© 2021 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 013/21 Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz Fragen zum Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 19. Januar 2021 Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 013/21 Seite 2 Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz Fragen zum Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 19. Januar 2021 Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 013/21 Abschluss der Arbeit: 1. Februar 2021 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 013/21 Seite 3 1. Einleitung und Fragestellung Über die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz (GG) wird seit Langem diskutiert.1 Das Kabinett hat am 20. Januar 2021 den Gesetzentwurf der Bundesregierung „Entwurf eines Gesetzes zur ausdrücklichen Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz“2 beschlossen. Dieser sieht vor, dem Art. 6 Abs. 2 GG folgende Sätze anzufügen: „Die verfassungsmäßigen Rechte der Kinder einschließlich ihres Rechts auf Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten sind zu achten und zu schützen. Das Wohl des Kindes ist angemessen zu berücksichtigen. Der verfassungsrechtliche Anspruch von Kindern auf rechtliches Gehör ist zu wahren. Die Erstverantwortung der Eltern bleibt unberührt.“ Gefragt wird, welche Rechtsfolgen und Auswirkungen die vorgeschlagene Ergänzung des Art. 6 Abs. 2 GG auf die Stellung von Kindern als Rechtssubjekt hat und in welchem Verhältnis sie zu den in der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK)3 festgelegten Rechten steht. 2. Regelungsinhalt des Gesetzentwurfs und Folgenbewertung Der Entwurf enthält laut Bundesregierung vier Elemente: – Die Anerkennung der Grundrechtsberechtigung des Kindes einschließlich seines Rechts auf Entwicklung zur eigenverantwortlichen Persönlichkeit (Art. 6 Abs. 2 S. 3 GG n.F.), – die Verankerung des Kindeswohls (Art. 6 Abs. 2 S. 4 GG n.F.), – ein Anhörungsrecht des Kindes (Art. 6 Abs. 2 S. 5 GG n.F.), – die Klarstellung, dass Elternrechte und -pflichten unberührt bleiben (Art. 6 Abs. 2 S. 6 GG n.F.).4 1 Für einen Überblick über vorangegangene Gesetzesinitiativen und andere parlamentarische Vorschläge der vergangenen Legislaturperioden siehe die Dokumentationen der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages , Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz vom 30. November 2017, WD 3 - 3000 - 226/17 sowie WD 3 - 3000 - 242/17, Kinderrechte im Grundgesetz – zur Grundrechtsträgerschaft von Kindern, vom 7. Dezember 2017. Zu den verschiedenen Gesetzesinitiativen in der aktuellen Legislaturperiode und ihrer Einordnung siehe die Ausarbeitungen der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Zur Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz – Gegenüberstellung verschiedener Formulierungsvorschläge zur Verankerung von Kinderrechten in Art. 6 GG vom 18. Dezember 2019, WD 3 - 3000 - 272/19 und Zur Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz – Gegenüberstellung eines Formulierungsvorschlages mit vier kinderrechtlichen Grundprinzipien der UN-Kinderrechtskonvention vom 16. Dezember 2019, WD 3 - 3000 - 276/19 sowie den Sachstand, Kinderrechte ins Grundgesetz – Zum Gesetzesentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz aus November 2019 und seiner Diskussion vom 23. Januar 2020, WD 3 - 3000 - 012/20. 2 Gesetzentwurf der Bundesregierung - Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes zur ausdrücklichen Verankerung der Kinderrechte vom 19. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.bmfsfj.de/blob/165208/189dccd485dd00054ae6ff287d19fcfe/gesetzentwurf-kinderrechte-grundgesetz -data.pdf (letzter Abruf 29. Januar 2021). 3 UN-Kinderrechtskonvention vom 20. November 1989, A/RES/44/25, abrufbar unter: https://www.kinderrechtskonvention .info/uebereinkommen-ueber-die-rechte-des-kindes-370/ (letzter Abruf 29. Januar 2021). 4 Gesetzentwurf der Bundesregierung (Fn. 2), 7. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 013/21 Seite 4 Laut der Gesetzesbegründung soll die vorgeschlagene Verfassungsänderung „Grundrechte von Kindern im Text des Grundgesetzes besser sichtbar machen. Kindesspezifische Aspekte wie das Kindeswohlprinzip und das Anhörungsrecht des Kindes sollen im Verfassungstext betont und dadurch die Rechtstellung von Kindern und Familien unterstrichen werden.“5 Zugleich sei stets zu beachten, dass Kinder nicht die einzigen Grundrechtsträger seien. Durch die Hervorhebung ihrer Grundrechte solle sich „das verfassungsrechtliche Gewicht anderer Garantien nicht verringern “, insbesondere sollen die vorgeschlagenen Regelungen nichts an der verfassungsrechtlichen Ausgangslage für das Verhältnis zwischen Eltern, Kind und Staat ändern.6 Die vorgeschlagene Verfassungsänderung soll im Folgenden näher auf ihren Regelungsgehalt und ihre Folgen untersucht werden. 2.1. Anerkennung der Grundrechtsberechtigung des Kindes einschließlich des Rechts auf Entwicklung zur eigenverantwortlichen Persönlichkeit Vorgesehen ist, Art. 6 Abs. 2 GG um folgenden neuen Satz 3 zu ergänzen: „Die verfassungsmäßigen Rechte der Kinder einschließlich ihres Rechts auf Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten sind zu achten und zu schützen.“ Der Satz formuliert kein eigenständiges subjektives Recht des Kindes; es wird vielmehr auf die sich aus dem Grundgesetz ergebenden verfassungsmäßigen Rechte der Kinder Bezug genommen.7 Für Gewährleistungsgehalt und Schranken der Grundrechte des Kindes ergeben sich somit keine Änderungen; diese werden jedoch unmittelbar in der Verfassung sichtbar gemacht. Gleichsam wird betont, dass Kinder ein Recht haben, dass ihre Grundrechte seitens der Grundrechtsverpflichteten auch geachtet und geschützt werden. Laut Gesetzesbegründung werden damit die etablierten Grundrechtsfunktionen beschrieben, die aus den Grundrechten folgen: So beziehe sich „achten“ auf die klassische Abwehrfunktion der Grundrechte als Begrenzung staatlicher Eingriffsbefugnisse ; „schützen“ zeichne die bestehenden grundrechtlichen Garantien nach.8 Dem mit der Verfassungsänderung verfolgte Zweck der Regelung, lediglich bereits geltendes Recht sichtbar zu machen, wird entsprochen. Ausdrücklich normiert wird das Recht auf Entwicklung zur eigenverantwortlichen Persönlichkeit. Hierbei handelt es sich um eine Festschreibung der langjährigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . Nach dieser haben Kinder aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG ein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, um damit zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft heranzureifen, wie sie dem Menschenbild des Grundgesetzes 5 Gesetzentwurf der Bundesregierung (Fn. 2), 2, Hervorhebung nur hier. 6 Gesetzentwurf der Bundesregierung (Fn. 2), 6. 7 Ausführlich zu den Grundrechten der Kinder, siehe Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Zur Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz – Gegenüberstellung verschiedener Formulierungsvorschläge zur Verankerung von Kinderrechten in Art. 6 GG vom 18. Dezember 2019, WD 3 - 3000 - 272/19, 7. 8 Gesetzentwurf der Bundesregierung (Fn. 2), 9. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 013/21 Seite 5 entspricht.9 Durch das Wort „einschließlich“ wird deutlich gemacht, dass dieses Recht bereits zuvor Teil der verfassungsmäßigen Rechte der Kinder war.10 Das Entwicklungsrecht des Kindes erfährt durch die ausdrückliche Nennung eine Betonung. Die explizite Nennung des Entwicklungsrechts des Kindes wird in der Literatur ausdrücklich begrüßt.11 Kritisiert wird z.T., dass der vom Bundesverfassungsgericht genannte wichtige Gedanke der sozialen Verbundenheit keine Erwähnung gefunden hat.12 Anders als die bisher diskutierten Formulierungsvorschläge13 enthält der vorliegende Formulierungsvorschlag der Bundesregierung keine Regelung, die die Förderung von verfassungsmäßigen Rechten der Kinder vorsieht. Zum Teil wird in der Literatur empfohlen, sich bei der Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz an der im internationalen Menschenrechtsregime verbreiteten Formulierung des „Achtens, Schützens und Förderns“ zu orientieren;14 andere Stimmen weisen hingegen darauf hin, dass dies nicht dem grundgesetzlichen Regelungssystems entspreche.15 Hierzu ist anzumerken, dass Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG sehr wohl den Begriff des Förderns kennt. 2.2. Verankerung des Kindeswohlprinzips In Art. 6 Abs. 2 GG ist folgender neuer Satz 4 vorgesehen: „Das Wohl des Kindes ist angemessen zu berücksichtigen.“ Damit wird die Berücksichtigung des Kindeswohls verfassungsrechtlich verankert. Der Satz ist kurz gehalten. Ein Adressat der Regelung wird nicht genannt; dieser ergibt sich allerdings aus Art. 1 Abs. 3 GG. Danach sind alle Staatsgewalten Grundrechtsverpflichtete. Satz 4 nimmt kein Bezug auf ein staatliches Handeln und/oder eine unmittelbare Rechtsbetroffenheit des Kindes, wie dies bei vorangegangenen Gesetzentwürfen der Fall ist.16 Fraglich ist aber, ob einer solchen Bezugnahme überhaupt eine sinnvolle Aussagekraft zukäme, insbesondere da sich die Verpflichtung staatlichen Handelns bereits aus Art. 1 Abs. 3 GG ergibt. 9 BVerfGE 107, 104, (117); 24, 119 (144). 10 Siehe auch Gesetzentwurf der Bundesregierung (Fn. 2), 9. 11 von Landenberg-Roberg, Symbolpolitik ohne Kollateralschäden? vom 13. Januar 2021, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/symbolpolitik-ohne-kollateralschaden/ (letzter Abruf 29. Januar 2021). 12 Wapler, Und ewig grüßt das Kindeswohl vom 14. Januar 2021, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/undewig -grust-das-kindeswohl/ (letzter Abruf 29. Januar 2021). 13 Siehe Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages (Fn. 7). 14 Hofmann/Donath, Gutachten bezüglich der ausdrücklichen Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz nach Maßgabe der Grundprinzipien der UN-Kinderrechtskonvention, 2017, 13 f., online abrufbar unter: https://kinderrechte-ins-grundgesetz.de/wp-content/uploads/2018/02/DKHW_Gutachten_KRiGG_Hofmann_Donath .pdf (letzter Abruf 29. Januar 2021). 15 Kirchhof, Die Kinderrechte des Grundgesetzes, NJW 2018, 2690 (2692). 16 Siehe Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages (Fn. 7). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 013/21 Seite 6 Durch die explizite Nennung des Kindeswohls wird dieses in der Verfassung sichtbar. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist das Kindeswohl schon jetzt ein „wesensbestimmender Bestandteil“17 des Art. 6 Abs. 2 GG und dient als Richtschnur der Elternverantwortung . Zum Begriff Kindeswohl hat sich die Bunderegierung aktuell anlässlich einer Kleinen Anfrage geäußert und festgestellt, dass dieser unbestimmte Rechtsbegriff norm- und kontextbezogen zu verstehen sei; die Rechtsprechung habe für die jeweiligen Bereiche Kriterien entwickelt, die bei der Kindeswohlprüfung zu berücksichtigen seien.18 In der Literatur wird kritisiert, dass die Formulierung insgesamt vage bleibe und die Gefahr ausufernden Deutungen mit sich bringen würde.19 Festzustellen ist, dass die Gesetzesbegründung Fragen bezüglich des Adressaten der Kindeswohlverpflichtung aufwirft. So heißt es, dass Satz 4 auf eine Nennung der „öffentlichen und privaten Stellen bzw. Einrichtungen“ als Adressaten des Berücksichtigungsverbots verzichte, wie es Art. 3 Abs. 1 UN-KRK sowie Art. 24 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta tun, da sich bereits aus Art. 1 Abs. 3 GG ergebe, wer grundrechtsverpflichtet sei.20 Gemäß Art. 1 Abs. 3 GG sind aber nur die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung unmittelbare Grundrechtsadressaten, nicht aber Private.21 Die Gesetzesbegründung ist in diesem Punkt nicht schlüssig und wirft mit Blick auf die Verpflichtung Privater Auslegungsfragen auf. Eine Abweichung von der UN-KRK ist zudem beim Berücksichtigungsgebot des Kindeswohls festzustellen : Während nach Art. 3 Abs. 1 UN-KRK das Kindeswohl als ein vorrangiger Gesichtspunkt (in der authentischen englischen Fassung: a primary consideration) zu berücksichtigen ist, sieht der neue Satz 4 vor, dass das Wohl des Kindes angemessen zu berücksichtigen ist. Die Gesetzesbegründung weist hier zu Recht darauf hin, dass sich der Begriff der Angemessenheit besser in die bestehende Grundrechtsdogmatik einpasst. Der Terminus „vorrangig“ würde viele Auslegungsfragen aufwerfen, da er offen lässt, „vor wem oder wovor das Kindeswohl erwogen werden muss und auf welchem Rang es überhaupt steht“22. 17 BVerfGE 133, 59 (77); siehe auch 107, 104 (117). 18 Siehe Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Martin Reichardt und der Fraktion der AfD, Definition des Begriffes Kindeswohl, BT-Drs. 19/23317, 1 f. 19 Wapler (Fn. 12); von Landenberg-Roberg (Fn. 11). 20 Gesetzentwurf der Bundesregierung (Fn. 2), 10. 21 Zur Problematik des Adressatenkreises in Art. 3 Abs. 1 UN-KRK siehe auch die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Zur Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz – Gegenüberstellung eines Formulierungsvorschlages mit vier kinderrechtlichen Grundprinzipien der UN-Kinderrechtskonvention vom 16. Dezember 2019, WD 3 - 3000 - 276/19, 5; zu den Grundrechtsadressaten des Art. 24 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta siehe Hölscheidt, in: Meyer/Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Auflage 2019, Art. 24 Rn. 19, der nur eine mittelbare Drittwirkung annimmt. 22 Hölscheidt, in: Meyer/Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Auflage 2019, Art. 24 Rn. 31 zum Terminus „vorrangig“ der auch in Art. 24 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta verwendet wird; zur Bewertung der Abweichung von der UN-KRK siehe zudem die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages (Fn. 21), 6 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 013/21 Seite 7 2.3. Anhörungsrecht des Kindes Weiter ist folgender neuer Satz 5 in Art. 6 Abs. 2 GG vorgesehen: „Der verfassungsrechtliche Anspruch von Kindern auf rechtliches Gehör ist zu wahren.“ Die Formulierung nimmt Bezug auf den Anspruch auf rechtliches Gehör, der Kindern aus anderen Normen verfassungsgemäß zusteht. Es wird damit kein neues eigenständiges Recht geregelt, sondern die sich aus Art. 103 Abs. 1 GG sowie aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG ergebenen Rechte von Kindern werden sichtbar gemacht. In der Gesetzesbegründung wird betont, dass das Anhörungsrecht eine verfahrensrechtliche Ergänzung des Kindeswohlprinzips darstelle, soweit ein Kind von einer staatlichen Entscheidung als individuelle Person betroffen sei. Es solle deutlich gemacht werden, dass über das Kindeswohl nur angemessen entschieden werden könne, wenn das Kind zuvor angehört worden sei. Die Regelung solle bewirken, dass die Rechtspraxis entsprechend sensibilisiert werde und den inneren Zusammenhang der beiden Garantien beachte.23 Der ausschließlich bestätigende Charakter der Formulierung wird z.T. kritisiert. So wird bemängelt , dass die Formulierung weit hinter den in Art. 12 UN-KRK geregelten Mitwirkungs- und Beteiligungsrechten zurückbleibe. Das Leitmotiv, wonach Kinder gemäß ihrem individuellen Entwicklungsstand als Subjekt wahrzunehmen seien, was sich auch in einem wachsenden Äußerungsund Selbstbestimmungsrecht widerspiegele, finde in dem Gesetzentwurf keine Berücksichtigung.24 Laut der Gesetzesbegründung sieht die Regierung es als Aufgabe des einfachen Rechts an, das Anhörungsrecht des Kindes innerhalb der verfassungsrechtlichen Maßgaben für den einzelnen Sachbereich auszugestalten.25 2.4. Rechtsstellung der Eltern Folgender Satz 6 soll in Art. 6 Abs. 2 GG eingefügt werden: „Die Erstverantwortung der Eltern bleibt unberührt.“ Laut Gesetzesbegründung soll durch den neuen Satz 6 klargestellt werden, dass die vorstehenden Grundrechte des Kindes, auf die in den vorangegangenen Sätzen Bezug genommen wird, die primäre Verantwortung der Eltern nicht verändern sollen. Soweit die Grundrechte des Kindes mit den Grundrechten der Eltern im Einzelfall kollidieren sollten, wäre der Konflikt weiterhin nach den Grundsätzen der praktischen Konkordanz aufzulösen.26 Dem Satz 6 kommt der Charakter einer Sicherungsklausel zu. 23 Gesetzentwurf der Bundesregierung (Fn. 2), 11. 24 Wapler (Fn. 12). 25 Gesetzentwurf der Bundesregierung (Fn. 2), 11. 26 Gesetzentwurf der Bundesregierung (Fn. 2), 12. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 013/21 Seite 8 2.5. Systematische Überlegungen Der Gesetzentwurf sieht vor, dem Art. 6 Abs. 2 GG die dargestellten vier neuen Sätze anzufügen. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG gilt als „konstitutive Rechtsgrundlage des Elternrechts“.27 Es handelt sich bei Art. 6 Abs. 2 GG sowohl um ein individuelles Grundrecht der Eltern, zugleich spricht Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG aber auch eine Pflichtbindung der Eltern aus.28 Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG regelt das staatliche Wächteramt und berechtigt und verpflichtet den Staat zur Intervention zugunsten des schutzbedürftigen Kindes, wenn dessen Kindeswohl gefährdet ist.29 Nach dem Gesetzentwurf würde die Verankerung der Kinderrechte damit im zentralen Regelungsgefüge des Eltern-Staat-Kind-Verhältnisses erfolgen. Die Verortung im Art. 6 Abs. 2 GG wird z.T. kritisiert: Ganz unabhängig von der Regelungsintention des Gesetzgebers sei nicht auszuschließen, dass die vormals scharfen Grenzlinien des staatlichen Wächteramtes mittels verfassungssystematischer Argumentation unterwandert werden könnten.30 Andere Stimmen in der Literatur vertreten hingegen, dass „ein ausdrücklicher Schutz der Kinder […] insgesamt nicht von Art. 6 GG, von der Familie, von der Elternverantwortung zu trennen“ sei, Art. 6 Abs. 2 GG sei als Ort für eine sachgerechte Verfassungsänderung vorgegeben.31 2.6. Verhältnis zur UN-KRK Die UN-KRK wurde von Deutschland im Jahr 1992 ratifiziert. Ein zunächst erklärter Vorbehalt zur unmittelbaren Geltung der KRK wurde im Jahr 2010 endgültig zurückgenommen. Die UN-KRK hat nach Art. 59 Abs. 2 GG den Rang eines Bundesgesetzes. Ungeachtet dessen ist in Rechtswissenschaft und Rechtsprechung weithin anerkannt, dass die internationalen Menschenrechtsverträge und damit auch die UN-KRK bei der Auslegung der Grundrechte zu berücksichtigen sind. Durch diesen Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung wird das Gewicht der internationalen Menschenrechtsgarantien gegenüber anderem Bundesrecht erhöht.32 Das Grundgesetz ist nach Möglichkeit so auszulegen, dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nicht entsteht – etwa durch konventionskonforme Auslegung der Grundrechte.33 27 von Coelln, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 6 Rn. 52, Hervorhebung nur hier. 28 von Coelln (Fn. 27), Rn. 53 f. 29 von Coelln (Fn. 27), Rn. 76. 30 von Landenberg-Roberg (Fn. 11). 31 Kirchhof (Fn. 15), 2693. 32 Dazu: Wollenschläger, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2015, Art. 25 Rn. 51. 33 Ebenda. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 013/21 Seite 9 Die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Zur Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz – Gegenüberstellung eines Formulierungsvorschlages mit vier kinderrechtlichen Grundprinzipien der UN-Kinderrechtskonvention vom 16. Dezember 2019, WD 3 - 3000 - 276/19, Anlage stellt die vier Grundprinzipien Kindeswohlprinzip (Art. 3 Abs. 1 UN-KRK), Beteiligung von Kindern (Art. 12 UN-KRK), Nichtdiskriminierung (Art. 2 UN-KRK) sowie Leben und Entwicklung (Art. 6 UN-KRK) dar. Es sei insoweit auf die noch aktuellen Ausführungen verwiesen. Mit Blick auf den hier zu erörternden Formulierungsvorschlag ist festzustellen, dass keine Kollisionen mit diesen Grundprinzipien ersichtlich sind. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Formulierungen insgesamt offener sind, als dies bei den vorangegangenen Formulierungsvorschlägen der Fall war. Eine Abweichung, die Auslegungsfragen aufwerfen kann, ist beim Berücksichtigungsgebot des Kindeswohls festzustellen. Siehe insoweit die Ausführungen unter 2.2. Dies führt aber nicht zwingend zu einer Kollision. Zu den Mitsprache- und Beteiligungsrechten nach der UN-KRK siehe die Ausführungen unter 2.3. 3. Abschließende Bewertung Es kann nicht abschließend vorausgesagt werden, wie sich die im Gesetzentwurf vorgesehenen Ergänzungen des Art. 6 Abs. 2 GG im Einzelnen auf die Rechtstellung der Kinder auswirken werden . Durch die Bezugnahme auf die verfassungsrechtlichen Rechte und Ansprüche in den neuen Sätzen 3 und 5 wird die gesetzgeberische Intention, die Grundrechte von Kindern nach dem geltenden Verfassungsrecht besser sichtbar zu machen, ohne dabei das geltende Verfassungsrecht zu ändern, konsequent umgesetzt. Die in der Gesetzesbegründung niedergelegten Absichten des Gesetzgebers sind zudem im Wege einer historischen Auslegung heranzuziehen. All dies spricht dafür, dass es bei einer Auslegung des neuen Art. 6 Abs. 2 GG zu keinen Änderungen des geltenden Verfassungsrechts kommen würde. Die offene Formulierung zum Kindeswohl sowie die Sicherungsklausel der Elternverantwortung könnten dagegen Interpretationsspielräume eröffnen. Da die historische Auslegungsmethode nur eine von vielen ist, lässt sich nicht ausschließen, dass das Bundesverfassungsgericht hier zu einer anderen Bewertung kommen könnte. ***