© 2021 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 001/21 Fragen zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Ungleichbehandlungen von geimpften gegenüber ungeimpften Personen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 001/21 Seite 2 Fragen zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Ungleichbehandlungen von geimpften gegenüber ungeimpften Personen Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 001/21 Abschluss der Arbeit: 25. Januar 2021 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 001/21 Seite 3 1. Einleitung und Fragestellung Im Dezember 2020 hat die Phase I-A der nationalen Impfstrategie1 zur Bekämpfung der COVID-19 Pandemie begonnen. Diese zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass der Impfstoff nur in geringer Menge verfügbar ist und entsprechend der Priorisierungsempfehlung der Ständigen Impfkommission am Robert Koch-Institut („STIKO“) zunächst Risikopatienten und das medizinische Personal geimpft werden.2 Sobald es die vorhandenen Ressourcen zulassen, soll der Bevölkerung ein breitflächiges freiwilliges Impfangebot gemacht werden. Im Anschluss daran ist eine gesellschaftliche Debatte darüber entbrannt, ob es zulässig sein kann, geimpften Personen „Privilegien“ oder „Sonderrechte“ einzuräumen, die ungeimpften Personen verwehrt bleiben.3 Bereits jetzt haben einzelne Unternehmen angekündigt, ihre Dienstleistungen künftig nur Personen zur Verfügung zu stellen, die nachweisen können, dass sie geimpft sind.4 In diesem Zusammenhang wurde gefragt, welche Vor- und Nachteile öffentliche und nicht-öffentliche Stellen künftig von dem Nachweis abhängig machen dürfen, dass eine Person gegen das Corona- Virus geimpft wurde. Weiter wurde gefragt, welche dieser Vor- und Nachteile einfachgesetzlich zulässig sind und welche verfassungsrechtlich vorgegeben sind. Dabei soll auch auf öffentlichrechtlich beherrschte Unternehmen eingegangen werden. 2. Zulässigkeit von Einschränkungen gegenüber Geimpften § 32 Infektionsschutzgesetz (IfSG) ermächtigt die Landesregierungen, Rechtsverordnungen zum Schutz der Bevölkerung vor übertragbaren Krankheiten zu erlassen. Gemäß § 28 Abs. 1 S. 1, § 28a IfSG darf die zuständige Behörde darüber hinaus notwendige Schutzmaßnahmen treffen, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Adressat der Schutzmaßnahmen sind vorrangig Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider i.S.v. § 28 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 IfSG. Gleichwohl können Schutzmaßnahmen auch gegenüber sog. Nichtstörern ergriffen werden, d.h. solchen Personen, von denen keine Gefahr 1 Siehe dazu die Nationale Impfstrategie des Bundesministeriums für Gesundheit vom 6. November 2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Impfen/ImpfungenAZ/COVID-19/Impfstrategie_Covid19_Ueberblick .pdf?__blob=publicationFile (letzter Abruf 25. Januar 2021). 2 Siehe Mitteilung der Ständigen Impfkommission am Robert Koch-Institut, Beschluss der STIKO für die Empfehlung der COVID-19-Impfung vom 14. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Epid Bull/Archiv/2021/Ausgaben/02_21.pdf?__blob=publicationFile (letzter Abruf 25. Januar 2021). 3 Siehe bspw. ZEIT ONLINE vom 9. Januar 2021 abrufbar unter: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021- 01/corona-impfprivilegien-verfassung-arbeitsrecht-impfpflicht sowie ntv vom 31. Dezember 2021, abrufbar unter: https://www.n-tv.de/politik/Merz-fordert-mehr-Freiheiten-fuer-Geimpfte-article22263731.html (letzter Abruf jeweils 25. Januar 2021). 4 Siehe WirtschaftsWoche vom 29. Dezember 2020, abrufbar unter: https://www.wiwo.de/politik/deutschland /corona-impfung-politische-debatte-um-privilegien-fuer-geimpfte/26755024.html sowie Focus Online vom 30. Dezember 2020, abrufbar unter: https://www.focus.de/politik/deutschland/privilegien-fuer-geimpfte-politikwill -keine-impfpflicht-durch-die-hintertuer-doch-die-droht-bald-anzukommen_id_12820313.html (letzter Abruf jeweils 25. Januar 2021). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 001/21 Seite 4 ausgeht, eine übertragbare Krankheit weiterzuverbreiten.5 § 29 bis § 31 IfSG regeln die Beobachtung, die Absonderung und das berufliche Tätigkeitsverbot; diese Maßnahmen können allerdings nicht gegenüber sog. Nichtstörern angeordnet werden.6 Wie alle staatlichen Grundrechtseingriffe bedürfen auch die zum Infektionsschutz ergriffenen Maßnahmen stets einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Insbesondere muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt werden. Die Frage nach „Sonderrechten“ oder „Privilegierungen“ für geimpfte Personen ist daher untrennbar mit der Frage verknüpft, inwieweit die Aufrechterhaltung grundrechtseinschränkender Maßnahmen zum Infektionsschutz gegenüber geimpften Personen überhaupt verfassungsrechtlich zulässig ist. Letztere Frage wiederum ist insbesondere davon abhängig, ob von geimpften Personen weiterhin eine Gefahr ausgeht, den Krankheitserreger weitergeben zu können. 2.1. Ungeklärter Umfang und ungeklärte Dauer der Impfwirkung Die Frage nach der Wirkung des Impfschutzes kann nach derzeitigem Stand der Wissenschaft noch nicht eindeutig beantwortet werden. Es steht derzeit nicht fest, ob der neue Impfstoff auch verhindert, dass geimpfte Personen weiterhin infektiös sind. Der Präsident des Paul-Ehrlich- Instituts (PEI), Klaus Cichutek, dämpfte zuletzt die Hoffnung, dass Geimpfte nicht mehr infektiös seien.7 Der Hersteller des bereits erhältlichen Impfstoffes Biontech/Pfizer hat angekündigt, zu dieser Frage im Februar 2021 Studienergebnisse zu veröffentlichen.8 Das Robert Koch-Institut (RKI) weist darauf hin, dass der Schutz vor einer Infektion nicht sofort nach der Impfung einsetzt und auch nicht bei allen geimpften Personen vorhanden ist.9 Auch die Dauer des Schutzes durch die neuen Impfstoffe ist noch ungeklärt.10 5 Johann/Gabriel, in: Eckart/Winkelmüller (Hrsg.), BeckOK Infektionsschutzrecht, 2. Edition Stand: 01.12.2020, § 28 Rn. 21; zur Unterscheidung von flächendeckenden Regelungen und Maßnahmen, die auf konkret-individuelle Infektionsgefahren regeagieren siehe Kießling/Müllmann, Bald wird geimpft, Darf zwischen Geimpften und Ungeimpften differenziert werden? abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/bald-wird-geimpft (letzter Abruf 25. Januar 2021). 6 Johann/Gabriel, in: Eckart/Winkelmüller (Hrsg.), BeckOK Infektionsschutzrecht, (Fn. 5), § 29 Rn. 5, § 30 Rn. 9 und 23, § 31 Rn. 11. 7 Ärzteblatt vom 4. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/119814/Diskussion-ueber- Sonderrechte-fuer-Coronageimpfte-haelt-an; zudem zum Ganzen: Augsburger Allgemeine vom 2. Januar 2021, abrufbar unter: https://presse-augsburg.de/paul-ehrlich-institut-hinweise-auf-corona-ansteckung-trotz-impfung /678891/ (letzter Abruf jeweils 25. Januar 2021). 8 Siehe dazu Finanznachrichten.de vom 22. Dezember 2020, abrufbar unter: https://www.finanznachrichten .de/nachrichten-2020-12/51577239-biontech-erkenntnisse-zu-infektionsschutz-durch-impfung-bis-februar- 016.html (letzter Abruf 25. Januar 2021). 9 Siehe Aufklärungsmerkblatt des RKI (Stand 11. Januar 2021), abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt /Impfen/Materialien/Downloads-COVID-19/Aufklaerungsbogen-de.pdf?__blob=publicationFile (letzter Abruf 25. Januar 2021). 10 Siehe Pharmazeutische Zeitung vom 1. Dezember 2020, abrufbar unter: https://www.pharmazeutische-zeitung .de/wie-lange-haelt-der-impfschutz-122178/ (letzter Abruf 25. Januar 2021). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 001/21 Seite 5 Solange jedoch nicht feststeht, ob geimpfte Personen weiterhin infektiös sind oder sofern sich herausstellen sollte, dass sie es sind, fehlt es an einer tatsächlichen Grundlage für eine Lockerung bestehender infektionsschutzrechtlicher Maßnahmen für geimpfte Personen. 2.2. Freiheitsbeschränkende Maßnahmen gegenüber geimpften Personen, von denen gesichert keine Ansteckungsgefahr mehr ausgeht Sollte sich zukünftig gesichert feststellen lassen, dass von geimpften Personen keine Ansteckungsgefahr mehr ausgeht, stellt sich für diese Gruppe die Frage der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von grundrechtsbeschränkenden Eingriffen neu. Durch die Beschränkungen, die zum Zweck des Infektionsschutzes angeordnet werden, sind verschiedenste Grundrechte betroffen, bspw. die Berufsfreiheit aus Art. 12 Grundgesetz (GG), die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG und die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG.11 Diese Rechte stehen jedem Grundrechtsberechtigten zu. Insofern handelt es sich bei der Aufhebung der Maßnahmen gegenüber geimpften Personen lediglich um die Wiederherstellung des verfassungsgemäßen Zustandes. Aus diesem Grund lehnen einige Stimmen die Begriffe „Sonderrechte“ oder „Privilegien“ ausdrücklich ab.12 Es muss für alle Beschränkungen insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt werden. Dies setzt voraus, dass der Eingriff einen legitimen Zweck in geeigneter, erforderlicher und angemessener Weise verfolgt.13 Die infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen verfolgen einen legitimen Zweck, indem sie die Eindämmung der fortschreitenden Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 und der hierdurch verursachten Krankheit COVID-19 bezwecken und damit die Verfassungsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) schützen sowie die Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens sicherstellen sollen.14 Sollte feststehen, dass von geimpften Personen keine Infektionsgefahren mehr ausgehen, könnte es bereits an der erforderlichen Geeignetheit der Maßnahme mangeln, da es insofern keiner individuell -konkreten Schutzmaßnahmen bedarf. Für eine Geeignetheit reicht es aber aus, dass die Maßnahme für den legitimen Zweck förderlich ist.15 Folgende generalpräventive Erwägung könnte daher für eine Geeignetheit sprechen: So wurde in der Diskussion über die Einführung einer Immunitätsdokumentation argumentiert, dass mit einer Lockerung von Maßnahmen für Immune eine schwindende Akzeptanz der Nichtimmunen gegenüber den angeordneten Maßnahmen einhergehen 11 Ausführlich hierzu Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Kontaktbeschränkungen zwecks Infektionsschutz: Grundrechte, WD 3 - 3000 - 079/20. 12 Bspw. Fischer, Es geht nicht um Privilegien, Spiegel Online vom 1. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/corona-impfungen-es-geht-nicht-um-privilegien-a-ecd68437-5b88- 4094-bdbc-be2f26e833d4 (letzter Abruf 25. Januar 2021). 13 Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 92. EL August 2020, Art. 20 Rn. 110. 14 Vgl. Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Kontaktbeschränkungen zwecks Infektionsschutz: Grundrechte, WD 3 - 3000 - 079/20, 15. 15 Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 92. EL August 2020, Art. 20 Rn. 112. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 001/21 Seite 6 könnte und damit insgesamt der Schutzzweck gefährdet werden könnte.16 Zudem wird in vielen Situationen eine Differenzierung nach dem Impfstatus der Personen nur mit erheblichem Aufwand möglich bzw. kaum praktikabel sein. Dies kann die Kontrolle der angeordneten Maßnahmen erschweren . Allgemeine Maßnahmen, die nicht zwischen infektiösen und nicht infektiösen Personen differenzieren, ermöglichen dagegen eine einfachere und effektivere Durchsetzung der Infektionsschutzmaßnahmen . Die Maßnahmen müssten zudem erforderlich und angemessen sein. Festzuhalten ist, dass generalpräventive freiheitsbeschränkende Maßnahmen gegen Personen, von denen erwiesenermaßen keine infektionsschutzrechtlichen Gefahren ausgehen, nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht kommen.17 Die Anforderungen an die Erforderlichkeit und die Angemessenheit sind hier besonders hoch. Es kommt insofern auf die Schwere des Eingriffs an. So dürften Maßnahmen, die einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff bedeuten, wie bspw. die zeitweise Schließung von Friseursalons und das damit verbundene Verbot, seinem Beruf nachzugehen, nicht mehr zu rechtfertigen sein. Eine Rechtfertigung von Maßnahmen, von denen alle betroffen sind und die nur einen geringen Eingriff bedeuten, wie bspw. die Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr, scheint dagegen möglich. 3. Zulässigkeit einer Ungleichbehandlung von Geimpften und Ungeimpften durch Grundrechtsverpflichtete Fraglich ist, ob es verfassungsrechtlich zulässig sein kann, Geimpfte und Ungeimpfte hinsichtlich der infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen unterschiedlich zu behandeln. In Betracht käme eine Verletzung des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verbietet Art. 3 Abs. 1 GG dem Staat die Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem und die Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem ohne hinreichend gewichtigen Grund.18 3.1. Grundrechtsverpflichtete Nach Art. 1 Abs. 3 GG entfalten die Grundrechte grundsätzlich nur unmittelbare Wirkung im Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Bürgern. Unmittelbar zur Wahrung und Gewährung des Art. 3 Abs. 1 GG sind daher nur der Staat und alle seine Institutionen verpflichtet.19 Auch öffentliche Unternehmen in Privatrechtsform sowie gemischtwirtschaftliche Unternehmen, auf welche die öffentliche Hand einen beherrschenden Einfluss hat, unterliegen nach herrschender 16 Siehe hierzu bspw. Boehme-Neßler, Der Corona-Pass ist inhuman und verfassungswidrig, ZEIT ONLINE vom 5. Mai 2020, abrufbar unter: https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-05/immunitaetsausweis-coronavirus-antikoerpertest -grundrechte-verfassungsrechtler-volker-boehme-nessler (letzter Abruf 25. Januar 2021). 17 So schon Klafki, Der Immunitätsausweis und der Weg zurück in ein freiheitliches Leben vom 4. Mai 2020, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/der-immunitaetsausweis-und-der-weg-zurueck-in-ein-freiheitliches-leben/. 18 BVerfGE 100, 138 (174); BVerfGE 103, 242 (258) m.w.N. 19 Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 47. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 001/21 Seite 7 Auffassung der unmittelbaren Grundrechtsbindung des Art. 1 Abs. 3 GG.20 Hierdurch soll gerade eine Flucht des Staates aus der Grundrechtsbindung in das Privatrecht verhindert werden.21 Private sind grundrechtsberechtigt, nicht grundrechtsverpflichtet.22 Sie können insofern nicht unmittelbarer Adressat des Art. 3 Abs. 1 GG sein. Für Private kommt insofern nur die sog. mittelbare Drittwirkung der Grundrechte in Frage (siehe dazu unter 4.) 3.2. Ungleichbehandlung von Geimpften und Ungeimpften Um eine Ungleichbehandlung feststellen zu können, sind zunächst die relevanten Vergleichsgruppen zu bestimmen. In einem weiteren Schritt gilt es zu prüfen, ob es zu einer Ungleichbehandlung, d.h. zu einer zwischen Personengruppen oder Sachverhalten differenzierenden Behandlung, gekommen ist. Dies ist anhand der jeweiligen Rechtsfolgen zu beurteilen.23 Das Differenzierungsmerkmal ist hier der Impfstatus der von den infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen Betroffenen: Während die Gruppe der Ungeimpften von allen grundrechtseinschränkenden Maßnahmen zum Infektionsschutz betroffen ist, würden für Geimpfte keine Beschränkungen mehr gelten. Damit wäre eine Ungleichbehandlung gegeben. 3.3. Rechtfertigung Der Staat ist unterdessen nicht verpflichtet, jeglichen Sachverhalt oder jede Personengruppe gleich zu behandeln. Eine Ungleichbehandlung kann daher gerechtfertigt werden. Nur wenn eine solche Rechtfertigung nicht gelingt, liegt ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor. Bei der Ungleichbehandlung kommt dem Gesetzgeber ein Ermessensspielraum zu, der keiner vollständigen gerichtlichen Kontrolle hinsichtlich der Zweckmäßigkeit unterliegt.24 Im Einzelnen besteht in der Literatur und der Rechtsprechung keine Einigkeit bezüglich des exakten Prüfungsmaßstabes, der auf der Rechtfertigungsebene zugrunde zu legen ist.25 Der Maßstab kann nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen.26 20 Siehe nur: Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 16. Auflage 2020, Art. 3 Rn. 3; BVerfGE 128, 226 (244 ff.). 21 BVerfGE 128, 226 (245). 22 Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 1 Abs. 3 Rn. 38. 23 Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK, 42. Edition, Art. 3 Rn. 15. 24 BVerfGE 3, 162 (182). 25 Siehe hierzu Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK, 42. Edition, Art. 3 Rn. 24 und 34 bis 36; Wollenschläger, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Auflage 2018, Art. 3 Rn. 53; zu dem „gleitenden Rechtfertigungsmaßstab“ des BVerfG siehe Boysen, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, 7. Auflage 2021, Art. 3 Rn. 103 f. 26 BVerfGE 117, 1 (30). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 001/21 Seite 8 Die konkret an die Rechtfertigung zu stellenden Anforderungen sind anhand der Eigenheiten des zu regelnden Sachverhalts zu bestimmen.27 Differenzierungen sind in jedem Fall nur auf der Grundlage von Sachgründen zulässig.28 Eine gesetzliche Differenzierung ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dabei umso schwieriger zu rechtfertigen, je weiter die Auswirkungen der Ungleichbehandlung auf die Freiheitsausübung sein können.29 Der der Rechtfertigungsprüfung zugrundzulegende Maßstab ist zudem umso strenger, je stärker die Differenzierungskriterien in der Person des Betroffenen liegen.30 Im Gefahrenabwehrrecht sind dabei jedenfalls besonders die Unvorhersehbarkeit sowie die Variabilität des Geschehensablaufs zu berücksichtigen.31 Aufgrund der sich äußerst unterschiedlich auswirkenden Maßnahmen zum Infektionsschutz lässt sich hier kein einheitlicher Maßstab festlegen. Für Differenzierungen, die Maßnahmen betreffen, die nur einen geringen Eingriff in Freiheitsrechte bedeuten, kann ggfs. ein sachlicher Grund zur Rechtfertigung ausreichen. Soweit dagegen Maßnahmen betroffen sind, die einen massiven Eingriff in ein Freiheitsgrundrecht bedeuten, wie bspw. ein berufliches Tätigkeitsverbot, sind an die Rechtfertigung hohe Anforderungen zu stellen. Dies gilt umso mehr, da es sich bei dem Differenzierungskriterium Impfstatus um ein höchstpersönliches Kriterium handelt. Ein sachlicher Grund für die Differenzierung nach dem Impfstatus kann darin gesehen werden, dass diese es ermöglicht, die Weiterverbreitung der Infektionen gezielt zu verhindern und dabei die Einschränkung von Freiheitsrechten zu minimieren bzw. auf das notwendige Maß zu reduzieren. Soweit ein strengerer Maßstab für die Rechtfertigung gilt, ist zu prüfen, ob die Differenzierung geeignet, erforderlich und angemessen ist. Soweit überhaupt ein Spielraum besteht, freiheitsbeschränkende Maßnahmen gegenüber Geimpften anzuordnen (siehe oben unter 2.2.), könnten an der Geeignetheit einer Differenzierung zwischen Geimpften und Ungeimpften, folgende Zweifel bestehen: Es könnte die Gefahr bestehen, dass durch die Differenzierung das öffentliche Leben in einem unkontrollierbaren Maße wieder aufgenommen wird und auch ungeimpfte Personen eine schwindende Akzeptanz gegenüber Regeln entwickeln. Der Zweck einer gezielten Eindämmung von Infektionsgefahren würde bei einem solchen Folgeverhalten gerade verfehlt. Unklar ist allerdings, wie hoch diese Gefahr einzuschätzen ist. Mit Blick auf die Erforderlichkeit der Differenzierung nach dem Impfstatus gilt es zu prüfen, inwieweit nicht mildere Mittel bestehen, die es auch ungeimpften Personen ermöglichen, auf zuverlässige Weise nachzuweisen, dass sie nicht ansteckend sind. Dies wäre bspw. denkbar durch die Durchführung von Corona-Schnelltests, mit denen ausgeschlossen werden kann, dass eine Infektion und damit ein Ansteckungsrisiko vorliegt. 27 BVerfG vom 19. November 2019 – 2 BvL 22/14, Rn. 96, NJW 2020, 451-458. 28 Ebenda. 29 BVerfG, vom 9. Dezember 2008 – 2 BvL 1/07 –, Rn. 56. 30 Boysen, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, 7. Auflage 2021, Art. 3 Rn. 105. 31 OVG Hamburg vom 26. März 2020 – 5 Bs 48/20, Rn. 13. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 001/21 Seite 9 Schließlich müsste die Differenzierung zwischen geimpften und ungeimpften Personen im konkreten Fall auch angemessen sein, d.h. die Differenzierung nach dem Impfstatus dürfte nicht außer Verhältnis zu dem damit verfolgten Zweck stehen. Grundsätzlich gilt es in diesem Zusammenhang zu beachten, dass umso höhere Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit zu stellen sind, je länger die Einschränkungen andauern und je intensiver die Freiheitsrechte berührt werden.32 Erschwerend tritt zudem hinzu, dass aufgrund der knappen Impfstoffressourcen derzeit kein allgemeiner Zugang zur Impfung verfügbar ist. Dieser ist vielmehr entsprechend der staatlichen Impfstrategie stark reglementiert und steht bisher nur wenigen Personengruppen offen. Es wird vertreten, dass der Zugang zu öffentlichen Einrichtungen in bestimmten Situationen mit besonderer Grundrechtsrelevanz (bspw. zur Abholung des Personalausweises beim Bürgeramt oder die Anwesenheit im Gerichtssaal als Beteiligte) nicht von einer Impfung abhängig gemacht werden kann, solange diese nicht der gesamten Bevölkerung möglich ist.33 In der Debatte wird vielfach eingewandt, dass durch Ungleichbehandlungen aufgrund des Immunitätsstatus eine gesellschaftliche Spaltung sowie eine Entsolidarisierung in der Gesellschaft drohen.34 Vor dem Hintergrund, dass – wie oben ausgeführt – freiheitsbeschränkende Maßnahmen gegenüber solchen Personen, von denen nachweislich keine Ansteckungsgefahr mehr ausgehen kann, nur schwer zu rechtfertigen sind, gleichzeitig aber Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie dringend erforderlich sein können, kann diesem Argument jedoch kein großes Gewicht zukommen. Insgesamt wird die Angemessenheit künftiger Regelungen und Maßnahmen von den dann relevanten Umständen der konkreten Situation abhängen. 4. Zulässigkeit einer Ungleichbehandlung von Geimpften und Ungeimpften durch Private Aufgrund der aus Art. 2 Abs. 1 GG folgenden Privatautonomie können natürliche und juristische Personen des Privatrechts ihre individuellen Rechtsbeziehungen grundsätzlich frei gestalten.35 Sie können daher beanspruchen, ohne staatliche Einmischung, Bevormundung oder gar Zwang untereinander zu bestimmen, wie ihre gegenläufigen Interessen aus ihrer Sicht angemessen auszugleichen sind.36 Eine Ausnahme besteht, wenn das Grundgesetz die unmittelbare Wirkung der Grundrechte für Private ausdrücklich anordnet, vgl. Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG. Im Übrigen entfalten die Grundrechte in Bezug auf Privatrechtsbeziehungen nur eine abgeschwächte Wirkung, die sog. mittelbare Drittwirkung .37 Der Regelungsgehalt der Grundrechte fließt über die Auslegung des einfachen Rechts 32 OVG Saarlouis vom 22. April 2020 – 2 B 130/20, Rn. 25 u. 31. 33 Kießling/Müllmann (Fn. 5). 34 So bspw. Boehme-Neßler, Der Corona-Pass ist inhuman und verfassungswidrig, Zeit online vom 5. Mai 2020, Fn. 16; siehe auch Michl, Immunität als Status, vom 11. Mai 2020, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/immunitaet -als-status/ (letzter Abruf 25. Januar 2021). 35 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, 92. EL August 2020, Art. 2 Abs. 1 Rn. 101 f. 36 BVerfGE 81, 242 (254). 37 Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, 92. EL August 2020, Art. 1 Abs. 3 Rn. 64. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 001/21 Seite 10 in das Privatrecht ein, insbesondere über die Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln (z. B. § 134 BGB, § 138 BGB, § 242 BGB).38 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann in spezifischen Konstellationen der Gleichheitsgrundsatz auch unter Privaten Bedeutung entfalten. In der sogenannten Stadionentscheidung hat es festgestellt, dass Art. 3 Abs. 1 GG etwa dann mittelbare Drittwirkung entfaltet, „wenn einzelne Personen mittels des privatrechtlichen Hausrechts von Veranstaltungen ausgeschlossen werden, die von Privaten aufgrund eigener Entscheidung einem großen Publikum ohne Ansehen der Person geöffnet werden, und wenn der Ausschluss für die Betroffenen in erheblichem Umfang über die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben entscheidet. Die Veranstalter dürfen hier ihre Entscheidungsmacht nicht dazu nutzen, bestimmte Personen ohne sachlichen Grund von einem solchen Ereignis auszuschließen“39. Neben solchen Massenveranstaltungen kann sich eine solche Drittwirkung auch bei Monopolen mit lebenswichtigen Gütern ergeben.40 Aus der mittelbaren Drittwirkung würde sich aber nicht unmittelbar ein Zugangsrecht oder ein Kontrahierungszwang ergeben. Hier gilt es, eine Abwägung der kollidierenden Rechte unter Berücksichtigung des Einzelfalles vorzunehmen. Dabei wären insbesondere die Art und die Weise der angebotenen Leistungen und die Zumutbarkeit des Einsatzes von milderen Mitteln (bspw. Schnelltests, Hygienemaßnahmen) zu berücksichtigen.41 Einschränkungen der Vertragsfreiheit sieht das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) vor. Dieses regelt den Schutz vor Diskriminierung aus rassistischen Gründen oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität durch private Akteure, wie bspw. Arbeitgeber, Vermieter, sowie Anbieter von Waren und Dienstleistungen.42 Allerdings dürfte der Impfstatus unter keines dieser Merkmale zu fassen sein. Es wird zum Teil erwogen, das Merkmal der Behinderung zumindest für solche Personen heranzuziehen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden können.43 Diese Argumentation vermag jedoch nicht zu überzeugen.44 Zudem regelt § 20 Abs. 1 AGG, dass in bestimmten Fällen eine Ungleichbehandlung durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt sein kann. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die unterschiedliche Behandlung der Vermeidung von Gefahren, der Verhütung von Schäden oder anderen Zwecken vergleichbarer Art dient, § 20 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AGG. Das von ungeimpften Personen ausgehende Infektionsrisiko könnte damit die Ungleichbehandlung als sachlichen Grund rechtfertigen. 38 BVerfG NJW 2018, 1667 (1668); Armbrüster, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2018, § 134 Rn. 34. 39 BVerfGE 148, 267 (Ls 2) Hervorhebung nur hier. 40 Ruffert, JuS 2020, 1 (4). 41 Siehe dazu auch Lindner, „Privilegien“ für einige oder Lockdown für alle? Coronaimpfung – offene Verfassungsrechtsfragen vom 29. Dezember 2020, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/privilegien-oder-lockdown/ (letzter Abruf 25. Januar 2021). 42 Schlachter, in: Erfurter Komm, ArbR, 21. Aufl. 2021, Vorb. AGG Rn. 1. 43 Kießling/Müllmann (Fn. 5). 44 Vgl. auch Lindner (Fn. 41). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 001/21 Seite 11 5. Fazit Insgesamt zeigt sich, dass – sofern wissenschaftlich festgestellt wird, dass Geimpfte nicht mehr infektiös sind – gegenüber diesen wohl allenfalls Infektionsschutzmaßnahmen mit geringer Eingriffsintensität aufrechterhalten werden können. Der Maßstab für die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung von Geimpften gegenüber Ungeimpften ist von der Auswirkung der jeweiligen infektionsschutzrechtlichen Maßnahme abhängig. An die Rechtfertigung einer Differenzierung bzgl. Maßnahmen, die die Freiheitsrechte der Ungeimpften erheblich beeinträchtigen, sind hohe Anforderungen zu stellen. Dies gilt insbesondere solange, wie der Zugang zum Impfstoff reglementiert wird und nicht allen Impfwilligen zur Verfügung steht. Die Ungleichbehandlung von Ungeimpften im Privatrechtsverkehr wirft hingegen keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken auf. Auch das AGG sieht diesbezüglich keine Beschränkungen der Vertragsfreiheit vor. ***