© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 023/16 Regelung des Luftsicherheitsgesetzes bei so genannten Renegate-Flugzeugen Gesetzliche Möglichkeiten des Abschusses von Flugzeugen, die von Terroristen gekapert wurden und als Waffe genutzt werden sollen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 023/16 Seite 2 Regelung des Luftsicherheitsgesetzes bei so genannten Renegate-Flugzeugen Gesetzliche Möglichkeiten des Abschusses von Flugzeugen, die von Terroristen gekapert wurden und als Waffe genutzt werden sollen Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 023/16 Abschluss der Arbeit: 27. Januar 2016 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 023/16 Seite 3 1. Fragestellung Es ist die Frage aufgeworfen worden, welche Regelungen das Luftsicherheitsgesetz für den Fall von so genannten Renegate-Flugzeugen trifft. Dabei handelt es sich um zivile Flugzeuge, die in die Gewalt von Menschen gelangt sind, die die Flugzeuge als Waffe für einen gezielten Absturz missbrauchen wollen. Als Beispielsfälle werden in diesem Zusammenhang die am 11. September 2001 in den USA gekaperten Flugzeuge genannt, die gezielt in das World Trade Center und das Pentagon gelenkt wurden.1 Wie von dem Auftraggeber gewünscht, wird nachfolgend nur ein kurzer, grober Überblick über diesen Themenkreis gegeben. Weiterführende Informationen finden sich in den folgenden jeweils als Anlage beigefügten Dokumenten: – Dokumentation „Die Voraussetzungen des Einsatzes der Bundeswehr im Innern in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“, Az.: WD 2 - 3000 – 029/15, beigefügt als Anlage 1;2 – Sachstand „Auswertung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz “, Az.: WF III - 90/06, beigefügt als Anlage 2; – Schenke, Die Verfassungswidrigkeit des § 14 III LuftSiG, NJW 2006, 736, beigefügt als Anlage 3. 2. Erläuterungen Vor dem Hintergrund der erwähnten Anschläge in den USA am 11. September 2001 hat der Bundestag im Jahr 2005 Neuregelungen zum Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG)3 erlassen. So wurde in § 14 Abs. 3 LuftSiG auch eine Rechtsgrundlage für Maßnahmen zur Abwehr der Gefahren solcher Renegate-Flugzeuge durch die Bundeswehr aufgenommen, die in letzter Konsequenz auch den Abschuss des Flugzeugs ermöglichen sollen. § 14 LuftSiG lautete:4 „§ 14 Einsatzmaßnahmen, Anordnungsbefugnis (1) Zur Verhinderung des Eintritts eines besonders schweren Unglücksfalles dürfen die Streitkräfte im Luftraum Luftfahrzeuge abdrängen, zur Landung zwingen, den Einsatz von Waffengewalt androhen oder Warnschüsse abgeben. (2) Von mehreren möglichen Maßnahmen ist diejenige auszuwählen, die den Einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt. Die Maßnahme darf nur so lange und so weit durchgeführt werden, wie ihr Zweck es erfordert. Sie darf nicht zu einem Nachteil führen, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht. 1 Vgl. zu dieser Bezeichnung und den Beispielsfällen die Darstellung im Sachverhalt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15.02.2006, BVerfGE 115, 118, 121 – Luftsicherheitsgesetz. 2 Die in dieser Dokumentation genannten Anlagen wurden dem vorliegenden Sachstand nicht beigefügt. Sie sind teilweise im Internet verfügbar: vgl. Anlage 1, Anlagenverzeichnis, S. 21. Die anderen Anlagen der Anlage 1 können auf Nachfrage übersandt werden. 3 BGBl. I. 2005, 78 ff. 4 Hervorhebung durch den Verfasser. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 023/16 Seite 4 (3) Die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ist nur zulässig, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und sie das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist. (4) Die Maßnahme nach Absatz 3 kann nur der Bundesminister der Verteidigung oder im Vertretungsfall das zu seiner Vertretung berechtigte Mitglied der Bundesregierung anordnen. Im Übrigen kann der Bundesminister der Verteidigung den Inspekteur der Luftwaffe generell ermächtigen, Maßnahmen nach Absatz 1 anzuordnen.“ Auf dieser Basis sollte es somit dem Verteidigungsminister oder seinem Vertreter in Eilfällen auch allein möglich sein, unter den angegebenen Voraussetzungen den Abschuss eines Renegate- Flugzeugs anzuordnen. Das Bundesverfassungsgericht erklärte die Vorschrift des § 14 Abs. 3 LuftSiG vollumfänglich für verfassungswidrig und damit nichtig. Die Entscheidung5 basierte im Wesentlichen auf folgenden Gründen:6 – Der Bund verfüge nicht über die Gesetzeskompetenz zum Erlass des § 14 Abs. 3 LuftSiG.7 Zwar habe er unmittelbar aus Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 GG das Recht zur Gesetzgebung für Regelungen, die das Nähere über den Einsatz der Streitkräfte bei der Bekämpfung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen und über das Zusammenwirken mit den beteiligten Ländern bestimmen. Dies umfasse jedoch nur den Einsatz als „Hilfestellung“ und daher nur mit solchen Mitteln, die auch den Polizeikräften (der Länder) zur Verfügung stehen. Der Einsatz von spezifisch militärischen Waffen, wie dies zu einem Abschuss des Flugzeuges erforderlich sei, sei von Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 GG nicht gedeckt. – Zudem sei die Regelung des § 14 Abs. 3 LuftSiG auch mit den Vorgaben des Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG nicht vereinbar.8 Danach sei nur die Bundesregierung als Kollegialorgan ermächtigt, über den Einsatz der Bundeswehr bei einem überregionalen Katastrophennotstand zu entscheiden. § 14 Abs. 3 LuftSiG sehe demgegenüber vor, dass der Verteidigungsminister im Benehmen mit dem Bundesinnenminister entscheide, wenn eine rechtzeitige Entscheidung der Bundesregierung nicht möglich sei. Da bei einem Renegate-Flugzeug jedoch in der Regel nur sehr wenig Zeit für eine Entscheidung zur Verfügung stehen dürfte, würde die Bundesregierung bei einer solchen Entscheidung nicht nur ausnahmsweise, sondern regelmäßig durch einen Einzelminister ersetzt. Dies sei von Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG nicht gedeckt. – § 14 Abs. 3 LuftSiG sei auch mit dem Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) nicht vereinbar, soweit von dem Einsatz der Waffengewalt tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden.9 Durch den von § 14 Abs. 3 LuftSiG – in letzter Konsequenz – vorgesehenen Abschuss des Renegate- Flugzeugs mache der Staat die an der Tat unbeteiligten Passagiere und das Luftpersonal zu 5 BVerfGE 115, 118 – Luftsicherheitsgesetz. 6 Vgl. zu den Erwägungsgründen ausführlicher den Sachstand „Auswertung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz“, Anlage 2, S. 2 ff. 7 BVerfGE 115, 118, 139 ff. – Luftsicherheitsgesetz. 8 BVerfGE 115, 118, 148 ff. – Luftsicherheitsgesetz. 9 BVerfGE 115, 118, 151 ff. – Luftsicherheitsgesetz. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 023/16 Seite 5 bloßen Objekten einer Rettungsaktion zum Schutze anderer. Eine solche Behandlung missachte die Betroffenen als Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten. Sie würden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht . Dies geschehe zudem unter Umständen, die nicht erwarten ließen, dass in dem Augenblick, in dem über den Abschuss (§ 14 Abs. 3 LuftSiG) zu entscheiden sei, die tatsächliche Lage immer voll überblickt und richtig eingeschätzt werden könne. Auch die Bewertung, dass die Betroffenen ohnehin dem Tod geweiht seien, ließe den Schutz ihrer Menschenwürde nicht entfallen. Der Gedanke, der Einzelne sei notfalls verpflichtet, sein Leben aufzuopfern, wenn es nur auf diese Weise möglich sei, das staatliche Gemeinwesen vor Angriffen zu bewahren, führe ebenfalls zu keinem anderen Ergebnis. Denn im Anwendungsbereich des § 14 Abs. 3 LuftSiG gehe es nicht um die Abwehr von Angriffen, die auf die Beseitigung des Gemeinwesens und die Vernichtung der staatlichen Rechts- und Freiheitsordnung gerichtet sind. Schließlich ließe sich § 14 Abs. 3 LuftSiG auch nicht mit der staatlichen Schutzpflicht zugunsten derjenigen rechtfertigen, gegen deren Leben das als Tatwaffe missbrauchte Flugzeug eingesetzt werden solle. Eine solche Sichtweise mache das Leben der Passagiere und des Luftpersonals zum Objekt einer staatlichen Entscheidung bzw. Abwägung, die nach dem Grundgesetz unzulässig sei. Das Bundesverfassungsgericht führt in seiner Entscheidung allerdings auch aus, dass der von § 14 Abs. 3 LuftSiG grundsätzlich auch umfasste Abschuss eines unbemannten bzw. nur mit den Tätern besetzten Flugzeugs mit dem Recht auf Leben und der Menschenwürde vereinbar sei (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG).10 Das Leben der Täter könne insoweit zum Subjekt staatlichen Handelns gemacht werden, da ihnen die Folgen ihres selbstbestimmten Verhaltens persönlich zugerechnet werden könnten. Auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sei in einem solchen Fall gewahrt. In einer Abwägung zwischen dem Ziel des § 14 Abs. 3 LuftSiG, das Leben von Menschen am Boden zu retten, und dem Eingriff in das Grundrecht auf Leben der Täter, überwiege der Schutz der Menschen am Boden. Zwar wiege Eingriff zulasten der Täter schwer, doch seien es die Täter selbst, die durch ihr Handeln die Notwendigkeit des staatlichen Eingreifens herbeigeführt hätten und dieses Eingreifen jederzeit dadurch wieder abwenden könnten, dass sie von der Verwirklichung ihres verbrecherischen Plans Abstand nähmen. Allerdings habe die Regelung des § 14 Abs. 3 LuftSiG trotz dieser materiell-verfassungsrechtlichen Erwägungen keinen Bestand, da es dem Bund auch in dieser Konstellation an der Gesetzgebungskompetenz fehle.11 § 14 Abs. 3 LuftSiG hat nach dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts keine Gültigkeit mehr und darf daher nicht angewandt werden.12 Ende der Bearbeitung. 10 BVerfGE 115, 118, 162 ff. – Luftsicherheitsgesetz. 11 Zum ganzen Absatz siehe auch den Sachstand „Auswertung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz “, Anlage 2, S. 4 f. 12 Vgl. zu dem im Jahr 2013 ergangenen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum Einsatz spezifisch militärischer Mittel und der Eilkompetenz im Rahmen des Art. 35 Abs. 2 und 3 GG (BVerfGE 133, 241) und zur Kritik an der Rechtsprechung des BVerfG und Ruf nach Verfassungsänderungen die Dokumentation „Die Voraussetzungen des Einsatzes der Bundeswehr im Innern in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“, Anlage 1, S. 18 ff., sowie Schenke, Die Verfassungswidrigkeit des § 14 III LuftSiG, NJW 2006, 736, 738 f., Anlage 3.