© 2018 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 007/18 Verhältnis von Parlament und Regierung Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 007/18 Seite 2 Verhältnis von Parlament und Regierung Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 007/18 Abschluss der Arbeit: 04.01.2018 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 007/18 Seite 3 1. Fragestellung Bewertet werden soll ein Artikel von Ferdinand Kirchhof, der in der Frankfurter Allgemeinen am 21.12.2017 mit dem Titel „Demo-crazy?“ erschienen ist. Der Artikel zeigt ein Risiko für die Demokratie auf, das sich aus einer Entfernung des Regierungshandelns vom Parlament in staatswesentlichen Entscheidungen ergebe. Die Bundesregierung vermeide zunehmend eine Beteiligung des Parlaments, wogegen dieses sich erstaunlicherweise nicht wehre. Sodann werden verschiedene Fälle aufgezeigt, die exemplarisch für diese Entwicklung stehen sollen. 2. Allgemeine Bewertung Der Artikel trennt nicht klar zwischen einer staatrechtlichen Kritik und einer rein rechtspolitischen Einschätzung. Soweit eine stärkere Beteiligung des Parlaments gefordert wird, stellt dies aus rechtspolitischer Sicht einen gut vertretbaren Ansatz dar. Ob eine stärkere Parlamentsbeteiligung auch verfassungsrechtlich geboten ist, erscheint bei den genannten Beispielen aber überwiegend zweifelhaft. Darüber hinaus fehlt dem Artikel eine Darstellung der konkreten Rollenverteilung, die die Verfassung für die Aufgabenwahrnehmung von Parlament und Regierung vorsieht. Zwar besteht in der öffentlichen Wahrnehmung zumeist der Eindruck einer dominierenden Rolle der Bundesregierung, der in aller Regel durch die Verzahnung von Regierung und Regierungsmehrheit sowie durch deren Einbindung in Koalitionsstrukturen erzeugt wird. Dennoch trennt das Verfassungsrecht zwischen der politischen Entscheidungsfindung und den Entscheidungen der Verfassungsorgane. Der Artikel lässt diese Vermengung im Raum stehen, ohne auf die verfassungsrechtliche Trennung zwischen politischer und staatlicher Entscheidungsfindung einzugehen. Der Artikel suggeriert zudem, dass politische Entscheidungen durch das Parlament nur noch nachvollzogen werden. Verfassungsrechtlich verbleibt jedoch auch bei politisch bereits getroffenen Entscheidungen die eigentliche Entscheidungsgewalt bei den zuständigen Verfassungsorganen und insbesondere beim Parlament. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zum Mitgliederentscheid der SPD über den Koalitionsvertrag im Jahr 2013 klargestellt, dass politische Entscheidungen, die in Koalitionsverträgen oder im Rahmen der parteiinternen Willensbildung getroffen werden, nicht als staatliches Handeln qualifiziert werden können. Vielmehr werden solche Entscheidungen erst von den Abgeordneten rechtswirksam umgesetzt.1 3. Bewertung der einzelnen Kritikpunkte 3.1. Gesetzentwürfe der Bundesregierung Der Artikel kritisiert, dass Gesetzentwürfe fast nur von der Bundesregierung stammen und nicht aus dem Bundestag oder Bundesrat kommen. Tatsächlich werden die meisten Gesetzentwürfe von der Bundesregierung ausgearbeitet. Im Durchschnitt werden ca. 53% der Gesetzentwürfe von 1 BVerfG, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 06. Dezember 2013 – 2 BvQ 55/13 –, juris. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 007/18 Seite 4 der Bundesregierung, 13% vom Bundesrat und 34% aus der Mitte des Bundestages eingebracht. Von den verabschiedeten Gesetzen beruhen ca. 76% auf Regierungsvorlagen.2 Verfassungsrechtlich ist dies unproblematisch, da Art. 76 Abs. 1 GG ein Initiativrecht der Bundesregierung ausdrücklich vorsieht. Die schwerpunktmäßige Ausübung des Initiativrechts durch die Regierung beruht auf der Komplexität der Gesetzgebungsvorhaben und der bestehenden fachlichen Expertise der Ministerialbürokratie . Eine Verlagerung zugunsten des Parlaments, wie sie der Artikel fordert, wäre mit den derzeitigen Strukturen auf Parlamentsseite kaum möglich. Voraussetzung wäre ein deutlicher Ausbau der parlamentarischen Infrastruktur (sog. Gegenbürokratie). 3.2. Garantie der Spareinlagen Der Artikel kritisiert weiterhin die Garantieerklärung für die Spareinlagen aus dem Jahr 2008 durch die Bundeskanzlerin und den damaligen Bundesfinanzminister. Eine Befassung des Parlaments erfolgte erst im Jahr 2013 im Rahmen einer Aktuellen Stunde. Einer solchen Befassung oder Bestätigung durch das Parlament bedurfte es jedoch aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht. Die Garantierklärung stellte eine juristisch unverbindliche politische Absichtserklärung dar.3 Wäre der Garantiefall tatsächlich eingetreten, wäre bereits aufgrund der Budgethoheit des Parlaments dessen Beteiligung zwingend gewesen. Das Initiativrecht für den Haushaltsplan liegt allein bei der Bundesregierung. Eine Umgehung dieser Verantwortungsstruktur kann daher in dem damaligen Vorgehen nicht erblickt werden. 3.3. Aussetzung der Wehrpflicht Kritisiert wird im Artikel auch die Aussetzung der Wehrpflicht durch den Verteidigungsminister drei Wochen vor Beschluss des Wehrrechtsänderungsgesetzes im Bundestag. Dieses Vorgreifen durch den Verteidigungsminister führte jedoch, anders als der Artikel suggeriert, nicht zu einer automatischen Zustimmungspflicht des Bundestages. Verfassungsrechtlich stand der Beschluss des Gesetzes allein in der Verantwortung des Parlaments. Eine rechtliche Bindungswirkung konnte das ministerielle Handeln nicht erzeugen. Unabhängig hiervon unterliegt es einer gesonderten rechtlichen Bewertung, ob die ministerielle Entscheidung den Vorgaben des damaligen Einberufungsrechts entsprach. Selbst wenn dies jedoch nicht der Fall gewesen sein sollte, würde dies zwar einen Rechtsverstoß nicht jedoch eine Umgehung des Parlaments darstellen. 3.4. Atomausstieg Auch hinsichtlich des Atomausstiegs des Jahres 2001 geht der Artikel von einer bloßen parlamentarischen Umsetzung des zuvor mit den Energieversorgungsunternehmen geschlossenen Atomkonsenses aus. Dieser Atomkonsens aus dem Jahr 2000 gab zwar die politische Zielrichtung vor. Rechtsverbindlichkeit erzeugte jedoch erst die spätere gesetzliche Regelung. Auch nach Ansicht der damaligen Bundesregierung erfolgte die rechtliche Absicherung der Vereinbarung erst 2 Vgl. die Darstellung bei: Hölscheidt, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, [Hrsg.], 1. Aufl. 2016, § 50 Rn. 27. 3 Vgl. etwa: Roth, Die Garantieerklärung der Bundesregierung: Juristisch unverbindlich – politisch bindend, NJW 2009, 566 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 007/18 Seite 5 durch die Gesetzesnovelle.4 Auch hier war das Parlament verfassungsrechtlich gesehen in seiner Entscheidung ungebunden. 3.5. Dreimonatsmoratorium Auch im sog. Dreimonatsmoratorium sieht der Artikel eine Umgehung des Parlaments durch die Regierung. Das Dreimonatsmoratorium erfolgte aus Sicht der Regierung jedoch auf der Grundlage der atomrechtlichen Vorschriften. Ob diese für die getroffenen Entscheidungen tatsächlich ausreichten , stellt eine reine Rechtsfrage dar.5 Eine Umgehung des Parlaments kann hier nicht erblickt werden, da die Rechtsanwendung Sache der Exekutive bzw. der zur Überprüfung berufenen Gerichte ist. 3.6. Grenzöffnung Kritisiert wird ferner eine fehlende Bundestagsbeteiligung für die sog. Grenzöffnung am 4.9.2015. Im juristischen Schrifttum wird darüber diskutiert, ob die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Wesentlichkeitstheorie eine Zustimmung des Parlaments erforderlich machte. Ordnet man die bestehenden europäischen und deutschen asylrechtlichen Regelungen als nicht ausreichend ein, einen Zustrom im damaligen Ausmaß zu rechtfertigen, lässt sich aus der genannten Wesentlichkeitstheorie ggf. eine Zustimmungspflicht des Parlaments herleiten.6 *** 4 Vgl. Pressemitteilung des BMUB 01.02.2002 abrufbar unter: https://www.bmub.bund.de/pressemitteilung/atomausstiegsgesetz -nimmt-letzte-huerde/ (Stand: 03.01.2018). 5 Vgl. hierzu: VGH Hessen, Urteil vom 27. Februar 2013 – 6 C 824/11.T –, juris, der die Entscheidung als formell und materiell rechtswidrig einstufte. 6 Vgl. hierzu umfassend: Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste zum Thema: Einreiseverweigerung und Einreisegestattung nach § 18 Asylgesetz, vom 19.05.2017, Az. WD 3 - 109/17.