© 2019 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 013/19 Einführung verpflichtender Kindervorsorgeuntersuchungen? Aktualisierung der Dokumentation WD 3 - 3000 - 143/14 Dokumentation Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 013/19 Seite 2 Einführung verpflichtender Kindervorsorgeuntersuchungen? Aktualisierung der Dokumentation WD 3 - 3000 - 143/14 Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 013/19 Abschluss der Arbeit: 14. Februar 2019 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 013/19 Seite 3 1. Einleitung Im Zusammenhang mit Fällen schwerer Vernachlässigung oder Misshandlung von Säuglingen und (Klein-)Kindern wird immer wieder auf die Bedeutung der Wahrnehmung von Vorsorgeuntersuchungen für Kinder und Jugendliche verwiesen. Bei diesen Vorsorgeuntersuchungen sollen insbesondere solche Defekte und Erkrankungen von Neugeborenen, Kleinkindern und Kindern, die eine normale körperliche und geistige Entwicklung des Kindes gefährden, festgestellt werden. Ferner hat der untersuchende Arzt bei erkennbaren Zeichen einer Kindesvernachlässigung oder -misshandlung die notwendigen Schritte einzuleiten.1 Der Anspruch der Kinder auf Vorsorgeuntersuchungen ist in § 26 SGB V2 gesetzlich verankert. Nach § 26 Abs. 3 SGB V haben die Krankenkassen im Zusammenwirken mit den für die Kinder- und Gesundheitspflege durch Landesrecht bestimmten Stellen der Länder auf eine Inanspruchnahme der Leistungen hinzuwirken. Die Auswertung diverser Fälle von durch Misshandlung und Vernachlässigung zu Tode gekommenen Kindern zeigt, dass die Eltern in den meisten Fällen die Vorsorgeuntersuchungen nicht wahrgenommen haben.3 Daher wird immer wieder über die Einführung verpflichtender Vorsorgeuntersuchungen diskutiert. Die Dokumentation der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Einführung verpflichtender Kindervorsorgeuntersuchungen?, WD 3 - 3000 - 143/14, befasst sich mit der Rechtslage auf Bundes- und Länderebene und stellt Materialien zur verfassungsrechtlichen Bewertung verpflichtender Kindervorsorgeuntersuchen zusammen. In der Aktualisierung der Dokumentation wurden die Fußnoten aktualisiert und leichte redaktionelle Änderungen vorgenommen. Zudem wurde die Synopse in Anlage 3 aufgrund von Gesetzesänderungen angepasst. 2. Aktuelle Rechtslage auf Bundes- und Länderebene 2.1. Rechtslage auf Bundesebene Auf Bundesebene ist eine Pflicht zum Besuch von Vorsorgeuntersuchungen bislang nicht geregelt. Eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 Grundgesetz (öffentliche Fürsorge) bejahen Ehrmann/Breitfeld, Besserer Kinderschutz nach Inkrafttreten des Bundeskinderschutzgesetzes?, in: FPR 2012, S. 418 ff. (420). Anlage 1. 1 Punkt 4 der „Kinder-Richtlinie“ des Gemeinsamen Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen, im Internet abrufbar unter: https://www.g-ba.de/informationen/richtlinien/15/ (Stand: 11. Februar 2018). 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung – vom 20. Dezember 1988 (BGBl. I S. 2477, 2482), zuletzt geändert durch Gesetz vom 11. Dezember 2018 (BGBl. I S. 2394). 3 Ehrmann/Breitfeld, Besserer Kinderschutz nach Inkrafttreten des Bundeskinderschutzgesetzes?, in: FPR 2012, S. 418 ff. (420). Dennoch hält Dietz, Die Früherkennung von Kindesmisshandlungen, in: KrV 2007, S. 120 ff., die Hoffnung für illusorisch, durch Früherkennungsuntersuchungen Kindesmisshandlungen vorbeugen zu können. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 013/19 Seite 4 Die (politische) Zuständigkeit der Länder für die Einführung eines verbindlichen Einladungswesens nahm die Bundesregierung 2006 an. Allerdings scheint die Bundesregierung ebenfalls von der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes auszugehen, will von dieser aber keinen Gebrauch machen, da der Gegenstand besser auf Länderebene zu regeln sei. Stellungnahme der Bundesregierung zu der Entschließung des Bundesrates für eine höhere Verbindlichkeit der Früherkennungsuntersuchungen im Sinne des Kindeswohls, BR-Drs. 864/06, S. 6. Anlage 2. In Einzelfällen kann das Familiengericht auf Grundlage des § 1666 Abs. 3 S. 1 BGB4 die Erziehungsberechtigten zur Wahrnehmung von Vorsorgeuntersuchungen verpflichten.5 Nach der Rechtsprechung verschiedener Familiengerichte und Oberlandesgerichte (OLG) ist die Nichtteilnahme an Vorsorgeuntersuchungen nur ein möglicher Anhaltspunkt für eine Gefährdung des Kindeswohls. Sie genügt damit jedenfalls nicht allein für die Anordnung familiengerichtlicher Maßnahmen gemäß § 1666 BGB oder für das Einschreiten des Jugendamtes gemäß § 8a SGB VIII6.7 Aus der Nichtteilnahme kann sich aber ein Gefahrerforschungsauftrag für das Jugendamt ergeben.8 2.2. Rechtslage auf Länderebene Ein Überblick über die Kinderschutzkonzepte der Länder ist auf der Internet-Seite der „Bundesinitiative Frühe Hilfen“ https://www.fruehehilfen.de/qualitaetsentwicklung-kinderschutz/kinderschutzkonzepte-derbundeslaender / (Stand: 11. Februar 2019) zu finden. 4 Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. I S. 42, 2909; 2003 I S. 738), zuletzt geändert durch Gesetz vom 31. Januar 2019 (BGBl. I S. 54). 5 BT-Drs. 16/6815, S. 12, 18; Olzen, in: Säcker/Riexecker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2017, § 1666 Rn. 169 f.; Veit, in: Bamberger/Roth/Hau/Poseck (Hrsg.), BeckOK BGB, 48. Edition Stand: 1. August 2018, § 1666 Rn. 94.2. 6 Achtes Buch Sozialgesetzbuch – Kinder und Jugendhilfe – in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. September 2012 (BGBl. I S. 2022), zuletzt geändert durch Gesetz vom 19. Dezember 2018 (BGBl. I S. 2696). 7 So etwa OLG Frankfurt, NJW-RR 2014, 259 (zu § 8a SGB VIII); AG Büdingen, Beschluss vom 7. Dezember 2012 – 53 F 815/12 –, juris (zu § 1666 BGB). 8 OLG Frankfurt, NJW-RR 2014, 259 (260). Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 013/19 Seite 5 In den Schulgesetzen der Länder ist eine Schuleingangsuntersuchung verpflichtend vorgesehen;9 zumeist wird bei den Kindern vor Schulbeginn eine schulärztliche Untersuchung durchgeführt. Hinsichtlich der Vorsorgeuntersuchungen bestehen hingegen Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern. Zu den einzelnen gesetzlichen Regelungen vgl. die Synopse in der Anlage 3. Die überwiegende Zahl der Länder (Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern , Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Schleswig-Holstein, Thüringen) verfolgt das sog. appellative Verfahren. Die zuständigen Behörden laden die Eltern bzw. Erziehungsberechtigten schriftlich zu den Untersuchungen ein und verfolgen, ob die Untersuchungen wahrgenommen wurden.10 Bei Nichteinhaltung nehmen die zuständigen Behörden Kontakt mit den Erziehungsberechtigten auf und führen ggf. Hausbesuche durch. Soweit danach die Untersuchungen noch verweigert werden, sind die zuständigen Behörden verpflichtet, diese Information an die Jugendämter weiterzugeben.11 Diese haben dann zu prüfen, ob eine Gefährdung des Kindeswohles vorliegt, und entsprechend ihrer allgemeinen Befugnisse (§ 8a SGB VIII) zu handeln. In einer kleineren Zahl der Länder (Baden-Württemberg, Bayern, Hessen) ist die Teilnahme an den Untersuchungen verpflichtend. In Hessen richtet sich die Teilnahmeverpflichtung unmittelbar an die Kinder selbst; die Personensorgeberechtigten haben die Teilnahme sicherzustellen. Baden- Württemberg und Bayern dagegen verpflichten nur die Personensorgeberechtigten dazu, die Teilnahme ihrer Kinder sicherzustellen. Zwar wird eine Nichtteilnahme nicht als Ordnungswidrigkeit sanktioniert. In Bayern knüpft allerdings der Bezug des Landeserziehungsgeldes an die Teilnahme an der Früherkennungsuntersuchung, die je nach Beginn des Bezuges des Elterngeldes in diesem Zeitraum liegt, an.12 In Hessen wird die Verpflichtung von einem Einladungssystem flankiert. Dieses ist wie in den Bundesländern, die dem appellativen Verfahren folgen, aufgebaut. In Baden- Württemberg besteht ein solches System nicht. Dort wird lediglich von den Gesundheitsämtern im Rahmen ihrer allgemeinen Tätigkeit auf die Teilnahmeverpflichtung hingewiesen. Auch besteht eine Rahmenvereinbarung mit den gesetzlichen Krankenkassen, nach der diese sich dazu verpflichten , über die Vorsorgeuntersuchungen zu informieren. In Bayern ist der Verordnungsgeber zwar berechtigt, ein flankierendes Einladungssystem zu etablieren. Von dieser Ermächtigung hat er jedoch – soweit ersichtlich – bis heute keinen Gebrauch gemacht. 9 Siehe zum Beispiel für Berlin § 55a Abs. 6 SchulG vom 26. Januar 2004 (GVBl. S. 26), zuletzt geändert durch Gesetz vom 18. Dezember 2018 (GVBl. S. 710): „Die Erziehungsberechtigten sind verpflichtet, ihre Kinder vor Aufnahme in die Schule schulärztlich untersuchen zu lassen.“ 10 Hiervon weicht die Regelung in Nordrhein-Westfalen insoweit ab, als keine Einladung vor den Untersuchungen erfolgt, sondern erst nach einer unterbliebenen Teilnahme an die Untersuchungen erinnert wird. 11 Hiervon weicht die Regelung in Hamburg insoweit ab, als eine Weitergabe der Daten an das Jugendamt nicht vorgesehen ist. 12 Art. 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Gesetz zur Neuordnung des Bayerischen Landeserziehungsgeldes (Bayerisches Landeserziehungsgeldgesetz - BayLErzGG) vom 9. Juli 2007 (GVBl. S. 442), zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. Juli 2018 (GVBl. S. 613). Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 013/19 Seite 6 Einzig Sachsen-Anhalt verfolgt keines dieser beiden Modelle. Dort wird gesetzlich nur das allgemeine Ziel vorgegeben, die Teilnahmequote an Früherkennungsuntersuchungen zu erhöhen. Eine Evaluation der appellativen Verfahren findet sich in Thaiss u.a., Früherkennungsuntersuchungen als Instrument im Kinderschutz – Erste Erfahrungen der Länder bei der Implementation appellativer Verfahren, Bundesgesundheitsblatt 2010 (53), S. 1029 ff., im Internet abrufbar unter: http://www.fruehehilfen.de/fileadmin/ user_upload/fruehehilfen.de/pdf/Bundesgesundheitsblatt_Artikel_Thaiss.pdf (Stand: 11. Februar 2019). Die Verfasser kommen zu dem Ergebnis, dass durch das Einladungssystem die Teilnahmequote an den Untersuchungen insbesondere ab dem 4. Lebensjahr steige. Dies betreffe vor allem „schwierig zu erreichende Familien mit sozialen Belastungen (junge/alleinerziehende Eltern, Migranten, bildungsferne oder sozial benachteiligte Familien). Dadurch nehmen auch die primärpräventiven (kinder-)ärztlichen Tätigkeiten wie Impfungen, der Schutz vor Infektionskrankheiten und der Umfang gesundheitsfördernder Beratung zu. Als alleiniges Instrument zur lückenlosen Identifizierung von Kindeswohlgefährdung sind verbindliche Einladungs- und Erinnerungssysteme dagegen nur äußerst bedingt geeignet.“ (S. 1031). 3. Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Einführung verpflichtender Vorsorgeuntersuchungen Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages haben sich 2005 mit den verfassungsrechtlichen Grenzen für die Einführung verpflichtender Vorsorgeuntersuchungen befasst. Insbesondere weist die Ausarbeitung auf dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geschuldete Verfahrensgarantien hin, die sicherstellen müssten, dass sich aus einer eventuellen Pflicht kein staatliches Kontrollsystem über die Eltern entwickeln könne. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Zur Zulässigkeit, die Vorsorgeuntersuchungen U 1 bis U 9 sowie J 1 bei Kindern und Jugendlichen verpflichtend zu machen, WF III – 355/05, S. 8 ff. Anlage 4. Lindner hält die Einführung verpflichtender Vorsorgeuntersuchungen in den ersten sechs Lebensjahren für verfassungsrechtlich gerechtfertigt und sogar (grund-)rechtspolitisch geboten. Lindner, Verpflichtende Gesundheitsvorsorge für Kinder?, in: ZRP 2006, S. 115 ff. Anlage 5. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 013/19 Seite 7 Der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz hat in seinem Urteil vom 28. Mai 2009 das durch Landesgesetz geregelte behördliche Einladungs- und Erinnerungsverfahren für vereinbar mit der Verfassung des Landes Rheinland-Pfalz erklärt. Insbesondere verstoße es weder gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung noch gegen das Recht der Eltern zur Erziehung ihrer Kinder. RhPfVerfGH, Urteil vom 28. Mai 2009, NJW-RR 2009, S. 1588 ff. Anlage 6. In ihrer Stellungnahme aus dem Jahr 2006 erhob die Bundesregierung verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Verankerung einer Untersuchungspflicht im SGB V, da diese systemwidrig und letztlich nicht geeignet zum Kinderschutz sei: Eltern, die die Untersuchungen verweigerten, entzögen sich auch einer gesetzlichen Pflicht. Für die 95 Prozent der Eltern, die ihre Kinder freiwillig vorstellten, würde eine Pflicht einen unverhältnismäßigen Eingriff darstellen. Stellungnahme der Bundesregierung zu der Entschließung des Bundesrates für eine höhere Verbindlichkeit der Früherkennungsuntersuchungen im Sinne des Kindeswohls, BR-Drs. 864/06, S. 4 f. Anlage 2. ***