladenöffnungsrechts, Sächsische Verwaltungsblätter 2016, 273 (279 ff.). 23 Vgl. bspw. den Artikel im Tagesspiegel vom 5. Juli 2029, Es geht nicht nur um Spätis: Der erbitterte Kampf um Öffnungszeiten in Berlin, abrufbar unter: https://www.tagesspiegel.de/berlin/es-geht-nicht-nur-um-spaetis-dererbitterte -kampf-um-oeffnungszeiten-in-berlin/24526812.html (letzter Abruf 9. März 2020). 24 BVerfGE 125, 39 (98). 25 Unruh, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar 7. Auflage 2018, Art. 139 WRV, Rn. 33. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 027/20 Seite 8 hinausgehenden Einkaufserlebnis gedient werden soll, berücksichtigt diese Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zum Sonntagsschutz. Ob eine derartige Begründung die Ungleichbehandlung von Supermärkten und Getränkemärkten rechtfertigen kann, erscheint aus folgenden Erwägungen fraglich: Im Hinblick auf das Warenangebot allein bestehen keine solchen Unterschiede, die eine Privilegierung der Spätverkaufsstellen sachlich rechtfertigen können. Vielmehr decken Supermärkte und Getränkemärkte eben diesen Bedarf ab. Ein Anknüpfen an die Größe der Verkaufsfläche wäre mit Blick auf die Bedarfsdeckung sogar kontraproduktiv. So können insbesondere Supermärkte dem Bedarf besser nachkommen, da sie nicht zuletzt aufgrund der größeren Verkaufs- und Lagerfläche ein breiteres Angebot – auch an frischen Lebensmitteln – bereithalten können. Allerdings haben größere Geschäfte eine verstärkte Außenwirkung, die in erheblicherem Umfang dazu geneigt ist, die Sonn- und Feiertagruhe zu stören .26 Soweit den Spätverkaufsstellen eine deutlich geringere störende Außenwirkung zukommen würde, könnte hierin ein Grund zu sehen sein, der geeignet ist, die Privilegierung von Spätverkaufsstellen zu rechtfertigen. Letztlich ist dies eine Frage der tatsächlichen Begebenheiten mit Blick auf Anzahl und Dichte der verschiedenen Verkaufsstellen und ihrer Außenwirkung, die hier nicht abschließend beantwortet werden kann. Im Hinblick auf Warenhäuser sind weitere Besonderheiten zu beachten, die zur Rechtfertigung ihrer Ungleichbehandlung gegenüber Spätverkaufsstellen herangezogen werden können: Aufgrund ihres umfassenden Angebots kommt ihnen eine Zwitterstellung zu. Prägend für den Charakter eines Warenhauses ist, dass ein branchenübergreifendes, breites Sortiment unter einem Dach angeboten wird. Warenhäuser bieten zwar auch Lebensmittel und Getränke an, dieses Angebot spielt im Gegensatz zu Supermärkten und Getränkemärkten aber eine eher untergeordnete Rolle. Wie größere Supermarktketten verfügen Warenhäuser über große Verkaufsflächen. Zudem sind sie regelmäßig in der Innenstadt bzw. in Innenstadtnähe gelegen. Ihrer Außenwirkung kommt damit noch stärkeres Gewicht als Supermärkten und Getränkemärkten zu, denn sie prägen die für jedermann wahrnehmbare Geschäftigkeits- und Betriebsamkeit im städtischen Gepräge. 3.4. Fazit Es zeigt sich, dass die Bestimmung von Spätverkaufsstellen schwierig ist. Die sachliche Rechtfertigung einer Ausnahmeregelung nur für kleine Verkaufsstellen, die ausschließlich Lebensmittel, Getränke und Waren des alltäglichen Bedarfs anbieten, trifft im Hinblick auf Supermärkte, Getränkemärkte und Warenhäuser auf Bedenken. In Betracht kommt, dass eine Ausnahmeregelung für Spätverkaufsstellen mit dem Bedarf, jederzeit seinen unmittelbaren Lebensbedarf decken zu können, sowie mit ihrer im Vergleich zu größeren Einkaufsmärkten und Warenhäusern geringeren, die Sonn- und Feiertagruhe störenden Außenwirkung begründet werden kann. Dies ist letztlich eine Frage der tatsächlichen Begebenheiten. Eine Ausnahmeregelung für sämtliche Verkaufsstellen, die Lebensmittel und Getränke anbieten, würde zu so weitreichenden Ausnahmen vom Sonntagsschutz führen, dass große Zweifel an ihrer Vereinbarkeit mit dem Sonntagsschutz aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 GG bestehen. 26 So auch Böttner, Der „Späti“ als Problem des Sächsischen Ladenöffnungsrechts, Sächsische Verwaltungsblätter 2016, 273 (280). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 027/20 Seite 9 4. Folgen einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde aufgrund einer Verletzung des Gleichheitssatzes Die Folgen einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde regelt § 95 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG). Gibt das Bundesverfassungsgericht einer Verfassungsbeschwerde statt, so ist gemäß § 95 Abs. 1 S. 1 BVerfGG in der Entscheidung festzustellen, welche Vorschrift des Grundgesetzes verletzt wurde und durch welche Handlung oder Unterlassung diese Verletzung erfolgte. Im Hinblick auf die Rechtsfolgen, die sich aus der Feststellung der Verfassungswidrigkeit ergeben, differenziert § 95 BVerfGG zwischen Verfassungsbeschwerden gegen eine Entscheidung (Abs. 2) und Verfassungsbeschwerden gegen ein Gesetz (Abs. 3). Unter Entscheidungen sind alle behördlichen und gerichtlichen Einzelakte zu verstehen.27 § 95 Abs. 2 BVerfGG sieht als Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit einer fachgerichtlichen bzw. behördlichen Entscheidung grundsätzlich die Aufhebung dieser Entscheidung und ggf. die Zurückverweisung der Streitsache in das fachgerichtliche Ausgangsverfahren vor.28 § 95 Abs. 3 BVerfGG regelt die Rechtsfolge für den Fall, dass sich die Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen ein Gesetz (S. 1) oder mittelbar gegen ein Gesetz richtet, weil die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Entscheidung auf einem verfassungswidrigen Gesetz beruht (S. 2). § 95 Abs. 3 S. 3 BVerfGG ordnet an, dass ein verfassungswidriges Gesetz für nichtig erklärt wird. Die Nichtigkeit wirkt ex tunc, d. h. die verfassungswidrige Norm war von Anfang an rechtsunwirksam .29 Anstelle einer Nichtigkeitserklärung kann das Bundesverfassungsgericht auch die Unvereinbarkeit der betroffenen Norm mit den verletzten Vorschriften des Grundgesetzes feststellen, vgl. § 31 Abs. 2 S. 2 BVerfGG. Die Unvereinbarkeitserklärung beseitigt die verfassungswidrige Norm nicht.30 Sie verpflichtet den Gesetzgeber eine Neuregelung zu treffen, die die Rechtslage so ändert, dass sie „im Lichte der die Verfassungswidrigkeit feststellenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts den Anforderungen der Verfassung genügt“31. Zudem ermöglicht sie dem Bundesverfassungsgericht für den Übergangszeitraum flexiblere Lösungen als die Nichtigkeit der Norm anzuordnen.32 27 Von Ungern-Sternberg, in: Walter/Grünewald, BeckOK BVerfGG, 7. Edition, Stand: 1. Juni 2019, § 95 Rn. 17. 28 Hömig, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Werkstand: 57. EL Juni 2019, § 95 Rn. 20. 29 Ausführlich dazu Hömig, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Werkstand : 57. EL Juni 2019, § 95 Rn. 39. 30 Ausführlich zu den Rechtsfolgen siehe Hömig, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz , Werkstand: 57. EL Juni 2019, § 95 Rn. 50. 31 Hömig, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Werkstand: 57. EL Juni 2019, § 95 Rn. 51. 32 Siehe dazu die Rechtsprechungsübersicht von Korioth, in: Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Auflage 2018, Rn. 405 ff. sowie die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Nichtumsetzung eines Regelungsauftrags des Bundesverfassungsgerichts durch den Gesetzgeber, WD 3 - 3000 - 137/18 vom 9. Mai 2018. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 027/20 Seite 10 Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eine Unvereinbarkeitserklärung insbesondere dann geboten, wenn der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten hat, den Verfassungsverstoß zu beseitigen.33 Das ist regelmäßig bei der Verletzung des Gleichheitssatzes der Fall.34 In bestimmten Fällen kann aber auch bei einer Verletzung des Gleichheitssatzes eine Nichtigkeitserklärung geboten sein und zwar, wenn mit Rücksicht auf einen zwingenden Verfassungsauftrag oder nach sonstigen Umständen des Einzelfalls die Nichtigkeit der Norm als einzige Möglichkeit zur Beseitigung des Verfassungsverstoßes in Betracht kommt.35 *** 33 Statt vieler: BVerfGE 131, 239 (264) m.w.N. 34 Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 3 Rn. 132. 35 Korioth, in: Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Auflage 2018, Rn. 401; BVerfGE 81, 156 (200).