© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 005/20 Frage zur Rückholung der radioaktiven Abfälle aus der Schachtanlage Asse II nach § 57b Abs. 2 S. 3 Atomgesetz Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 005/20 Seite 2 Frage zur Rückholung der radioaktiven Abfälle aus der Schachtanlage Asse II nach § 57b Abs. 2 S. 3 Atomgesetz Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 005/20 Abschluss der Arbeit: 3. Februar 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 005/20 Seite 3 1. Einleitung Zwischen 1967 und 1978 lagerte die Gesellschaft für Strahlenforschung ca. 126.000 Fässer mit radioaktiven Abfällen in das frühere Salzbergwerk Schachtanlage Asse II ein, um eine Endlagerung zu erproben. Durch Wassereintritt ist die Anlage zunehmend instabil. 2009 wurde in § 57b Abs. 2 S. 1 Atomgesetz (AtG) die Stilllegung der Anlage Asse II festgelegt.1 2013 wurde in § 57b Abs. 2 S. 3 AtG normiert, dass die Stilllegung nach Rückholung der radioaktiven Abfälle erfolgen soll.2 Zuständig für die Rückholung und die Stilllegung ist die Bundesgesellschaft für Endlagerung mbH als Betreiberin der Anlage unter der atomrechtlichen Aufsicht des Bundesamtes für kerntechnische Entsorgungssicherheit .3 Die Stilllegung nach vorheriger Rückholung der radioaktiven Abfälle ist allerdings nur die bevorzugte Variante der Stilllegung.4 Die Rückholung ist nach § 57b Abs. 2 S. 4 AtG abzubrechen, wenn ihre Durchführung für die Bevölkerung und die Beschäftigten aus radiologischen oder sonstigen sicherheitsrelevanten Gründen nicht vertretbar ist. Gemäß § 57b Abs. 2 S. 5 AtG ist dies insbesondere der Fall, wenn die Grenzwerte der Strahlenschutzverordnung5 nicht eingehalten werden können. Kann die Rückholung oder andere Varianten der Stilllegung nur unter Verstoß gegen gesetzliche Anforderungen erfolgen, so ist nach § 57b Abs. 2 S. 6 AtG „die Schachtanlage Asse II mit der nach einer Abwägung der Vor- und Nachteile bestmöglichen Option stillzulegen“. Vor dem Abbruch der Rückholung oder der Stilllegung ohne Durchführung der Rückholung muss nach § 57b Abs. 2 S. 7 AtG der Deutsche Bundestag von dem für die kerntechnische Sicherheit und den Strahlenschutz zuständigen Bundesministerium unterrichtet werden. Außerdem muss das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung der Öffentlichkeit Gelegenheit zur Stellungnahme geben. Diese Anforderungen gelten nur, sofern kein sofortiges Handeln erforderlich ist. Die Unterrichtungspflicht gegenüber dem Bundestag soll die parlamentarische Kontrolle erleichtern. Eine Zustimmungspflicht des Bundestages besteht nicht.6 1 Zehntes Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes vom 17. März 2009 (BGBl. I S. 556). 2 Gesetz zur Beschleunigung der Rückholung radioaktiver Abfälle und der Stilllegung der Schachtanlage Asse II vom 20. April 2013 (BGBl. I S. 921). Siehe vertiefend Gaßner/Buchholz, Lex Asse – Gesetz zur Beschleunigung der Rückholung radioaktiver Abfälle und der Stilllegung der Schachtanlage Asse II, in: ZUR 2013, 336. 3 Bundesgesellschaft für Endlagerung, Schachtanlage Asse II – Stand der Arbeiten zur Rückholung, Juli 2018, S. 9, abrufbar unter https://www.bge.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Asse/20180802-BGE_Asse_Broschuere _barrierefrei.pdf (Stand: 31. Januar 2019). 4 Vgl. BT-Drs. 17/11822. 5 Vom 20. Juli 2001 (BGBl. I S. 1714; 2002 I S. 1459), zuletzt geändert durch Artikel 5 Absatz 7 des Gesetzes vom 24. Februar 2012 (BGBl. I S. 212). 6 Gaßner/Buchholz, Lex Asse – Gesetz zur Beschleunigung der Rückholung radioaktiver Abfälle und der Stilllegung der Schachtanlage Asse II, in: ZUR 2013, 336 (342). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 005/20 Seite 4 Der Sachstand befasst sich mit der Frage, ob und auf welche Weise Bürger, Gemeinden, Umweltverbände oder der Deutsche Bundestag das Verfahren der Rückholung der radioaktiven Abfälle überprüfen können. 2. Handlungsmöglichkeiten für Bürger Es existiert kein behördliches oder gerichtliches Verfahren, mit dem der Bürger bewirken könnte, dass das Vorgehen einer Behörde abstrakt überprüft wird. Insbesondere hat der Bürger keinen allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch.7 Voraussetzung eines Antrags im Verwaltungsverfahren oder einer Klageerhebung ist vielmehr, dass dem Bürger ein subjektiv-öffentliches Recht zusteht, auf das er einen Anspruch gründen kann. Dem Bürger müsste folglich ein Anspruch auf Durchführung der Rückholung nach § 57b Abs. 2 S. 3 AtG zustehen. Voraussetzung dafür wäre, dass es sich um eine sogenannte drittschützende Norm handelt. Eine öffentlich-rechtliche Norm ist drittschützend , wenn sie nicht nur öffentlichen Interessen dient, sondern auch Individualinteressen schützen soll.8 § 57b Abs. 2 AtG regelt die Modalitäten der Stilllegung der Schachtanlage. Bei § 57b Abs. 2 S. 3 AtG handelt es sich um einen gesetzlichen Auftrag an die zuständige Betreibergesellschaft , die Rückholung der radioaktiven Abfälle durchzuführen, sofern dies aus radiologischen oder sonstigen sicherheitsrelevanten Gründen vertretbar ist. Die Norm betrifft daher nur das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Betreiber der Anlage. Interessen des Bürgers dürften nur in Bezug auf die Einhaltung der Strahlenbelastung nach § 57b Abs. 2 S. 5 AtG in Betracht kommen. Im Übrigen ist nicht ersichtlich, dass die Norm Interessen des Einzelnen schützen soll. Mangels Drittschutz der Norm steht dem Einzelnen daher kein Anspruch auf Durchführung der Rückholung zu. Ein behördliches oder gerichtliches Verfahren auf Überprüfung der Rückholung scheidet daher aus. In Betracht kommt allerdings die Möglichkeit, gemäß Art. 17 GG eine Petition an den Bundestag oder die zuständigen Behörden zu richten. Zudem können Bürger nach dem Umweltinformationsgesetz (UIG)9 bei der Regierung und anderen Stellen der öffentlichen Verwaltung Zugang zu Umweltinformationen verlangen. Zu den Umweltinformationen gehören nach § 2 Abs. 3 Nr. 2 UIG unter anderem Informationen über Abfälle aller Art sowie Emissionen, Ableitungen und sonstige Freisetzungen von Stoffen in die Umwelt, außerdem nach § 2 Abs. 3 Nr. 3 UIG Informationen über Maßnahmen und Tätigkeiten, die sich umweltrelevant auswirken oder wahrscheinlich auswirken. Zu Informationen, die keine Umweltinformationen darstellen, kann nach Maßgabe des Informationsfreiheitsgesetzes 10 Zugang verlangt werden. 7 Wahl, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, 37. EL Juli 2019, § Vorbemerkung zu § 42 Abs. 2 Rn. 70. 8 Wahl, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, 37. EL Juli 2019, § Vorbemerkung zu § 42 Abs. 2 Rn. 94. 9 In der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Oktober 2014 (BGBl. I S. 1643), zuletzt geändert durch Artikel 2 Absatz 17 des Gesetzes vom 20. Juli 2017 (BGBl. I S. 2808). 10 Gesetz zur Regelung des Zugangs zu Informationen des Bundes (Informationsfreiheitsgesetz – IFG) vom 5. September 2005 (BGBl. I S. 2722), zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. November 2019 (BGBl. I S. 1626, 1631). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 005/20 Seite 5 3. Handlungsmöglichkeiten für Gemeinden Ein behördliches oder gerichtliches Vorgehen einer Gemeinde setzt voraus, dass sie in eigenen Rechten betroffen ist. Dies wäre zum einen der Fall, wenn in das Recht auf kommunale Selbstverwaltung nach Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG eingegriffen wird. Zum anderen kann sich das Recht aus einer Norm ergeben, die unter anderem dem Schutz der Gemeinden dient. Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG berechtigt die Gemeinden, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Dies umfasst solche Aufgaben, die das Zusammenleben der Menschen in einer Gemeinde betreffen.11 Die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft sind abzugrenzen von den überörtlichen öffentlichen Aufgaben.12 Bei atomrechtlichen Angelegenheiten handelt es sich um überörtliche öffentliche Aufgaben. Die Zuständigkeit für solche Angelegenheiten liegt nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 14 GG ausschließlich beim Bund. Ein Eingriff in das Recht auf kommunale Selbstverwaltung scheidet daher aus. Eine Betroffenheit in eigenen Rechten könnte sich allerdings aus einer Norm ergeben, die unter anderem dem Schutz der Gemeinden dient. Bei verschiedenen Verfahren nach dem AtG haben betroffene Gemeinden das Recht zur Stellungnahme. Dies betrifft etwa nach § 7Abs. 4 AtG das Genehmigungsverfahren für kerntechnische Anlagen. In Bezug auf die Rückholung der radioaktiven Abfälle nach § 57b Abs. 2 S. 3 AtG wurden den Gemeinden allerdings keine Rechte eingeräumt. Eine Betroffenheit in eigenen Rechten scheidet daher aus. Ein behördliches oder gerichtliches Vorgehen einer Gemeinde dürfte somit nicht in Betracht kommen. 4. Handlungsmöglichkeiten für Umweltverbände Für anerkannte Umweltverbände besteht nach dem Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz (UmwRG) und dem Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) die Möglichkeit, Rechtsbehelfe gegen bestimmte behördliche Entscheidungen einzulegen.13 Das Besondere an diesen Rechtsbehelfen ist, dass sie keine Verletzung subjektiv-öffentlicher Rechte voraussetzen.14 Vielmehr soll im Sinne einer objektiven Rechtskontrolle die Einhaltung des Umweltrechts geprüft werden.15 Die Berechtigung der Umweltverbände zur Einlegung eines umweltrechtlichen Rechtsbehelfs ist jedoch begrenzt auf die in § 2 UmwRG oder § 64 BNatSchG festgelegten Fälle. In Bezug auf die Rückholung der radioaktiven Abfälle nach § 57b Abs. 2 S. 3 AtG ist kein möglicher Rechtsbehelf ersichtlich. Ein behördliches oder gerichtliches Vorgehen von Umweltverbänden dürfte daher ausscheiden. 11 Schwarz, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 173. 12 Hellermann, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, 42. Edition Stand: 1. Dezember 2019, Art. 28 Rn. 41. 13 Siehe vertiefend die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Die Verbandsklage im Naturschutz- und Umweltrecht, WD 7 - 3000 - 208/18. 14 Fellenberg/Schille, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, 90. EL Juni 2019, Vorbemerkung zum UmwRG Rn. 3. 15 Fellenberg/Schille, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, 90. EL Juni 2019, Vorbemerkung zum UmwRG Rn. 5. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 005/20 Seite 6 5. Handlungsmöglichkeiten für den Deutschen Bundestag Der Bundestag kann die Rückholung der radioaktiven Abfälle im Rahmen seiner Kontrolle über die Bundesregierung im zuständigen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit bzw. im Plenum behandeln. Es besteht auch die Möglichkeit, einen schlichten Parlamentsbeschluss an die Bundesregierung zu richten. Darunter versteht man solche Parlamentsbeschlüsse, die nicht im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens ergehen und an die durch Verfassung oder Gesetz auch keine sonstigen Rechtsfolgen geknüpft werden.16 Es handelt sich dabei oft um Stellungnahmen zu aktuellen Ereignissen, politische Absichtserklärungen oder Ersuchen an die Regierung.17 Trotz der fehlenden Verbindlichkeit wird diesen Beschlüssen eine nicht unerhebliche politische Bedeutung zugemessen.18 Ferner bestünde die Möglichkeit, nach Art. 44 GG einen Untersuchungsausschuss zur Aufklärung des Sachverhalts einzusetzen. Dessen Untersuchungsrecht erstreckt sich allerdings nur auf Bundesaufgaben . Der niedersächsische Landtag hat sich von 2009 bis 2012 bereits in einem Untersuchungsausschuss mit der Schachtanlage Asse II befasst.19 Gegenstand der Untersuchung war unter anderem die Frage, „welche Folgen die Ereignisse in der Schachtanlage Asse II hinsichtlich der Schließung der Anlage, der Rückholbarkeit der eingelagerten Stoffe und der Sicherheit der Bevölkerung in der Region hatten, haben oder haben können“.20 Letztlich kann der Gesetzgeber (unter Beachtung der Verfassung) erneut § 57b AtG ändern und seinen Vorstellungen so Gesetzeskraft verleihen. *** 16 Vgl. Klein, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrecht, Band III, 3. Aufl. 2005, § 50 Rn. 13 f. 17 Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), GG, 14. Aufl. 2018, Art. 40 Rn. 34. 18 Klein, in: Isensee/Kirchhoff (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 3. Aufl. 2005, § 50 Rn. 14. 19 Siehe dazu den Abschlussbericht des 21. Parlamentarischen Untersuchungsausschusses, Drs. 16/5300, abrufbar unter https://www.bundestag.de/endlager-archiv /blob/286700/df7d7e083edf0619ac153225b11277f8/kmat_03_ua_asse2-data.pdf (Stand: 31. Januar 2020). 20 Drs. 16/5300, S. 10.