© 2021 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 005/21 Fragen zur Verfassungsmäßigkeit von Briefwahlen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 005/21 Seite 2 Fragen zur Verfassungsmäßigkeit von Briefwahlen Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 005/21 Abschluss der Arbeit: 21. Januar 2021 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 005/21 Seite 3 1. Fragestellung Im Zuge der Corona-Pandemie wird überlegt, Parlamentswahlen als reine Briefwahlen durchzuführen . Gefragt wird, ob es verfassungsrechtlich zulässig ist, wenn die Wahl in einem Großteil der Wahlbezirke, in einem Bundesland oder im gesamten Bundesgebiet als reine bzw. überwiegende Briefwahl durchgeführt wird. Ferner wird gefragt, ob es eine quantitative Grenze verfassungsrechtlich zulässiger Briefwahlstimmen gibt. Weiter wird nach den rechtlichen Voraussetzungen gefragt, die eine Regelung zur Änderung des Wahlrechts erfüllen müsste, wonach Wahlen vollumfänglich oder überwiegend als Briefwahl durchgeführt werden. Insbesondere soll geprüft werden, ob eine solche Regelung verfassungsrechtlich zulässig wäre, ob diese dem Parlamentsvorbehalt unterliegen würde und ggfs. welche Regelungsbereiche diesbezüglich für den Verordnungsgeber verbleiben würden. Schließlich wird gefragt, ob der Gesetzgeber verpflichtet ist, mildere Mittel zur reinen Briefwahl zu suchen, die das Infektionsrisiko bei der Stimmabgabe minimieren, jedoch den Wahlrechtsgrundsatz der Öffentlichkeit weniger stark einschränken. 2. Grundsätzliche Zulässigkeit der Briefwahl als Ausnahme zum Leitbild der Urnenwahl Die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Wahlen zum Bundestag ergeben sich aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz (GG). Danach werden die Abgeordneten in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Neben die geschriebenen Wahlrechtsgrundsätze tritt der ungeschriebene Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl, der seine Grundlagen in Art. 38 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG findet. Die Öffentlichkeit der Wahl sichert das für die Funktionsfähigkeit einer Demokratie und für die Legitimation notwendige Vertrauen in den ordnungsgemäßen Ablauf der Wahl.1 Das Bundesverfassungsgericht hatte mehrfach über die Zulässigkeit der Briefwahl zu entscheiden und hat festgestellt, dass die Briefwahl die Wahlrechtsgrundsätze der Freiheit, Geheimheit und Öffentlichkeit einschränkt.2 Als Gefahr bei der Briefwahl wird allgemein angesehen, dass bei dieser nur schwerlich kontrolliert werden kann, ob die Wahlberechtigten ihre Wahlscheine tatsächlich selbst ausfüllen und ob sie dabei unbeobachtet und unbeeinflusst gewesen sind.3 Die geltenden bundesrechtlichen Regelungen zur Briefwahl beurteilt das Bundesverfassungsgericht gleichwohl als verfassungskonform, da sie dem Ziel dienen, eine umfassende Wahlbeteiligung zu erreichen und damit dem Grundsatz der Allgemeinheit Rechnung tragen.4 Nach Ansicht des 1 Morlok, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2015, Art. 38 Rn. 126. 2 BVerfGE 59, 119 (125); 123, 39 (75). Ausführlich dazu siehe auch Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Zur Verfassungsmäßigkeit von reinen Briefwahlen, WD 3 - 3000 - 074/20. 3 Richter, Briefwahl für alle? DÖV, 2010, 606 (607); Hahlen, in: Schreiber, Bundeswahlgesetz, 10. Auflage 2017, § 36 Rn. 5c. 4 BVerfGE 134, 25 (30). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 005/21 Seite 4 Bundesverfassungsgerichts bringt es die „Natur der Sache“ mit sich, dass nicht jeder der Wahlgrundsätze stets in voller Reinheit verwirklicht werden kann.5 Dem Gesetzgeber steht ein gewisser Ermessensspielraum bei der Umsetzung und Konkretisierung der Wahlrechtsgrundsätze zu.6 Differenzierungen bei der Gestaltung des konkreten Wahlrechts bedürfen zu ihrer Rechtfertigung nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stets eines besonderen, sachlich legitimierten Grundes.7 Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl stellt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls im Zusammenhang mit der Briefwahl eine zu den Grundsätzen der Freiheit, Geheimheit und Öffentlichkeit der Wahl gegenläufige verfassungsrechtliche Grundentscheidung dar, die grundsätzlich geeignet ist, Einschränkungen anderer Grundentscheidungen der Verfassung zu rechtfertigen . Das Gericht hat aber darauf hingewiesen, dass eine deutliche Zunahme der Briefwähler mit dem verfassungsrechtlichen Leitbild der Urnenwahl, die die repräsentative Demokratie in besonderer Weise sichtbar und erfahrbar mache, in Konflikt treten könne.8 Das Bundesverfassungsgericht betont, dass der Gesetzgeber dafür Sorge zu tragen hat, dass keiner der Wahlrechtsgrundsätze unverhältnismäßig eingeschränkt wird oder in erheblichem Umfang leerzulaufen droht.9 Die mit der Reform des Wahlrechts im Jahr 2008 einhergehende Erleichterung, wonach für die Briefwahl lediglich ein Antrag des Wahlberechtigten ausreicht (§ 25 Abs. 1 Bundewahlordnung), hielt das Bundesverfassungsgericht für zulässig, da der Gesetzgeber dafür nachvollziehbare Gründe angeführt habe und es nicht erkennbar sei, dass die geltenden wahlrechtlichen Bestimmungen keine ausreichende Gewähr für den Schutz vor Gefahren böten, die bei der Durchführung der Briefwahl für die Integrität der Wahl, das Wahlgeheimnis und die Wahlfreiheit entstehen könnten.10 Vor allem hebt das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2013 hervor, der Gesetzgeber habe ausreichend begründet, dass ein erheblicher Anstieg der Briefwahlbeteiligung durch den Wegfall der Glaubhaftmachung von Antragsgründen nicht zu befürchten sei.11 Es macht damit deutlich, dass die Briefwahl nicht zum Regelfall werden darf und der Gesetzgeber das verfassungsrechtliche Leitbild der Urnenwahl zu achten hat. 3. Quantitative Grenzen für die Briefwahl? Eine quantitative Grenze, ab welchem Anteil von Briefwählern eine Wahl nicht mehr dem Leitbild der Urnenwahl entspricht, benennt das Bundesverfassungsgericht weder in seiner Entscheidung 5 Strelen, in: Schreiber, Bundeswahlgesetz, 10. Auflage 2017, § 1 Rn. 6 mit Rechtsprechungsnachweisen. 6 Strelen, in: Schreiber, Bundeswahlgesetz, 10. Auflage 2017, § 1 Rn. 4. 7 Siehe nur BVerfGE 135, 259 (Rn. 53) mit weiteren Nachweisen. 8 BVerfGE 134, 25 (32 Rn. 16). 9 BVerfGE 134, 25 (30 f. Rn. 13). 10 BVerfGE 134, (32 Rn. 16 f.). 11 BVerfGE 134, (32 Rn. 16). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 005/21 Seite 5 aus dem Jahr 2013 noch in früheren Entscheidungen.12 Bei der der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2013 zugrunde liegenden Europawahl 2009 betrug der Anteil der Briefwähler 18,4 % der Wähler, dabei variierte der Anteil der Briefwähler in den einzelnen Bundesländern stark (11,3 % in Sachsen-Anhalt, 28,9 % in Bayern). Der Anteile der Briefwähler sowohl bei der Europawahl als auch bei der Bundestagswahl ist seitdem stetig gestiegen; zuletzt auf 28,4 % bei der Europawahl 2019 bzw. 28,6 % bei der Bundestagswahl 2017.13 In der Literatur wird teilweise vertreten, dass spätestens ab einem Anteil der Briefwähler von über 50 % der Gesamtstimmen eine Grenze zu ziehen sei. Dies wird damit begründet, dass die Briefwähler dadurch regierungsfähige Mehrheiten zustande bringen könnten.14 Dieses Argument erscheint allerdings insofern eher ein theoretisches, als Studien zu dem Ergebnis kommen, dass sich das Wahlverhalten der Briefwähler bisher kaum von dem der Urnenwähler unterscheidet.15 Soweit diesem Argument gefolgt wird, würde ein überwiegender Anteil von Briefwählern verfassungsrechtlich als nicht mehr zulässig anzusehen sein; dies gilt erst recht für eine reine Briefwahl. Dagegen könnte zwar eingewandt werden, dass das Bundesverfassungsgericht eine Regelung für verfassungskonform erachtet hat, bei der zumindest theoretisch die Möglichkeit besteht, dass sich alle Wahlberechtigten für die Briefwahl entscheiden. Dies hat das Bundesverfassungsgericht allerdings unter der Prämisse entschieden, dass der Gesetzgeber keine Anhaltspunkte dafür sieht, dass der Anteil der Briefwähler durch die erleichterten Regelungen erheblich steigen könnte. 4. Rechtfertigung aufgrund der pandemischen Sondersituation? Bereits in früheren Entscheidungen hatte das Bundesverfassungsgericht betont, dass der Gesetzgeber verpflichtet sei, für eine bestmögliche Sicherung und Gewährleistung der Wahlrechtsgrundsätze zu sorgen.16 Gesetz- und Verordnungsgeber haben die Regelungen und Handhabung der Briefwahl ständig in Anbetracht neu auftretender Entwicklungen, die unvorhergesehene Gefahren für die Integrität der Wahl mit sich bringen können, zu überprüfen und darauf zu reagieren. Das Bundesverfassungsgericht sieht auch die zum Vollzug der Regelungen berufenen Wahlorgane und Gemeindebehörden in der Pflicht, darüber zu wachen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten dafür zu sorgen, dass bei der Briefwahl die Wahlgrundsätze gewährleistet bleiben.17 Angesichts eines Anteils von 28,6 % von Briefwählern bei der letzten Bundestagswahl 2017, spricht zunächst viel dafür, dass weitere Erleichterungen bei der Durchführung der Briefwahl mit dem erklärten Ziel, den Anteil der Briefwähler deutlich zu steigern, beispielsweise durch einen Verzicht 12 Siehe dazu bereits Kurzinformation der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Frage zur Verfassungsmäßigkeit der Briefwahl, WD 3 - 3000 - 233/20. 13 Die Wahlergebnisse sind abrufbar www.bundeswahlleiter.de (letzter Abruf 20. Januar 2020). 14 Richter, Briefwahl für alle? DÖV, 2010, 606 (608). 15 Kersting, MIP Zeitschrift für Parteienwissenschaften 2019, 212 (216). 16 BVerfGE 59, 119 (127); 21, 200 (207). 17 BVerfGE 59, 119 (127). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 005/21 Seite 6 auf das Antragserfordernis nach § 25 Abs. 1 Bundeswahlordnung und/oder das unaufgeforderte Zusenden von Briefwahlunterlagen, vom Bundesverfassungsgericht als nicht mehr zulässig erachtet werden würden. Fraglich ist, ob sich aufgrund der pandemischen Sondersituation etwas anderes ergibt. In Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Einsatz von Wahlhelfern18 käme eine erhebliche Einschränkung des Öffentlichkeitsgrundsatzes durch eine reine Briefwahl allenfalls dann in Betracht, wenn die Wahlberechtigten nur durch die Briefwahl in der Lage wären, ihr Wahlrecht auszuüben. Von einer derartigen Notsituation ist derzeit nicht auszugehen. Zwar könnte zu befürchten sein, dass Wahlberechtigte aus Angst vor einer Infektion auf den Gang ins Wahllokal verzichten könnten. Offen ist allerdings, wie hoch diese Gefahr tatsächlich einzuschätzen ist. Nach geltender Rechtslage kann zudem jeder Wahlberechtigte, der sich keinem Infektionsrisiko im Wahllokal aussetzen will, die Briefwahl beantragen. Ferner wird zu Recht eingewandt, dass bei einer reinen Briefwahl die Gruppe der kurzentschlossenen Spontanwähler von der Wahl ausgegrenzt werden würden und zumindest eine reine Briefwahl daher gerade nicht zu einer Stärkung des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl führen würde.19 Vor allem aber sind in Abhängigkeit vom Infektionsgeschehen verschiedene Maßnahmen denkbar, die der Infektionsgefahr bei der Stimmabgabe entgegenwirken und sie minimieren und gegenüber der Briefwahl als milderes Mittel erscheinen . Zu nennen sind hier z. B. geeignete Hygienekonzepte für die Wahllokale (etwa die Pflicht zum Tragen einer FFP-2-Maske, der Einsatz von Plexiglasscheiben und Luftfiltern, Abstandkonzepte für Warteschlangen u. ä.) sowie eine größere Anzahl von Wahllokalen und/oder die Verlängerung des Wahlzeitraums auf zwei oder mehr Tage. Mit Blick auf die Industrie und Teile des Handels, die auch während des Lockdowns geöffnet sein dürfen, ist nicht ersichtlich, worin sich das Infektionsrisiko bei der Urnenwahl von diesen alltäglichen Situationen unterscheiden soll.20 Dem Gang zur Wahl kommt in einer Demokratie ein so hoher Stellenwert zu, dass nicht einzusehen ist, wieso er bei gleichsamer Aufrechterhaltung bestimmter Versorgungs- und Wirtschaftsbereiche, nicht jedenfalls als freiwillige Möglichkeit offen stehen sollte. Gleichwohl spricht einiges dafür, dass in der besonderen Situation einer Pandemie ein höherer Anteil von (freiwilligen) Briefwählern vom Bundesverfassungsgericht nicht beanstandet werden würde. 5. Möglichkeit einer Briefwahl de lege ferenda Zu prüfen sind die rechtlichen Voraussetzungen, die eine zukünftige Regelung zur Änderung des Wahlrechts erfüllen müsste, wonach Wahlen im Fall einer Pandemie vollumfänglich oder überwiegend als Briefwahl durchgeführt werden können. 18 BVerfGE 21, 200 (206). 19 Siehe dazu Friehe, Die Demokratie muss immun bleiben, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/die-demokratie -muss-immun-bleiben/ (letzter Abruf 20. Januar 2020). 20 So auch Friehe, Die Demokratie muss immun bleiben, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/die-demokratiemuss -immun-bleiben/ (letzter Abruf 20. Januar 2020). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 005/21 Seite 7 5.1. Keine einfachgesetzliche Regelungsmöglichkeit Eine einfachgesetzliche Regelung der reinen Briefwahl oder gar die Anordnung einer solchen per Rechtsverordnung wird den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Vorgaben für die Umsetzung und Konkretisierung der Wahlrechtsgrundsätze nicht gerecht.21 Art. 38 Abs. 3 GG gewährt dem Bundesgesetzgeber zwar eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz hinsichtlich der Einzelheiten der Wahl, wozu auch das Wahlverfahren gehört.22 Dabei hat der Verfassungsgesetzgeber dem Bundesgesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum sowie die Befugnis, vielfältige Entscheidungen von großer Tragweite zu treffen, eingeräumt.23 Demnach hat dieser auch zu entscheiden, ob und inwieweit Abweichungen von einzelnen Wahlrechtsgrundsätzen im Interesse der Einheitlichkeit des ganzen Wahlsystems und zur Sicherung der mit ihm verfolgten, demokratischen Prinzipien entsprechenden staatspolitischen Zielen geboten sind.24 Dieser gesetzgeberische umfangreiche Gestaltungsspielraum ist aber dann überschritten, wenn ein Wahlrechtsgrundsatz unverhältnismäßig eingeschränkt wird oder in erheblichem Umfang leerzulaufen droht. Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass hinsichtlich der Geheimheit und der Freiheit der Wahl eher abstrakte Gefahren bestehen, so würde durch eine reine Briefwahl jedenfalls der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl erheblich eingeschränkt. Der Grundsatz der Öffentlichkeit soll begründetes Vertrauen der Bürger in den korrekten Ablauf der Wahl schaffen und die Ordnungsgemäßheit und Nachvollziehbarkeit der Wahlvorgänge absichern.25 Das setzt aber voraus, dass das Wahlvolk sich selbst zuverlässig von der Rechtmäßigkeit des Übertragungsaktes überzeugen kann, wenn die Wahl also „vor den Augen der Öffentlichkeit“ abläuft.26 Diese Möglichkeit, sich selbst durch eigene Wahrnehmung vom ordnungsgemäßen Wahlgeschehen zu überzeugen, fehlt bei der Briefwahl jedoch vollständig. Das Bundesverfassungsgericht hat daher zu verstehen gegeben, dass es die Beschränkungen des Grundsatzes der Öffentlichkeit durch die Briefwahl nur insofern für verfassungsgemäß erachtet, als das Leitbild der Urnenwahl erhalten bleibt.27 Eine reine Briefwahl kollidiert mit diesem Leitbild eklatant. 21 Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Zur Verfassungsmäßigkeit von reinen Briefwahlen, WD 3 - 3000 - 074/20. 22 Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, 45. Edition 2020, Art. 38 Rn. 113. 23 BVerfGE 95, 335 (349); 59, 119 (124); 3, 19 (24). 24 BVerfGE 59, 119 (124). 25 Morlok, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2015, Art. 38 Rn. 126. 26 BVerfGE 123, 39 (69). 27 BVerfGE 134, 25 (31); 123, 39 (68 ff.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 005/21 Seite 8 5.2. Verfassungsänderung In Betracht kommt jedoch eine Änderung der Verfassung. Fraglich ist aber, ob die Möglichkeit einer reinen Briefwahl nicht verfassungswidriges Verfassungsrecht erzeugen würde. Verfassungsänderungen unterliegen den materiellen Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG.28 Nach dieser sog. Ewigkeitsklausel sind insbesondere die Grundsätze der Art. 1 und Art. 20 GG unabänderlich. Art. 20 GG enthält das sog. Demokratieprinzip, wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, das diese Gewalt in Wahlen und Abstimmungen ausübt. Nach herrschender Auffassung garantiert Art. 79 Abs. 3 GG nicht nur die Vermittlung demokratischer Legitimation durch periodisch wiederkehrende Wahlen, sondern auch die Einhaltung der fundamentalen Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG.29 Zu diesen wird jedenfalls der Grundsatz der Allgemeinheit, der Gleichheit und der Freiheit der Wahl gezählt; welche weiteren Grundsätze umfasst sind, ist streitig.30 Der Verfassungsgeber soll aber nicht gehindert sein, verfassungsimmanente Kollisionen der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Rechtsgüter zu lösen und diese Güter am Maßstab des Grundgesetzes gegeneinander abzuwägen.31 Für die Einschränkung eines Wahlrechtsgrundsatzes zugunsten eines anderen bedarf es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eines sachlichen Grundes.32 Im Grundgesetz eine generelle, anlasslose Ermächtigung zur Einführung einer Briefwahl vorzusehen, ließe sich nicht mit dem über Art. 79 Abs. 3 GG besonders geschützten Demokratieprinzip vereinbaren, da eine reine Briefwahl den Wahlrechtsgrundsatz der Öffentlichkeit nahezu aufhebt. Dagegen erscheint es verfassungsrechtlich zulässig, eine Ermächtigung zur Durchführung einer Briefwahl aufzunehmen, mit der in besonderen Notlagen die Durchführung der Wahl abgesichert werden kann. Hier ist insbesondere an Seuchenfälle wie etwa auch eine Pandemie, Naturkatastrophen oder besonders schwere Unglücksfälle zu denken. Angesichts der erheblichen Einschränkung des Öffentlichkeitsgrundsatzes ist allerdings von einem sehr hohen Rechtfertigungsdruck für den konkreten Einsatz auszugehen. Bevor eine reine Briefwahl angeordnet werden dürfte, müssten folglich alle zumutbaren milderen Mittel ausgeschöpft worden sein. Insbesondere bedürfte es eines Zustandes, in dem das Pandemiegeschehen auch mit Mitteln wie hinreichenden Hygienekonzepten nicht mehr eindämmbar ist und eine erhebliche Gefahr von gesundheitlichen Schäden droht. Wie sich aus einem Vergleich mit Art. 115a, Art. 115h GG33 zeigt, bedürfte es zur Durchführung gleichsam einer verfassungsrechtlichen Verankerung der Feststellung des pandemischen Zustandes. 28 BVerfGE 137, 108 (143 f.); 109, 279 (310). 29 Siehe nur Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG-Komm, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rn. 98 und Art. 79 Abs. 3 Rn. 38; und Dietlein in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, 45. Edition 2020, Art. 79 Rn. 38. 30 Vgl. etwa Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG-Komm, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rn. 98 und Art. 79 Abs. 3 Rn. 38; Hain, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 79 Rn. 82; Herdegen in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG- Komm., 92. EL 2020, Art. 79 Rn. 138; Sachs, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 79 Rn. 70; Dietlein in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, 45. Edition 2020, Art. 79 Rn. 38. 31 Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 79 Rn. 70. 32 Siehe nur BVerfGE 135, 259 (Rn. 53) mit weiteren Nachweisen. 33 Vgl. hierzu die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages, Verschiebung der Bundestagswahl, WD 3 - 3000 - 183/20. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 005/21 Seite 9 Der erhebliche Eingriff in den Wahlrechtsgrundsatz der Öffentlichkeit spricht dafür, dass der Bundesgesetzgeber verpflichtet ist, die wesentlichen Regelungen selbst einfachgesetzlich auszugestalten. Es obliegt ihm, die wesentlichen Leitlinien des Verfahrens festzusetzen und klare Vorgaben z. B. dazu zu machen, wem die Kompetenz zukommt, über die Anordnung der reinen Briefwahl zu entscheiden und zu welchem Zeitpunkt die Entscheidung zu treffen ist. Dabei wird zu berücksichtigen sein, dass es sich bei einer pandemischen Lage um ein dynamisches Geschehen handelt, das sich kurzfristig ändern kann. Dies könnte dafür sprechen, nach Vorbild des § 52 BWahlG eine Verordnungsermächtigung vorzusehen, die der Exekutive den Erlass von Rechtsvorschriften für die Regelung näherer Einzelheiten ermöglicht. ***