© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 025/20 Verfassungsrechtliche Fragen zum Sonntagsschutz Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 025/20 Seite 2 Verfassungsrechtliche Fragen zum Sonntagsschutz Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 025/20 Abschluss der Arbeit: 20.02.2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 025/20 Seite 3 1. Einleitung und Fragestellung Die Ausarbeitung befasst sich mit Möglichkeiten einer Lockerung des allgemeinen Verkaufsverbots für den Einzelhandel an Sonntagen. Die Gesetzgebungskompetenz für das Ladenschlussrecht liegt bei den Bundesländern, Art. 74 Nr. 11 Grundgesetz (GG). In allen Ladenschlussgesetzen der Länder ist eine allgemeine Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen grundsätzlich verboten. Dies entspricht dem Schutzauftrag aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 Weimarer Verfassung (WRV), der das Institut des Sonntags verfassungsrechtlich garantiert und den Staat an dessen Zweckbestimmungen der „Arbeitsruhe“ und „seelischen Erhebung“ bindet. Daraus ist ein grundsätzliches verfassungsrechtliches Verbot werktäglicher Arbeiten an Sonntagen abzuleiten.1 Zunächst wird auf die Möglichkeit einer Änderung von Art. 140 GG durch die Streichung des dortigen Verweises auf Art. 139 WRV eingegangen. Anschließend wird die Frage erörtert, ob der Sonntagsschutz bereits grundrechtlich determiniert ist. Abschließend wird auf den veränderten rechtlichen Rahmen des einfachgesetzlichen Sonntagsschutzes im Falle einer Streichung des Art. 139 WRV eingegangen. 2. Möglichkeit einer Streichung des Verweises auf Art. 139 WRV aus Art. 140 GG Die materielle Verfassungsmäßigkeit von Grundgesetzänderungen richtet sich allein nach Art. 79 Abs. 3 GG.2 Danach dürfen Grundgesetzänderungen nicht die in den Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze berühren (sogenannte Ewigkeitsgarantie). Allgemein wird im Hinblick auf den Ausnahmecharakter der Vorschrift und die durch sie hervorgerufene Beschränkung der Volkssouveränität eine restriktive Auslegung gefordert; eine Berührung wird lediglich bei prinzipieller Preisgabe der Grundsätze angenommen.3 Gemäß Art. 79 Abs. 3 GG sind der Schutz der Menschenwürde und das Bekenntnis zu den Menschenrechten aus Art. 1 Abs. 1 und 2 GG abänderungsfest. Dies gilt auch für die Grundrechtsbindung in Art. 1 Abs. 3 GG. Daraus folgt, dass ein Mindestbestand an Grundrechten garantiert ist. Der Schutz der „Menschenwürde“ bliebe ohne die Konkretisierung , die diese in den Einzelgrundrechten gefunden hat, inhaltsleer.4 Der „Menschenwürdegehalt “ der Grundrechte ist unantastbar.5 Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nehmen die Grundrechte aus Art. 2 bis 19 GG insofern an der Unabänderlichkeit des Art. 1 Abs. 1 GG teil, als sie „zur Aufrechterhaltung einer dem Art. 1 Abs. 1 und 2 GG entsprechenden Ordnung unverzichtbar sind“6. Ebenfalls von Art. 79 Abs. 3 GG geschützt sind der Kerngehalt des Art. 20 GG 1 Morlok, in: Dreier, GG-Kommentar, 3. Auflage, 2013, Art. 139 WRV Rn. 11. 2 Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar, 3. Auflage, 2013, Art. 79 Abs. 3 GG Rn. 14. 3 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, 15. Auflage, 2018, Art. 79 GG Rn. 9 f. 4 Bryde, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 6. Auflage 2012, Art. 79 Rn. 37. 5 Bryde, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 6. Auflage 2012, Art. 79 Rn. 37. 6 BVerfGE 109, 279 (310); BVerfGE 84, 90 (121). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 025/20 Seite 4 und damit Grundelemente des Sozialstaatsprinzips wie mitmenschliche Solidarität, die Vor- und Fürsorge sowie der Schutz sozial Schwacher.7 Art. 139 WRV selbst stellt kein Grundrecht oder grundrechtsgleiches Recht dar.8 Nach allgemeiner Auffassung in Rechtsprechung und Literatur stärkt und konkretisiert Art. 139 WRV den Schutz verschiedener Grundrechte, insbesondere die Religionsfreiheit aus Art. 4 GG und sichert deren Voraussetzungen.9 Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass der Sonn- und Feiertagsgarantie ein besonderer Bezug zur Menschenwürde beigemessen werden kann, da diese „dem ökonomischen Nutzdenken eine Grenze zieht und dem Menschen um seiner selbst willen dient“10. Überdies konkretisiert Art. 139 WRV nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG.11 Nach allgemeiner Auffassung in der Literatur erfordern die Grundsätze aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 1 GG aber nicht zwingend den von Art. 139 WRV garantierten Sonn- und Feiertagsschutz .12 Die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG steht daher einer Streichung des Verweises auf Art. 139 WRV aus Art. 140 GG nicht entgegen.13 Dem ist zuzustimmen. Es spricht nichts dafür, dass der Menschenwürdegehalt des Grundrechts auf Religionsfreiheit gemäß Art. 4 GG die Garantie einer Arbeitsruhe am Sonntag erfordern würde. Es ist zudem nicht ersichtlich, dass der von Art. 139 WRV garantierte Sonntagsschutz unverzichtbar für die Aufrechterhaltung einer dem Art. 1 Abs. 1 und 2 GG entsprechenden Ordnung wäre und damit der Ewigkeitsgarantie unterfällt. 3. Sonntagsschutz aus Art. 4 GG bzw. anderen Grundrechten? Wie oben dargestellt, konkretisiert Art. 139 WRV staatliche Schutzpflichten aus Art. 4 GG.14 Zudem weist Art. 139 WRV Bezüge zu anderen Grundrechten auf: Die garantierte Arbeitsunterbrechung schafft Voraussetzungen für die von Art. 2 Abs. 2 GG geschützte körperliche Unversehrtheit, 7 Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar, 3. Auflage, 2013, Art. 79 Abs. 3 GG Rn. 45 f. 8 BVerfGE 19, 129 (135); 125, 39 (79 f.). 9 BVerfGE 125, 39 (80). 10 BVerfGE 125, 39 (82). 11 BVerfGE 125, 39 (82). 12 Korioth, in: Maunz/Düring, GG-Kommentar, 88. EL August 2019, Art. 139 WRV Rn. 6a m. w .N. 13 Korioth, in: Maunz/Düring, GG-Kommentar, 88. EL August 2019, Art. 139 WRV Rn. 6a; Unruh, in: von Mangoldt/ Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage, 2018, Art. 139 WRV Rn. 7. 14 Couzinet/Weiss, Das Verhältnis von Art. 4 GG zu Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht (ZevKR) 2009, 34 (56); BVerfGE 125, 39 (79). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 025/20 Seite 5 ermöglicht im Sinne des staatlichen Schutzauftrages des Art. 6 Abs. 1 GG gemeinsame Freizeitgestaltung innerhalb von Familie und Ehe und gestaltet die Vereinigungsfreiheit des Art. 9 Abs. 1 GG näher aus, da sie Aktivitäten in gesellschaftlichen Verbänden fördert.15 Es stellt sich die Frage, inwieweit der Gesetzgeber schon durch Art. 4 GG bzw. die weiteren angeführten Grundrechte zum Sonntagsschutz verpflichtet sein könnte. Zum Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 GG hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass allein aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sich keine staatliche Verpflichtung herleiten lässt, „die religiös-christlichen Feiertage und den Sonntag unter den Schutz einer näher auszugestaltenden generellen Arbeitsruhe zu stellen und das Verständnis bestimmter Religionsgemeinschaften von nach deren Lehre besonderen Tagen zugrunde zu legen“16. Die verfassungsrechtliche Anerkennung des Sonntags mit der Zweckbestimmung der „Arbeitsruhe“ und der „seelischen Erhebung“ erfolgt erst durch Art. 139 WRV, der insofern die aus Art. 4 GG erwachsenden Schutzpflichten konkretisiert.17 Durch eine Streichung von Art. 139 WRV würde die Konkretisierung der Schutzpflicht aus Art. 4 GG in Bezug auf den Sonn- und Feiertagsschutz entfallen. Art. 4 GG selbst vermittelt keine derartige Schutzpflicht. Nach zutreffender Ansicht in der Literatur lässt sich auch aus den weiteren Grundrechtsgarantien kein zwingender Sonn- und Feiertagsschutz ableiten.18 4. Einfachgesetzlicher Sonntagsschutz Die Gesetzgebungskompetenz für das Ladenschlussrecht liegt bei den Bundesländern, Art. 74 Nr. 11 GG. Im Fall einer Streichung des Verweises auf Art. 139 WRV aus Art. 140 GG wäre eine Lockerung des allgemeinen Verkaufsverbots für den Einzelhandel grundsätzlich möglich. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuwiesen, dass einige Landesverfassungen selbst statische Verweisungen auf Art. 139 WRV enthalten.19 Eine Streichung des Verweises auf Art. 139 WRV in Art. 140 GG würde die Verweisungen in den Landesverfassungen unberührt lassen. Eine Ausweitung der allgemeinen Ladenöffnungszeiten in den Ladenschlussgesetzen dieser Länder wäre nur bei entsprechender Änderung der jeweiligen Landesverfassung verfassungsgemäß möglich. *** 15 Korioth, in: Maunz/Düring, GG-Kommentar, 88. EL August 2019, Art. 139 WRV Rn. 5; BVerfGE 125, 39 (82). 16 BVerfGE 125, 39 (79). 17 Siehe dazu auch Couzinet/Weiss, Das Verhältnis von Art. 4 GG zu Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV, ZevKR 2009, 34 (56). 18 Siehe zu den einzelnen Grundrechten und ihrem jeweiligen Schutzbereich: Korioth, in: Maunz/Düring, GG-Kommentar, 88. EL August 2019, Art. 139 WRV Rn. 5. 19 Vgl. Art. 109 Abs. 4 Verfassung des Freistaates Sachsen, Art. 9 Abs. 1 Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern , Art. 40 Verfassung des Freistaats Thüringen, Art. 32 Abs. 5 Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt.