© 2021 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 016/21 Verkürzung der Wahlperiode/Verlängerung der Frist bis zur vorzeitigen Neuwahl Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 016/21 Seite 2 Verkürzung der Wahlperiode/Verlängerung der Frist bis zur vorzeitigen Neuwahl Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 016/21 Abschluss der Arbeit: 21. Januar 2021 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 016/21 Seite 3 Die eine Frage lautet, ob es verfassungsrechtlich zulässig ist, die laufende Wahlperiode eines Parlaments zu verkürzen. Die andere lautet: Ist es verfassungsrechtlich zulässig, die in der Verfassung vorgesehene Frist zu verlängern, in der eine Neuwahl nach einer Selbstauflösung eines Parlaments oder nach einem erfolgslosen Vertrauensantrag zu erfolgen hat? Beide Fragen sind mit „grundsätzlich Nein“ zu beantworten. Kurz und prägnant heißt es dazu: „Die laufende Wahlperiode darf weder verlängert […] noch verkürzt werden […] (Risse/Witt, in: Hömig/ Wolff, GG, 12. Auflage 2018, Art. 39 Rn. 2, Hervorhebung im Original). Im Einzelnen wird in einer Kommentierung zum Grundgesetz hierzu wörtlich ausgeführt (Hölscheidt, in: Bonner Kommentar, 199. Aktualisierung Juli 2019; Hervorhebungen im Original, abweichende Fußnotennummerierung ): 54 Der Bundestag darf (wie die Landesparlamente auch)1 grundsätzlich nicht die laufende („seine eigene“) Wahlperiode verlängern oder verkürzen.2 Auch die Fristen in Art. 39 Abs. 1 S. 3 und S. 4 GG dürfen nur für künftige Wahlperioden verändert werden.3 Das folgt nach ganz überwiegender und zutreffender Auffassung aus dem Verfassungsrecht. Die Begründungen dafür fallen unterschiedlich aus. Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt, ebensowenig wie die laufende Wahlperiode außerhalb des in der Verfassung vorgesehenen Verfahrens verlängert werden dürfe, dürfe sie entgegen den Bestimmungen des Grundgesetzes verkürzt werden.4 „Eine Verkürzung der laufenden Wahlperiode entgegen den Voraussetzungen des Grundgesetzes würde […] in den vom Grundgesetz gewährleisteten Status des Abgeordneten eingreifen (vgl. BVerfGE 62, 1 [32]).“5 Der Bayerische Verfassungsgerichtshof betonte bereits 1958, der Wähler müsse bei seiner Stimmabgabe wissen, auf welche Zeitdauer er wähle und sich auf das Wahlrecht verlassen können, das diese Dauer festgelegt habe. Das erfordere der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit.6 Ein Jahr später formulierte der Baden-Württembergische Staatsgerichtshof: „Ein Parlament kann seine eigene Wahlperiode grundsätzlich nicht selbst verlängern.“7 Dieser Grundsatz finde seine innere Berechtigung darin, „dass dem Staatsvolk die in den Wahlen zum Ausdruck kommende Kontrolle über einen zeitlichen Tätigkeitsabschnitt des Parlaments 1 Haug, in: Haug, VerfBadWürtt, Art. 30 Rdnr. 11; Haberland, in: Fischer-Lescano u.a., VerfBrem, Art. 75 Rdnr. 10; Zapfe, in: Classen/Litten/Wallerath, VerfMecklVo, Art. 27 Rdnr. 4; Soffner, in: Epping/Butzer, VerfNds, Art. 9 Rdnr. 11; Thesling, in: Heusch/Schönenbroicher, VerfNRW, Art. 34 Rdnr. 1; Glauben, in: Brocker/Droege/Jutzi, VerfRhPf, Art. 83 Rdnr. 7; Schulte/Kloos, in: Baumann-Hasske, VerfSachs, Art. 44 Rdnr. 2; Waack, in: Casper/ Ewer/Nolte/Waack, VerfSchlH, Art. 13 Rdnr. 9; Dette, in: Linck/Baldus u.a., VerfThür, Art. 50 Rdnr. 6. 2 Magiera, in: Sachs, GG, Art. 39 Rdnr. 4; Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 39 Rdnr. 12; Schneider, in: Denninger/Hoffmann-Riem u.a. (Hrsg.), AK-GG, Art. 39 Rdnr. 11; Maurer, DÖV 1982, 1001 (1007). 3 Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 39 Rdnr. 11. 4 BVerfGE 62, 1 (32); kritisch dazu Lang, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 39 Rdnr. 32. 5 BVerfGE 114, 121 (147). 6 BayVerfGH, VGH n.F. 11 II, 1 (9). 7 StGH BadWürtt, DÖV 1959, 185. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 016/21 Seite 4 nicht geschmälert oder eingeengt werden darf […].“ Deshalb dürfe das Parlament die Verlängerung der Wahlperiode erst mit Wirkung für den neuen Landtag aussprechen.8 In der Literatur heißt es: „Ein Parlament darf nicht durch ein verfassungsänderndes Gesetz seine eigene Wahlperiode verlängern oder aber verkürzen. Dies wäre ein elementarer Verstoß gegen den demokratischen Verfassungsgrundsatz der wiederkehrenden Volkswahl.“9 Im Übrigen wird häufig geltend gemacht, es bedeute eine gegen das Demokratie- bzw. Rechtsstaatsprinzip verstoßende Selbstermächtigung, wenn ein Parlament seine eigene Wahlperiode verlängere.10 Könnte der Bundestag die laufende Wahlperiode verkürzen, verschaffe er sich ein Selbstauflösungsrecht, das das Grundgesetz gerade nicht vorsehe.11 55 In der Tat: Verlängerung und Verkürzung der laufenden Wahlperiode sind unzulässig, soweit sie nicht in der Verfassung vorgesehen sind. Alle dazu vorgetragenen Argumente treffen zu. Der Status der Abgeordneten ist für die Regeldauer festgelegt, was der Wähler bei seiner Wahlentscheidung gemäß dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit zugrunde legt. Das Parlament ist für die demokratisch bestimmte Regeldauer vom Volk zur Herrschaft legitimiert, nicht aber dazu, diesen Legitimationszeitraum selbst zu verändern. Es muss den Weg der Selbstauflösung gehen, wenn er seine Wahlperiode verkürzen will, falls dieser vorgesehen ist. […] 56 Die Verkürzung oder Verlängerung einer laufenden Wahlperiode kann allerdings ausnahmsweise im Weg der Verfassungsänderung zulässig sein. Voraussetzung dafür ist, dass es sich um eine geringe Zeitspanne handelt und für die Veränderung zwingende Gründe sprechen.12 Andere als zwingende Gründe, z. B. solche, die rechtfertigen können, dass ein Wahltag verschoben wird,13 reichen nicht. Ein zwingender Grund bestünde, wenn es relativ kurz vor der Wahl noch kein verfassungsgemäßes Wahlgesetz gäbe. Das könnte der Fall sein, wenn das Bundesverfassungsgericht das Wahlgesetz für verfassungswidrig erklärt hat und es einige Zeit in Anspruch nimmt, eine neue verfassungskonforme Regelung zu verabschieden.14 Kurz: Es kann rechtlich unmöglich sein, eine Wahl durchzuführen. Ohne Verfassungsänderung kann sich die Wahlperiode um kurze Zeit verlängern, wenn der Bundestag die Frist des Art. 39 Abs. 2 GG aus einem zwingenden Grund nicht einhalten kann.15 *** 8 StGH BadWürtt, DÖV 1959, 185 (186). So geschehen in Mecklenburg-Vorpommern, MecklVoVerfG, NVwZ 2008, 1343 (1346). 9 Weides, in: FS Carstens, S. 933 (947 f.). 10 Magiera, in: Sachs, GG, Art. 39 Rdnr. 4; Brocker, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 39 Rdnr. 2.2; Morlok, in: Dreier, GG, Art. 39 Rdnr. 18; MecklVoVerfG, NVwZ 2008, 1343 (1346). 11 Unten Rdnr. 57. 12 Hahlen, in: Schreiber, BWahlG, § 45 Rdnr. 10. 13 Unten Rdnr. 109. 14 Dicke, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 39 Rdnr. 24. 15 Unten Rdnr. 133.