© 2021 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 015/21 Verfassungsmäßigkeit von Lockerungen der Maßnahmen zum Infektionsschutz für geimpfte Personen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 015/21 Seite 2 Verfassungsmäßigkeit von Lockerungen der Maßnahmen zum Infektionsschutz für geimpfte Personen Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 015/21 Abschluss der Arbeit: 26. Februar 2021 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 015/21 Seite 3 1. Einleitung und Fragestellung Im Dezember 2020 hat die Phase I-A der nationalen Impfstrategie1 zur Bekämpfung der Covid-19 Pandemie begonnen. Da der Impfstoff nur in geringer Menge verfügbar ist, werden entsprechend der Priorisierungsempfehlung der Ständigen Impfkommission am Robert Koch-Institut („STIKO“) zunächst nur Personen der Gruppe 1 (Höchste Priorität) geimpft.2 Sobald es die vorhandenen Ressourcen zulassen, soll der Bevölkerung ein breitflächiges freiwilliges Impfangebot gemacht werden. Es ist eine gesellschaftliche Debatte darüber entbrannt, ob es zulässig sein kann, geimpften Personen „Privilegien“ oder „Sonderrechte“ einzuräumen, die ungeimpften Personen verwehrt bleiben.3 Gefragt wird, ob es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, für geimpfte Personen Lockerungen der grundrechtsbeschränkenden Maßnahmen zum Infektionsschutz vorzusehen, nicht jedoch für ungeimpfte Personen. Dabei soll auf die Umstände eingegangen werden, dass derzeit nicht ausreichend Impfstoff zur Verfügung steht und dass sich aus gesundheitlichen Gründen nicht alle Menschen impfen lassen können. Zudem wird gefragt, inwieweit aus anderen Gründen, die gesundheitliche Risiken bergen (beispielsweise Übergewicht, Rauchen) und die die Gefahr vergrößern, eine intensivmedizinische Behandlung zu benötigen, Grundrechte „aberkannt“ werden können. 2. Lockerungen gegenüber geimpften Personen Zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie haben die Länder auf Grundlage des § 32 S. 1 und S. 2 i.V.m. § 28 Abs. 1 und § 28a Abs. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) Rechtsverordnungen erlassen, die weitreichende und tiefgreifende Beschränkungen verschiedenster Grundrechte vorsehen.4 Angesichts des exponentiellen Anstiegs der Infektionszahlen im späten Herbst 2020 wurde im Dezember 2020 erneut ein bundesweites Gesamtkonzept beschlossen, das zum Ziel hat, Kontakte im Alltag insgesamt effektiv einzuschränken. Die angeordneten Maßnahmen haben dabei weniger die konkreten Infektionsgefahren einer bestimmten Tätigkeit im Blick. Es geht vielmehr darum, insgesamt die Mobilität zu reduzieren, um persönliche Kontakte zu vermindern. Das Maßnahmenbündel des Gesamtkonzepts betrifft dabei verschiedenste Grundrechte. Als Beispiele seien hier nur genannt: Eingriffe in die Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz (GG) durch die Anordnung, 1 Siehe dazu die Nationale Impfstrategie des Bundesministeriums für Gesundheit vom 6. November 2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Impfen/ImpfungenAZ/COVID-19/Impfstrategie_Covid19_Ueberblick .pdf?__blob=publicationFile (letzter Abruf 25. Februar 2021). 2 Siehe Mitteilung der Ständigen Impfkommission am Robert Koch-Institut, Beschluss der STIKO für die Empfehlung der COVID-19-Impfung vom 14. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Epid Bull/Archiv/2021/Ausgaben/02_21.pdf?__blob=publicationFile (letzter Abruf 25. Februar 2021). 3 Siehe z. B. ZEIT ONLINE vom 9. Januar 2021 abrufbar unter: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021- 01/corona-impfprivilegien-verfassung-arbeitsrecht-impfpflicht sowie ntv vom 31. Dezember 2021, abrufbar unter: https://www.n-tv.de/politik/Merz-fordert-mehr-Freiheiten-fuer-Geimpfte-article22263731.html (letzter Abruf jeweils 25. Februar 2021). 4 Ausführlich hierzu die grundlegende Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Kontaktbeschränkungen zwecks Infektionsschutz: Grundrechte, WD 3 - 3000 - 079/20. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 015/21 Seite 4 dass bestimmte Verkaufsstellen nicht geöffnet sowie bestimmte Dienstleistungen nicht erbracht werden dürfen, Eingriffe in die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG durch die Anordnung von Kontaktbeschränkungen, die Pflicht, eine Mund-Nase-Bedeckung bzw. medizinische Gesichtsmaske zu tragen und vieles mehr. Die Grundrechte stehen jedem Grundrechtsberechtigten zu. Insofern handelt es sich bei der Aufhebung der Maßnahmen gegenüber geimpften Personen lediglich um die Wiederherstellung des Urzustandes vor Beginn der restriktiven Maßnahmen. Aus diesem Grund lehnen einige Stimmen die Begriffe „Sonderrechte“ oder „Privilegien“ zu Recht ausdrücklich ab.5 Wie alle staatlichen Grundrechtseingriffe bedürfen auch die zum Infektionsschutz ergriffenen Maßnahmen stets einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Die Frage nach Lockerungen für geimpfte Personen ist daher untrennbar mit der Frage verknüpft, inwieweit die Aufrechterhaltung grundrechtseinschränkender Maßnahmen zum Infektionsschutz gegenüber geimpften Personen überhaupt verfassungsrechtlich zulässig ist. Letztere Frage wiederum ist insbesondere davon abhängig, ob von geimpften Personen weiterhin eine Gefahr ausgeht, den Krankheitserreger weitergeben zu können. 2.1. Ungeklärtes Ausmaß und ungeklärte Dauer der Impfwirkung Die Frage nach der Wirkung des Impfschutzes kann nach derzeitigem Stand der Wissenschaft noch nicht eindeutig beantwortet werden. Das Robert Koch-Institut (RKI) weist darauf hin, dass die Impfungen gegen Covid-19 eine gute Wirksamkeit haben. Komme eine geimpfte Person mit dem Erreger in Kontakt, werde sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht erkranken. Es sei allerdings zurzeit noch unsicher, in welchem Maße auch Geimpfte nach Kontakt mit dem Erreger diesen vorübergehend noch in sich tragen würden und andere Personen anstecken könnten. Zudem setze der Schutz vor einer Infektion nicht sofort nach der Impfung ein und sei auch nicht bei allen geimpften Personen vorhanden. Auch die Dauer des Schutzes durch die neuen Impfstoffe ist noch ungeklärt. Verschärft wird die Unsicherheit durch das Auftreten von potentiell gefährlichen Virusmutationen, für die ebenfalls noch im Einzelnen geklärt werden muss, ob und im welchem Ausmaß die bisher entwickelten Impfstoffe Schutz bieten. Presseberichten zufolge kommt eine Beobachtungsstudie des Impfstoffherstellers Biontech/Pfizer zu dem Ergebnis, dass ihr Impfstoff zu 89,4 Prozent verhindert , dass geimpfte Personen, die sich dennoch infizieren, weitere Menschen mit Covid-19 anstecken .6 Die Studie ist jedoch noch unveröffentlicht und betrifft nur einen der bisher zugelassenen Impfstoffe. Nach wie vor fehlt es an einer gesicherten Studienlage zur Infektionsgefahr von Geimpften . Solange jedoch nicht feststeht, ob geimpfte Personen weiterhin infektiös sind oder sofern sich herausstellen sollte, dass sie es sind, fehlt es an einer tatsächlichen Grundlage für eine Lockerung 5 Z. B. Fischer, Es geht nicht um Privilegien, Spiegel Online vom 1. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/corona-impfungen-es-geht-nicht-um-privilegien-a-ecd68437-5b88- 4094-bdbc-be2f26e833d4; Papier, in: Wirtschaft will Freiheit für Geimpfte, FAZ online vom 22. Februar 2020, abrufbar unter: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/nach-covid-studie-in-israel-wirtschaft-will-freiheit-fuergeimpfte -17211437.html (letzter Abruf jeweils 25. Februar 2021) 6 „Geimpfte haben dann Anspruch auf Wiederherstellung des Status Quo“, Die Welt vom 22. Februar 2021, 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 015/21 Seite 5 bestehender infektionsschutzrechtlicher Maßnahmen für geimpfte Personen. Zu dieser Einschätzung kommt auch der Deutsche Ethikrat. Dieser spricht in seiner Ad-hoc-Empfehlung vom 4. Februar 2021 aus, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt „aufgrund der noch nicht verlässlich abschätzbaren Infektiosität der Geimpften eine individuelle Rücknahme staatlicher Freiheitsbeschränkungen für geimpfte Personen nicht erfolgen“7 sollte. 2.2. Verhältnismäßigkeit von Eingriffen in Freiheitsrechte zum Infektionsschutz Sollte sich zukünftig gesichert feststellen lassen, dass von geimpften Personen keine oder nur eine stark verminderte Ansteckungsgefahr ausgeht, stellt sich für diese Gruppe die Frage der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von grundrechtsbeschränkenden Eingriffen neu und es könnten Lockerungen aus Gründen der Verhältnismäßigkeit geboten sein. Jeder Eingriff in Freiheitsrechte kann nur gerechtfertigt sein, wenn er verhältnismäßig ist.8 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist eingehalten, wenn der Eingriff einen legitimen Zweck in geeigneter, erforderlicher und angemessener Weise verfolgt.9 Angesichts der Vielzahl der betroffenen Freiheitsrechte und der denkbaren Infektionsschutzmaßnahmen können hier nur einige allgemeine Erwägungen angestellt werden, die sich bei der Verhältnismäßigkeit der Eingriffe in verschiedene Grundrechte in ähnlicher Weise stellen dürften. 2.2.1. Legitimer Zweck Die infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen verfolgen einen legitimen Zweck, indem sie die Eindämmung der fortschreitenden Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 und der hierdurch verursachten Krankheit Covid-19 bezwecken und damit den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung sicherstellen und insbesondere die Überlastung des Gesundheitssystems verhindern sollen.10 2.2.2. Geeignetheit Die infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen müssten zudem geeignet sein. Dies ist der Fall, wenn sich der legitime Zweck durch die Maßnahme erreichen lässt oder dieser durch die Maßnahme zumindest gefördert wird.11 Die infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen müssten damit dem Schutz der Gesundheit der Bevölkerung sowie dem Schutz des Gesundheitssystems vor Überlastung zumindest förderlich sein. 7 Deutscher Ethikrat, Besondere Regelungen für Geimpfte? Ad-hoc-Empfehlung vom 4. Februar 2021, 2, abrufbar unter: https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlungbesondere -regeln-fuer-geimpfte.pdf (letzter Abruf 25. Februar 2021). 8 Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 1 Rn. 277 ff. 9 Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 92. EL August 2020, Art. 20 Rn. 110. 10 Vgl. Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Kontaktbeschränkungen zwecks Infektionsschutz: Grundrechte, WD 3 - 3000 - 079/20, 15 mit Rechtsprechungsnachweisen. 11 Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 92. EL August 2020, Art. 20 Rn. 112. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 015/21 Seite 6 Sollte feststehen, dass von geimpften Personen keine Infektionsgefahren mehr ausgehen, könnte es für diese bereits an der erforderlichen Geeignetheit der Maßnahme mangeln, da es insofern keiner individuell-konkreten Schutzmaßnahmen bedarf. Infektionsschutzmaßnahmen lassen sich aber nicht nur auf die Verhinderung individuell-konkreter Risiken stützen. Vielmehr können auch generalpräventive Erwägungen mit Blick auf die Durchsetzbarkeit und Kontrollierbarkeit der angeordneten Maßnahmen für eine Geeignetheit sprechen. Es wird argumentiert, dass mit einer Lockerung von Maßnahmen für Geimpfte eine schwindende Akzeptanz der Ungeimpften gegenüber den angeordneten Maßnahmen einhergehen könnte und damit insgesamt der Schutzzweck gefährdet werden könnte.12 Zudem wird in vielen Situationen eine Differenzierung nach dem Impfstatus der Personen nur mit erheblichem Aufwand möglich bzw. kaum praktikabel sein. Dies kann die Kontrolle der angeordneten Maßnahmen erschweren. Maßnahmen, die nicht zwischen geimpften und ungeimpften Personen differenzieren, ermöglichen dagegen eine einfachere und effektivere Durchsetzung der Infektionsschutzmaßnahmen. 2.2.3. Erforderlichkeit Die Aufrechterhaltung von Maßnahmen zum Infektionsschutz gegenüber Geimpften müsste zudem erforderlich sein. Nach dem Gebot der Erforderlichkeit hat der Staat „aus den zur Erreichung des Zweckes gleich gut geeigneten Mitteln das mildeste, also die geschützte Rechtsposition am wenigsten beeinträchtigende Mittel“13 zu wählen. Sollte sich zeigen, dass Geimpfte nicht mehr infektiös sind, sind – wie oben dargelegt – nur solche infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen geeignet, die aus generalpräventiven Gründen angeordnet werden. Mit Blick auf die Erforderlichkeit gilt es insofern für den Einzelfall zu prüfen, ob die Durchsetzbarkeit und Kontrollierbarkeit der Maßnahmen nicht durch mildere Mittel als durch die weitere Einbeziehung der an sich ungefährlichen Geimpften hergestellt werden kann. Zu denken wäre hier beispielsweise an den Einsatz von mehr Personal für die Kontrolle oder an gezielte Aufklärungskampagnen über die Hintergründe der Lockerungen. Gegen eine Erforderlichkeit könnte weiter sprechen, dass offen ist, wie hoch die Gefahr einzuschätzen ist, dass durch Lockerungen für Geimpfte Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung unterlaufen werden würden, weil insgesamt die Akzeptanz der Schutzmaßnahmen schwindet. Es zeigt sich, dass viele der derzeitigen Maßnahmen von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung nicht zuletzt aus Gründen des Eigenschutzes akzeptiert und eingehalten werden, da mit der Covid-19-Erkrankung schwere und lebensbedrohende Gefahren einhergehen. Diese individuelle Gefahreneinschätzung dürfte unabhängig von möglichen Lockerungen für Geimpfte weiter Bestand haben. Angesichts der bestehenden Unsicherheiten dürfte dem Staat jedoch ein erhöhter Einschätzungsspielraum zukommen.14 Für die Erforderlichkeit spricht, wenn letztlich nicht sicher festgestellt werden kann, 12 Deutscher Ethikrat, Besondere Regelungen für Geimpfte? Ad-hoc-Empfehlung vom 4. Februar 2021, 3, abrufbar unter: https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlungbesondere -regeln-fuer-geimpfte.pdf (letzter Abruf 25. Februar 2021). 13 Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 92. EL August 2020, Art. 20 Rn. 113. 14 Grundsätzlich zum Einschätzungsspielraum siehe Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Kontaktbeschränkungen zwecks Infektionsschutz: Grundrechte, WD 3 - 3000 - 079/20, 18 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 015/21 Seite 7 dass die angestrebten legitimen Zwecke sich bei Lockerungen für Geimpfte gleich gut erreichen lassen würden. 2.2.4. Angemessenheit Die Aufrechterhaltung der Maßnahmen zum Infektionsschutz müsste schließlich angemessen sein, d.h. sie darf nicht außer Verhältnis zum Zweck bzw. Ziel der Maßnahme stehen. Das Gebot der Angemessenheit erfordert eine Abwägung zwischen dem Nutzen der Maßnahme und den durch die Maßnahmen herbeigeführten Beeinträchtigungen.15 Die Maßnahmen zum Infektionsschutz sollen die fortschreitende Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 eindämmen, die Überlastung des Gesundheitssystems verhindern und damit Leben und Gesundheit der Bevölkerung schützen. Die aktuelle Rechtsprechung zu den infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen zeigt auf, dass diese höchsten Rechtsgüter einschneidende Maßnahmen rechtfertigen können.16 Demgegenüber stehen freiheitsbeschränkende Eingriffe unterschiedlichster Intensität. Grundsätzlich gilt es in diesem Zusammenhang zu beachten, dass umso höhere Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit zu stellen sind, je länger die Einschränkungen andauern und je intensiver die Freiheitsrechte berührt werden.17 Festgehalten werden kann zudem, dass generalpräventive freiheitsbeschränkende Maßnahmen gegen geimpfte Personen – soweit feststehen sollte, dass von diesen erwiesenermaßen keine infektionsschutzrechtlichen Gefahren mehr ausgehen – nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht kommen.18 Die Anforderungen an die Angemessenheit sind hier besonders hoch. Letztlich wird es deshalb auf die Schwere des Eingriffs ankommen. So dürften Maßnahmen, die einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff bedeuten, wie z. B. das Verbot, bestimmte Dienstleistungen anzubieten und das damit verbundene Verbot, seinem Beruf nachzugehen, nicht mehr zu rechtfertigen sein. Eine Rechtfertigung von Maßnahmen, von denen alle betroffen sind und die nur einen geringen Eingriff bedeuten, wie beispielsweise die Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr oder die Abstandsregelungen, scheint dagegen möglich.19 15 Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 92. EL August 2020, Art. 20 Rn. 117. 16 Siehe z. B. BVerfG Beschl. v. 21.11.2020 – 1 BvQ 135/20, NVwZ 2021, 141; BayVerfGH Entsch. v. 17.12.2020 – Vf. 110-VII-20, COVuR 2021, 106. 17 OVG Saarlouis vom 22. April 2020 – 2 B 130/20, Rn. 25 u. 31. 18 So schon Klafki, Der Immunitätsausweis und der Weg zurück in ein freiheitliches Leben vom 4. Mai 2020, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/der-immunitaetsausweis-und-der-weg-zurueck-in-ein-freiheitliches-leben/ (letzter Abruf 25. Februar 2021). 19 So auch Deutscher Ethikrat, Besondere Regelungen für Geimpfte? Ad-hoc-Empfehlung vom 4. Februar 2021, 4, abrufbar unter: https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung -besondere-regeln-fuer-geimpfte.pdf (letzter Abruf 25. Februar 2021). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 015/21 Seite 8 2.2.5. Verhältnismäßigkeit der infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen für Ungeimpfte bei Fortschreiten des Impfprogramms Wie der Deutsche Ethikrat feststellt, ist zu erwarten, dass sich bei Fortschreiten des Impfprogramms einige für die Abwägung der Verhältnismäßigkeit maßgebliche Faktoren verändern werden: So dürfte sich das Infektions- und Erkrankungsrisiko für Ungeimpfte mit zunehmender Anzahl geimpfter Personen verringern. Auch ist zu erwarten, dass die Gefahr eines Kollapses des Gesundheitssystems dadurch gemindert werden wird, dass insbesondere solche Gruppen von Personen Impfschutz erhalten haben, bei denen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit besteht, intensivmedizinischer Versorgung zu bedürfen.20 Sollten sich diese Erwartungen erfüllen, ist die Verhältnismäßigkeit der infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen gerade auch gegenüber Ungeimpften neu zu bewerten. Es gilt dann insbesondere zu prüfen, ob nicht mildere Mittel ausreichen, wie z. B. spezifische Anforderungen an Schutz- und Hygienekonzepte, um den geminderten Infektionsgefahren zu begegnen. Soweit Lockerungen nur für Geimpfte vorgesehen werden sollen, gilt es für die Verhältnismäßigkeit der gegenüber Ungeimpften angeordneten Maßnahmen zudem zu berücksichtigen, dass sich die Intensität des Eingriffs dadurch erhöht, dass es diesen nicht durch eigenes Verhalten möglich ist, die Voraussetzungen für die erstrebten Lockerungen zu schaffen. Aufgrund der knappen Impfstoffressourcen ist derzeit kein allgemeiner Zugang zur Impfung möglich; dieser ist vielmehr staatlich reglementiert. Daraus folgt, dass vom Staat verstärkte Anstrengungen zu fordern sind, die infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen auf das unbedingt erforderliche Maß zu begrenzen. Dem Einsatz milderer Mittel, die es Ungeimpften ermöglichen, am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können, beispielsweise die Möglichkeit, mittels Schnelltest einen Nachweis über ein fehlendes Ansteckungsrisiko zu erbringen, dürfte noch größere Bedeutung zukommen. Weiter wird vertreten, dass der Zugang zu öffentlichen Einrichtungen in bestimmten Situationen mit besonderer Grundrechtsrelevanz (z. B. zur Abholung des Personalausweises beim Bürgeramt oder die Anwesenheit im Gerichtssaal als Beteiligte) nicht von einer Impfung abhängig gemacht werden kann, solange diese nicht der gesamten Bevölkerung möglich ist.21 Erhöhte Anforderungen an die Angemessenheit der Maßnahme dürften auch in dem Fall bestehen, dass sich jemand aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen kann. 20 Deutscher Ethikrat, Besondere Regelungen für Geimpfte? Ad-hoc-Empfehlung vom 4. Februar 2021, 3, abrufbar unter: https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlungbesondere -regeln-fuer-geimpfte.pdf (letzter Abruf 25. Februar 2021). 21 Kießling/Müllmann, Bald wird geimpft, vom Dezember 2020, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/baldwird -geimpft/ (letzter Abruf 25. Februar 2021). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 015/21 Seite 9 3. Zulässigkeit einer Ungleichbehandlung von Geimpften und Ungeimpften In der Debatte wird vielfach eingewandt, dass durch Ungleichbehandlungen aufgrund des Immunitätsstatus eine gesellschaftliche Spaltung sowie eine Entsolidarisierung in der Gesellschaft drohen.22 Vor dem Hintergrund, dass – wie oben ausgeführt – freiheitsbeschränkende Maßnahmen gegenüber solchen Personen, von denen nachweislich keine Ansteckungsgefahr mehr ausgehen kann, nur schwer zu rechtfertigen sind, gleichzeitig aber Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie dringend erforderlich sein können, kann diesem Argument jedoch kein großes Gewicht zukommen. Jedenfalls kann der allgemeine Gleichsatz des Art. 3 Abs. 1 GG nicht zur Rechtfertigung unverhältnismäßiger Freiheitsbeschränkungen herangezogen werden.23 4. Freiheitsbeschränkungen zum Schutz der Gesundheit Es wurde weiter gefragt, inwieweit generell Grundrechte zum Schutz der Gesundheit „aberkannt“ werden können. Der Begriff der Aberkennung von Grundrechten ist dem Grundgesetz fremd. Art. 18 GG regelt allerdings die Verwirkung bestimmter, abschließend aufgezählter Grundrechte, sofern diese zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht werden. Nach Art. 18 S. 2 GG kann die Verwirkung jedoch nur vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochen werden, was seit Einführung des Grundgesetzes noch in keinem einzigen Fall geschehen ist.24 Grundrechte können jedoch bei Vorliegen einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung beschränkt werden. Leben und Gesundheit stellen höchste Rechtsgüter dar,25 die grundsätzlich geeignet sind, freiheitsbeschränkende Eingriffe zu rechtfertigen. Aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgt zudem eine Schutzpflicht des Staates.26 Diese verpflichtet ihn insbesondere dazu, den Einzelnen vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten Dritter zu bewahren.27 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es Sache des Gesetzgebers, „in Bezug auf den jeweiligen Lebensbereich darüber zu entscheiden, ob, mit welchem Schutzniveau und auf welche Weise Situationen entgegengewirkt werden soll, die nach seiner Einschätzung zu Schäden führen können […]. Hierbei kommt ihm grundsätzlich ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu“28. Die Entscheidungen 22 So z. B. Boehme-Neßler, Der Corona-Pass ist inhuman und verfassungswidrig, Zeit online vom 5. Mai 2020, abrufbar unter: https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-05/immunitaetsausweis-coronavirus-antikoerpertest-grundrechte -verfassungsrechtler-volker-boehme-nessler, siehe auch Michl, Immunität als Status, vom 11. Mai 2020, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/immunitaet-als-status/ (letzter Abruf jeweils 25. Februar 2021). 23 Siehe hierzu auch Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Fragen zur Zulässigkeit von Ungleichbehandlungen von geimpften gegenüber ungeimpften Personen, WD 3 - 3000 - 001/21. 24 Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, 45. Edition 2020, Art. 18 Rn. 3. 25 Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), 16. Auflage 2020, GG Art. 2 Rn. 80. 26 Kunig/Kämmerer, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 7. Auflage 2021, Art. 2 Rn. 98 ff. 27 Murswiek/Rixen, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 2 Rn. 188. 28 BVerfGE 121, 317 (356). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 015/21 Seite 10 des Bundesverfassungsgerichts zum Tragen von Schutzhelmen im Straßenverkehr,29 zum Nichtraucherschutz 30 sowie zu Solarium-Verboten für Minderjährige31 zeigen auf, dass der Gesetzgeber grundsätzlich nicht gehindert ist, dem Gesundheitsschutz den Vorrang gegenüber den damit beeinträchtigten Freiheitsrechten einzuräumen. *** 29 BVerfGE 59, 275 (279). 30 BVerfGE 130, 131 (145); 121, 317 (359). 31 BVerfG, Beschl. v. 21.12.2011 – 1 BvR 2007/10, NJW 2012, 1062 (1064).