© 2018 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 005/18 Ausschluss der Wählbarkeit zum Deutschen Bundestag bei doppelter Staatsangehörigkeit – Nachfrage zu WD 3 – 3000 – 224/17 Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 005/18 Seite 2 Ausschluss der Wählbarkeit zum Deutschen Bundestag bei doppelter Staatsangehörigkeit – Nachfrage zu WD 3 – 3000 – 224/17 Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 005/18 Abschluss der Arbeit: 12.01.2018 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 005/18 Seite 3 1. Einleitung Die Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 224/17 behandelt den Ausschluss der Wählbarkeit zum Deutschen Bundestag von Personen, die neben der deutschen auch eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzen.1 Konkret wird geprüft, welche verfassungsrechtlichen Vorgaben bei einem Wählbarkeitsausschluss durch einfaches Gesetz zu beachten sind. Da ein solcher Wählbarkeitsausschluss den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl in Bezug auf das passive Wahlrecht beeinträchtigt (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG), gelten hohe Rechtfertigungsanforderungen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedarf es eines „besonderen, sachlich legitimierten Grundes“, der „durch die Verfassung legitimiert und von mindestens gleichem Gewicht wie die Allgemeinheit der Wahl“ ist.2 Ob die Vermeidung von potentiellen Loyalitätskonflikten einen solchen Grund darstellt, wird in der Ausarbeitung näher diskutiert. Vor diesem Hintergrund wird gefragt, welche verfassungsrechtlichen Vorgaben zu beachten sind, wenn der Wählbarkeitsausschluss für Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit nicht durch einfaches Gesetz, sondern durch eine Verfassungsänderung geregelt würde. Dabei soll insbesondere geklärt werden, ob bei einer Verfassungsänderung die o.g. hohen Rechtfertigungsanforderungen des Bundesverfassungsgerichts für Beeinträchtigungen des passiven Wahlrechts (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG) gelten. 2. Maßstab für Verfassungsänderungen Der Maßstab für Verfassungsänderungen folgt aus Art. 79 GG. In formeller Hinsicht ist dabei zunächst die Vorgabe des Art. 79 Abs. 1 GG zu nennen, wonach das Grundgesetz nur durch ein Gesetz geändert werden kann, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt . Ferner bedarf ein verfassungsänderndes Gesetz nach Art. 79 Abs. 2 GG der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates . In materieller Hinsicht sind verfassungsändernde Gesetze an der Schranke des Art. 79 Abs. 3 GG zu messen. Die sog. Ewigkeitsgarantie schließt die Änderung bestimmter Grundsätze des Grundgesetzes dauerhaft aus. Den geschützten Verfassungskern bilden dabei die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung und die in den Artikeln 1 und 20 des Grundgesetzes niedergelegten Grundsätze. Gemäß Art. 79 Abs. 3 GG dürfen die genannten Grundsätze nicht „berührt“ werden. Eine solche „Berührung“ wird lediglich bei prinzipieller Preisgabe angenommen.3 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts werden die Grundsätze als solche von vornherein nicht berührt, wenn ihnen im Allgemeinen Rech- 1 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Ausschluss der Wählbarkeit zum Deutschen Bundestag bei doppelter Staatsangehörigkeit (WD 3 – 3000 – 224/17). 2 Vgl. Wissenschaftliche Dienste (Fn. 1), 5 mit Verweis auf BVerfGE 132, 39, 48. 3 BVerfGE 30, 1, 24; siehe aber auch die Kritik im Sondervotum, BVerfGE 30, 1, 33, 41 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 005/18 Seite 4 nung getragen wird und sie nur für eine Sonderlage entsprechend deren Eigenart aus sachgerechten Gründen modifiziert werden.4 Weitere konkrete Anhaltspunkte dafür, wo die Grenze zwischen unzulässiger prinzipieller Preisgabe und zulässiger Modifikation der geschützten Grundsätze aus sachgerechten Gründen im Einzelfall verläuft, lassen sich der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedoch nicht entnehmen.5 Eine gewisse Orientierung ergibt sich einerseits daraus, dass die Vorschrift des Art. 79 Abs. 3 GG aufgrund ihres Ausnahmecharakters und der durch sie hervorgerufenen Beschränkung der Volkssouveränität eng auszulegen ist.6 Auf der anderen Seite dürfte Art. 79 Abs. 3 GG auch darauf gerichtet sein, die Grundsätze vor einem „allmählichen Zerfallsprozess“ zu schützen, mit der Folge, dass eine prinzipielle Preisgabe auch dann in Betracht kommen kann, wenn die Anwendung der geschützten Grundsätze in bedeutenden Teilbereichen ausgeschlossen wird.7 3. Vorgaben für einen verfassungsrechtlichen Wählbarkeitsausschluss Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG wird in Art. 79 Abs. 3 GG zwar nicht ausdrücklich genannt. Doch gehört er zu den Grundsätzen des Demokratieprinzips, die in den Anwendungsbereich der Ewigkeitsgarantie fallen.8 Fraglich ist also, ob ein Wählbarkeitsausschluss bei doppelter Staatsangehörigkeit die Allgemeinheit der Wahl als einen Grundsatz des Demokratieprinzips berühren würde. Eine prinzipielle Preisgabe des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl durch einen Wählbarkeitsausschluss steht jedenfalls dann nicht in Frage, wenn die betroffenen Doppelstaater durch Aufgabe ihrer ausländischen Staatsangehörigkeit ihre Wählbarkeit „wiederherstellen“ können. In diesem Fall kommt es nach den o.g. Kriterien darauf an, ob der Wählbarkeitsausschluss die Allgemeinheit der Wahl aus sachgerechten Gründen modifizieren würde. Wie bereits in der in Bezug genommenen Ausarbeitung ausgeführt, könnte zur Rechtfertigung eines Wählbarkeitsausschlusses auf die Vermeidung von Loyalitätskonflikten abgestellt werden, denen Abgeordnete mit einer weiteren ausländischen Staatsangehörigkeit möglicherweise unterliegen. Verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt wäre die Gewährleistung der freien Mandatsausübung nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG.9 Die für den einfachen Gesetzgeber zu beachtenden weiteren Anforderun- 4 Siehe BVerfGE 30, 1, 24; E 109, 279, 310. 5 Zu den Auslegungsschwierigkeiten bei der Konkretisierung des änderungsfesten Kerns der geschützten Grundsätze Evers, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Stand: Oktober 1982), Rn. 149 ff. zu Art. 79 Abs. 3. 6 BVerfGE 30, 1, 25; BVerfGE 109, 279, 310. 7 Vgl. dazu das Sondervotum zu BVerfGE 39, 1, 33, 41 f. 8 Siehe nur Sachs, in: Sachs, GG (7. Aufl., 2014), Rn. 70 zu Art. 79 und Dreier, in: Dreier, GG (3. Aufl., 2015), Rn. 38 zu Art. 79 III – jeweils m.w.N. 9 Wissenschaftliche Dienste (Fn. 1), 6. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 005/18 Seite 5 gen an einen solchen Rechtfertigungsgrund, namentlich seine besondere Bedeutung und sein besonderes Gewicht,10 können jedoch nicht lediglich auf den verfassungsändernden Gesetzgeber übertragen werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist „Art. 79 Abs. 3 GG […] eine eng auszulegende Ausnahmevorschrift, die den verfassungsändernden Gesetzgeber nicht hindert, die positivrechtlichen Ausprägungen dieser Grundsätze aus sachgerechten Gründen zu modifizieren (…).“11 Nach diesen Maßgaben dürfte ein in der Verfassung verankerter Ausschluss der Wählbarkeit bei doppelter Staatsangehörigkeit nicht von vornherein gegen Art. 79 Abs. 3 GG verstoßen.12 Zu beachten ist aber, dass die Schwelle zu einer – mit Art. 79 Abs. 3 GG unvereinbaren – prinzipiellen Preisgabe und zur sachwidrigen Modifikation der Allgemeinheit der Wahl in bestimmten Konstellationen überschritten sein könnte. So würde ein Wählbarkeitsausschluss für Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit, die ihre ausländische Staatsangehörigkeit zwar aufgeben wollen , dies nach dem Recht oder nach der Praxis des ausländischen Staates aber nicht oder nicht zumutbar können,13 dazu führen, dass die Betroffenen auch bei einer „Loyalitätsentscheidung“ zugunsten der deutschen Staatsangehörigkeit nicht wählbar wären. Eine bestimmte Gruppe von Deutschen wäre damit von der Wahrnehmung des passiven Wahlrechts ausgeschlossen. Zudem dürfte in solchen Konstellationen die Basis für die Annahme von Loyalitätskonflikten von vornherein fehlen. In Bezug auf die konkrete Ausgestaltung eines Wählbarkeitsausschlusses bei doppelter Staatsangehörigkeit wären also auch Begrenzungen in Betracht zu ziehen.14 *** 10 Vgl. Fn. 2. 11 BVerfGE 109, 279, 310, Hervorhebung nicht im Original. 12 Zweifel bestehen aber, ob die Vermeidung von Loyalitätskonflikten ein hinreichend bedeutsamer und gewichtiger Grund für eine Einschränkung der Allgemeinheit der Wahl durch den einfachen Gesetzgeber darstellt, vgl. Wissenschaftliche Dienste (Fn. 1), 6 ff. 13 Zu den Fällen, in denen ein Ausscheiden aus der ausländischen Staatsangehörigkeit rechtlich oder faktisch unmöglich ist oder ein Ausscheiden als unzumutbar angesehen wird vgl. die Vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum Staatsangehörigkeitsgesetz, abrufbar unter: https://www.dortmund .de/media/p/oednungsamt/ordnungsamt/Allgemeine_Verwaltungsvorschrift_zum_Staatsangehoerigkeitsrecht .pdf, 32 ff. 14 Zur Frage, ob solche Begrenzungen in die Verfassungsnorm selbst aufzunehmen wären oder auch im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung ermittelt werden könnten siehe BVerfGE 109, 279, 316 f. und Sondervotum zu BVerfGE 109, 279, 382, 386.