© 2021 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 007/21 Änderung von Deutschengrundrechten in Jedermanngrundrechte Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 007/21 Seite 2 Änderung von Deutschengrundrechten in Jedermanngrundrechte Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 007/21 Abschluss der Arbeit: 29. Januar 2021 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 007/21 Seite 3 1. Fragestellung Gefragt wurde nach den Auswirkungen einer Verfassungsänderung, die sämtliche sog. Deutschengrundrechte zu sog. Jedermanngrundrechten umgestaltet, auf das einfache Recht. In diesem Zusammenhang wurde auch nach dem Änderungsbedarf im Hinblick auf das einfache Recht gefragt. 2. Verfassungsrechtliche Ausgangslage Als Jedermanngrundrechte werden diejenigen Grundrechte des Grundgesetzes bezeichnet, die allen Menschen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit zustehen, also gleichermaßen für In- und Ausländer sowie Staatenlose gelten.1 Deutschengrundrechte werden dagegen diejenigen Grundrechte genannt, die nur Deutschen im Sinne von Art. 116 Abs. 1 GG zustehen. 2.1. Deutschengrundrechte im Grundgesetz Folgende Grundrechte aus dem Grundrechtskatalog der Art. 1 bis 19 GG sind ausweislich ihres Wortlautes Deutschen vorbehalten: – Art. 8 Abs. 1 GG (Versammlungsfreiheit), – Art. 9 Abs. 1 GG (Vereinigungsfreiheit), – Art. 11 Abs. 1 GG (Freizügigkeit), – Art. 12 Abs. 1 GG (Berufsfreiheit), – Art. 16 Abs. 1 GG (Schutz vor Ausbürgerung), – Art. 16 Abs. 2 GG (Schutz vor Auslieferung). Einer Änderung in ein Jedermanngrundrecht nicht zugänglich wäre der Schutz vor Ausbürgerung gem. Art 16 Abs. 1 GG, da dieser vom deutschen Staat naturgemäß nur deutschen Staatsangehörigen gewährt werden kann. Auch eine entsprechende Änderung von Art. 16 Abs. 2 GG dürfte kaum in Betracht kommen, da sich die Auslieferung von Ausländern nach dem Völkerrecht richtet. Der Vollständigkeit halber seien auch die grundrechtsgleichen Rechte genannt, die nur Deutschen vorbehalten sind: Art. 20 Abs. 4 GG (Widerstandsrecht), Art. 33 Abs. 1 und 2 (staatsbürgerliche Gleichstellung in allen Bundesländern und gleicher Zugang zu öffentlichen Ämtern), Art. 38 Abs. 1 und Abs. 2 (aktives und passives Wahlrecht2). 1 Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, 3. Auflage 2013, Vorb. vor Art. 1 Rn. 72. 2 Siehe zum Wahlrecht als Deutschen vorbehaltenes Recht BVerfGE 83, 37 (50 ff.); BVerfGE 37, 217 (241); Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, 3. Auflage 2013, Vorb. vor Art. 1 Rn. 73. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 007/21 Seite 4 2.2. Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht für ausländische Staatsangehörige Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bietet die allgemeine Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG ausländischen Staatsangehörigen Grundrechtsschutz im Bereich von Deutschengrundrechten.3 So sind ausländische Staatsangehörige grundrechtlich in keinem Bereich schutzlos gestellt. Art. 2 Abs. 1 GG ist allerdings im Verhältnis zu den speziellen Freiheitsrechten einfacher einschränkbar, sodass der Grundrechtsschutz für ausländische Staatsangehörige im Bereich von Deutschengrundrechten weniger intensiv ausfallen kann.4 2.3. Weitgehende grundrechtliche Gleichstellung ausländischer Unionsbürger Für Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union (EU) wird wegen unionsrechtlicher Diskriminierungsverbote eine weitgehende grundrechtliche Gleichstellung auch im Bereich der Deutschengrundrechte konstruiert.5 Neben der dogmatischen Konstruktion ist auch die Reichweite der grundrechtlichen Gleichstellung noch durchaus umstritten. Dogmatisch soll der Schutz von Unionsbürgern nach wohl überwiegender Auffassung im Wege der unionsrechtskonformen Auslegung durch eine Anreicherung des materiellen Schutzniveaus von Art. 2 Abs. 1 GG mit dem Gehalt des jeweils relevanten Deutschengrundrechts erreicht werden. Dies soll aber nicht stets, sondern jeweils abhängig von der unionsrechtlichen Rechtslage der Fall sein. Insoweit ist die Gleichstellung bisher zwar weitgehend, aber nicht vollständig. 3. Auswirkungen einer Änderung der Deutschengrundrechte auf das einfache Recht Grundsätzlich folgt aus einer Verfassungsänderung keine Änderung des einfachen Rechts. Eine automatische Änderung des Anwendungsbereichs eines Gesetzes könnte sich dann ergeben, wenn ein Gesetz ausdrücklich nur für einen Personenkreis gilt, der dem Schutzbereich eines bestimmten Grundrechts unterfällt bzw. nicht unterfällt. Handelte es sich dabei um eine sog. dynamische Verweisung, also um eine Verweisung auf das Grundgesetz in der jeweils geltenden Fassung, so hätte die Verfassungsänderung Auswirkungen auf den von dem Gesetz umfassten Personenkreis. Die Existenz eines Gesetzes mit einer solchen Regelungstechnik ist diesem Fachbereich allerdings nicht bekannt. In erster Linie dürften nach einer Stärkung grundrechtlicher Rechtspositionen von ausländischen Staatsangehörigen einige Regelungen des einfachen Rechts stärkeren verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt sein, sodass sich daraus ein Änderungsbedarf ergeben könnte. Im Folgenden werden einige Beispiele gegeben. Nach einer Ausweitung des Schutzbereichs des Vereinigungsrechts nach Art. 9 Abs. 1 GG könnten etwa einschränkende Sonderregeln für die sog. Ausländervereine nicht mehr verfassungsgemäß 3 Siehe nur BVerfGE 35, 383 (399); BVerfGE 104, 337 (347). 4 Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, 3. Auflage 2013, Art. 2 Abs. 1 Rn. 46 m.w.N. 5 Siehe zum Folgenden Vedder/Lorenzmeier/Wendel, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Auflage 2021, Art. 116 Rn. 26 ff. m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 007/21 Seite 5 sein. Die in Art. 9 Abs. 2 GG genannten Verbotsgründe für Vereinigungen sind im Anwendungsbereich der Vereinigungsfreiheit abschließend.6 § 14 Vereinsgesetz7 sieht dagegen über die in Art. 9 Abs. 2 GG genannten Gründe hinausgehende Verbotsmöglichkeiten für Vereine vor, deren Mitglieder oder Leiter sämtlich oder überwiegend Ausländer sind. Nach einer Umgestaltung des Freizügigkeitsrechts nach Art. 11 Abs. 1 GG in ein Jedermanngrundrecht könnten verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber Vorschriften im Aufenthalts- und Asylrecht bestehen, die Wohnsitzauflagen statuieren oder die räumliche Beschränkung von Aufenthaltserlaubnissen vorsehen (siehe insbesondere die §§ 12, 15a, 61 Aufenthaltsgesetz8 sowie die §§ 44 ff., 56 Asylgesetz9). Da zudem aus Art. 11 Abs. 1 GG auch das Recht auf Einreise in das Bundesgebiet abgeleitet wird,10 könnten auch jene Vorschriften, die die Einreise von ausländischen Staatsangehörigen regulieren, nach der Verfassungsänderung neu zu bewerten sein. Im einfachgesetzlichen Versammlungsrecht besteht bereits jetzt eine Gleichstellung von Deutschen und ausländischen Staatsangehörigen (vgl. § 1 Abs. 1 Versammlungsgesetz des Bundes11). Es sei jedoch auf § 47 Aufenthaltsgesetz hingewiesen, wonach unter bestimmten Voraussetzungen die politische Betätigung von ausländischen Staatsangehörigen untersagt werden kann. Insoweit, als diese Vorschrift für Beschränkungen der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit genutzt werden kann, wäre sie erhöhten verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. Im Bereich der Berufsfreiheit könnten nach der Verfassungsänderung beispielsweise restriktive landesrechtliche Studienzugangsregelungen für ausländische Staatsangehörige ohne inländische Hochschulzugangsberechtigung verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt sein. Diesen ausländischen Staatsangehörigen ist regelmäßig eine festgesetzte eigene Studienplatzquote zugewiesen. Ihnen wurde von der Rechtsprechung mit Hinweis auf ihre fehlende Grundrechtsberechtigung nach Art. 12 Abs. 1 GG in der Vergangenheit ein Anspruch auf die Zuweisung von Plätzen verwehrt , welche außerhalb des gesetzlichen Vergaberahmens als zusätzliche Kapazitäten ermittelt werden.12 *** 6 BVerfGE 80, 244 (253 f.). 7 Vereinsgesetz vom 5. August 1964 (BGBl. I S. 593), zuletzt geändert durch Artikel 5 des Gesetzes vom 30. November 2020 (BGBl. I S. 2600). 8 Aufenthaltsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Artikel 10 des Gesetzes vom 9. Dezember 2020 (BGBl. I S. 2855). 9 Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), zuletzt geändert durch Artikel 3 Absatz 1 des Gesetzes vom 9. Oktober 2020 (BGBl. I S. 2075). 10 BVerfGE 2, 266 (273); Ogorek, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, 45. Edition Art. 11 Rn. 19. 11 Versammlungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. November 1978 (BGBl. I S. 1789), zuletzt geändert durch Artikel 150 der Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328). 12 Vgl. etwa OVG Münster, Beschluss vom 16. November 2009, Az. 13 C 406/09, BeckRS 2009, 41755; näher Gundel, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IX, 3. Auflage 2011, § 198 Rn. 75.