© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 014/16 Einreise von Asylsuchenden aus sicheren Drittstaaten Ergänzung zur Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 299/15 Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 014/16 Seite 2 Einreise von Asylsuchenden aus sicheren Drittstaaten Ergänzung zur Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 299/15 Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 014/16 Abschluss der Arbeit: 01.02.2016 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 014/16 Seite 3 1. Einleitung Die Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 299/15 befasst sich mit den rechtlichen Rahmenbedingungen für die Anfang September 2015 erfolgte Einreisegestattung gegenüber Asylsuchenden aus sicheren Drittstaaten.1 Neben den einfachgesetzlichen Rechtsgrundlagen – insbesondere aus § 18 Abs. 4 Asylgesetz (AsylG) – wurden die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Einreisegestattung erörtert. Insoweit wurde problematisiert, ob jedenfalls eine pauschale und massenhafte Einreisegestattung eine so wesentliche Entscheidung darstellt, dass sie vom Bundestag hätte getroffen werden müssen. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Di Fabio geht in seinem jüngst veröffentlichten Gutachten zum Thema „Migrationskrise als föderales Verfassungsproblem“2 davon aus, dass die Praxis der Einreisegestattung zeitlich, qualitativ und quantitativ ein solches Ausmaß erreicht habe, dass sie nicht mehr durch eine Ministeranordnung gedeckt sei, sondern einer gesetzlichen Grundlage bedürfe.3 Die Frage nach der Erforderlichkeit einer gesetzlichen Grundlage stellt im Gutachten allerdings nur einen Nebenaspekt dar. Im Zentrum steht die Prüfung, ob der Bund gegenüber den Ländern verfassungsrechtlich verpflichtet ist, seine Kompetenz zur Grenzsicherung „in einer die Interessen und Rechte der Länder schonenden Weise“ auszuüben.4 Es wird darum gebeten, die Ausführungen im Gutachten zur Erforderlichkeit einer gesetzlichen Grundlage vor dem Hintergrund der o.g. Ausarbeitung zu bewerten. 2. Einreiseverweigerung und Einreisegestattung Ausgangspunkt für die rechtliche Einordnung der Einreisegestattung gegenüber Asylsuchenden aus sicheren Drittstaaten ist auch im Gutachten die Vorschrift des § 18 AsylG.5 Von der in § 18 Abs. 2 AsylG vorgesehenen Pflicht, die Einreise von Asylsuchenden aus sicheren Drittstaaten zu verweigern, sieht § 18 Abs. 4 AsylG zwei Ausnahmen vor: eine unions- oder völkerrechtlich begründete Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung von Asylverfahren gemäß § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG6 sowie eine entsprechende Anordnung des Bundesministeriums des Innern aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG. Bestehen vorrangige Dublin-Zuständigkeiten oder liegt eine Anordnung des Bundesministeriums 1 Wissenschaftliche Dienste, Einreise von Asylsuchenden aus sicheren Drittstaaten (WD 3 - 3000 - 299/15). 2 Di Fabio, Migrationskrise als föderales Problem, abrufbar unter: http://www.bayern.de/wp-content/uploads /2016/01/Gutachten_Bay_DiFabio_formatiert.pdf. 3 Di Fabio (Fn. 2), 96. 4 Di Fabio (Fn. 2), 32. 5 Di Fabio (Fn. 2), 94 f., Wissenschaftliche Dienste (Fn. 1), 7. 6 Einschlägig sind insoweit die sog. Dublin-Zuständigkeiten nach der Dublin-III-Verordnung, VO [EU] Nr. 604/2013. Siehe dazu auch Wissenschaftliche Dienste (Fn. 1), 6 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 014/16 Seite 4 des Innern vor, „ist von der Einreiseverweigerung abzusehen“, § 18 Abs. 4 AsylG. Ein Ermessen besteht insoweit nicht. 2.1. Vorrangige Dublin-Zuständigkeit Das Gutachten behandelt mögliche Dublin-Zuständigkeiten der Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit § 18 Abs. 4 AsylG nicht. In der Ausarbeitung der WD hingegen wird erörtert, dass zahlreiche Einreisegestattungen auf sog. Dublin-Zuständigkeiten der Bundesrepublik Deutschland beruhen könnten, § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG.7 Insbesondere kommen Dublin-Zuständigkeiten in Betracht, wenn die eigentlich zuständigen ersten EU-Mitgliedstaaten, die die Asylsuchenden erreichen, mangels Registrierung nicht zu ermitteln sind (Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO [EU] Nr. 604/2013) oder wenn in die zuständigen EU-Mitgliedstaaten wegen systemischer Mängel nicht überstellt werden kann (Art. 3 Abs. 2 S. 3 VO [EU] Nr. 604/2013). Auch können die EU-Mitgliedstaaten durch sog. Selbsteintritt ihre Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren begründen (Art. 17 Abs. 1 VO [EU] Nr. 604/2013). Allerdings konnte auch in der Ausarbeitung keine rechtliche Würdigung dahingehend erfolgen, ob und in welchem Ausmaß Einreisegestattungen wegen vorrangiger Dublin-Zuständigkeiten nach § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG rechtmäßig waren, da der Sachverhalt insoweit unklar ist.8 2.2. Anordnung des Bundesministeriums des Innern Das Gutachten stellt – wie o.g. Ausarbeitung – fest, dass keine Informationen darüber vorliegen, ob und wenn ja, in welchem Umfang das Bundesministerium des Innern eine Anordnung zur Einreisegestattung nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG erteilt hat.9 Dass eine solche Anordnung – wie in der Ausarbeitung erörtert10 – nicht nur Einzelfälle, sondern grundsätzlich auch Ausländergruppen umfassen kann, wird in dem Gutachten nicht explizit geprüft. Allerdings scheint auch Di Fabio von einer solchen Auslegung auszugehen, zumal er „überschaubare und beherrschbare Fälle“ oder „situativ zeitlich oder örtlich begrenzte“ Entscheidungen im Rahmen des § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG für zulässig erachtet.11 3. Wesentliche Entscheidung? Die entscheidende, sowohl im Gutachten als auch in der Ausarbeitung behandelte Frage ist aber, ob die Vorschrift des § 18 Abs. 4 AsylG auch pauschale und massenhafte Einreisegestattungen, insbesondere durch ministerielle Anordnung nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG zulässt.12 Verfassungsrechtliche Zweifel folgen insoweit aus dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes. Als Ausprägung 7 Wissenschaftliche Dienste (Fn. 1), 7. 8 Wissenschaftliche Dienste (Fn. 1), 4 f., 7. 9 Di Fabio (Fn. 2), 95; Wissenschaftliche Dienste (Fn.1), 4. 10 Wissenschaftliche Dienste (Fn. 1), 7 f. 11 Di Fabio (Fn. 2), 95. 12 Wissenschaftliche Dienste (Fn. 1), 8; Di Fabio (Fn. 2), 96 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 014/16 Seite 5 des Rechtsstaats- und Demokratieprinzips verlangt der Vorbehalt des Gesetzes nach der sog. Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass der Gesetzgeber in grundlegenden normativen Bereichen, insbesondere im Bereich der Grundrechtsausübung, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen hat.13 Die Kriterien zur Feststellung der Wesentlichkeit umschreibt das Bundesverfassungsgericht allerdings nur sehr allgemein: „In welchen Bereichen danach staatliches Handeln einer Rechtsgrundlage im förmlichen Gesetz bedarf, lässt sich nur im Blick auf den jeweiligen Sachbereich und die Intensität der geplanten oder getroffenen Regelung ermitteln. Die verfassungsrechtlichen Wertungskriterien sind dabei in ersten Linie den tragenden Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere den vom Grundgesetz anerkannten und verbürgten Grundrechten zu entnehmen.“14 Eine Konkretisierung oder Diskussion dieser Vorgaben erfolgt im Gutachten nicht. Es wird lediglich vorangestellt, politische Entscheidungen mit „weitreichenden Auswirkungen auf die Bürger“ seien wesentliche Entscheidungen,15 um dann sogleich die Wesentlichkeit wie folgt zu bejahen: „Die Entscheidung über den – gemessen am Maßstab des § 18 Abs. 1 und Abs. 2 Asylgesetz – unkontrollierten Massenzustrom von Vertriebenen und Einreisewilligen betrifft, wenn er16 über eine momentane, zeitlich und örtlich begrenzte Grenzöffnung hinausreicht, die Lebensverhältnisse der Republik und der einzelnen Bürger insgesamt. Daneben ist wegen der unmittelbaren engen Beziehung dieser Entscheidung zur Eigenstaatlichkeit der Länder und im Blick auf die Wahrung des in Art. 30 GG verankerten Funktionsschutzes landesrechtlicher Kompetenzen und übertragenen Rechtspflichten auch das bundesstaatliche Gefüge betroffen. Das von der Ministeranordnung erlaubte Verhalten der Grenzbehörden des Bundes bedarf deshalb im Fall der vorliegend gegebenen zeitlichen (bereits mehrere Monate), qualitativen (den Ausfall von Einreisekontrollen und Zurückweisungen betreffende) und quantitativen Umstände einer gesetzlichen Grundlage, die Voraussetzungen, Art und Ausmaß und zeitliche Begrenzung einer solchen gravierenden Abweichung von der gesetzlichen Grundentscheidung näher regelt.“17 Es bleibt unberücksichtigt, dass der hier betroffene Regelungsbereich Besonderheiten aufweist, die gegen die Wesentlichkeit angeführt werden können.18 Insbesondere führt die unionsrechtliche Überlagerung des § 18 AsylG dazu, dass die Vorschrift nicht nur eine Grundentscheidung für die Einreiseverweigerung gegenüber Asylsuchenden aus sicheren Drittstaaten enthält, sondern auch eine Grundentscheidung für vorrangige Dublin-Zuständigkeiten, die zur Einreisegestattung 13 Di Fabio (Fn. 2), 96 und Wissenschaftliche Dienste (Fn. 1), 8, jeweils mit Verweis auf BVerfGE 49, 89, 126 f. 14 BVerfGE 49, 89, 127. 15 Di Fabio (Fn. 2), 96 f. mit Verweis auf BVerfGE 49, 89, 127. 16 Gemeint ist „sie“ (Anmerkung d. Verf.). 17 Di Fabio (Fn. 2), 97. 18 Vgl. dazu Wissenschaftliche Dienste (Fn. 1), 9 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 014/16 Seite 6 verpflichten. In diesem Zusammenhang wäre von Bedeutung, ob und in welchem Ausmaß man bei den Einreisegestattungen von vorrangigen Dublin-Zuständigkeiten ausgegangen ist.19 Erfolgten die Einreisegestattungen nicht aufgrund von Dublin-Zuständigkeiten, sondern aufgrund einer Ermessensentscheidung der Exekutive,20 insbesondere nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG, sprechen gewichtige Argumente für die Erforderlichkeit einer gesetzlichen Grundlage. In der Ausarbeitung wird insofern auf die mit der Aufnahme von Asylsuchenden verbundenen Auswirkungen auf das Gemeinwesen verwiesen, die nicht nur vorübergehender Natur sind und die neben großen Lasten (Verwaltungsaufwand, Kosten) auch die Gesellschaftsstruktur als solche verändern und erhebliche Integrationsprobleme umfassen können. Das Gutachten bleibt bei der Substantiierung der Wesentlichkeit jedoch blass. Dies dürfte dem Hauptanliegen des Gutachtens geschuldet sein, verfassungsrechtliche Pflichten des Bundes gegenüber den Ländern auf wirksame Einreisekontrollen zu untersuchen. Ein Verstoß gegen den Vorbehalt des Gesetzes vermag solche Pflichten nicht zu begründen.21 So überrascht es auch nicht, dass die im Gutachten angenommene Erforderlichkeit eines Gesetzes sogleich wieder relativiert wird: „Es ist indes zweifelhaft, ob eine gesetzliche Ermächtigung zum praktischen Verzicht auf Einreisekontrollen innerhalb eines zurzeit hochdefizitären Schengensystems überhaupt materiell mit Verfassungsrecht zu vereinbaren ist.“22 Da die Handlungsmöglichkeiten des Gesetzgebers nicht auf eine gesetzliche Ermächtigung zum praktischen Verzicht auf Einreisekontrollen beschränkt sind, überzeugt eine solche Relativierung des Vorbehalts des Gesetzes jedoch nicht. Ende der Bearbeitung 19 Vgl. dazu Wissenschaftliche Dienste (Fn. 1), 9. 20 Vgl. dazu das Interview des Bundesministers des Innern mit der Welt am Sonntag „Nicht vorher drüber reden“ vom 13.12.2015, abrufbar unter: http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Interviews/DE/2015/12/interview-welt-amsonntag .html, in dem es auf die Frage, ob Flüchtlinge an der Grenze zu Österreich abgewiesen werden müssten, heißt: „Darüber kann man rechtlich lange diskutieren. Das deutsche Recht wird in vielerlei Hinsicht vom europäischen überlagert. Politisch haben wir uns bisher jedenfalls dagegen entschieden.“ 21 Aus Länderperspektive könnte man wegen des Verstoßes gegen den Vorbehalt des Gesetzes allein die Nichtbeteiligung des Bundesrates an der Bundesgesetzgebung rügen, Di Fabio (Fn. 2), 32, 97, 102. 22 Di Fabio (Fn. 2), 102 f.