© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 015/16 Besetzung von Verfassungsgerichten in ausgewählten Staaten der EU Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 015/16 Seite 2 Besetzung von Verfassungsgerichten in ausgewählten Staaten der EU Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 015/16 Abschluss der Arbeit: 20. Januar 2016 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 015/16 Seite 3 1. Einleitung Vor dem Hintergrund der aktuellen Kontroverse um die Besetzung des Verfassungstribunals in Polen wird gefragt, wie andere EU-Staaten bei der Besetzung ihrer Verfassungsgerichte verfahren. Die folgende Ausarbeitung beruht auf deutschsprachigen Abhandlungen zur Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa aus 2008 und 20091. Hieraus stammende konkrete Angaben zu den Besetzungsverfahren wurden durch im Internet auffindbare Quellen auf ihre Aktualität geprüft. 2. Grundsätzliche Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit in den EU-Staaten Die Systeme verfassungsgerichtlicher Kontrolle sind in den einzelnen Staaten der EU sehr unterschiedlich ausgestaltet2. Zunächst sei darauf hingewiesen, dass die Vorstellung einer richterlichen Kontrolle des Gesetzgebers dem traditionellen Verfassungsverständnis einiger EU-Mitgliedstaaten widerspricht. So wurde die Einrichtung einer verfassungsgerichtlichen Prüfung von Legislativakten in Frankreich als eine Beschränkung des Parlaments als Vertreter des souveränen Volkes angesehen3. Ähnlich skeptisch wurde die richterliche Überprüfung von Legislativakten vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Gewaltenteilung auch in Schweden4, Finnland5, Luxemburg6 und Großbritannien7 betrachtet. In diesem Verfassungsverständnis stehend verfügen die Niederlande nach wie vor über kein Verfassungsgericht8. Die meisten der genannten (und weitere) Länder der EU sind außerdem durch ein häufig als „diffus“ bezeichnetes verfassungsrechtliches Normenkontrollsystem gekennzeichnet9, in dem 1 Haase/Struger, Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, 2009; Hönnige, Verfassungsgerichte in den EU-Staaten: Wahlverfahren, Kompetenzen und Organisationsprinzipien, ZSE 2008, 524 ff.; Mayer, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2009, 559 ff.; Kneip, Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich , in: Gabriel/Kropp (Hrsg.), Die EU-Staaten im Vergleich, 2008, S. 631 ff. 2 Vgl. zur Heterogenität und den verschiedenen Reichweiten der Prüfungs- und Verwerfungskompetenzen nationaler Obergerichte nur Mayer, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2009, 559 (560 ff., 598). 3 Haase/Struger, Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, 2009, S. 88 f.; Mayer, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2009, 559 (562). 4 Haase/Struger, Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, 2009, S. 235 ff. 5 Haase/Struger, Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, 2009, S. 238 ff. 6 Haase/Struger, Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, 2009, S. 226 ff. 7 Haase/Struger, Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, 2009, S. 267 ff. 8 Haase/Struger, Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, 2009, S. 264 ff. 9 Kneip, Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich, in: Gabriel/Kropp (Hrsg.), Die EU-Staaten im Vergleich, 2008, 631 (632 f.); siehe auch Haase/Struger, Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, 2009, S. 37 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 015/16 Seite 4 kein selbstständiges Verfassungsgericht besteht, sondern die Verfassungsgemäßheit von den ordentlichen Gerichten und/oder den Verwaltungsgerichten in jedem Verfahren mit überprüft wird10. Daneben gibt es Länder, in denen die Verfassungsgerichtsbarkeit als spezielle Kammer bei den obersten Instanzgerichten angesiedelt ist11. Andere EU-Mitgliedstaaten (neben Polen sind dies Belgien, Bulgarien, Deutschland, Frankreich, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, Österreich, Portugal, Rumänien, die Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien und Ungarn) verfügen über ein selbstständiges, von der Gerichtsbarkeit im Übrigen getrenntes Verfassungsgericht, das exklusiv für die Entscheidung über verfassungsrechtliche und staatsorganisatorische Fragen, insbesondere Fragen der Verfassungsgemäßheit von Gesetzen (Normenkontrolle), zuständig ist und durch ein eigenständiges Verfahren besetzt wird (sog. spezialisierte Verfassungsgerichtsbarkeit)12. Die folgende Darstellung konzentriert sich auf diese sechzehn Staaten. 3. Besetzungsverfahren in EU-Staaten mit konzentrierter Verfassungsgerichtsbarkeit Anzahl und Art der am Besetzungsverfahren der Verfassungsgerichte beteiligten Institutionen variieren erheblich13. Als Gemeinsamkeit lässt sich lediglich feststellen, dass die Legislative – wenigstens mittelbar – in jedem der genannten Länder mit spezialisierter Verfassungsgerichtsbarkeit am Auswahl- und/oder Ernennungsprozess beteiligt ist14. 10 Hierzu zählen Dänemark, Finnland, Schweden und Irland. Großbritannien und im Grundsatz, aber mit weiteren Besonderheiten auch Griechenland und Malta können ebenfalls zu dieser Kategorie gezählt werden; vgl. jedenfalls die Darstellung bei Kneip, Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich, in: Gabriel/Kropp (Hrsg.), Die EU-Staaten im Vergleich, 2008, 631 (635). Siehe zu den Ländern mit Ausnahme Maltas im Einzelnen die Abschnitte bei Haase/ Struger, Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, 2009: S. 232 ff. – Dänemark; S. 238 ff. – Finnland; S. 235 ff. – Schweden; S. 242 ff. – Irland; S. 267 ff. – Großbritannien; S. 254 ff. – Griechenland. 11 Dies ist in Estland und Zypern der Fall, vgl. Kneip, Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich, in: Gabriel/Kropp (Hrsg.), Die EU-Staaten im Vergleich, 2008, 631 (636); Luxemburg verfügt zwar über einen Verfassungsgerichtshof, seine Mitglieder sind jedoch ausnahmslos Richter der übrigen obersten Gerichtshöfe und üben ihre Funktion als Verfassungsrichter neben ihrer ursprünglichen richterlichen Tätigkeit aus, vgl. zu Luxemburg ausführlicher Haase/Struger, Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, 2009, S. 226 ff. 12 Die so ausgestaltete Kontrolle wird häufig als Modell einer spezialisierten oder österreichisch-deutschen, auf Hans Kelsen zurückgehenden Verfassungsgerichtsbarkeit bezeichnet, dem das Modell diffuser Verfassungskontrolle USamerikanischer Rechtstradition gegenüberstehe, vgl. Kneip, Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich, in: Gabriel/ Kropp (Hrsg.), Die EU-Staaten im Vergleich, 2008, 631 (632 f.); siehe auch Haase/Struger, Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, 2009, S. 37 ff. In anderen Darstellungen bildet das französische Modell eine eigene Kategorie, vgl. Mayer, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2009, 559 (561 f.). 13 Vgl. hierzu auch Kneip, Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich, in: Gabriel/Kropp (Hrsg.), Die EU-Staaten im Vergleich , 2008, 631 (637 ff.). 14 Hönnige, Verfassungsgerichte in den EU-Staaten: Wahlverfahren, Kompetenzen und Organisationsprinzipien, ZSE 2008, 524 (529). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 015/16 Seite 5 In den meisten Staaten wählt sie entweder den größten Teil der Richter aus oder stimmt über alle Richter ab15, nur in Bulgarien und Italien sind Exekutive und Judikative ähnlich stark wie das Parlament am Auswahlprozess beteiligt, während in Österreich die meisten Richter durch die Exekutive ernannt werden. Diese ist wiederum nur in Deutschland, Portugal und Ungarn nicht direkt in den Auswahlprozess eingebunden16. Die Judikative nimmt dagegen nur in sechs der sechzehn hier näher untersuchten Länder Einfluss auf die Auswahl der Richter. Die Besetzungsverfahren können tabellarisch wie folgt zusammengefasst werden17: Staat Anzahl Richter Amtszeit/Wiederwahl Wahlorgane (Interne) Nominierung Wahlquorum Belgien 12 Lebenszeit König wählt aus Zweierliste aus Je 6 Richter durch Abgeordnetenkammer und Senat Jeweils mit 2/3-Mehrheit Bulgarien 12 9 Jahre ohne Wiederwahl Je 4 durch Staatspräsident , Parlament und Oberste Gerichte Keine speziellen Regelungen Staatspräsident: Ernennung ; Parlament und Oberste Gerichte: Einfache Mehrheit Deutschland 16 12 Jahre ohne Wiederwahl Formale Ernennung durch Bundespräsidenten Je 8 durch Bundesrat und Bundestag mit internem Auswahlverfahren Jeweils mit 2/3-Mehrheit Frankreich 9 9 Jahre ohne Wiederwahl Je 3 durch Staatspräsident , Präsident der Nationalversammlung und Präsident des Senats Keine Konsultationspflicht aber 3/5 Vetomöglichkeit der zuständigen Ausschüsse in Senat und/oder Nationalversammlung Ernennung (siehe aber Vetomöglichkeit) Italien 15 9 Jahre ohne Wiederwahl Je 5 durch Staatspräsidenten , beide Parlamentskammern und Oberste Gerichtshöfe Keine speziellen Regelungen Staatspräsident: Ernennung ; Parlamentskammern : 2/3-Mehrheit ; Oberste Gerichtshöfe : Absolute Mehrheit Kroatien 13 8 Jahre mit Wiederwahlmöglichkeit Parlament Wahlausschuss im Parlament erbittet Vorschläge von Universitäten und Gerichtshöfen und erstellt Vorschlagsliste Absolute Mehrheit 15 Hönnige, Verfassungsgerichte in den EU-Staaten: Wahlverfahren, Kompetenzen und Organisationsprinzipien, ZSE 2008, 524 (529). 16 Hönnige, Verfassungsgerichte in den EU-Staaten: Wahlverfahren, Kompetenzen und Organisationsprinzipien, ZSE 2008, 524 (530). 17 Die Tabelle ist eine aktualisierte Fassung der Darstellungen bei Hönnige, Verfassungsgerichte in den EU-Staaten: Wahlverfahren, Kompetenzen und Organisationsprinzipien, ZSE 2008, 524 (533 f.; 542). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 015/16 Seite 6 Staat Anzahl Richter Amtszeit/Wiederwahl Wahlorgane (Interne) Nominierung Wahlquorum Lettland 7 10 Jahre ohne Wiederwahl Parlament 3 auf Vorschlag von mind. 10 Abgeordneten ; 2 auf Vorschlag der Regierung; 2 auf Vorschlag des Gerichts selbst Absolute Mehrheit Litauen 9 9 Jahre ohne Wiederwahl Parlament Je 3 auf Vorschlag des Staatspräsidenten, des Parlamentspräsidenten und des Präsidenten des Obersten Gerichts Einfache Mehrheit Österreich 14 Lebenszeit Formale Ernennung durch Bundespräsidenten 8 durch Bundesregierung ; je 3 durch Nationalrat und Bundesrat Bundesregierung: Ernennung ; Nationalund Bundesrat: Einfache Mehrheit Portugal 13 9 Jahre ohne Wiederwahl 10 durch Parlament; 3 durch die 10 gewählten Richter selbst Die 10 auf Vorschlag von mindestens 25 Abgeordneten; die 3 auf geheimen Vorschlag jedes Richters Parlament: 2/3-Mehrheit ; Gericht: Absolute Mehrheit Rumänien 9 9 Jahre ohne Wiederwahl Je 3 durch Staatspräsidenten , Abgeordnetenhaus und Senat 3 durch Staatspräsident ohne Konsultationspflicht ; die je anderen 3 auf Vorschlag des Rechtsausschusses Staatspräsident: Ernennung ; Abgeordnetenhaus und Senat: Absolute Mehrheit Slowakei 13 12 Jahre ohne Wiederwahl Staatspräsident wählt aus Zweierliste Vorschlag durch Parlament Einfache Mehrheit Slowenien 9 9 Jahre ohne Wiederwahl Parlament Vorschlag durch Staatspräsident Absolute Mehrheit Spanien 12 9 Jahre ohne Wiederwahl Formale Ernennung durch König 2 durch Regierung; je 4 durch Kongress und Senat; 2 durch Justizrat Regierung: Ernennung ; Kongress und Senat: 3/5-Mehrheit; Justizrat: Einfache Mehrheit Tschechien 15 10 Jahre mit Wiederwahlmöglichkeit Ernennung durch Staatspräsident Zustimmung des Senats erforderlich Senat: Einfache Mehrheit Ungarn 11 9 Jahre; einmalige Wiederwahl möglich Parlament Vorschlag durch Nominierungsausschuss 2/3-Mehrheit Ende der Bearbeitung