© 2017 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 018/17 Rechtliche Möglichkeiten von Gemeinden in Bezug auf § 238 Abgabenordnung Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 018/17 Seite 2 Rechtliche Möglichkeiten von Gemeinden in Bezug auf § 238 Abgabenordnung Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 018/17 Abschluss der Arbeit: 01.02.2017 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 018/17 Seite 3 1. Fragestellung Mit Ausnahme der Stadtstaaten Berlin und Hamburg sind in den Bundesländern in der Regel die Gemeinden für die Festsetzung und Erhebung der Gewerbesteuern zuständig.1 Nach § 19 Gewerbesteuergesetz (GewStG) hat der Gewerbesteuerschuldner Vorauszahlungen zu entrichten. Die Vorauszahlungen werden auf die Steuerschuld für das Kalenderjahr angerechnet (§§ 20 Abs. 1, 14 GewStG). Übersteigen die Vorauszahlungen die Jahressteuer, ist der Unterschiedsbetrag dem Steuerpflichtigen zu erstatten, § 20 Abs. 3 GewStG. Gemäß § 233a Abgabenordnung (AO) sind Steuererstattungen und Steuernachforderungen zu verzinsen. Die Zinsen betragen nach § 238 AO für jeden Monat einhalb Prozent, d.h. pro Jahr sechs Prozent. In diesem Zusammenhang wird gefragt, ob eine Gemeinde die Möglichkeit hat, die Höhe des in § 238 AO festgelegten Zinssatzes verfassungsgerichtlich überprüfen zu lassen, da die Gemeinden aufgrund des niedrigen Zinsniveaus am Kapitalmarkt keine Möglichkeit hätten, die Zinsausgaben für Steuerrückerstattungen zu refinanzieren. Ferner wird um Auskunft gebeten, ob eine Gemeinde bei unterstellter Verfassungswidrigkeit des § 238 AO Ersatzansprüche gegen den Bund geltend machen könnte. 2. Möglichkeiten von Gemeinden, eine verfassungsgerichtliche Überprüfung von § 238 AO zu erreichen Fraglich ist, ob und gegebenenfalls wie eine Gemeinde eine Überprüfung der Verfassungsgemäßheit des in § 238 AO festgelegten Zinssatzes vor dem Bundesverfassungsgericht erreichen könnte. 2.1. Kommunalverfassungsbeschwerde, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG In Betracht kommt die Erhebung einer Kommunalverfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG in Verbindung mit § 13 Nr. 8a des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG). Danach entscheidet das Bundesverfassungsgericht über Verfassungsbeschwerden von Gemeinden und Gemeindeverbänden wegen Verletzung des Rechts auf Selbstverwaltung nach Art. 28 Abs. 2 GG durch ein Gesetz. Die Kommunalverfassungsbeschwerde müsste fristgerecht erhoben werden. Laut § 93 Abs. 3 BVerfGG sind Verfassungsbeschwerden gegen ein Gesetz binnen eines Jahres seit Inkrafttreten des Gesetzes einzulegen. Die Pflicht, Steuererstattungen mit einhalb Prozent je Monat zu verzinsen, ergibt sich aus §§ 233a, 238 AO. Die allgemeine Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen nach § 233a AO hat der Bundesgesetzgeber bereits 1990 eingeführt.2 1 Gosch, in: Blümich, Gewerbesteuergesetz, 134. Aufl. 2016, § 16, Rn. 32. 2 BGBl. I 1988 S. 1093; BStBl I S. 224. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 018/17 Seite 4 Der in § 238 AO festgelegte Zinssatz wurde seit Inkrafttreten der Abgabenordnung 1977 nicht verändert.3 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt es auf die Frage, ob eine Beschwer erst nachträglich eingetreten ist, vorliegend etwa wegen der Zinsentwicklungen am Kapitalmarkt , grundsätzlich nicht an, da es sich „um eine Ausschlussfrist [handele], mit deren Sinn es nicht vereinbar wäre, eine erst nach ihrem Ablauf geschaffene oder eingetretene Beschwer als ausreichende Grundlage für eine Rechtssatzverfassungsbeschwerde anzusehen".4 Zwar hat es das Bundesverfassungsgericht bislang offen gelassen, ob es im Einzelfall anders zu bewerten sei, wenn der Beschwerdeführer nach Eintritt der Beschwer keine auch nur mittelbare Möglichkeit hätte, ein Gesetz überprüfen zu lassen.5 In diesen Fällen wird zumindest in Teilen der Literatur gefordert, die Jahresfrist erst mit Eintritt der Beschwer beginnen zu lassen.6 Die Frage ist vorliegend jedenfalls unerheblich. Auch dann wäre eine nunmehr angestrengte Beschwerde verfristet, weil die Gemeinden seit mehr als einem Jahr der Niedrigzinsphase ausgesetzt sind. Beispielsweise waren die Renditen für zehnjährige Bundesanleihen vor einem Jahr ähnlich gering wie vor zwei Jahren.7 Eine Kommunalverfassungsbeschwerde wäre somit schon mangels Einhaltung der Beschwerdefrist unzulässig. 2.2. Oberverwaltungsgerichtliche Normenkontrolle, § 47 VwGO Gemäß § 47 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) entscheidet das Oberverwaltungsgericht über die Gültigkeit von Satzungen und Rechtsverordnungen nach dem Baugesetzbuch sowie anderen untergesetzlichen Landesnormen. Da es sich bei § 238 AO um ein Bundesgesetz handelt, scheidet eine Überprüfung im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle vor dem Oberverwaltungsgericht mangels tauglichem Prüfungsgegenstand aus. 2.3. Sonstige Möglichkeiten Weitere Klagemöglichkeiten einer Gemeinde zur Feststellung, dass § 238 AO verfassungswidrig ist, sind nicht ersichtlich. 3 BGBl. I, 1976, S. 613, 697; vgl. auch BFH, Urteil v. 01.07.2014 - IX R 31/13: Der Zinssatz in § 238 AO entspricht dem vor Inkrafttreten der AO geltenden § 5 des Steuersäumnisgesetzes (StSäumG), der ebenfalls Zinsen für jeden Monat von einhalb von Hundert vorsah. 4 BVerfG, Beschluss vom 21.11.1996, 1 BvR 1862/96, NJW 1997, 650, 650. 5 BVerfG, Beschluss vom 21.11.1996, 1 BvR 1862/96, NJW 1997, 650, 650. 6 Lenz/Hansel, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1. Aufl. 2013, § 93 BVerfGG, Rn. 105 ff. 7 Deutsche Bundesbank, Kurse und Renditen börsennotierter Bundeswertpapiere Januar 2015, abrufbar unter https://www.bundesbank.de/Navigation/DE/Service/Bundeswertpapiere/Kurse_und_Renditen/kurse_und_renditen .html, abgerufen am 25.1.2017; Deutsche Bundesbank, Kurse und Renditen börsennotierter Bundeswertpapiere Januar 2016, , abrufbar unter https://www.bundesbank.de/Navigation/DE/Service/Bundeswertpapiere /Kurse_und_Renditen/kurse_und_renditen.html, abgerufen am 25.1.2017. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 018/17 Seite 5 Die Gemeinden sind als Teil der vollziehenden Gewalt an Gesetz und Recht gebunden, Art. 20 Abs. 3 GG. Hält eine Behörde ein von ihr anzuwendendes formelles Gesetz für verfassungswidrig, so ist sie nach herrschender Ansicht im Schrifttum8 berechtigt und verpflichtet, die Behörde einzuschalten , die über ihre Tätigkeit die Rechtsaufsicht führt. Sofern auch die hierarchisch übergeordneten Behörden Zweifel an der Verfassungsgemäßheit des Gesetzes haben, gelangt die Frage an die Exekutivspitze, also die Landesregierung, die letztlich entscheiden kann, ob sie ein abstraktes Normenkontrollverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG in Verbindung mit §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG vor dem Bundesverfassungsgericht einleitet.9 Zuständig für die Staatsaufsicht über die Gemeinden sind die Länder.10 In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass zu der Frage, ob der gesetzliche Zinssatz des § 238 Abs. 1 Satz 1 AO von einhalb Prozent für jeden Monat verfassungswidrig ist, die Klage eines Steuerpflichtigen vor dem Bundesfinanzhof (Az. I R 77/15)11 sowie eine Musterklage des Bundes der Steuerzahler Deutschland vor dem FG Münster (Az. 10 K 2472/16 E)12 anhängig sind. 3. Ersatzansprüche von Gemeinden gegen den Bund bei unterstellter Verfassungswidrigkeit von § 238 AO Unterstellt man die Verfassungswidrigkeit von § 238 AO fragt sich, ob die Gemeinden den Bund als Normgeber für Schäden in Regress nehmen können, die ihnen aus der Anwendung von § 238 AO entstanden sind. 3.1. Amtshaftungsanspruch, § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG In Betracht käme ein Amtshaftungsanspruch gemäß § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG. Dafür wäre erforderlich, dass in Ausübung eines öffentlichen Amtes eine drittgerichtete Amtspflicht schuldhaft verletzt wurde. Zwar ist die Geltendmachung eines Amtshaftungsanspruchs grundsätzlich auch im Verhältnis zwischen Staat und Gemeinde möglich.13 Der Bundesgerichtshof hat bislang jedoch stets eine 8 Sachs, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2016, Rn. 207 m.w.N. zum Meinungsstand; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht , 18. Aufl. 2011, § 4, Rn. 64 m.w.N. zum Meinungsstand; Wernsmann, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 16, Rn. 20; Degenhardt, Staatsrecht I, 29. Aufl. 2013, Rn. 837. 9 Sachs, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2016, Rn. 207; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, § 4, Rn. 64; Wernsmann, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 16, Rn. 20; Degenhardt , Staatsrecht I, 29. Aufl. 2013, Rn. 837. 10 Geis, Kommunalrecht, 4. Aufl. 2016, § 24, Rn. 2. 11 https://www.bundesfinanzhof.de/anhaengige-verfahren/revisionsverfahren, abgerufen am 01.02.2017. 12 http://www.steuerzahler.de/Zinsen-ist-der-Zinssatz-von-6-Prozent-pro-Jahr/76328c676/index.html, abgerufen am 01.02.2017. 13 Burgi, Kommunalrecht, 5. Aufl. 2015, § 9, Rn. 22 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 018/17 Seite 6 Haftung für legislatives Unrecht im Rahmen der Amtshaftung ausgeschlossen, da die Mitglieder der Gesetzgebungsorgane in der Regel ausschließlich Aufgaben der Allgemeinheit wahrnehmen würden. Nur ausnahmsweise, etwa bei Maßnahme- oder Einzelfallgesetzen, könne eine drittgerichtete Amtspflicht wegen individueller Betroffenheit bestimmter Personen oder Personengruppen bestehen.14 Ein solcher Ausnahmefall liegt hier aber nicht vor, da es sich bei § 238 AO um eine abstrakt-generelle Rechtsnorm handelt. Folglich fehlt es an einer drittgerichteten Amtspflicht und ein Amtshaftungsanspruch scheidet aus. 3.2. Anspruch aus Art. 104a Abs. 5 S. 1 GG Aus Art. 104a Abs. 5 S. 1 GG kann sich ein unmittelbarer Anspruch gegen den Bund wegen nicht ordnungsgemäßer Verwaltung ergeben. Vorliegend sollen jedoch Schadensersatzansprüche wegen nicht ordnungsgemäßer Gesetzgebung geltend gemacht werden. Folglich scheidet auch ein Anspruch aus Art. 104a Abs. 5 S. 1 GG aus. 3.3. Ergebnis Bei unterstellter Verfassungswidrigkeit von § 238 AO stünde den Gemeinden kein Ersatzanspruch gegen den Bund zu. 14 BGH, Urteil vom 7.7.1988, III ZR 198/87, NJW 1989, 101, 101; Wöstmann, in: Staudinger, BGB, Neub. 2013, § 839 BGB, Rn. 177.