© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 002/20 Beteiligung der Länder an einem Referendum auf Bundesebene Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 002/20 Seite 2 Beteiligung der Länder an einem Referendum auf Bundesebene Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 002/20 Abschluss der Arbeit: 14. Januar 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 002/20 Seite 3 1. Fragestellung Der Sachstand befasst sich mit der Frage, ob die Länder an einem auf Bundesebene eingeführten Referendum zwingend zu beteiligen wären und wie eine solche Beteiligung ausgestaltet sein müsste. Ferner wird untersucht, ob eine Beteiligung der Länder nach dem Vorbild des sogenannten Schweizer Ständemehrs verfassungsrechtlich zulässig wäre. 2. Einführung von Referenden auf Bundesebene Der Begriff “Referendum“ bezeichnet die Entscheidung des Volkes über eine Sachfrage.1 Der Begriff wird im Folgenden als Oberbegriff für die verschiedenen und vielfach uneinheitlich verwendeten2 Begriffe, mit denen die Erscheinungsformen der direkten Demokratie bezeichnet werden (wie etwa Plebiszit, Volksbegehren, Volksentscheid, Volksinitiative, Volksabstimmung), angewandt. Grundsätzlich lassen sich Referenden einteilen in die rechtlich verbindliche Volksgesetzgebung (Volksbegehren, Volksentscheid) und in rein konsultative Volksbefragungen, die die Meinung der Bevölkerung zu einer bestimmten Frage erheben sollen, ohne eine rechtliche Bindungswirkung zu entfalten.3 Der Sachstand beschränkt sich auf Ausführungen zur Volksgesetzgebung. Die Verfassungen aller Bundesländer sehen Elemente direkter Demokratie vor.4 Für die Bundesebene gilt: In Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz (GG) ist verankert, dass das Volk die Staatsgewalt in „Wahlen und Abstimmungen“ ausübt. Abstimmungen sieht das Grundgesetz allerdings nur in bestimmten Einzelfällen vor. So werden in Art. 29 GG die direktdemokratischen Mittel der Volksbefragung , des Volksbegehrens und des Volksentscheids für eine Neugliederung des Bundesgebietes (sogenannte Territorialplebiszite) genannt. Die Volksbefragung wird auch in dem allein aus verfassungshistorischen Gründen im Grundgesetz weiterhin enthaltenen, inhaltlich aber obsoleten Art. 118 GG erwähnt, der sich mit der Neugliederung im Südwesten Deutschlands befasst.5 Nach herrschender Meinung können Elemente direkter Demokratie, soweit es um die Volksgesetzgebung geht, nur durch Verfassungsänderung eingeführt werden.6 Bei einer Verfassungsänderung wäre die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG zu beachten, die die Grundsätze festlegt, die bei einer Verfassungsänderung nicht angetastet werden dürfen. Nach ganz herrschender Meinung steht 1 Hölscheidt/Menzenbach, Referenden in Deutschland und Europa, in: DÖV 2009, 777 (777). 2 Vgl. Büsching, Angst vor dem Volk, 2004, S. 21. 3 Vgl. Dreier, in: ders., GG, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rn. 106 f. 4 Meyer, Volksabstimmungen im Bund: Verfassungslage nach Zeitgeist?, in: JZ 2012, 538 (539). 5 Remmert, in: Maunz/Dürig, GG, 88. EL August 2019, Art. 118 Rn. 1. 6 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 88. EL August 2019, Art. 20 Rn. 113; Dreier, in: ders. GG, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rn. 106. Umstritten ist die Erforderlichkeit der Verfassungsänderung bei unverbindlichen Volksbefragungen ; dafür etwa Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 162; Hufschlag, Einfügung plebiszitärer Komponenten in das Grundgesetz?, 1999, 112; dagegen etwa Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 88. EL August 2019, Art. 20 Rn. 113; Dreier, in: ders. GG, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rn. 106; Hölscheidt/ Menzenbach, Referenden in Deutschland und Europa, in: DÖV 2009, 777 (779 f.). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 002/20 Seite 4 Art. 79 Abs. 3 GG der Einführung von Referenden auf Bundesebene nicht entgegen.7 Die Einführung ist daher verfassungsrechtlich grundsätzlich möglich.8 Voraussetzung ist, dass der in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG vorausgesetzte repräsentative Charakter der Demokratie grundsätzlich erhalten bleibt.9 3. Beteiligung der Länder an einem Referendum auf Bundesebene Zu den in Art. 79 Abs. 3 GG genannten Prinzipien gehört unter anderem „die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung“. Nach wohl herrschender Ansicht folgt aus der Tatsache, dass die Mitwirkung nur „grundsätzlich“ erfolgen muss, die Möglichkeit zum Ausschluss der Mitwirkung.10 Diese Möglichkeit wird aber nur für absolute Ausnahmefälle angenommen.11 Der Ausschluss bedürfe zudem hinreichender sachlicher Gründe.12 Als mögliches Beispiel werden etwa Bundesgesetze genannt, die nicht durch die Länder, sondern durch den Bund selbst ausgeführt werden.13 Für die Volksgesetzgebung wird hingegen nach herrschender Meinung angenommen , dass die Länder beteiligt werden müssten.14 Auf welche Weise und in welchem Umfang die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung erfolgen muss, ist allerdings verfassungsrechtlich nicht festgelegt.15 Die in Art. 76 ff. GG statuierte Mitwirkung der Länder durch den Bundesrat ist daher nicht zwingend.16 Folglich könnten auch andere Formen der Mitwirkung der Länder eingeführt werden, solange diese von 7 Dreier, in: ders., GG, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rn. 105 m.w.N.; Hölscheidt/Menzenbach, Referenden in Deutschland und Europa, in: DÖV 2009, 777 (777) m.w.N. 8 Vgl. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 88. EL August 2019, Art. 20 Rn. 115; Dreier, in: ders. GG, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rn. 106. 9 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 88. EL August 2019, Art. 20 Rn. 115. 10 Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, 88. EL August 2019, Art. 79 Rn. 99; Sachs, in: ders., GG, 8. Aufl. 2018, Art. 79 Rn. 47; Dreier, in: ders., GG, 3. Aufl. 2015, Art. 79 Rn. 23; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art. 79 Rn. 14; dagegen Hain, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 79 Rn. 133, Fn. 465. 11 Vgl. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, 88. EL August 2019, Art. 79 Rn. 99; Sachs, in: ders., GG, 8. Aufl. 2018, Art. 79 Rn. 47; Dreier, in: ders., GG, 3. Aufl. 2015, Art. 79 Rn. 23. 12 Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, 88. EL August 2019, Art. 79 Rn. 99. 13 Engelken, Volksgesetzgebung auf Bundesebene und die unantastbare Ländermitwirkung nach Art. 79 Abs. 3 GG, in: DÖV 2006, 550 (553). 14 Engelken, Volksgesetzgebung auf Bundesebene und die unantastbare Ländermitwirkung nach Art. 79 Abs. 3 GG, in: DÖV 2006, 550 (551, 553); Meyer, Volksabstimmungen im Bund: Verfassungslage nach Zeitgeist?, in: JZ 2011, 538 (543); Kühling, Volksgesetzgebung und Grundgesetz – „Mehr direkte Demokratie wagen“?, in: JuS 2009, 777 (779 ff.); a.A. Sachs, in: ders., GG, 8. Aufl. 2018, Art. 79 Rn. 47, der davon ausgeht, die Ländermitwirkung könne bei der Volksgesetzgebung ausgeschlossen werden, solange diese „exzeptionellen Charakter“ behalte. 15 Hain, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 79 Rn. 133; Dietlein, in : Epping/Hillgruber, BeckOK GG, 41. Edition Stand: 15. Februar 2019, Art. 79 Rn. 25. 16 Vgl. Hain, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 79 Rn. 133; Meyer, Volksabstimmungen im Bund: Verfassungslage nach Zeitgeist?, in: JZ 2011, 538 (543). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 002/20 Seite 5 hinreichend substantiellem Gewicht wären und die Länder nicht zu einer vernachlässigenswerten Größe reduziert würden.17 Eine Vetomöglichkeit der Länder wird nicht als zwingend angesehen; erforderlich sei aber mehr als eine bloße Anhörung.18 4. Prinzip des Schweizer Ständemehrs als Vorbild19 Für eine mögliche Mitwirkung der Länder an Bundesreferenden wurden sowohl in der Literatur als auch in der parlamentarischen Praxis verschiedene Vorschläge gemacht.20 Während der rotgrünen Koalition gab es erstmals eine Regierungsinitiative zur Volksgesetzgebung. Im Jahr 2002 legten die damaligen Regierungsfraktionen einen Gesetzentwurf21 zur Einführung von Volksinitiative , Volksbegehren und Volksentscheid in das Grundgesetz vor, der aber die erforderliche Zweidrittelmehrheit im Bundestag nicht erreichte. Der Entwurf lehnt sich an Art. 142 Abs. 2 und 3 der Schweizer Bundesverfassung an, wonach Vorlagen, die Volk und Ständen (Kantonen) zur Abstimmung unterbreitet werden, angenommen sind, wenn die Mehrheit der Abstimmenden und die Mehrheit der Stände sich dafür aussprechen, wobei das Ergebnis der Volksabstimmung in einem Kanton als dessen Standesstimme gilt (sogenanntes Ständemehr). Im Gesetzentwurf heißt es unter Art. 82c GG (Volksentscheid): „[…] (3) Ein Gesetzentwurf ist angenommen, wenn die Mehrheit der Abstimmenden zugestimmt hat und mindestens zwanzig vom Hundert der Stimmberechtigten sich an der Abstimmung beteiligt haben. (4) Ein verfassungsändernder Gesetzentwurf ist angenommen, wenn zwei Drittel der Abstimmenden zugestimmt und mindestens vierzig vom Hundert der Stimmberechtigten sich an der Abstimmung beteiligt haben. (5) Bei Gesetzen, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen und bei verfassungsändernden Gesetzen gilt das Ergebnis der Abstimmung in einem Land als Abgabe seiner Bundesratsstimme .“ 17 Dreier, in: ders., GG, 3. Aufl. 2015, Art. 79 Rn. 23. 18 Dreier, in: ders., GG, 3. Aufl. 2015, Art. 79 Rn. 24. 19 Die Ausführungen dieses Abschnitts entstammen teilweise der Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene, WD 3 - 3000 - 005/14, S. 7 ff. 20 Siehe für einige Beispiele Engelken, Volksgesetzgebung auf Bundesebene und die unantastbare Ländermitwirkung nach Art. 79 Abs. 3 GG, in: DÖV 2006, 550 (554 f.). 21 BT-Drs. 14/8503. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 002/20 Seite 6 Diese Lösung wird im Gesetzentwurf wie folgt begründet22: „Diese Regelung trägt dem bundesstaatlichen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland Rechnung . Vorbild für die Länderbeteiligung beim Volksentscheid ist das bewährte Modell des schweizerischen ‚Volks- und Ständemehr‘ (Artikel 142 Abs. 3 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft). Bei Verfassungsänderungen und bei Gesetzen, die im parlamentarischen Verfahren der Zustimmung des Bundesrates bedürften (zustimmungspflichtige Gesetze) werden die Stimmen doppelt gezählt: Das Ergebnis in einem Land gilt als die Abgabe seiner Bundesratsstimmen. Demnach muss bei zustimmungspflichtigen Gesetzen die Mehrheit der Abstimmenden in so vielen Ländern dem Gesetzentwurf zustimmen, dass deren Stimmen einer Mehrheit im Bundesrat entsprechen. Bei Verfassungsänderungen ist die Mehrheit in so vielen Ländern erforderlich, dass deren Stimmen einer Zweidrittelmehrheit im Bundesrat entsprechen . Diese Regelung fügt den Volksentscheid in das föderale System der Bundesrepublik Deutschland ein. Die Gewichtung der Bundesländer im Bundesrat bei der parlamentarischen Gesetzgebung setzt sich im Abstimmungsverfahren des Volksentscheids fort. Die erforderliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung (Artikel 79 Abs. 3) ist hierdurch sichergestellt. Denn Artikel 79 Abs. 3 erklärt nur die grundsätzliche Mitwirkung für unantastbar und garantiert weder den bisherigen Umfang noch das bestehende Verfahren der ausschließlichen Mitwirkung durch den Bundesrat. Da beim Volksentscheid die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar und nicht vermittelt durch Repräsentativorgane entscheiden, kann die Mitwirkung der Länder ebenfalls nur unmittelbar erfolgen. Die Berücksichtigung der Abstimmungsergebnisse in den einzelnen Bundesländern realisiert somit deren erforderliche Mitwirkung.“ Weitere parlamentarische Initiativen sind diesem Muster des doppelten Länderquorums zur Gewährleistung der Länderbeteiligung gefolgt,23 sodass diese Lösung seither in der Parlamentspraxis als Standardmodell zur Verwirklichung des föderalen Aspekts in Gesetzentwürfen zur Einführung einer Volksgesetzgebung auf Bundesebene bezeichnet werden kann.24 4.1. Teilweise bestehende Ansicht: keine hinreichende Mitwirkung der Länder Zum Teil wird bezweifelt, dass eine Regelung nach dem Vorbild des Schweizer Ständemehrs eine Art. 79 Abs. 3 GG entsprechende Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung gewährleisten würde.25 22 BT-Drs. 14/8503, S. 6. 23 Mit Abweichungen im Detail: Gesetzentwurf der Fraktion der FDP, BT-Drs. 16/474; Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, BT-Drs. 16/680; Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke, BT-Drs. 16/1411; Gesetzentwurf der Fraktion der SPD, BT-Drs. 17/13873. 24 Jung, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Band II, 2012, § 35 Rn. 49. 25 Engelken, Volksgesetzgebung auf Bundesebene, in: DÖV 2006, 550 (552, Fn. 16); Estel, Bundesstaatsprinzip und direkte Demokratie im Grundgesetz, 2006, 295 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 002/20 Seite 7 Der Verfassungsgesetzgeber habe bei der Formulierung von Art. 79 Abs. 3 GG die Länder als unterscheidbare , eigenständige Handlungssubjekte vor Augen gehabt. Die bloße Fiktion einer Bundesratsstimme über ein Teilergebnis eines bundesweiten Volksentscheids in einem Land sei in diesem Sinne nicht ausreichend.26 Zudem dürfe das jeweilige Landesvolk nicht mit einem Teil des Bundesvolkes gleichgesetzt und letzteres nicht als Summe der Landesvölker angesehen werden. Da den Bürgern nur eine Stimme gegeben werde, scheide eine Rückführbarkeit der ausgeübten Staatsgewalt auf eine der beiden Ebenen aus.27 Außerdem sei das Vorliegen einer „Mitwirkung“ im Sinne des Art. 79 Abs. 3 GG bei dieser Lösung zu bezweifeln, weil es nicht um ein aktives Eingreifen in den Gesetzgebungsprozess gehe, sondern um eine rein rechnerische Komponente ohne Mitgestaltungsmöglichkeit .28 Das schweizerische Modell sei mangels ausreichender Vergleichbarkeit mit dem deutschen Föderalismus nicht übertragbar, weil es in der Schweiz zum einen keine Bestimmung gebe, die mit Art. 79 Abs. 3 GG vergleichbar sei29 und zum anderen aufgrund der stärkeren föderalistischen Prägung der Bund dort nicht von einem einheitlichen Bundesvolk getragen werde, sondern bei einer Abstimmung auf Bundesebene wie ein Zusammenschluss der Kantonsvölker auftrete.30 Zum Teil ziehen die Verfechter dieser Auffassung die Konsequenz, dass die Volksgesetzgebung auf Bundesebene sowohl nach diesem Modell als auch bei einer Lösung über eine alternative Bundesratsbeteiligung nicht mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar wäre.31 Zum Teil wird nur die Lösung nach schweizerischem Vorbild abgelehnt. Für einzig praktikabel und auch mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar wird nach dieser Ansicht im Ergebnis der ausnahmsweise Verzicht der Länderbeteiligung bei der Volksgesetzgebung betrachtet, da die Verfassungsbestimmung nur von „grundsätzlicher Mitwirkung“ spreche und Plebiszite in der Verfassungswirklichkeit nicht so häufig seien, als dass eine fehlende Länderbeteiligung an diesem besonderen Gesetzgebungsverfahren eine umfassende Verschiebung der Gewichte zwischen Bund und Ländern in Richtung einer Schwächung der Länder bewirke.32 Anstelle der Mitwirkung bei der Gesetzgebung komme etwa eine Einbindung des Bundesrates über die Möglichkeit, einen Alternativvorschlag vorzulegen, in Betracht.33 Dies könnte ein probates Mittel zur Milderung bundesstaatlicher Auswirkungen darstellen.34 26 Engelken, Volksgesetzgebung auf Bundesebene, in: DÖV 2006, 550 (552). 27 Estel, Bundesstaatsprinzip und direkte Demokratie im Grundgesetz, 2006, 295 f. 28 Estel, Bundesstaatsprinzip und direkte Demokratie im Grundgesetz, 2006, 298. 29 Engelken, Volksgesetzgebung auf Bundesebene, in: DÖV 2006, 550 (552, Fn. 16). 30 Estel, Bundesstaatsprinzip und direkte Demokratie im Grundgesetz, 2006, 297. 31 Engelken, Volksgesetzgebung auf Bundesebene, in: DÖV 2006, 550 (555). 32 Estel, Bundesstaatsprinzip und direkte Demokratie im Grundgesetz, 2006, 300. 33 Estel, Bundesstaatsprinzip und direkte Demokratie im Grundgesetz, 2006, 300. 34 Estel, Bundesstaatsprinzip und direkte Demokratie im Grundgesetz, 2006, 301. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 002/20 Seite 8 4.2. Gegenansicht: Vereinbarkeit mit Art. 79 Abs. 3 GG Die wohl herrschende Meinung in der juristischen Literatur geht hingegen davon aus, dass eine Regelung zur Mitwirkung der Länder nach schweizerischem Vorbild mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar wäre.35 Eine so ausgestaltete Volksgesetzgebung entspreche der grundgesetzlichen Vorgabe der grundsätzlichen Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung. Bei einem doppelten Abstimmungsquorum nach schweizerischem Modell würde sowohl die Stimmbürgerschaft im Bund als auch in den Ländern organschaftlich tätig. 36 Durch die doppelte Stimmzählung erfolge eine hinreichende rechtliche Trennung zwischen dem Bundesvolk und den Landesvölkern.37 Die Schweiz eigne sich als Vergleichsland, auch wenn sich der dortige Föderalismus vom deutschen unterscheide.38 Tatsächlich wiesen die schweizerischen Kantone „ein viel höheres Maß an rechtlicher und tatsächlicher Verschiedenheit auf als die vergleichsweise stark homogenisierten deutschen Bundesländer“. Wenn bereits die mehr staatenbündisch organisierte Schweiz es ihren Kantonen zumute, dass das Ergebnis der Volksabstimmung im Kanton die Standesstimmen des Kantons ersetze , so müsse eine solche Lösung erst recht für das eher unitarisch organisierte Deutschland zulässig sein. Von der verfassungsrechtlichen Bewertung zu unterscheiden sei das rein verfassungspolitische Argument, dass die föderalen Strukturen durch die Einführung des schweizerischen Modells geschwächt würden, weil das abstimmende Volk bei einem Bund-Länder-Interessenkonflikt auf die Abgabe einer Stimme beschränkt sei und damit der Einfluss von Landesinteressen nicht in der gleichen Intensität Berücksichtigung fände wie bei den Mitwirkungsbefugnissen des Bundesrates.39 Eine Relativierung dieses Problems sei aber durch den quantitativen Vorrang des parlamentarischen gegenüber dem plebiszitären Gesetzgebungsverfahren gegeben.40 Zum Teil wird in diesem Kontext vorgeschlagen, dass der Bürger bei Referenden auf Bundesebene zwei Stimmzettel, jeweils einen für die Bundes- und für die Landesstimme, erhalten solle.41 35 Kühling, Volksgesetzgebung und Grundgesetz – „Mehr direkte Demokratie wagen“?, in: JuS 2009, 777 (780); Blasche, Die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung, 2006, 246 f.; Hufschlag, Einfügung plebiszitärer Komponenten in das Grundgesetz?, 1999, 123; Jung, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Band II, 2012, § 35 Rn. 54; Meyer, Volksabstimmungen im Bund: Verfassungslage nach Zeitgeist, in: JZ 2011, 538 (543). 36 Hufschlag, Einfügung plebiszitärer Komponenten in das Grundgesetz?, 1999, 124. 37 Kühling, Volksgesetzgebung und Grundgesetz – „Mehr direkte Demokratie wagen“?, in: JuS 2009, 777 (780). 38 Jung, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Band II, 2012, § 35 Rn. 54, dort auch zum Folgenden. 39 Hufschlag, Einfügung plebiszitärer Komponenten in das Grundgesetz?, 1999, 291. 40 Hufschlag, Einfügung plebiszitärer Komponenten in das Grundgesetz?, 1999, 291 f. 41 Jung, in: in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Band II, 2012, § 35 Rn. 56. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 002/20 Seite 9 Zudem wird kritisiert, dass die Vertreter der Gegenansicht die Länder lieber ganz auf eine Mitwirkung bei der Gesetzgebung verzichten lassen würden, als sie entsprechend dem schweizerischen Modell mitwirken zu lassen.42 Dem Föderalismus sei durch eine unvollkommene Lösung immer noch mehr gedient als durch einen völligen Verzicht. *** 42 Jung, in: in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Band II, 2012, § 35 Rn. 55.