© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 006/20 Verpflichtung zum Erlass einer Sperrbezirksverordnung? Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 006/20 Seite 2 Verpflichtung zum Erlass einer Sperrbezirksverordnung? Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 006/20 Abschluss der Arbeit: 22.01.2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 006/20 Seite 3 1. Fragestellung Nach Art. 297 Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch (EGStGB) „kann [die Landesregierung] zum Schutz der Jugend oder des öffentlichen Anstandes [in bestimmten Gebieten] durch Rechtsverordnung verbieten, der Prostitution nachzugehen“ (Hervorhebung durch Autor). Art. 297 EGStGB ordnet nicht selbst eine straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtliche Sanktion an, sondern bildet die Grundlage für einen Verhaltensbefehl, an den § 184f („Ausübung der verbotenen Prostitution“) Strafgesetzbuch und § 120 Abs. 1 Nr. 1 („Verbotene Ausübung der Prostitution“) Ordnungswidrigkeitengesetz anknüpfen.1 Grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen Art. 297 EGStGB bestehen nach der Rechtsprechung nicht.2 Die Vorschrift räumt den Landesregierungen Ermessen ein, ob sie von der Verordnungsermächtigung Gebrauch machen: „Wenn der Erlass der Verordnung in das Ermessen des Ermächtigungsadressaten gestellt werden soll, kann z. B. formuliert werden: […] ‚Die Landesregierungen können durch Rechtsverordnung …‘“.3 Nicht alle Landesregierungen haben von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, Prostitution durch entsprechende Verordnungen zu regeln.4 Es stellt sich die Frage, ob sich das Ermessen einer Landesregierung auf null reduzieren kann, so dass sie zum Erlass der Verordnung verpflichtet ist. 2. Unterlassen des Verordnungsgebers Besteht eine gesetzliche Ermächtigung, liegt es im Grundsatz in der Entscheidungskompetenz des Verordnungsgebers, ob und wie er die ihm zugewachsene Regelungskompetenz nutzt.5 Etwas anderes gilt, wenn sich aus höherrangigem Recht eine Rechtsetzungspflicht des Verordnungsgebers ergibt. Dies sind insbesondere die folgenden Fälle:6 1 Meyberg, in: BeckOK OWiG, Graf, 24. Edition, Stand: 15.09.2019, Art. 297 EGStGB Rn. 1. 2 BVerfG NVwZ 2009, 905; NVwZ 2009, 239; NJW 1985, 1767; BVerwG NVwZ 2004, 743; BVerwG BeckRS 2015, 50324; VGH Mannheim, NJOZ 2009, 2787. 3 Vgl. Bundesministerium der Justiz, Handbuch der Rechtsförmlichkeit, 3. Auflage 2008, Teil C Stammgesetze, Rn. 392, http://hdr.bmj.de/page_c.6.html (Hervorhebung durch Autor). 4 11 Bundesländer bei Meyberg, in: BeckOK OWiG, Graf, 24. Edition, Stand: 15.09.2019, Art. 297 EGStGB Rn. 5.1. 5 Remmert, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 88. EL August 2019, Art. 80 Rn. 119. 6 Remmert, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 88. EL August 2019, Art. 80 Rn. 119. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 006/20 Seite 4 – Die Ermächtigungsgrundlage verpflichtet ausdrücklich zum Erlass der durch sie vorgezeichneten Rechtsverordnung. Dies ist bei Art. 297 EGStGB nicht der Fall. – Eine gesetzliche Regelung ist ohne eine entsprechende Rechtsverordnung nicht durchführbar ist. Dies ist jeweils eine Frage der Interpretation im Einzelfall. Eine entsprechende gesetzliche Regelung ist bei Art. 297 EGStGB nicht ersichtlich. – Aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz, grundrechtlichen Schutzpflichten oder aus Unionsrecht ergibt sich eine Pflicht zum Erlass der Verordnung. In Bezug auf Art. 297 EGStGB kommen grundrechtliche Schutzpflichten in Betracht. Im Kontext von Prostitution können je nach Einzelfall und unabhängig weitergehender Regelungen in den Landesverfassungen (vgl. Art. 142 GG) insbesondere die folgenden Grundrechte beeinträchtigt sein: Schutz der Jugend, den Art. 5 Abs. 2 GG ausdrücklich erwähnt, und der „vor allem aufgrund des in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG verbrieften elterlichen Erziehungsrechtes Verfassungsrang“ genießt;7 Recht am Unternehmen der in einer Erlaubniszone ansässigen Einzelhandelsgeschäfte (Art. 12, 14 GG);8 Eigentumsschutz anliegender Grundstückseigentümer (Art. 14 GG);9 Handlungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz betroffener Bürger (Art. 1, Art. 2 Abs. 1 GG).10 Diese Grundrechte sind mit „den grundrechtlich geschützten Interessen […] der Prostituierten“11 abzuwägen: Dies sind insbesondere der Schutz des Eigentums (Bestandsschutz) und die Berufsfreiheit.12 Das Ergebnis einer solchen Abwägung und damit das Bestehen einer Schutzpflicht des Verordnungsgebers hängen von den Umständen des Einzelfalls ab. Insoweit im konkreten Einzelfall eine Schutzpflicht besteht, gilt für die damit korrespondierende Handlungspflicht einer Landesregierung im Vergleich zum Parlament folgende Besonderheit: Anstelle einer regulatorischen Maßnahme kann eine Landesregierung z. B. auch die Polizeipräsenz erhöhen, öffentlich-rechtliche Verträge schließen, bauordnungs- und bauplanungsrechtliche Maßnahmen vornehmen, das Ermessen hinsichtlich der Sondernutzung der Straße neu ausüben, öffentliche Plätze per Video überwachen oder soziale Maßnahmen ergreifen. Haben bisherige Maßnahmen den gebotenen Grundrechtsschutz nicht gewährleistet, ergibt sich allein hieraus noch kein Anspruch auf Erlass einer Verordnung. Erforderlich wäre vielmehr, dass alle anderen in Betracht kommenden Maßnahmen den gebotenen Grundrechtsschutz auch nicht 7 BVerfGE 83, 130 (141); im Kontext einer Sperrbezirksverordnung: VG Gelsenkirchen BeckRS 2011, 52553; VGH Mannheim NJOZ 2009, 2787. 8 Vgl. OVG Koblenz BeckRS 2016, 47936. 9 OVG Koblenz BeckRS 2016, 47936: „grundrechtlich geschützte Interessen der dort anliegenden Grundstückseigentümer “. 10 Vgl. VGH Kassel NVwZ-RR 1990, 472: „Belästigungen der Nachbarschaft und der Straßenpassanten“. 11 OVG Koblenz BeckRS 2016, 47936. 12 VGH Mannheim NJOZ 2009, 2787: „Bestandsschutz ist dann aber aus Gründen der Verhältnismäßigkeit zum Schutz des Eigentums und der Berufsfreiheit der Betr. [Prostituierten] geboten“. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 006/20 Seite 5 gewährleisten würden. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Verordnungsgeber insoweit grundsätzlich über einen Einschätzungs- und Prognosespielraum verfügt.13 Dieser Spielraum ist gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar:14 Planung ist nicht nur Gesetzesvollzug, sondern „Umsetzung politischer Willensbildung in Rechtsform“.15 Eine gerichtliche Vollkontrolle würde den damit verbundenen Spielraum wieder zurücknehmen.16 Käme man gleichwohl im Einzelfall zu dem Ergebnis, dass eine grundrechtliche Schutzpflicht besteht und nur eine Sperrbezirksverordnung den grundrechtlichen Mindestschutz gewährleisten kann, wäre es wiederum Frage des Einzelfalls, mit welchem Inhalt eine solche Sperrbezirksverordnung erlassen werden müsste. Auch hier käme der Einschätzungs- und Prognosespielraum des Verordnungsgebers zum Tragen. Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass die Rechtsprechung dem Verordnungsgeber in bereits entschiedenen Fällen, z. B. im Besoldungsrecht, Vorgaben zum Inhalt der zu erlassenden Rechtsverordnung gemacht hat.17 3. Prozessuale Durchsetzung Die Rechtsprechung hat die sogenannte Normenerlassklage anerkannt: „Besteht ein Anspruch auf Erlass oder Änderung einer Verordnung, kann er auch gerichtlich durchgesetzt werden. Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet Rechtsschutz nicht nur gegen höherrangiges Recht verletzende Rechtssetzungsakte, sondern auch gegen ein mit höherrangigem Recht unvereinbares Unterlassen des Verordnungsgebers […]. § 47 VwGO [Verwaltungsgerichtsordnung ] schließt die Zulässigkeit solcher Klagen nicht aus […].“18 Statthafte Klageart ist hierbei die allgemeine Feststellungsklage gem. § 43 VwGO: „Die Verfolgung des Klagebegehrens durch eine Feststellungsklage trägt im Übrigen eher als eine Leistungsklage dem Gewaltenteilungsprinzip Rechnung, weil auf die Entscheidungsfreiheit des rechtsetzenden Organs gerichtlich nur in dem für den Rechtsschutz des Bürgers unumgänglichen Umfang eingewirkt wird […]. Die Entscheidung, in welcher Weise eine festzustellende Rechtsverletzung zu beheben ist, bleibt dem Normgeber überlassen.“19 13 BayVerfGH NVwZ-RR 2018, 953, in Bezug auf eine kommunale Verordnung zur Sperrung einer Brücke an Silvester. 14 Vgl. Jacob/Lau, NVwZ 2015, 241. 15 Di Fabio, FS Hoppe, 2000, 85. 16 Jacob/Lau, NVwZ 2015, 241 (246). 17 BVerwG NVwZ-RR 2005, 214, Ls. 1: „§ 49 Abs. 3 BBesG enthält nicht nur eine Ermächtigung zum Verordnungserlass , sondern verpflichtet den Dienstherrn zur regelmäßigen Entschädigung der angefallenen notwendigen Kosten eines Gerichtsvollzieherbüros.“ 18 BVerwG NVWZ 2002, 1505 (1506). 19 BVerwG NVWZ 2002, 1505 (1506). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 006/20 Seite 6 Demgegenüber kommt eine Verfassungsbeschwerde nicht in Betracht: „Der Streit um die Verpflichtung der Exekutive zum Erlass oder zur Änderung solcher Rechtsnormen [Rechtsverordnungen] ist nicht verfassungsrechtlicher, sondern lediglich verwaltungsrechtlicher Art.“20 *** 20 BVerwG NVWZ 2002, 1505.