© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 006/16 Fragen zur Einschränkbarkeit des Asylgrundrechts und zur Einreise von Asylsuchenden aus sicheren Drittstaaten Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 006/16 Seite 2 Fragen zur Einschränkbarkeit des Asylgrundrechts und zur Einreise von Asylsuchenden aus sicheren Drittstaaten Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 006/16 Abschluss der Arbeit: 14.01.2016 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 006/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Einschränkbarkeit des Asylgrundrechts 4 2.1. Einschränkbarkeit von Grundrechten 4 2.2. Kein einfacher Gesetzesvorbehalt in Art. 16a GG 5 2.3. Schrankenregelungen in Art. 16a Abs. 2 bis 5 GG 5 2.4. Verfassungsimmanente Schranken 6 3. Einreisegestattung gegenüber Asylsuchenden aus sicheren Drittstaaten 7 3.1. Einreisegestattung nach § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG 7 3.1.1. Dublin-III-Verordnung 7 3.1.2. Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren 8 3.2. Einreisegestattung nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG 9 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 006/16 Seite 4 1. Fragestellung Nach Art. 16a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Da Art. 16a GG keine Regelung enthalte, die dem Gesetzgeber ohne weiteres gestatte, das Asylgrundrecht einzuschränken, wird die Frage gestellt, ob eine Einschränkung („Aushebelung“) des Asylgrundrechts durch einfaches Bundesgesetz überhaupt zulässig wäre. Ferner wird darum gebeten, die Voraussetzungen der Einreisegestattung nach § 18 Abs. 4 Asylgesetz (AsylG) gegenüber Asylsuchenden, die aus sicheren Drittstaaten einreisen, vor dem Hintergrund der seit September 2015 praktizierten Einreisegestattung zu erläutern. 2. Einschränkbarkeit des Asylgrundrechts 2.1. Einschränkbarkeit von Grundrechten Grundrechte können durch Gesetz eingeschränkt werden, wenn das Grundrecht selbst dem Gesetzgeber diese Möglichkeit vorbehält (Gesetzesvorbehalt) oder wenn die Einschränkungsmöglichkeit auf sog. verfassungsimmanenten Grundrechtsschranken beruht. Bei den grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten wird zwischen einfachen und qualifizierten Gesetzesvorbehalten unterschieden. Grundrechte mit einfachem Gesetzesvorbehalt sind daran erkennbar, dass ihr Wortlaut die Einschränkbarkeit durch den Gesetzgeber ausdrücklich und ohne weitere Anforderungen vorsieht. In diesem Sinne heißt es beispielsweise in Art. 8 Abs. 2 GG: „Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.“ Ein Grundrecht mit qualifiziertem Gesetzesvorbehalt liegt vor, wenn die Grundrechtsbestimmung weitere Anforderungen an das einschränkende Gesetz stellt, wie z.B. in Art. 5 Abs. 2 GG, wonach u.a. die Meinungsfreiheit ihre Schranken in den „allgemeinen Gesetzen“ und den „gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend“ findet.1 Verfassungsimmanente Schranken kommen insbesondere bei solchen Grundrechten zur Anwendung , die keinen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt vorsehen. Zu diesen als vorbehaltlose Grundrechte bezeichneten Grundrechten gehören u.a. die Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) und die Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG). Stellt man allein auf ihren Wortlaut ab, wären diese Grundrechte nicht einschränkbar. Aus der Verfassungssystematik („Einheit der Verfassung“) folgt aber, dass auch vorbehaltlose Grundrechte nicht unbeschränkt gelten, sondern grundsätzlich 1 Zur Unterscheidung zwischen einfachen und qualifizierten Gesetzesvorbehalten vgl. Sachs, in: Sachs, GG (7. Aufl., 2015), Rn. 115 ff. zu Vor Art. 1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 006/16 Seite 5 mit anderen kollidierenden Grundrechten und sonstigen Verfassungsgütern in Ausgleich gebracht werden müssen.2 Dieser Ausgleich obliegt dem Gesetzgeber.3 In Ausnahmefällen folgen Grundrechtsbeschränkungen schon aus der Grundrechtsnorm selbst, ohne dass es einer gesetzlichen Regelung bedürfte (z.B. Art. 16 Abs. 2 S. 1, 1. Fall GG4). Solche sog. verfassungsunmittelbaren Schranken beschränken den grundrechtlichen Schutzbereich unmittelbar. 2.2. Kein einfacher Gesetzesvorbehalt in Art. 16a GG Die Regelungen in Art. 16a GG sehen nicht vor, dass das Asylgrundrecht aus Art. 16a Abs. 1 GG einfach, d.h. ohne weitere (qualifizierende) Anforderungen einschränkbar wäre. Das Asylgrundrecht unterliegt damit keinem einfachen Gesetzesvorbehalt.5 2.3. Schrankenregelungen in Art. 16a Abs. 2 bis 5 GG Das Asylgrundrecht weist in Art. 16a Abs. 2 bis 5 GG besondere Schrankenregelungen auf. Die Schrankenregelungen in Art. 16a Abs. 2, 3 GG knüpfen inhaltlich an die fehlende Schutzbedürftigkeit bei Einreise aus einem sicheren Drittstaat (Art. 16a Abs. 2 GG) sowie an die vermutete Verfolgungssicherheit bei Asylsuchenden aus sicheren Herkunftsstaaten (Art. 16a Abs. 3 GG) an. Ferner sieht Art. 16a Abs. 4 GG für bestimmte Konstellationen Einschränkungen beim gerichtlichen Rechtsschutz vor. Die dogmatische Einordnung der Schrankenregelungen ist kompliziert. Die Grundrechtseinschränkung für Asylsuchende, die aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union einreisen, folgt z.B. schon unmittelbar aus dem Verfassungstext (Art. 16a Abs. 1 S. 1 GG) und stellt damit eine verfassungsunmittelbare Schranke dar. Andere Schrankenregelungen bedürfen der Ausfüllung und Konkretisierung durch Gesetz. So obliegt es z.B. dem Gesetzgeber nach Art. 16a Abs. 2 S. 2 GG, weitere sichere Drittstaaten zu bestimmen6 oder nach Art. 16a Abs. 3 S. 1 GG sichere Herkunftsstaaten festzulegen.7 Diese Schrankenregelungen können als qualifizierte Gesetzesvorbehalte 2 Vgl. dazu nur BVerfGE 28, 243, 261: „Nur kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte sind mit Rücksicht auf die Einheit der Verfassung und die von ihr geschützte gesamte Wertordnung ausnahmsweise imstande, auch uneinschränkbare Grundrechte in einzelnen Beziehungen zu begrenzen. Dabei auftretende Konflikte lassen sich nur lösen, indem ermittelt wird, welche Verfassungsbestimmung für die konkret zu entscheidende Frage das höhere Gewicht hat (…). Die schwächere Norm darf nur so weit zurückgedrängt werden, wie das logisch und systematisch zwingend erscheint; ihr sachlicher Grundwertgehalt muss in jedem Fall respektiert werden.“ 3 Vgl. Sachs (Fn. 1), Rn. 125. 4 Dazu sogleich unter Ziff. 2.3. 5 Siehe auch Becker, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG (6. Aufl., 2010), Rn. 144 zu Art. 16a. 6 Vgl. dazu die Bestimmung von Norwegen und der Schweiz als sichere Drittstaaten, § 26a Abs. 2 i.V.m. Anlage I zu § 26a AsylG. 7 Zu den sicheren Herkunftsstaaten gehören nach der Anlage II zu § 29a AsylG Albanien, Bosnien und Herzegowina, Ghana, Kosovo, Mazedonien, ehemalige jugoslawische Republik, Montenegro, Senegal und Serbien. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 006/16 Seite 6 eingeordnet werden, da sie besondere Anforderungen an das einschränkende Gesetz aufstellen.8 Unabhängig von der dogmatischen Einordnung ermöglichen die Schrankenregelungen in Art. 16a Abs. 2 bis 4 GG dem Gesetzgeber jedenfalls nicht, das Asylgrundrecht weiter einzuschränken als es konkret in den Schrankenregelungen vorgesehen ist.9 Eine weitere Besonderheit des Asylgrundrechts besteht in der völkerrechtlichen Überlagerung nach Art. 16a Abs. 5 GG. Danach werden die Gewährleistungen des Asylgrundrechts aus Art. 16a Abs. 1 bis 4 GG zugunsten vorrangiger völkerrechtlicher „Zuständigkeitsregelungen für die Prüfung von Asylbegehren einschließlich der gegenseitigen Anerkennung von Asylentscheidungen“ mit Drittstaaten verdrängt.10 Solche Zuständigkeitsregelungen sind im Dublin-Abkommen enthalten, das in Unionsrecht, und zwar in die sog. Dublin-Verordnung überführt wurde.11 2.4. Verfassungsimmanente Schranken Ob das Asylgrundrecht aus Art. 16a Abs. 1 GG über die Schranken in Art. 16a Abs. 2 bis 5 GG hinaus verfassungsimmanenten Schranken unterliegt, ist umstritten. Es wird vertreten, dass das Asylgrundrecht nur durch die Regelungen in Art. 16a Abs. 2-5 GG sowie durch Verwirkung nach Art. 18 GG einschränkbar ist. Der Verfassungsgesetzgeber habe insoweit eine abschließende Regelung des Asylrechts geschaffen, die keine weiteren Schranken zu Gunsten von anderen Verfassungsgütern zulasse.12 Nach anderer Auffassung, insbesondere auch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts , unterliegt das Grundrecht auf Asyl auch sog. verfassungsimmanenten Schranken.13 Die Anforderungen an die Einschränkbarkeit des Asylgrundrechts sind dabei allerdings hoch. Als verfassungsimmanente Schranken kommen nur solche Rechtsgüter in Betracht, die Verfassungsrang haben.14 Ferner muss die Einschränkung des Asylgrundrechts insbesondere den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügen. Dabei fällt die Schutzbedürftigkeit des Asylsuchenden/ Asylberechtigten besonders ins Gewicht fällt.15 8 Vgl. Wittreck, in: Dreier, GG (3. Aufl., 2013), Rn. 99, 106 zu Art. 16a. Dogmatisch unklar ist allerdings die Qualifizierung der Dritt- und Herkunftsstaatenregelungen durch das Bundesverfassungsgericht als „grundrechtsausfüllende Gesetze“, vgl. BVerfGE 94, 49, 43; BVerfGE 94, 115, 142. 9 Becker (Fn. 5), Rn. 144. 10 Dabei kommen als Drittstaaten nur Mitgliedstaaten der Europäischen Union oder des Europarates in Betracht, v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG (6. Aufl., 2012), Rn. 57, 59 zu Art. 16a. 11 Siehe dazu die sog. Dublin-III-Verordnung (VO [EU] Nr. 604/2013). 12 Will, in: Sachs (Fn. 1), Rn. 82 zu Art. 16a; v. Arnauld (Fn. 10), Rn. 32 zu Art. 16a m.w.N. 13 BVerwGE 49, 202, 208 ff.; BVerwG NVwZ 1999, 1346, 1347 f.; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG (Stand: März 2007), Rn. 129 f. zu Art. 16a; Bergmann, Das immanent beschränkte Asylgrundrecht, ZAR 2005, 137 ff. m.w.N. 14 BVerfGE 28, 243, 261. 15 BVerwGE 49, 202, 209. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 006/16 Seite 7 In Ausfüllung der verfassungsimmanenten Schranken und unter Berücksichtigung der besonderen Schutzbedürftigkeit der Asylsuchenden und Asylberechtigten enthält das AsylG Regelungen, die das Asylgrundrecht einschränken. Ausgeschlossen ist die Asylberechtigung beispielsweise, wenn der Asylsuchende aus „schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist“, § 30 Abs. 4 AsylG, § 60 Abs. 8 Aufenthaltsgesetz (AufenthG).16 Solch hohe Anforderungen an die konkrete Gefährlichkeit stellt auch § 53 AufenthG zur Ausweisung von Asylberechtigten und Flüchtlingen. Diese können nach § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn „das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist“. 3. Einreisegestattung gegenüber Asylsuchenden aus sicheren Drittstaaten Von der grundsätzlichen Einreiseverweigerung nach § 18 Abs. 2 AsylG gegenüber Asylsuchenden, die aus sicheren Drittstaaten einreisen, sind Ausnahmen möglich. Zum einen sieht § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG ein Absehen von der Einreiseverweigerung (Einreisegestattung) vor, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens nach Unions- oder Völkerrecht zuständig ist, § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG. Darüber hinaus führt eine entsprechende Anordnung des Bundesministeriums des Innern dazu, dass Asylsuchenden die Einreise zu gestatten ist, § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG. 3.1. Einreisegestattung nach § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG Unter die Ausnahmeregelung des § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG fällt in erster Linie die sog. Dublin-III- Verordnung (VO [EU] Nr. 604/2013), die Teil des EU-Sekundärrechts ist und die Zuständigkeit für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz innerhalb der EU-Mitgliedstaaten regelt.17 Anträge auf internationalen Schutz umfassen die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG sowie die Gewährung international subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG. Die Prüfung der Voraussetzungen des internationalen Schutzes ist Teil des nationalen Asylverfahrens, § 13 Abs. 2 S. 1 AsylG. 3.1.1. Dublin-III-Verordnung Nach der Dublin-III-Verordnung ist grundsätzlich derjenige EU-Mitgliedstaat für die Antragsprüfung zuständig, dessen Land-, See- oder Luftgrenzen ein Antragsteller aus einem Drittstaat kommend illegal überschritten hat (Art. 13 Abs. 1 S. 1 VO [EU] Nr. 604/2013). Danach wären in erster Linie die EU-Mitgliedstaaten an den Außengrenzen der Europäischen Union zuständig. Von diesem Grundsatz bestehen aber zahlreiche Ausnahmen, u.a. für Anträge von unbegleiteten Minderjährigen 16 Zur Anwendbarkeit der Ausschlussgründe für die Flüchtlingseigenschaft auch auf die Asylberechtigung vgl. Wissenschaftliche Dienste, Verfahrens- und Prüfungsschritte im Asylverfahren (WD 3 - 3000 - 220/15 ), 14. 17 Zur Anwendbarkeit des Dublin-Abkommens als völkerrechtlichem Abkommen im Verhältnis zu Irland und dem Vereinigten Königreich v. Arnauld (Fn. 10), Rn. 58 zu Art. 16a. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 006/16 Seite 8 (Art. 8 VO [EU] Nr. 604/2013) und Familienangehörigen (Art. 9 VO [EU] Nr. 604/2013). Relevant ist nach Art. 3 Abs. 2 S. 2 VO [EU] Nr. 604/2013 auch, ob „es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen“, mit der Folge, dass eine Überstellung in diese EU-Mitgliedstaaten unmöglich ist18 und eine Zuständigkeit des prüfenden EU-Mitgliedstaates entsteht, Art. 3 Abs. 2 S. 3 VO [EU] Nr. 604/2013. Von besonderer Bedeutung ist ferner die (Auffang-) Zuständigkeit desjenigen Mitgliedstaats, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, wenn sich der nach den grundsätzlichen Regeln zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen lässt (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 VO [EU] Nr. 604/2013). Schwierigkeiten bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats entstehen insbesondere, wenn keine Registrierung der Asylsuchenden erfolgt.19 Bleibt die Registrierung der Asylsuchenden – z.B. aus Überforderung – aus, wird aber gleichwohl die Weiterreise ohne Stellung eines Asylgesuchs gewährt, kommt es zur Zuständigkeit desjenigen EU-Mitgliedstaats, in dem die Asylsuchenden den Antrag auf internationalen Schutz stellen. Schließlich besteht nach der Dublin-III-Verordnung die Möglichkeit des Selbsteintritts. Art. 17 Abs. 1 VO [EU] Nr. 604/2013 lässt es ausdrücklich zu, von einer Zuständigkeitsprüfung abzusehen und „einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist“. In diesem Fall wird der Mitgliedstaat zum zuständigen Mitgliedstaat, Art. 17 Abs. 1 S. 2 VO [EU] Nr. 604/2013. 3.1.2. Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren Ob und inwieweit die seit September 2015 herrschende Praxis, die Einreise von Asylsuchenden aus sicheren Drittstaaten zu gestatten, durch eine unionsrechtlich begründete Zuständigkeit der Bundesrepublik für die Durchführung von Asylverfahren gedeckt ist, lässt sich hier nicht abschließend beurteilen. Für große Teile der Asylsuchenden, die bei ihrer Einreise in die Europäischen Union nicht registriert wurden und in anderen EU-Mitgliedstaaten keinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, wäre eine Zuständigkeit der Bundesrepublik nach Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO [EU] Nr. 604/2013 wegen fehlender Feststellbarkeit des zuständigen Mitgliedstaates nicht unwahrscheinlich. Auch könnte in zahlreichen Fällen eine Zuständigkeit der Bundesrepublik wegen unmöglicher Überstellung in die zuständigen EU-Mitgliedstaaten mit systemischen Schwachstellen (z.B. Griechenland) nach Art. 3 Abs. 2 S. 3 VO [EU] Nr. 604/2013 gegeben sein. Die Annahme solcher Dublin-Zuständigkeiten setzt aber voraus, dass die Dublin-Zuständigkeit überhaupt geprüft worden ist. Ob und inwieweit seit September 2015 Dublin-Prüfungen stattfinden, 18 Vgl. dazu BVerwG NVwZ 2014, 1039 mit weiteren Hinweisen zur einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. 19 Die Feststellung der illegalen Einreise in einen anderen Mitgliedstaat erfolgt regelmäßig über einen Abgleich mit der EURODAC-Datenbank, siehe dazu die Verordnung [EU] Nr. 603/2013 (EURODOC-Verordnung). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 006/16 Seite 9 ist unklar. Ende August 2015 gab das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) per Tweed Einschränkungen beim Dublin-Zuständigkeitsverfahren für syrische Flüchtlinge bekannt. Konkret hieß es wie folgt: „#Dublin-Verfahren syrischer Staatsangehöriger werden zum gegenwärtigen Zeitpunkt von uns weitestgehend faktisch nicht weiter verfolgt.“20 Zur Beendigung der Notlage in Ungarn Anfang September 2015 hieß es von Seiten der Bundesregierung, der beschlossenen Weiterreise der Flüchtlinge nach Österreich und Deutschland ohne vorherige Registrierung komme Ausnahmecharakter zu: „Wir haben eine akute Notlage bereinigt - Deutschland und Österreich haben am Freitagabend der Ausreise von Flüchtlingen aus Ungarn zugestimmt. In einem Telefonat am Samstag waren sich Merkel und Orban einig, dass das Dubliner Abkommen weiterhin gilt und die Weiterreise der Flüchtlinge aufgrund der Notlage an der ungarischen Grenze eine Ausnahme war.“21 Anfang November 2015 wurde dann bekannt, dass das Dublin-Verfahren auch für syrische Flüchtlinge seit Ende Oktober 2015 wieder angewendet werde.22 Die Aussetzung des Dublin- Verfahrens hätte demnach mindestens bis Ende Oktober 2015 angedauert. Soweit die Bundesrepublik die Dublin-Prüfungen ausgesetzt und die Durchführung von Asylverfahren übernommen hat, besteht eine Dublin-Zuständigkeit für die Prüfung der Asylbegehren durch Selbsteintritt (Art. 17 Abs. 1 VO [EU] Nr. 604/2013). Dass der Selbsteintritt in Form der Twitter-Nachricht durch das BAMF pauschal und für Asylsuchende, die das Bundesgebiet noch nicht erreicht haben, erklärt worden ist, dürfte für die Wirksamkeit unbeachtlich sein. Die Dublin- III-Verordnung steht der freiwilligen Übernahme von Pflichten durch die EU-Mitgliedstaaten nicht entgegen. Ein zuständigkeitsbegründender Selbsteintritt führt nach § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG dazu, dass die Einreise von Asylsuchenden aus sicheren Drittstaaten nicht verweigert werden kann.23 3.2. Einreisegestattung nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG Denkbar wäre auch, dass das Bundesministerium des Innern nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG aus humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland angeordnet hat, von der Einreiseverweigerung gegenüber den Asylsuchenden abzusehen. Eine Beschränkung dieser Ausnahmen vom Grundsatz der Einreiseverweigerung auf Einzelfälle ist nach dem Wortlaut des § 18 Abs. 4 AsylG nicht zwingend. In § 18 Abs. 4 AsylG heißt es lediglich , „von der Einreiseverweigerung (…) ist im Falle der Einreise aus einem sicheren Drittstaat (…) abzusehen“. Das Tatbestandsmerkmal „im Falle der Einreise“ kann sich sowohl auf einzelne 20 Vgl. Twitter-Account des BAMF, abrufbar unter: https://twitter.com/bamf_dialog/status/636138495468285952. 21 http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2015/09/2015-09-05-einreise-fluechtline-ungarn.html. 22 Vgl. die Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung, abrufbar unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/ fluechtlingskrise -zurueck-zu-dublin-1.2731617. 23 Von der weitergehenden unionsrechtlichen Möglichkeit, Anträge auf internationalen Schutz trotz Dublin-Zuständigkeit als unzulässig zu behandeln (Art. 3 Abs. 3 VO [EU] Nr. 604/2013, Art. 38 RL 2013/32EU), hat der nationale Gesetzgeber bisher keinen Gebrauch gemacht. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 006/16 Seite 10 Asylsuchende24 als auch auf Gruppen von Asylsuchenden beziehen.25 Auch die Fassung der Norm als Ausnahmevorschrift zwingt nicht zu einer engen, auf Einzelfälle bezogenen Auslegung. Zum einen öffnet § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG die Einreisegestattung gerade für nicht weiter eingegrenzte Zuständigkeitsverteilungen nach Unions- oder Völkerrecht. Zum anderen sprechen die weiten, dem Bundesminister des Innern eingeräumten humanitären und politischen Gründe dafür, dass über den Einzelfall hinaus Gruppen von Asylsuchenden umfasst sein können, gerade auch im Zusammenhang mit Notsituationen. Ob eine solche Anordnung tatsächlich erteilt worden ist und wenn ja, zu welchem Zeitpunkt, für welchen Zeitraum und für welche Asylsuchende, kann von hier aus nicht beurteilt werden. Soweit ersichtlich, wurden entsprechende Informationen nicht veröffentlicht. Nach alledem ist keine Aussage darüber möglich, ob und in welchem Ausmaß die Vorschriften des § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG und/oder des § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG für die konkrete Praxis der Einreisegestattungen seit September 2015 zur Anwendung gekommen sind. Eine andere, hier nicht weiter zu erörternde Frage geht dahin, ob diese Vorschriften vor dem Hintergrund des Rechtsstaatsund Demokratieprinzips auch dazu berechtigen, die Einreise von Asylsuchenden aus sicheren Drittstaaten pauschal und massenhaft zu gestatten.26 Ende der Bearbeitung 24 So Bruns, in: Hofmann/Hoffmann, Handkommentar Ausländerrecht (1. Aufl., 2008), Rn. 22 zu § 18 AsylVfG. 25 So Hailbronner, Ausländerrecht, Band 3 (Stand: August 2009), Rn. 43 zu § 18 AsylVfG; Senge, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze (Stand: Juli 2009), Rn. 9 zu § 18 AsylVfG, 26 Vgl. zu dieser Problematik Wissenschaftliche Dienste, Einreise von Asylsuchenden aus sicheren Drittstaaten (WD 3 - 3000 - 299/15).