© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 014/15 Modell der sog. Vorauswahlen in Schweden und Übertragbarkeit auf das Wahlrecht des Bundes Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 014/15 Seite 2 Modell der sog. Vorauswahlen in Schweden und Übertragbarkeit auf das Wahlrecht des Bundes Verfasser: Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 014/15 Abschluss der Arbeit: 20. Februar 2015 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 014/15 Seite 3 1. Vorbemerkung Das schwedische Wahlsystem folgt dem Prinzip der Verhältniswahl und basiert auf den Grundsätzen einer freien, geheimen und direkten Wahl. Es erfasst Wahlen zu den Volksvertretungen (Reichstag, Kommunal- und Regionalvertretungen) sowie Referenden.1 Die Wahlen zum Reichstag sowie zu den kommunalen und regionalen Volksvertretungen werden gemäß Kapitel 1 § 2 Elections Act2 (Wahlgesetz - EAct) im Turnus von vier Jahren am 3. Sonntag im September abgehalten.3 Neben der Stimmabgabe im Wahllokal am Wahltag räumt das schwedische Wahlrecht den Wählern die Möglichkeit ein, ihre Stimme in einem mehrere Tage vor dem Wahltag beginnenden Wahlzeitraum an gesondert ausgewiesenen Wahlorten im Inland sowie in den Auslandsvertretungen abzugeben. Dieser Zeitraum schließt den Wahltag mit ein. Mit der vorliegenden Ausarbeitung wird ein Überblick über die wahlrechtlichen Bestimmungen zu dieser gesetzlichen Möglichkeit der Stimmabgabe im Voraus, der sog. Vorauswahl (förtidsröstning ), gegeben. Nach einem Blick auf die Regelungen des Bundeswahlrechts zur Stimmabgabe wird anschließend der Frage nachgegangen, ob eine Übertragung entsprechender Regelungen auf das Wahlrecht des Bundes möglich ist. 2. Das schwedische System der Stimmabgabe Das schwedische Wahlgesetz unterscheidet systematisch fünf Formen der Durchführung der Wahlhandlung (Stimmabgabe). Danach kommt in erster Linie die persönliche Stimmabgabe im Wahllokal des zuständigen Wahlbezirks in Betracht (Kapitel 7 § 1 Satz 1 EAct). Darüber hinaus haben die Wähler die Möglichkeit, ihre Stimme am Tag der Wahl und mehrere Tage zuvor auch an gesonderten Wahlorten abzugeben, die im Inland durch die Kommunen sowie im Ausland durch die dortigen Auslandsvertretungen Schwedens eingerichtet werden – sog. Vorauswahlen (Satz 2 sowie Kapitel 10 §§ 1 bis 6 EAct). Hinzu treten in bestimmten Fällen die Möglichkeiten der Stimmabgabe durch einen Boten (Satz 3 sowie Kapitel 7 §§ 4 bis 10 EAct) sowie durch Briefwahl (Satz 3 sowie Kapitel 7 §§ 11 bis 15 EAct). 1 In Schweden werden zwei Formen nationaler Referenden unterschieden: konsultative und konstitutive Referenden . Dem schwedischen Parlament obliegt die Entscheidung über die Durchführung eines Referendums, wer stimmberechtigt ist und welche Entscheidungsalternativen zur Abstimmung gestellt werden. 2 Elections Act (2005:837), in Kraft getreten am 1. Januar 2006, zuletzt geändert am 27. November 2014 mit dem Änderungsgesetz SFS 2014:1384. Die nichtkonsolidierte englischsprachige Fassung, ist online verfügbar unter: http://www.val.se/pdf/2005_elections_act.pdf (zuletzt abgerufen am 18. Februar 2015). Hinweis: Die mit dem Gesetz SFS 2014:1384 vom 27. November 2014 vorgenommenen Änderungen des schwedischen Wahlgesetzes betreffen nicht die hier erörterten Bestimmungen zur Stimmabgabe.] 3 Vorgezogene Neuwahlen zum Parlament finden auf Entscheidung des Reichstages innerhalb dreier Monate nach dieser Entscheidung statt. Über außerordentliche Wahlen zu den Kommunal- und Regionalparlamenten entscheidet die entprechende Volksvertretung mit Zweidrittelmehrheit. Eine solche Entscheidung kann erst nach 6 Monaten nach der letzten Wahl getroffen werden. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 014/15 Seite 4 Für die Wahlen zum Reichstag, zu den kommunalen und regionalen Volksvertretungen sowie zum Europäischen Parlament richten die Kommunen im Inland sowie die Auslandsvertretungen Schwedens gemäß Kapitel 10 § 2 Abs. 1 EAct gesonderte Wahlorte ein. In den von den Kommunen eingerichteten gesonderten Wahlorten haben die Wähler die Möglichkeit , ihre Stimme im Zeitraum vom 18. Tag vor dem Tag der Wahl bis einschließlich zum Wahltag abzugeben. Wahlberechtigte, die sich im Ausland aufhalten, können in den von den Auslandsvertretungen eingerichteten gesonderten Wahlorten ihre Stimme im Zeitraum vom 24. Tag vor dem Tag der Wahl bis längstens zum Tag vor dem Wahltag abgeben. Für andere als die genannten Wahlen gelten andere Zeiträume. 3. Bestimmungen des Bundeswahlrechts zur Stimmabgabe Der Wahltag wird gemäß Art. 39 Abs. 1 S. 3 Grundgesetz (GG) i.V.m. § 16 BWahlG durch den Bundespräsidenten bestimmt. Der Wahltag muss ein Sonntag oder gesetzlicher Feiertag sein. Das Bundeswahlgesetz4 sieht in § 14 zwei Formen der Ausübung des Wahlrechts vor: einerseits die persönliche Stimmabgabe in dem Wahlbezirk, in dessen Wählerverzeichnis der Wahlberechtigte geführt wird, und andererseits die Briefwahl, für die zuvor die Ausstellung eines Wahlscheins erforderlich ist. Für Inhaber eines Wahlscheins ergibt sich ergänzend die Möglichkeit der persönlichen Stimmabgabe in jedem beliebigen Wahlbezirk des Wahlkreises, in dem der Wahlschein ausgestellt ist. Die persönliche Stimmabgabe mit amtlichen Stimmzetteln wird in § 34 BWahlG näher bestimmt. Eine besondere Form der Entgegennahme der amtlichen Stimmzettel ermöglichen die sog. beweglichen Wahlvorstände.5 Die zuständigen Gemeindebehörden sollen sie bei Bedarf für die Stimmabgabe in kleineren Krankenhäusern, kleineren Alten- oder Pflegeheimen, Klöstern, sozialtherapeutischen Anstalten und Justizvollzugsanstalten bilden. Zur Erleichterung der Abgabe und Zählung der Stimmen lässt § 35 BWahlG auch die Benutzung von Wahlgeräten6 anstelle des Einwurfs von Stimmzetteln in Wahlurnen zu. 4 Bundeswahlgesetz i.d.F. der Bekanntmachung vom 23. Juli 1993 (BGBl. I S. 1288, 1594), zuletzt geändert durch Artikel 2 Absatz 1 des Gesetzes vom 3. Mai 2013 (BGBl. I S. 1084). 5 Bewegliche Wahlvorstände bestehen aus dem Wahlvorsteher des zuständigen Wahlbezirks oder seinem Stellvertreter und zwei Beisitzern des Wahlvorstandes. Es kann auch der bewegliche Wahlvorstand eines anderen Wahlbezirks der Gemeinde mit der Entgegennahme der Stimmzettel beauftragt werden (§ 8 BWO). 6 Diese müssen die Geheimhaltung der Stimmabgabe gewährleisten. Über die Gerätezulassung entscheidet das Bundesministerium des Innern auf Antrag des Herstellers des Wahlgerätes. Die Verwendung zugelassener Wahlgeräte bedarf der Genehmigung durch das Bundesministerium des Innern. Das Bundesministerium des Innern ist ermächtigt , die Verfahren der Zulassung und Verwendungsgenehmigung durch Rechtsverordnung zu bestimmen. Die auf dieser Grundlage erlassene Bundeswahlgeräteverordnung (BWahlGV) vom 3. September 1975 in der Fassung der Verordnung vom 20. April 1999 wurde mit Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2009 (BVerfGE 123, 39) wegen der Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit der Wahl (Art. 38 GG i.V. mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG) für verfassungswidrig erklärt. Damit ist derzeit der Einsatz von Wahlgeräten nicht zulässig. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 014/15 Seite 5 Die in § 36 BWahlG näher bestimmte Stimmabgabe im Wege der Briefwahl ist nur möglich, wenn zuvor ein Wahlschein ausgestellt wurde. Wahlscheine dürfen frühestens ab dem 58. Tag vor der Wahl ausgestellt werden (§ 28 Bundeswahlordnung - BWO7 - i.V.m. §§ 26 und 28 BWahlG). Dem Wahlschein sind der amtliche Stimmzettel des Wahlkreises, ein amtlicher Stimmzettelumschlag , ein adressierter amtlicher Wahlbriefumschlag sowie ein Merkblatt zur Briefwahl beizufügen (§ 28 Abs. 3 BWO). Bei der Briefwahl hat der Wähler in einem verschlossenen Wahlbriefumschlag seinen Wahlschein und - in einem besonderen verschlossenen Stimmzettelumschlag - seinen Stimmzettel so rechtzeitig auf dem Postweg zu übersenden, dass der Wahlbrief spätestens am Wahltage bis 18 Uhr bei dem Kreiswahlleiter des Wahlkreises eingeht, in dem der Wahlschein ausgestellt worden ist (§ 36 Abs. 1 BWAhlG). Der Wähler hat auch die Möglichkeit, bei der persönlichen Abholung des Wahlscheins und der Briefwahlunterlagen bei der Gemeindebehörde , die Briefwahl an Ort und Stelle auszuüben (§ 28 Abs. 5 BWO). 4. Übertragbarkeit des schwedischen Modells der Vorauswahlen auf Deutschland Das Verfahren der Wahlhandlung und mögliche Alternativen zur persönlichen Stimmabgabe im Wahllokal am Wahltag sind im Bundeswahlgesetz einfachgesetzlich bestimmt und in der Bundeswahlordnung näher geregelt. Zur Einführung weiterer Alternativen der Stimmabgabe, z.B. in Form der Möglichkeit einer vorzeitigen Stimmabgabe (Vorauswahl), bedarf es einer Änderung des Bundeswahlgesetzes und der Bundeswahlordnung. Der Bundesgesetzgeber verfügt hier über eine durch Art. 38 Abs. 3 GG begründete ausschließliche Gesetzgebungskompetenz; entsprechende gesetzgeberische Schritte bedürfen nicht der Zustimmung des Bundesrates.8 Die Kompetenz des Bundesministeriums des Innern zu Erlass und Änderung der Bundeswahlordnung ergibt sich aus der Verordnungsermächtigung des § 52 BWahlG; auch der Erlass dieser Rechtsvorschriften bedarf nicht der Zustimmung des Bundesrates (§ 52 Abs. 2 BWahlG). Gegen die Einführung der Möglichkeit, seine Stimme im Rahmen von Vorauswahlen abzugeben sprechen weder verfassungsrechtliche noch wahlrechtliche Gründe. Der Verfassunggeber hat die Ausgestaltung des materiellen und formellen Wahlrechts zum Deutschen Bundestag im Einzelnen dem Bundesgesetzgeber aufgetragen (Art. 38 Abs. 3 GG). Neben der Ermächtigung zur Bestimmung des Wahlsystems gehören zu den vom Gesetzgeber zu regelnden Gegenständen das Wahlverfahren (Vorbereitung und Durchführung), die Festlegung des Wahltermins , sowie die Bestimmung der Voraussetzungen für die Wahrnehmung des aktiven und passiven Wahlrechts, die Regelung des Erwerbs und Verlusts der Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag, die Festlegung der Wahlkreise sowie die Zahl der Mitglieder des Deutschen Bundestages.9 7 Bundeswahlordnung i.d.F. der Bekanntmachung vom 19. April 2002 (BGBl. I S. 1376), zuletzt geändert durch Artikel 1 der Verordnung vom 13. Mai 2013 (BGBl. I S. 1255). 8 Klein, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 38, Rn. 165, mit weiteren Verweisen; Strelen in: Schreiber, Bundeswahlgesetz Kommentar, 9. Aufl., Köln 2013, Erläuterungen zum BWahlG, Rn. 14 mit weiteren Verweisen. 9 Klein in: Maunz/Dürig, Fn. 8, Art. 38 GG, Rn. 164. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 014/15 Seite 6 Der dem Gesetzgeber eingeräumte Gestaltungsspielraum beim Erlass eines einfachen Bundesgesetzes zur Bestimmung der Details des materiellen und formellen Wahlrechts wird durch den Orientierungsrahmen der Wahlgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 GG, des allgemeinen Willkürverbots aus Art. 3 GG und den aus den Art. 20, 21 und 41 GG folgenden Prinzipien der demokratischen Wahl vorgegeben. Gemäß Art. 38 Abs. 1 GG werden die Abgeordneten in allgemeiner, unmittelbarer , freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Der nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes bestehende breite Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers findet seine Schranken in der Beachtung dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben, insbesondere des Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit. Ein Verstoß gegen einen der verfassungsrechtlich garantierten Wahlrechtsgrundsätze durch die gesetzliche Bestimmung eines dem Wahlgang am Wahltag vorgelagerten Zeitraums, innerhalb dessen den Wahlberechtigten die Möglichkeit eingeräumt wird, in bestimmten Wahllokalen ihre Stimme persönlich abzugeben, ist nicht ersichtlich. Was den Aspekt der vorzeitigen Stimmabgabe anbelangt, ist die sog. Vorauswahl mit der in § 36 BWahlG geregelten Briefwahl vergleichbar . Zur Verfassungsmäßigkeit der Briefwahl hat das Bundesverfassungsgericht bereits in zwei Entscheidungen10 Stellung bezogen und einen Verstoß gegen die Wahlrechtsgrundsätze verneint. Für die sog. Vorauswahl kann nichts anderes gelten. Insbesondere die vom Bundesverfassungsgericht geprüfte Vereinbarkeit mit den Grundsätzen der Freiheit und der Geheimheit der Wahl kommt unter Zugrundelegung der Prinzipien der schwedischen Regelung nicht in Betracht. Da die Stimmabgabe bei der Vorauswahl gemäß dem schwedischen Modell an gesonderten Wahlorten stattfindet, ist eine Beeinträchtigung der Wahlfreiheit und des Wahlgeheimnisses durch die Anwesenheit eines Dritten von vorherein nicht zu befürchten. Soweit eine solche Bestimmung die Regelungsabsichten bestehender Normen des Bundeswahlrechts berücksichtigt und keine Regelungskonflikte verursacht, stehen auch aus einfachgesetzlicher Sicht keine Gründe entgegen, eine vorzeitige Stimmabgabe zu ermöglichen. 10 BVerfGE 21, 200; 59, 119.