Deutscher Bundestag Zur aktuellen Lage der Menschenrechte in Afghanistan Sachstand Wissenschaftliche Dienste WD 2 – 3010-221/11 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3010-221/11 Seite 2 Zur aktuellen Lage der Menschenrechte in Afghanistan Verfasserin: Aktenzeichen: WD 2 – 3010-221/11 Abschluss der Arbeit: 29. November 2011 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung und humanitäre Hilfe Telefon: + Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3010-221/11 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Gefährdungslage der Zivilbevölkerung 4 3. Folter und Misshandlungen 6 4. Vollzug der Todesstrafe 8 5. Frauenrechte 8 6. Religionsfreiheit 10 7. Meinungs- und Pressefreiheit 11 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3010-221/11 Seite 4 1. Einleitung Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über die aktuelle Lage der Menschenrechte in Afghanistan gegeben, der sich insbesondere auf die Menschenrechtsberichte der Bundesregierung, des US- Außenministeriums, die Berichte der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) und die Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch und Amnesty International stützt. Die Auswahl der nachfolgenden Kapitel hat sich an zentralen Themenstellungen in den genannten aktuellen Berichten orientiert. Damit ist nicht in Frage gestellt, dass weitere – auch dort angesprochene – Fragestellungen, wie etwa der Kinder-, Flüchtlings- oder Minderheitenschutz, von Bedeutung sind. Die aktuelle Lage der Menschenrechte in Afghanistan bleibt nach Einschätzung des Menschenrechtsberichts der Bundesregierung1 problematisch. So verfüge die Zentralregierung in Kabul nicht über ein ausreichendes Gewaltmonopol, um die von der Verfassung garantierten Menschenrechte in allen Landesteilen durchzusetzen. Die größte Gefahr für die Achtung der Menschenrechte gehe von den in vielen Landesteilen operierenden lokalen Machthabern sowie von einer bewaffneten Aufstandsbewegung aus, resümiert die Bundesregierung. 2. Gefährdungslage der Zivilbevölkerung „Die Welle der Gewalt und des Blutvergießens, die von verschiedenen bewaffneten Gruppierungen mit dem Ziel, Frieden und Versöhnung zu unterminieren, verfolgt wird, hat in dem gegenwärtigen bewaffneten Konflikt in der ersten Jahreshälfte 2011 zu einem beispiellosen Anstieg der Todesfälle und Verletzten unter der afghanischen Zivilbevölkerung geführt,“2 bilanziert die Sicherheitsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) jüngst in einem Bericht. Nach Angaben von UNAMA befindet sich der bewaffnete Konflikt infolge veränderter Taktiken und Ziele regierungsfeindlicher Gruppen („Anti-Government Elements“) an einer neuen Gewaltschwelle . 3 In der ersten Jahreshälfte 2011 sind unter anderem zwei Krankenhäuser zur Zielscheibe von Selbstmordanschläge regierungsfeindlicher Gruppen geworden4, Kinder als Selbstmordattentäter eingesetzt und in großem Umfang unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen, so genannte improvised explosive devices (IED), verwendet worden. Dem US- Menschenrechtsbericht zufolge haben Aufständische „regelmäßig Zivilisten als menschliche 1 Auswärtiges Amt (2010). Neunter Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen. Berichtszeitraum: 1. März 2008 bis 28. Februar 2010, S. 159f. Abrufbar unter: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Menschenrechte/9.MR.Bericht_node.html. 2 United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA, July 2010). Afghanistan, Protection of Civilians In Armed Conflict, Midyear Report 2011, S.4, Abrufbar unter: http://www.ohchr.org/EN/Countries/AsiaRegion/Pages/HRReports.aspx. Übersetzung aus dem Englischen durch die Autorin. 3 Vgl. UNAMA, S. 1-7. 4 Vgl. UNAMA, S. 4. Dabei übernahmen die Taliban die Verantwortung für einen Anschlag auf ein Militärkrankenhaus in Kabul am 21. Mai 2011, bei dem sechs Menschen starben und 23 verwundet wurden. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3010-221/11 Seite 5 Schutzschilde“ genutzt, entweder durch Verlagerung der Operationen in belebte Dörfer oder indem Zivilisten in die Schusslinie gebracht worden seien.5 Die Intensivierung des Konflikts hat laut UNAMA zu einem Anstieg der zivilen Opfer auf 1.462 im ersten Halbjahr 2011 geführt. Das entspreche einem Anstieg um 15 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Regierungsfeindliche Gruppen hätten 80 Prozent der getöteten Zivilisten zu verantworten, 14 Prozent seien regierungsfreundlichen Kräften („Pro-Government Forces) zuzuschreiben und sechs Prozent gar nicht zuzuordnen. Durch Selbstmordanschläge seien im ersten Halbjahr 2011 insgesamt 276 Zivilisten getötet worden, verglichen mit dem Vorjahreszeitraum entspreche dies einem Anstieg bei den Opfern um 52 Prozent.6 Von der International Security Assistance Force (ISAF) ausgeführte Luftangriffe bleiben laut UNAMA die Hauptursache der durch regierungsfreundliche Truppen verursachten Todesfälle in Afghanistan. Im ersten Halbjahr 2011 hat UNAMA 79 zivile Opfer von Luftangriffen gezählt, was einem 14-prozentigen Anstieg gegenüber dem Vorjahreszeitraum entspreche.7 Von einer im Jahr 2010 eingesetzten Intensivierung der von den Aufständischen ausgehenden Gewalt spricht auch Amnesty International und schreibt den regierungsfeindlichen Gruppen weitreichende Menschenrechtsverletzungen zu, etwa die Hinrichtung von Kindern unter dem Vorwand, diese hätten für die internationalen Sicherheitskräfte „spioniert“ oder diese „unterstützt “ sowie die Tötung von Mitarbeitern einer Hilfsorganisation unter dem Vorwurf der „Missionierungstätigkeit “.8 Auch Human Rights Watch (HRW) berichtet von einer wachsenden Gewalt in Afghanistan. Zudem habe die Regierung verschiedene „irreguläre, bewaffnete Gruppen, insbesondere im Norden des Landes reaktiviert“. Demnach seien Hunderte kleiner Milizen insbesondere im lange Zeit als sicher geltenden Nordosten Afghanistans, in der Provinz Kundus, von lokalen Machthabern oder den Gemeinden selbst als Antwort auf eine verschlechterte Sicherheitslage gegründet worden. – „Hundreds of small militias have also been created, by powerful local figures and sometimes by communities themselves, to respond to the deteriorating security situation in many parts of the country. International forces operating in Afghanistan work closely with militias, many of which have been accused of human rights abuses.”9 5 U.S. Department of State (8.4.2011). Country Reports on Human Rights Practices. Afghanistan. S.21. Abrufbar unter: http://www.state.gov/g/drl/rls/hrrpt/2010/sca/154477.htm. 6 Vgl. UNAMA, S. 1-7. Demgegenüber sei die Zahl der Selbstmordanschläge konstant geblieben. Ein Anstieg ist auch bei den gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens mit Schlüsselfunktion zu verzeichnen. So sei die Zahl der getöteten Provinz- und Bezirksgouverneure, Provinzratsmitglieder, Polizeichefs, Mitglieder des Friedensrates, Stammesältesten im Vorjahresvergleich von 181 (2010) auf 190 angestiegen. 7 Vgl. UNAMA, S. 3. „Air strikes remained the leading causes of Afghan civilian deaths caused by Pro- Government Forces; all aerial attacks in Afghanistan are carried out by ISAF. In the first six months of 2011, 79 civilian deaths were attributed to air strikes, a 14 percent increase compared to the first half of 2010.” 8 Amnesty International (AI, 2011). Amnesty International Report 2011, Afghanistan, S. 56. Abrufbar unter: http://www.amnesty.org/en/annual-report/2011/downloads#en. 9 Vgl. Human Rights Watch (September 2011). Just Don’t Call It a Militia. Impunity, Militias, and the “Afghan Local Police”. Abrufbar unter: http://www.hrw.org/reports/2011/09/12/just-don-t-call-it-militia-0. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3010-221/11 Seite 6 Auch der afghanische Geheimdienst (NDS) setzt Human Rights Watch zufolge seit dem Jahr 2009 auf das Training und die Bewaffnung von Milizen im Norden des Landes sowie auf örtliche Sicherheitskräfte , die sogenannte Afghan Local Police (ALP). – „As the deadline approaches for the transition to Afghan control of security in 2014, the Afghan government and its international backers have embraced a high-risk strategy of funding and arming militias in the country’s north (a process that was started by the Afghan intelligence agency, the National Directorate of Security (NDS), in 2009), as well as a village-level force called the „Afghan Local Police“ (ALP).”10 Beide sind nach Darstellung von Human Rights Watch in Übergriffe auf die Zivilbevölkerung verwickelt, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen worden zu sein.11 Ihre Protektion durch Beamte in den lokalen Sicherheitskräften und der Zentralregierung ermöglicht nach Auffassung von HRW ihr straffreies Agieren. – „The NDS has provided money and guns without requisite oversight. With patronage links to senior officials in the local security forces and the central government, these groups operate with impunity.” 12 3. Folter und Misshandlungen Der aktuelle Menschenrechtsbericht des US-Außenministeriums13 spricht von „schwerwiegenden Misshandlungen“ durch Regierungsangestellte, Sicherheitskräfte, Mitarbeiter von Haftanstalten und Polizeibeamte, wenngleich Folter und andere unmenschliche Behandlung durch die afghanische Verfassung verboten sind. Zudem hat Afghanistan seit 1. April 1987 das internationale Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 10.Dezember 1984 gegen Folter und andere grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe ratifiziert.14 10 Human Rights Watch (26.9.2011). Human rights and the Afghan security transition. Abrufbar unter: http://www.hrw.org/news/2011/09/26/human-rights-and-afghan-security-transition-0. 11 Vgl. Human Rights Watch (26.9.2011). Human rights and the Afghan security transition. Abrufbar unter: http://www.hrw.org/news/2011/09/26/human-rights-and-afghan-security-transition-0. „Human Rights Watch has found that both government-backed militias in northern Kunduz province and some units of the ALP in Baghlan, Herat, and Uruzgan provinces have been implicated in rape, arbitrary detention, abduction, forcible land grabs, and illegal raids.“ Demnach sind in den Provinzen Baghlan, Herat und Uruzgan Fälle von Vergewaltigung, willkürlichen Verhaftungen, Entführung, illegalen Überfällen und Landnahme durch Einheiten der ALP bekannt geworden. 12 Vgl. Human Rights Watch (September 2011). Just Don’t Call It a Militia. Impunity, Militias, and the “Afghan Local Police”. Abrufbar unter: http://www.hrw.org/reports/2011/09/12/just-don-t-call-it-militia-0. 13 U.S. Department of State (8.4.2011).Country Reports on Human Rights Practices. Afghanistan. S.4ff. Abrufbar unter: http://www.state.gov/g/drl/rls/hrrpt/2010/sca/154477.htm. 14 United Nations Treaty Collection. Abrufbar unter: http://treaties.un.org/pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-9&chapter=4&lang=en#EndDec. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3010-221/11 Seite 7 Unter Bezugnahme auf Nichtregierungsorganisationen und Afghanistans Unabhängige Menschenrechtskommision (AIHRC) geht der US-Menschenrechtsbericht auch auf körperliche Misshandlungen von Kindern in Haftanstalten und Waisenhäusern ein. Darüber hinaus hätten die Aufständischen Folter bei der Befragung von Personen angewandt, die sie der Unterstützung der Zentralregierung und der Koalitionskräfte bezichtigten.15 UNAMA geht in einem jüngst veröffentlichten Bericht zu afghanischen Haftbedingungen davon aus, dass in einigen Haftanstalten, die im Zuständigkeitsbereich des afghanischen Geheimdienstes (NDS) liegen, „systematisch“ gefoltert wird.16 Folter zur Erringung von Geständnissen oder Informationen sei nicht nur bei volljährigen Inhaftierten, sondern auch bei Kindern unter 18 Jahren angewandt worden. Darüber hinaus berichtet UNAMA, dass über ein Drittel der im Zuständigkeitsbereich der Nationalen Armee Afghanistans Inhaftierten in Interviews von „grausamem, unmenschlichem oder erniedrigendem“ Verhalten durch die Sicherheitsbehörden gesprochen hat. Die afghanische Regierung hat nach Auskunft der Bundesregierung nach Bekanntwerden des Berichtes und zur Beseitigung von Menschenrechtsverletzungen in NDS-Haftanstalten unter anderem die Gründung einer Menschenrechtsüberwachungsstelle beim NDS, die Entlassung von belasteten Mitarbeitern sowie Aus- und Fortbildungsmaßnahmen für NDS-Mitarbeiter in Aussicht gestellt.17 In Reaktion auf den UNAMA-Bericht sei auch die International Security Assistance Force (ISAF) angewiesen worden, „die Überführung von Gewahrsamspersonen in die genannten Hafteinrichtungen zu verhindern und zukünftig ein aktives Monitoring der Gewahrsamspersonen in den verbleibenden und nach eigener Überprüfung freigegebenen Hafteinrichtungen bis zum Strafvollzug durchzuführen.“18 ISAF-Weisungen umfassten in diesem Zusammenhang die Einrichtung von so genannten „Regional Detention Oversight Teams“, deren Aufgabe die Überprüfung des Aufenthaltsortes und die Behandlung von Inhaftierten während des Haftzeitraumes vor dem Prozess sei. Deutsche Kräfte sind laut Bundesregierung zwar an Vorbereitungen, Begleitung und Nachbereitung von Operationen der afghanischen Sicherheitskräfte im Rahmen des Partnering beteiligt, nehmen jedoch selbst grundsätzlich keine Inhaftierung vor. Die Bundesregierung hat eigenen Angaben zufolge bereits Maßnahmen zum ISAF-Monitoring von Personen bis zum Strafvollzug, 15 U.S. Department of State (8.4.2011). S.4ff. 16 UNAMA (October 2011). Treatment of Conflict-Related Detainees in Afghan Custody. S.2 Abrufbar unter: http://unama.unmissions.org/Default.aspx?ctl=Details&tabid=1741&mid=1882&ItemID=15279. Die Erhebung der Sicherheitsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) basiert auf Interviews mit insgesamt 379 Inhaftierte sowie verurteilte Gefangene in 47 Haftanstalten in 22 der 34 afghanischen Provinzen im Zeitraum Oktober 2010 bis August 2011. Bei den aufgesuchten Haftanstalten handelte es sich um Einrichtungen im Zuständigkeitsbereich von NDS, der Nationalen Armee Afghanistans, des Justizministeriums und um Jugendstrafanstalten. 17 Bundesregierung (2011). Folter in afghanischen Haftanstalten. Antwort auf eine Kleine Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen (BT-Drs. 17/7551) vom 27.10.2011 BT-Drs. 17/7748. 18 Bundesregierung (2011). BT-Drs. 17/7748. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3010-221/11 Seite 8 die durch ISAF-Kräfte oder durch afghanische Sicherheitskräfte während gemeinsamer Operationen in Gewahrsam genommen und an afghanische Hafteinrichtungen übergeben werden, umgesetzt .19 Innerhalb des Regionalkommandos Nord sei ein „Combined Detention Oversight Team“ und „Regional Combined Detention Facility Assessment and Certification Team“ eingerichtet worden.20 Darüber hinaus werde seit dem Jahr 2010 auch ein Überwachungsmechanismus für die afghanische Polizei im Sinne eines Ombudsmannes bei der Unabhängigen Menschenrechtskomission Afghanistans (AIHRC) aufgebaut.21 4. Vollzug der Todesstrafe Die in der afghanischen Verfassung vorgesehene Todesstrafe kann nur mit Einwilligung des Präsidenten vollstreckt werden. Nach einem auf vier Jahre beschränkten Moratorium hat Afghanistan im Oktober 2007 erneut von der Todesstrafe Gebrauch gemacht. Im Dezember 2009 stimmte Afghanistan gegen eine VN-Resolution, die zu einem weltweiten Moratorium für Hinrichtungen aufrief.22 Wenigstens 100 durch den Obersten Gerichtshof bestätigte Todesurteile hat Amnesty International für das Jahr 2010 verzeichnet, deren Gnadengesuche Präsident Hamid Karsai vorlagen. Am 24. Oktober 2010 hat der Präsident die Judikative zur Überprüfung aller Todesurteile angewiesen .23 Vollzogen wurde die Todesstrafe in Afghanistan im Jahr 2010 nicht, wie aus einer statistischen Erhebung von AI hervorgeht.24 5. Frauenrechte Fortschritte verzeichnen die Menschenrechtsberichte der Bundesregierung und des US- Außenministeriums insbesondere bei den Frauenrechten. So sei die „umfassende Diskriminierung “ von Frauen der Taliban-Zeit inzwischen aufgehoben.25 Die Afghanische Regierung verfolge mit ihrem Nationalen Aktionsplan für Frauen in Afghanistan eine Gleichstellungspolitik, die Erfolge bei der Berufstätigkeit von Frauen zeige. Als ein wesentlicher Fortschritt der Regierung Karsai sei der Aufbau des Ministeriums für Frauenangelegenheiten zu sehen, dessen Einfluss 19 Bundesregierung (2011). BT-Drs. 17/7748. 20 Christian Schmidt, Parlamentarischer Staatssekretär (2011). Schriftliche Antwort auf die mündliche Frage des Abgeordneten Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN). Ausgestaltung des „aktiven Monitorings“ von durch ISAF-Soldaten und afghanischen Sicherheitskräften in Gewahrsam genommenen Personen. /, BT-PIPr 17/138, S. 16438. 21 Vgl. Bundesregierung (2011). BT-Drs. 17/7748. 22 Amnesty International (AI, 2011). Amnesty International Report 2011, Afghanistan, S. 58. Abrufbar unter: http://www.amnesty.org/en/annual-report/2011/downloads#en. 23 Ebd. 24 AI (2011). Death Penalty 2010 statistics –graphics. Abrufbar unter: http://www.amnesty.org/en/news-andupdates /death-penalty-2010-statistics-graphics-2011-03-25. 25 Auswärtiges Amt (2010). Neunter Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen. Berichtszeitraum: 1. März 2008 bis 28. Februar 2010, S. 159f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3010-221/11 Seite 9 zwar begrenzt ist, dem aber eine Schlüsselrolle beim Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt zukommt und das Frauen beim Einstieg ins Berufsleben fördert.26 Bedenken hatte bei der internationalen Gemeinschaft die Ankündigung des afghanischen Ministeriums für Frauenangelegenheiten vom Januar 2011 hervorgerufen, alle afghanischen Frauenschutzhäuser der direkten Kontrolle der Regierung zu unterstellen. Auf diese Bedenken hat die Regierung Karsai reagiert, indem sie den Gesetzentwurf über eine staatliche Aufsicht der Frauenschutzhäuser zurückzog27 und ankündigte , zur künftigen Statusbestimmung der afghanischen Frauenschutzhäuser einen Ausschuss unter Beteiligung von sieben Ministerien und zwei zivilgesellschaftlichen Organisationen einzurichten. Ungeachtet der Fortschritte etwa auch bei der Besetzung öffentlicher Ämter und Schlüsselpositionen in der Politik28 stehen nach Einschätzung des US-Außenministeriums vor allem die „konservativen Traditionen“29 in Afghanistan einer umfassenden Teilhabe von Frauen am öffentlichen Leben Afghanistans entgegen. Die Bundesregierung weist darauf hin, dass Frauen nach wie vor im afghanischen Familien-, Erb- und Strafrecht diskriminiert werden und die soziale Stellung der Frauen stark von ihrem tatsächlichen Lebensumfeld abhängt.30 So kämen trotz eines landesweiten Verbots insbesondere in ländlichen Regionen 70 Prozent der Ehen durch Zwangsverheiratung zustande, wobei die Frauen mehrheitlich das gesetzliche Mindestalter von 16 Jahren unterschritten . Sexuelle Belästigung ist gesetzlich nicht unter Strafe gestellt. Zudem sieht das afghanische Rechtssystem für von Ehemännern verübte Ehrenmorde Haftstrafen von lediglich bis zu zwei Jahren vor. Frauen waren auch in den vergangenen zwei Jahren das Ziel von Angriffen von Taliban-Anhängern, etwa bei Anschlägen auf Mädchenschulen oder Sportstätten. Präsident Hamid Karsai hat am 19. Juli 2009 das „Gesetz zur Eliminierung von Gewalt gegen Frauen“ unterzeichnet. Diese grundlegend neue Gesetzgebung stellt erstmals Verheiratung von Minderjährigen, Zwangsehen sowie Gewalttaten gegen Frauen in Afghanistan unter Strafe. In einer Untersuchung zur Umsetzung des Gesetzes im Zeitraum März 2010 bis September 2011 hat UNAMA sowohl positive Entwicklungen wie auch große Hemmnisse identifiziert. Der Weg bleibt nach Auffassung von UNAMA ein langer, da insbesondere Polizei und Staatsanwaltschaft das 26 Katzman, Kenneth (11.10.2011). Afghanistan: Politics, Elections, and Government Performance. Congressional Research Service, 7-5700. Abrufbar unter: http://fpc.state.gov/c18185.htm, S. 50ff. 27 Vgl. Deutscher Bundestag (2011). Schriftliche Fragen mit den in der Woche vom 28. März 2011 eingegangenen Antworten der Bundesregierung, Drs. 17/5322, Anfrage des Abgeordenten Dietmar Nietan (SPD), S. 5. „Mit einer solchen Maßnahme wären Frauenrechte verletzt und afghanische zivilgesellschaftliche Organisationen , die Frauenschutzhäuser betreiben, geschwächt worden,“ bilanzierte die Bundesregierung. 28 Vgl. Katzman, Kenneth (11.10.2011). S. 52. In der Nationalversammlung sind 17 von 102 Sitzen im Oberhaus und 68 von 249 Sitzen im Unterhaus des afghanischen Parlaments für Frauen vorgesehen, so legt es die Verfassung fest. Gegenwärtig sitzen 69 Frauen im Unterhaus, womit die Quote um 1 Sitz überschritten ist. Auch waren unter den 1600 Delegierten der umfassenden „Friedens-Jirga“ vom 2.-4. Juni 2010 rund 300 Frauen, die ihre Unterstützung für den afghanischen Plan der Reintegration von entwaffneten Aufständischen signalisierte. 29 Katzman, Kenneth (11.10.2011). S.51. 30 Vgl. Auswärtiges Amt (2011), 9. Menschenrechtsbericht, S. 159. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3010-221/11 Seite 10 Gesetz nur „begrenzt“ implementierten und „deutlich größere Anstrengungen“ für eine umfassende Umsetzung erforderlich seien. 31 6. Religionsfreiheit Offiziellen Schätzungen zufolge besteht die afghanische Bevölkerung zu 84 Prozent aus Muslimen der sunnitischen Glaubensrichtung und etwa 15 Prozent Anhängern des schiitischen Glaubens . Andere in Afghanistan vertretene Glaubensgemeinschaften wie etwa Christen, Sikhs und Hindus bilden rund ein Prozent der Bevölkerung. Nach der afghanischen Verfassung ist der Islam Staatsreligion; Anhänger anderer Religionen genießen „in den Grenzen der geltenden Gesetze“ Glaubensfreiheit. Nach Einschätzung des US-Außenministeriums ist der Respekt der Regierung für die gesetzlich gewährte Religionsfreiheit in der Praxis zurückgegangen. Dies gelte in besonderer Weise für christliche Gruppierungen und Individuen. Dem Index 2010 des Hilfswerks für verfolgte Christen , Open Doors, zufolge ist Afghanistan eines der Länder, in dem Christen am stärksten benachteiligt oder verfolgt werden. Es nimmt bei der Benachteiligung und Verfolgung von Christen nach Nordkorea (1), dem Iran (2) Saudi-Arabien (3), Somalia (4) und den Malediven (5) den sechsten Platz ein.32 Aber auch die Mitglieder anderer Glaubensrichtungen, Sikhs, Hindus und Bahais seien häufig Diskriminierung ausgesetzt.33 Die meisten Christen und Bahais haben sich nicht öffentlich zu ihrem Glauben bekannt und sich nicht offen zu Gottesdiensten versammelt.34Ungeachtet eines gültigen und von afghanischen Gerichten bestätigten, langjährigen Pachtvertrages für das Gelände der einzigen öffentlichen Kirche für Christen in Afghanistan wurde das Gebäude vom Grundstückseigentümer im Jahr 2010 zerstört. Gegenwärtig bestehen dem International Religious Freedom Report 2010 des US-Außenministeriums zufolge nur noch auf Militärbasen und bei der italienischen Botschaft private Kapellen und Versammlungsräume für die verschiedenen Glaubensrichtungen der internationalen Gemeinschaft.35 Eine Verletzung der Religionsfreiheit verzeichnete Amnesty International insbesondere bei Übertritten vom Islam zum Christentum, da Religionsübertritte nach islamischem Recht mit der Todesstrafe geahndet werden können.36 31 UNAMA (November 20111). A Long Way to Go: Implementation oft he Elimination of Violence against Women Law in Afghanistan. S. 1 Abrufbar unter: http://www.ohchr.org/EN/Countries/AsiaRegion/Pages/HRReports.aspx. 32 Open Doors (2011). Weltverfolgungsindex 2010. http://www.opendoorsde .org/verfolgung/weltverfolgungsindex/plazierung_2010/. 33 U.S. Department of State (17.11.2011). International Religious Freedom Report 2010, Afghanistan. Abrufbar unter: http://www.state.gov/g/drl/rls/irf/2010/148786.htm. 34 Ebd. 35 U.S. Department of State (17.11.2011). International Religious Freedom Report 2010, Afghanistan. S.3. Abrufbar unter: http://www.state.gov/g/drl/rls/irf/2010/148786.htm. 36 Vgl. Amnesty International (AI, 2011). Amnesty International Report 2011, Afghanistan, Abrufbar unter: http://www.amnesty.org/en/annual-report/2011/downloads#en. und Katzman, Kenneth (11.10.2011). S. 50. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3010-221/11 Seite 11 So wurde ein öffentlich ausgestrahlter Fernsehbericht über die Taufe von Afghanen, die vom Islam zum Christentum übergetreten waren, von heftigen Reaktionen begleitet. Der stellvertretende afghanische Parlamentspräsident Abdul Sattar Khawasi habe die Verhaftung und öffentliche Hinrichtung der gezeigten Konvertiten gefordert. Bei öffentlichen Protesten sei die Forderung nach Ausweisung christlicher Organisationen erhoben worden.37 Zwei christlichen Hilfsorganisationen , Church World Service und Norwegian Church Aid, wurden unter dem Vorwurf der Missionierungstätigkeit zur Einstellung ihrer Arbeit veranlasst. Verhaftungen infolge von Religionsübertritten wurden zumeist auf internationalen Druck und Intervention von Präsident Karsai hin revidiert . Positiv habe sich indes die Toleranz gegenüber der überwiegend in Zentralafghanistan lebenden schiitischen Minderheit entwickelt, was sich etwa im öffentlichen Zelebrieren ihrer Feiertage äußerte.38 7. Meinungs- und Pressefreiheit Meinungs- und Pressefreiheit sind in der Verfassung verankert, stehen jedoch unter dem allgemeinen Islamvorbehalt der Verfassung.39 In der Praxis wird dieses Recht nach Einschätzung der Bundesregierung „einigermaßen verwirklicht“, was sich insbesondere in der Vielfalt von politischen Ausrichtungen bei Fernseh- und Radiosendungen sowie bei Zeitschriften und Zeitungen zeige.40 Gleichwohl rangiert Afghanistan auf Platz 147 des World Press Freedom Index 2010 und ist damit kaum besser bewertet als das Nachbarland Pakistan (151). Die Ursachen für das schlechte Abschneiden des Landes lägen in den Selbstmordanschlägen und Entführungen von Journalisten, die die Arbeit dieser Berufsgruppe zunehmend gefährdeten. 41 Unabhängige Journalisten klagten über weitreichende Einschüchterungsversuche durch die Regierung bis hin zu willkürlichen Verhaftungen.42Nach Auffassung von Menschenrechtsgruppen übten Journalisten vielfach Selbstzensur aus Furcht vor Repressalien der Regierung.43 37 Open Doors (2010). Zweiter Quartalsbericht mit aktuellen Trends zum Open Doors Weltverfolgungsindex. Druck auf Christen in Afghanistan, Marokko und Usbekistan wächst. Abrufbar unter: http://www.opendoorsde .org/verfolgung/news/news_2010/08/030810WVI/. 38 Vgl. Katzman, Kenneth (11.10.2011). S. 49. 39 Vgl. Auswärtiges Amt (2011), 9. Menschenrechtsbericht, S. 159. 40 Ebd. 41 Reporters Without Borders (2011). World Press Freedom Index 2010. Abrufbar unter: http://en.rsf.org/pressfreedom -index-2010,1034.html. Im Jahr 2010 wurden insgesamt 178 Plätze im Rahmen des World Press Freedom Index 2010 vergeben. 42 Reporters Without Borders (2011). 43 U.S. Department of State (8.4.2011). Country Reports on Human Rights Practices. Afghanistan. S.21ff. Abrufbar unter: http://www.state.gov/g/drl/rls/hrrpt/2010/sca/154477.htm.