Verurteilungen wegen überlanger Gerichtsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - Ausarbeitung - © 2008 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000-190/07 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasserinnen: EGMR-Verurteilungen wegen überlanger Gerichtsverfahren Ausarbeitung WD 2 – 3000-190/07 Abschluss der Arbeit: 21. Januar 2008 Fachbereich WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Telefon: + Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. Inhalt 1. Einleitung 3 2. Fälle 5 2.1. König v. Germany, Urteil vom 28. Juni 1978, Antragsnr. 6232/73 5 2.2. Eckle v. Germany, Urteil vom 15. Juli 1982, Antragsnr. 8130/78 7 2.3. Deumeland v. Germany, Urteil vom 29. Mai 1986, Antragsnr. 9384/81 8 2.4. Bock v. Germany, Urteil vom 29. März 1989, Antragsnr. 11118/84 9 2.5. Pammel v. Germany, Urteil vom 1. Juli 1997, Antragsnr. 17820/91 10 2.6. Probstmeier v. Germany, Urteil vom 1. Juli 1997, Antragsnr. 20950/92 11 2.7. Klein v. Germany, Urteil vom 27. Juli 2000, Antragsnr. 33379/96 12 2.8. H. T. v. Germany, Urteil vom 11. Oktober 2001, Antragsnr. 38073/97 13 2.9. Janssen v. Germany, Urteil vom 20. Dezember 2001, Antragsnr. 23959/94 14 2.10. Niederböster v. Germany, Urteil vom 27. Februar 2003, Antragsnr. 39547/98 15 2.11. Trippel v. Germany, Urteil vom 4. Dezember 2003, Antragsnr. 68103/01 16 2.12. Uhl v. Germany, Urteil vom 10. Februar 2005, Antragsnr. 64387/01 17 2.13. Wimmer v. Germany, Urteil vom 24. Februar 2005, Antragsnr. 60534/00 18 2.14. Gisela Müller v. Germany, Urteil vom 6. Oktober 2005, Antragsnr. 69584/01 19 2.15. Sürmeli v. Germany, Urteil vom 8. Juni 2006, Antragsnr. 75529/01 20 2.16. Nold v. Germany, Urteil vom 29. Juni 2006, Antragsnr. 27250/02 21 2.17. Stork v. Germany, Urteil vom 13. Juli 2006, Antragsnr. 38033/02 22 2.18. Klasen v. Germany, Urteil vom 5. Oktober 2006, Antragsnr. 75204/01 23 2.19. Grässer v. Germany, Urteil vom 5. Oktober 2006, Antragsnr. 66491/01 24 2.20. Kirsten v. Germany, Urteil vom 15. Februar 2007, Antragsnr. 19124/02 25 2.21. Laudon v. Germany, Urteil vom 26. April 2007, Antragsnr. 14635/03 27 2.22. Skugor v. Germany, Urteil vom 10. Mai 2007, Antragsnr. 76680/01 28 2.23. Nanning v. Germany, Urteil vom 12. Juli 2007, Antragsnr. 39741/02 30 2.24. Glüsen v. Germany, Urteil vom 10. Januar 2008, Antragsnr. 1679/03 31 - 3 - 1. Einleitung Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Bundesrepublik Deutschland seit 1978 in insgesamt 24 Verfahren1 wegen überlanger Gerichtsverfahren gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) bzw. in einzelnen Fällen auch gem. Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) verurteilt. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK besagt: „Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.“ Die Angemessenheit der Verfahrensdauer im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK prüft der EGMR in ständiger Rechtsprechung einzelfallbezogen sowie anhand von in der Spruchpraxis des Gerichtshofs entwickelten Kriterien.2 Diese Kriterien sind insbesondere die Komplexität des Falles und das Verhalten der Beschwerdeführer und der zuständigen Behörden, wobei der Gerichtshof hinsichtlich des letztgenannten Punktes die Tragweite dessen, was für den Beschwerdeführer bei dem Rechtsstreit auf dem Spiel steht, berücksichtigt . In den Urteilen gegen die Bundesrepublik Deutschland ging der EGMR von einer solchen Bedeutung insbesondere bei Verfahren mit familienrechtlichen, sozialrechtlichen , beruflichen und finanziellen Konsequenzen sowie bei geringer Lebenserwartung der Beschwerdeführer aus. Art. 13 EMRK besagt: „Jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, hat das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben, auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.“ 1 Stand: 14. Januar 2008. 2 Vgl. zum Beispiel EGMR König v. Germany, Urteil vom 28. Juni 1978, Antragsnr. 6232/73, Abs. 99; EGMR Eckle v. Germany, Urteil vom 15. Juli 1982, Antragsnr. 8130/78, Abs. 80; EGMR, Nold v. Germany, Urteil vom 29. Juni 2006, Antragsnr. 27250/02, Abs. 101. Sämtliche EGMR- Urteile sind abrufbar unter: http://cmiskp.echr.coe.int/tkp197/search.asp?skin=hudoc-en (Stand: 14. Januar 2008). - 4 - Die 24 Verurteilungen wegen überlanger Gerichtsverfahren betreffen insbesondere familienrechtliche , sozialrechtliche und zivilrechtliche Verfahren, aber auch verwaltungsrechtliche , strafrechtliche, gesellschafts-/handelsrechtliche und arbeitsrechtliche Verfahren sowie zwei Normenkontrollen vor dem Bundesverfassungsgericht. - 5 - 2. Fälle3 2.1. König v. Germany, Urteil vom 28. Juni 1978, Antragsnr. 6232/73 Verstoß: gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK Art des Gerichtsverfahrens: Verwaltungsrecht (Rücknahme der Konzession zum Betrieb einer Klinik gem. § 30 Abs. 1 GewO und Widerruf der Approbation als Arzt) Verfahrensdauer: Das Verfahren hinsichtlich der Konzession dauerte zum Zeitpunkt der EGMR-Entscheidung zehn Jahre und zehn Monate, das Verfahren hinsichtlich der Approbation insgesamt fast sechs Jahre an. Gründe des Gerichtes:4 - Zunächst stellte das Gericht fest, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK anwendbar sei, da bei der Entscheidung, ob es sich um Streitigkeiten hinsichtlich „zivilrechtlicher Ansprüche und Verpflichtungen“ handele, grundsätzlich von einem autonomen Zivilrechtsbegriff in der EMRK auszugehen sei. Die Einordnung des Falles nach dem nationalen Gesetz des beklagten Staates (hier Gewerbeordnung) habe damit nicht alleinige Bedeutung. Zum Verfahren bzgl. der Rücknahme der Konzession: Im Hinblick auf das Verfahren bzgl. der Rücknahme der Konzession stellte der EGMR fest, dass es nicht „innerhalb angemessener Frist“ gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK erfolgt sei. Das Verfahren sei nach zehn Jahren und zehn Monaten noch immer ohne endgültige Entscheidung; die Entscheidung in der ersten Instanz allein habe sich fast zehn Jahre hingezogen. Das Gericht erkannte zwar die besonderen Schwierigkeiten beim Ausfindigmachen der Zeugen an und zog auch das für das lange Verfahren mitverantwortliche Verhalten des Klägers in Betracht (mehrfacher Anwaltswechsel, das gleichzeitige Stellen diverser Rechtsmittel, das Einbringen neuer Beweisanträge in verschiedenen Abschnitten des Verfahrens). Diese Aspekte allein würden aber nicht die Länge des Verfahrens rechtfertigen. Für das Erfordernis eines kürzeren Verfahrens spräche außerdem, dass der Fall nicht in besonderem Maße kompliziert gewesen sei. Das Gericht mahnte außerdem die mangelhafte Zusammenarbeit der beiden mit der Sache befassten Gerichte an, insbesondere die Vertagung des Urteils eines Gerichtes, um das Ergebnis des anderen Gerichtes abzuwarten. Zum Verfahren bzgl. des Entzuges der Approbation: 3 Die Fälle sind in chronologischer Abfolge aufgeführt. 4 EGMR König v. Germany, Urteil vom 28. Juni 1978, Antragsnr. 6232/73, Abs. 86 ff., 101 ff., 106 ff. - 6 - Das Verfahren bzgl. des Entzuges der Approbation habe zwar nur etwa sechs Jahre gedauert . Der EGMR stellte dennoch fest, dass das Verfahren in der Gesamtbetrachtung zu lange gedauert habe und damit nicht „innerhalb angemessener Frist“ gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK erfolgt sei. Der EGMR berücksichtigte dabei auch die große Bedeutung der zu verhandelnden Frage für die berufliche Existenz des Klägers. Kritisiert wurde explizit, dass das Gericht sich zu wenig bemüht habe, das Verfahren voranzutreiben; insbesondere sei das Verfahren fast anderthalb Jahre ausgesetzt gewesen. Dabei sei das Verfahren weniger kompliziert gewesen, das Gericht hätte sogar von den Untersuchungsergebnissen des anderen Gerichtes profitieren können. Auch hier wurde das verfahrensverzögernde Verhalten des Klägers nicht als maßgeblich angesehen. Weitere Urteile in diesem Fall: EGMR-Urteil vom 10. März 1980, Antragsnr. 6232/73 (Urteil zur Entschädigung) - 7 - 2.2. Eckle v. Germany, Urteil vom 15. Juli 1982, Antragsnr. 8130/78 Verstoß: gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK Art des Gerichtsverfahrens: Strafrecht (Wirtschaftsdelikt) Verfahrensdauer: Die beiden fraglichen Verfahren dauerten 17 Jahre und drei Monate bzw. zehn Jahre und vier Monate. Gründe des Gerichtes:5 Obwohl es sich in beiden Verfahren um schwierig zu ermittelnde Sachverhalte handelte und sich das Verhalten der Beschwerdeführer verfahrensverzögernd auswirkte, stellte das Gericht fest, dass diese beiden Aspekte allein nicht zur übermäßigen Länge der Verfahren geführt hätten. Hauptgrund für die langen Verfahren sei in beiden Fällen das Verhalten der Justiz gewesen. Die Verfahren seien damit nicht „innerhalb angemessener Frist“ gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK erfolgt. Weitere Urteile in diesem Fall: Eckle v. Germany, Urteil vom 21. Juni 1983, Antragsnr . 8130/78 (Übernahme der Gerichtskosten durch den Europarat gem. Art. 50 EMRK) 5 EGMR Eckle v. Germany, Urteil vom 15. Juli 1982, Antragsnr. 8130/78, Abs. 80 ff. - 8 - 2.3. Deumeland v. Germany, Urteil vom 29. Mai 1986, Antragsnr. 9384/81 Verstoß: gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK Art des Gerichtsverfahrens: Sozialrecht (Anspruch auf Witwenrente; streitig v. a., ob Arbeitsunfall) Verfahrensdauer: Das Verfahren dauerte zehn Jahre und sieben Monate. Gründe des Gerichtes:6 - Das Gericht stellte zunächst fest, dass es sich beim vorliegenden Streit insgesamt betrachtet vorwiegend um Zivilrecht handele, sodass Art. 6 Abs. 1 EMRK anwendbar sei. - Die Streitigkeit sei nicht „innerhalb angemessener Frist“ gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK verhandelt worden. Der EGMR berücksichtigte zwar, dass sich der gesamte Zeitraum des Verfahrens auf sechs verschiedene Phasen und Instanzen erstreckte. Auch sah der EGMR die Verantwortung für die lange Verfahrensdauer zu einem großen Teil auf Klägerseite . Dennoch gingen mehrere Verzögerungen auf das Verhalten der Gerichte zurück . Außerdem sei über relativ unkomplizierte rechtliche Fragen verhandelt worden. Schließlich erforderten Sozialversicherungsfälle eine besondere Sorgfalt der Gerichte, die bei einer Verfahrensdauer von fast elf Jahren nicht erfolgt sei. 6 EGMR Deumeland v. Germany, Urteil vom 29. Mai 1986, Antragsnr. 9384/81, Abs. 60 ff., 75 ff. - 9 - 2.4. Bock v. Germany, Urteil vom 29. März 1989, Antragsnr. 11118/84 Verstoß: gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK Art des Gerichtsverfahrens: Familienrecht (Scheidungsverfahren) Verfahrensdauer: Das Verfahren vor den Zivilgerichten dauerte insgesamt neun Jahre und zwei Monate. Das anschließende Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht hatte der Beschwerdeführer nicht beanstandet. Gründe des Gerichtes:7 Der EGMR kritisierte, dass die langwierige mehrfache Prüfung der Prozessfähigkeit des Klägers (fünf Gutachten bestätigten die Prozessfähigkeit) zu einem übermäßig langen Scheidungsverfahren führte. Hinzu komme die problematische Auswirkung auf die persönliche Situation des Klägers, der sich neun Jahre lang dem unbegründeten Verdacht einer psychischen Störung ausgesetzt gesehen habe. In Betracht gezogen wurde dabei auch, dass der Fall das Recht auf Privat- und Familienleben betraf. 7 EGMR Bock v. Germany, Urteil vom 29. März 1989, Antragsnr. 11118/84, Abs. 47 ff. - 10 - 2.5. Pammel v. Germany, Urteil vom 1. Juli 1997, Antragsnr. 17820/91 Verstoß: gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK Art des Gerichtsverfahrens: Konkrete Normenkontrolle gem. Art. 100 Abs. 1 GG (Verfassungsmäßigkeit des Bundeskleingartengesetzes von 1983) Verfahrensdauer: Der Beschwerdeführer hatte nur die Länge des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht moniert. Dieses Verfahren dauerte fünf Jahre und zwei Monate. Gründe des Gerichtes:8 - Der EGMR stellte die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der konkreten Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht fest, da es in der zugrunde liegenden Sache vor dem Zivilgericht um die Wiedererlangung eines Grundstückes durch den Beschwerdeführer und damit um sein Eigentumsrecht ginge. - Auch wenn der EGMR anerkannte, dass es sich um einen rechtlich sehr komplizierten Fall handelte, stellte er letztlich fest, dass die „angemessene Frist“ gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK überschritten wurde. EMRK-Mitgliedsstaaten hätten dafür zu sorgen, ihr Justizsystem so zu organisieren, dass die Gerichte den an sie gestellten Anforderungen gerecht würden. Die chronische Überlastung des Gerichtes könne die übermäßige Länge des Verfahrens daher nicht rechtfertigen. 8 EGMR Pammel v. Germany, Urteil vom 1. Juli 1997, Antragsnr. 17820/91, Abs. 49 ff., 60 ff. - 11 - 2.6. Probstmeier v. Germany, Urteil vom 1. Juli 1997, Antragsnr. 20950/92 Verstoß: gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK Art des Gerichtsverfahrens: Konkrete Normenkontrolle gem. Art. 100 Abs. 1 GG (Verfassungsmäßigkeit des Bundeskleingartengesetzes von 1983) Verfahrensdauer: Die Beschwerdeführerin hatte nur die Länge des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht beklagt. Dieses Verfahren dauerte sieben Jahre und vier Monate. Gründe des Gerichtes:9 - Wie im Fall Pammel v. Germany (s. o.) stellte der EGMR die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der konkreten Normenkontrolle fest, da es in der zugrunde liegenden Sache vor dem Zivilgericht um die Wiedererlangung eines Grundstücks durch die Beschwerdeführerin und damit um ihr Eigentumsrecht ginge. - Auch wenn der EGMR anerkannte, dass es sich um einen rechtlich sehr komplizierten Fall handelte, stellte er letztlich fest, dass die „angemessene Frist“ gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK überschritten wurde. EMRK-Mitgliedsstaaten hätten dafür zu sorgen, ihr Justizsystem so zu organisieren, dass die Gerichte den an sie gestellten Anforderungen gerecht würden. Die chronische Überlastung des Gerichtes könne die übermäßige Länge des Verfahrens daher nicht rechtfertigen. 9 EGMR Probstmeier v. Germany, Urteil vom 1. Juli 1997, Antragsnr. 20950/92, Abs. 41 ff., 55 ff. - 12 - 2.7. Klein v. Germany, Urteil vom 27. Juli 2000, Antragsnr. 33379/96 Verstoß: gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK Art des Gerichtsverfahrens: Zivilrecht (Zahlung einer Forderung eines Stromversorgungsunternehmens , „Kohlepfennig-Fall“) Verfahrensdauer: Das Verfahren dauerte insgesamt neun Jahre und acht Monate, einschließlich mehr als acht Jahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Gründe des Gerichtes:10 - Art. 6 Abs. 1 EMRK sei auch hinsichtlich des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht anwendbar, weil der Ausgang des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht für zivilrechtliche Rechten und Pflichten ausschlaggebend gewesen sei. - Auch wenn der Fall einige komplizierte verfassungsrechtliche Fragen beträfe, sei das mehr als achtjährige Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht unangemessen. Zum einen verwies der EGMR erneut darauf, dass EMRK-Mitgliedsstaaten dafür zu sorgen hätten, ihr Justizsystem so zu organisieren, dass die Gerichte den an sie gestellten Anforderungen gerecht würden; die chronische Überlastung des Gerichtes könne die übermäßige Länge des Verfahrens folglich nicht rechtfertigen. Zum anderen verwies der EGMR im konkreten Fall darauf, dass die Frage der Verfassungsmäßigkeit des „Kohlepfennigs “11 für den Einzelnen zwar nur eine geringe Summe ausmache, aber sehr viele Bürger beträfe. 10 EGMR Klein v. Germany, Urteil vom 27. Juli 2000, Antragsnr. 33379/96, Abs. 29, 36 ff. 11 Der Begriff „Kohlepfennig“ bezeichnete einen Preisaufschlag auf die Strompreise der Verbraucher der alten Bundesländer, um den Steinkohleabbau in Deutschland zu finanzieren. Das Bundesverfassungsgericht erklärte den „Kohlepfennig“ 1994 für verfassungswidrig. - 13 - 2.8. H. T. v. Germany, Urteil vom 11. Oktober 2001, Antragsnr. 38073/97 Verstoß: gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK Art des Gerichtsverfahrens: Sozialrecht (Verfassungsmäßigkeit von Reformregelungen zur Hinterbliebenenrente) Verfahrensdauer: Das Verfahren dauerte elf Jahre und elf Monate. Gründe des Gerichtes:12 - Die Hauptursache für die lange Verfahrensdauer sei die mehrmalige Aussetzung des Verfahrens, um ein entsprechendes Bundesverfassungsgerichtsurteil abzuwarten. Der EGMR wies zwar darauf hin, dass die Beschwerdeführerin diese Aussetzungen beantragt habe und damit bis zu einem gewissen Grade zur Verzögerung beigetragen habe. Die Verantwortung der nationalen Gerichte, in Übereinstimmung mit Art. 6 EMRK eine angemessene Dauer des Verfahrens zu gewährleisten, entfalle jedoch auch dann nicht, wenn es grundsätzlich die Aufgabe der Parteien sei, für den Fortgang des Verfahrens zu sorgen. - Im vorliegenden Fall hätte das Gericht die Relevanz des Bundesverfassungsgerichtsverfahrens für den Fall der Beschwerdeführerin nicht gebührend ermittelt. Bei Zweifeln hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des Reformgesetzes hätte das Gericht beim Bundesverfassungsgericht ein Vorabentscheidungsverfahren beantragen sollen. - Bei Fällen zu Rentenstreitigkeiten sei außerdem die besondere Sorgfalt des Gerichtes geboten. 12 EGMR H. T. v. Germany, Urteil vom 11. Oktober 2001, Antragsnr. 38073/97, Abs. 31 ff. - 14 - 2.9. Janssen v. Germany, Urteil vom 20. Dezember 2001, Antragsnr. 23959/94 Verstoß: gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK Art des Gerichtsverfahrens: Sozialrecht (Entschädigungsforderung gegen die Berufskrankenversicherung „Maschinenbau- und Metall-Berufsgenossenschaft“; strittig war die Einordnung als Berufskrankheit) Verfahrensdauer: Das Verfahren dauerte insgesamt sieben Jahre. Gründe des Gerichtes:13 - Der EGMR räumte ein, dass der Fall rechtlich und faktisch eher kompliziert gewesen sei, u. a. aufgrund des Todes der ersten Beschwerdeführerin während des Verfahrens und aufgrund der verspäteten Übernahme des Verfahrens durch ihre Nachkommen als Rechtsnachfolger. Die Beschwerdeführer hätten teilweise zur Verzögerung des Verfahrens beigetragen. - Der EGMR betonte jedoch, dass das Verfahren gerade angesichts der geringen Lebenserwartung der ersten Beschwerdeführerin für diese von entscheidender Bedeutung gewesen sei. Dies verpflichte die zuständigen Gerichte zu besonderer Sorgfalt. Das Sozialgericht der ersten Instanz habe sich wenig bemüht, das Verfahren voranzutreiben; so berief es eine Anhörung erst nach einem Jahr und zwei Monaten ein. Auch wenn durch den Tod der Beschwerdeführerin die Bedeutung einer schnellen Bearbeitung abgenommen habe, sei die anschließende Verfahrensdauer von drei Jahren und fünf Monaten vor dem Berufungsgericht unangemessen. - Der EGMR stellte in diesem Zusammenhang die Verantwortung der Richterschaft für die schnelle Bearbeitung durch Sachverständige heraus. 13 EGMR Janssen v. Germany, Urteil vom 20. Dezember 2001, Antragsnr. 23959/94, Abs. 43 ff. - 15 - 2.10. Niederböster v. Germany, Urteil vom 27. Februar 2003, Antragsnr. 39547/98 Verstoß: gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK Art des Gerichtsverfahrens: Familienrecht (Umgangsrecht des Vaters) Verfahrensdauer: Das Verfahren dauerte insgesamt fünf Jahre und fünf Monate. Gründe des Gerichtes:14 - Das EGMR betonte die Bedeutung einer schleunigen Bearbeitung von Sorgerechtsfällen . - Er kritisierte die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, die die Zivilgerichte bei anstehenden Gesetzesreformen verpflichte, das Verfahren auszusetzen. Hierdurch habe der Beschwerdeführer keine Chance auf eine schnelle Entscheidungsfindung gehabt. Der EGMR wies erneut auf die Pflicht der EGMR-Mitgliedsstaaten hin, ihr Justizsystem so zu organisieren, dass die Anforderungen der EMRK eingehalten werden. - Der EGMR stellte fest, dass die Verfahrensdauer der drei Zivilgerichte von insgesamt fünfzehn Monaten nicht unangemessen gewesen sei. Die Verfahrensdauer vor dem Bundesverfassungsgericht sei hingegen – insbesondere aufgrund der Tatsache, dass es sich um einen Umgangsrechtsfall handele – als unangemessen zu bezeichnen. 14 EGMR Niederböster v. Germany, Urteil vom 27. Februar 2003, Antragsnr. 39547/98, Abs. 39 ff., 46 f. - 16 - 2.11. Trippel v. Germany, Urteil vom 4. Dezember 2003, Antragsnr. 68103/01 Verstoß: gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK Art des Gerichtsverfahrens: Gesellschaftsrecht (Verkauf von Aktien) Verfahrensdauer: Das Verfahren dauerte insgesamt etwa fünf Jahre und acht Monate . Gründe des Gerichtes:15 - Das Gericht stellte zunächst die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK im vorliegenden Fall fest: Da es sich bei den Aktien des Klägers um sein Eigentum handle, beträfe das Verfahren seine „zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK. - Die Komplexität des Falles allein rechtfertige nicht die Dauer des Verfahrens. - Der EGMR zeigte sich nicht davon überzeugt, dass das Bundesverfassungsgericht seine Verpflichtung erfüllt habe, die Handhabung der Fälle so zu organisieren, dass es den Anforderungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK gerecht würde. Mitgliedsstaaten hätten das Justizsystem so zu organisieren, dass dies gewährleistet sei. - Schließlich wies der EGMR noch auf das gesteigerte finanzielle Interesse des Klägers am Ausgang des Verfahrens hin sowie auf die Tatsache, dass den Beschwerdeführer keinerlei Verantwortung für die Verzögerungen träfe. 15 EGMR Trippel v. Germany, Urteil vom 4. Dezember 2003, Antragsnr. 68103/01, Abs. 18, 23 ff., 27 ff., 32, 35. - 17 - 2.12. Uhl v. Germany, Urteil vom 10. Februar 2005, Antragsnr. 64387/01 Verstoß: gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK Art des Gerichtsverfahrens: Strafrecht (Steuerhinterziehung, Betrug, Untreue) Verfahrensdauer: Das Verfahren dauerte insgesamt neun Jahre und fünf Monate. Gründe des Gerichtes:16 Auch wenn die Verfahrensdauer in den vier Instanzen im Einzelnen jeweils als angemessen anzusehen sei, sei die Dauer des Verfahrens insgesamt übermäßig und unangemessen . Hierbei sei in Betracht zu ziehen, dass der Fall nicht besonders kompliziert gewesen sei, dass die durch die Justizbehörden verursachten Verzögerungen die durch den Beschwerdeführer verursachten Verzögerungen bei weitem überträfen und dass das Verfahren eine große Bedeutung für den Beschwerdeführer gehabt habe, da seine berufliche Laufbahn als Beamter auf dem Spiel stand. 16 EGMR Uhl v. Germany, Urteil vom 10. Februar 2005, Antragsnr. 64387/01, Abs. 30 ff. - 18 - 2.13. Wimmer v. Germany, Urteil vom 24. Februar 2005, Antragsnr. 60534/00 Verstoß: gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK Art des Gerichtsverfahrens: Familienrecht (Sorgerechtsfall) Verfahrensdauer: Das Verfahren dauerte in einer Instanz (Bundesverfassungsgericht) etwa sechs Jahre und fünf Monate. Gründe des Gerichtes:17 - Der EGMR gab zu bedenken, dass der Fall sich nicht durch besondere Komplexität auszeichnete und dass die durch den Beschwerdeführer verursachte Verzögerung von sechs Monaten im Vergleich zur Gesamtdauer des Verfahrens sehr gering sei. - Der EGMR verwies erneut auf die Pflicht der Vertragsstaaten, ihr Justizsystem so zu organisieren, dass die Anforderungen der EMRK erfüllt werden können. Zwar müsse dabei dem Verfassungsgericht als Hüter der Verfassung eine größere Freiheit in der Organisation der Fallbearbeitung eingeräumt werden; so sei es unter Umständen geboten, andere Faktoren zu berücksichtigen als nur die chronologische Reihenfolge der Eintragung in das Gerichtsregister, wie beispielsweise die Natur der Sache und ihre politische und soziale Bedeutung. Im vorliegenden Fall aber hätten mehrere Faktoren eine schnellere Bearbeitung erforderlich gemacht. - So habe das Bundesverfassungsgericht das Verfahren ausgesetzt, um die Kindschaftsreform abzuwarten. Zwar seien die Möglichkeiten des Bundesverfassungsgerichtes begrenzt , auf den Gesetzgeber Druck auszuüben, wenn dieser gerade eine Reform der entsprechenden gesetzlichen Vorschriften in Angriff nehme. Dennoch dürfe das Urteil nicht mit solcher Verzögerung gefällt werden, dass das Recht des Beschwerdeführers nicht mehr effektiv zur Geltung kommen könne. Das Abwarten der Kindschaftsreform, obwohl die Verfassungsbeschwerde bereits mehr als vier Jahre vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig war, sei damit nicht angemessen gewesen. Insbesondere aber habe das Gericht dem Beschwerdeführer erst nach 18 Monaten mitgeteilt, dass es seine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen habe. - Zudem stünde für den Beschwerdeführer sein Recht auf dem Spiel, die elterliche Sorge weiterhin auszuüben. Insgesamt kam der EGMR daher zu dem Ergebnis, dass die Dauer des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht die angemessene Frist überschritten habe. 17 EGMR Wimmer v. Germany, Urteil vom 24. Februar 2005, Antragsnr. 60534/00, Abs. 24 ff. - 19 - 2.14. Gisela Müller v. Germany, Urteil vom 6. Oktober 2005, Antragsnr. 69584/01 Verstoß: gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK Art des Gerichtsverfahrens: Gesellschaftsrecht (Streit bei der gemeinsamen Verwaltung und Verpachtung von Land) Verfahrensdauer: Das Verfahren dauerte zum Zeitpunkt der EGMR-Entscheidung insgesamt mehr als 19 Jahre an. Gründe des Gerichtes:18 - Der EGMR räumte ein, dass der Fall faktisch und rechtlich kompliziert gewesen sei und dass das Verhalten der Beschwerdeführerin zu der Verzögerung des Verfahrens beigetragen habe. Hinzu käme eine äußerst kompromisslose Haltung der Beschwerdeführerin und der Beklagten. - Allerdings hätten auch die vier beteiligten Gerichte maßgeblich zur Verzögerung beigetragen . Der EGMR kritisierte u. a., dass die Gerichte den Prozess nach fehlgeschlagenen Schlichtungsversuchen nicht ausreichend beschleunigten. So wartete ein Gericht den Ausgang eines anderen Prozesses zehn Monate lang ab, obwohl dieser für den vorliegenden Rechtsstreit nicht maßgeblich gewesen sei. In Bezug auf die Organisation des Justizsystems kritisierte der EGMR, dass eines der Gerichte eine neunmonatige Verzögerung mit der Arbeitsüberlastung der Kammer begründete und dass ein anderes Gericht eine sechsmonatige Verzögerung verursachte, weil es die Akten an einen Staatsanwalt in anderer Sache verschickte und es dabei versäumte, eine Kopie der Akten vorzunehmen . - Hinsichtlich des Versäumnisses von Gericht und Beschwerdeführerin, das Verfahren nach einer Aussetzung des Verfahrens wieder aufzunehmen, betonte der EGMR abermals , dass die im deutschen Recht geltende Parteimaxime (das Gericht darf grundsätzlich nur die Tatsachen berücksichtigen und nur die Anträge behandeln, die die Parteien in den Prozess eingeführt haben) die Gerichte nicht aus ihrer Verantwortung entlasse zu gewährleisten, dass das Verfahren gem. Art. 6 EMRK in angemessener Zeit erfolge. Im vorliegenden Fall begründete die Tatsache, dass der Prozess zu diesem Zeitpunkt schon mehr als zwölf Jahre andauerte, die besondere Verpflichtung des Gerichtes, das Verfahren ohne weitere Verzögerungen wieder aufzunehmen. 18 EGMR Gisela Müller v. Germany, Urteil vom 6. Oktober 2005, Antragsnr. 69584/01, Abs. 79 ff. - 20 - 2.15. Sürmeli v. Germany, Urteil vom 8. Juni 2006, Antragsnr. 75529/01 Verstoß: gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 13 EMRK Art des Gerichtsverfahrens: Zivilrecht (Schadensersatzklage u. a. gegen die Versicherungen des Schädigers und der Stadtverwaltung) Verfahrensdauer: Das Verfahren dauerte zum Zeitpunkt der EGMR-Entscheidung sechzehn Jahre und sieben Monate an. Gründe des Gerichtes:19 Zu Art. 6 EMRK: - Der EGMR stellte fest, dass der im deutschen Recht geltende Grundsatz der Parteienmaxime die nationalen Gerichte nicht aus der Verantwortung entlasse, ein schnelles Verfahren gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK sicherzustellen. - Vorliegend sei der Fall im Großen und Ganzen nicht besonders kompliziert gewesen. Auch wenn das Verhalten des Klägers dazu beigetragen habe, das Verfahren in die Länge zu ziehen, könne er zum einen nicht dafür kritisiert werden, dass er die zur Verfügung stehenden Mittel des deutschen Rechts auch nutze, zum anderen sei sein Verhalten nicht allein verantwortlich für die Länge des Verfahrens. - Die sorgfältige Auswahl eines Fachgutachters durch das Landgericht sei zwar grundsätzlich gerechtfertigt, der außergewöhnliche Zeitaufwand sei jedoch insgesamt nicht verhältnismäßig gewesen. - Hinsichtlich der Bedeutung des Verfahrens für den Beschwerdeführer stellte das Gericht zwar grundsätzlich fest, dass Schadensersatzforderungen nicht zu der Kategorie von Fällen gehörten, die schon in der Natur der Sache – wie beispielsweise Sorgerechtsoder arbeitsrechtliche Streitigkeiten – ein besonders schnelles Verfahren erforderlich machten. Konkret sei jedoch eine Verfahrensdauer von mehr als sechzehn Jahre auch in einem solchen Fall wie dem vorliegenden zu lang. Zu Art. 13 EMRK: Dem Beschwerdeführer sei sein Recht auf eine wirksame Beschwerde gem. Art. 13 EMRK nicht gewährt worden. Keines der im deutschen Recht zur Verfügung stehenden Rechtsmittel habe die Beschleunigung des Verfahrens im vorliegenden Fall wirksam ermöglichen können. 19 EGMR Sürmeli v. Germany, Urteil vom 8. Juni 2006, Antragsnr. 75529/01, Abs. 97 ff., 115 f., 128 ff. - 21 - 2.16. Nold v. Germany, Urteil vom 29. Juni 2006, Antragsnr. 27250/02 Verstoß: gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK Art des Gerichtsverfahrens: Zivilrecht (Schuldrecht: Streit von Vertragspartnern nach Hausbau) Verfahrensdauer: Das Verfahren dauerte insgesamt acht Jahre und sechs Monate. Gründe des Gerichtes:20 - Zunächst betonte der EGMR abermals, dass die im deutschen Recht geltende Parteimaxime die Gerichte nicht aus ihrer Verantwortung entlasse, ein schnelles Verfahren im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu gewährleisten. - Der EGMR sieht die Vertragsstaaten in der Pflicht, ihr Justizsystem so zu organisieren, dass die Gerichte den Anforderungen aus Art. 6 Abs. 1 EMRK gerecht werden können. Entsprechend kritisierte der EGMR vorliegend, dass die erste mündliche Anhörung erst zwei Jahre nach Klageeinreichung stattfand, dass das Landgericht arbeitsüberlastet war und teilweise nicht auf Parteienaktionen reagierte, dass der Berichterstatter im Laufe des Verfahrens sechsmal wechselte und dass teilweise Akten versandt wurden ohne Kopien davon zu machen. Das verfahrensverzögernde Verhalten der Beschwerdeführer – Beschwerden , Befangenheitsanträge, Expertenbenennungen usw. – sei zulässig, auch wenn die dadurch entstandenen Verzögerungen des Verfahrens nicht den Gerichten angelastet werden könnten. Zu einem erheblichen Teil gehe die lange Gesamtdauer des Verfahrens jedoch auf das Verhalten der Gerichte zurück. - Der Fall hätte eher leichte juristische Fragen zum Gegenstand gehabt, allerdings sei der Fall prozessual kompliziert gewesen. - Inhaltlich habe die Fallentscheidung für die Beschwerdeführer eine relativ große Bedeutung gehabt, da sie sich dazu gezwungen sahen, die Ergebnisse der Beweiserhebung abzuwarten, bevor sie ihr Bauprojekt beenden konnten. - Insgesamt geht der EGMR damit davon aus, dass das Verfahren nicht innerhalb einer angemessenen Frist gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK erfolgt sei. 20 EGMR, Nold v. Germany, Urteil vom 29. Juni 2006, Antragsnr. 27250/02, Abs. 101 ff. - 22 - 2.17. Stork v. Germany, Urteil vom 13. Juli 2006, Antragsnr. 38033/02 Verstoß: gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK Art des Gerichtsverfahrens: Verwaltungsrecht (Frage der Rechtmäßigkeit eines Bescheids einer Gemeinde an Grundstückbesitzer, wonach diese sich finanziell am Bau einer angrenzenden Straße zu beteiligen hätten) Verfahrensdauer: Das Verfahren dauerte insgesamt sechzehn Jahre und fünf Monate . Gründe des Gerichtes:21 - Zunächst stellte der EGMR fest, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK anwendbar sei, da bei der Entscheidung, ob es sich um Streitigkeiten hinsichtlich „zivilrechtlicher Ansprüche und Verpflichtungen“ handele, grundsätzlich von einem autonomen Zivilrechtsbegriff der EMRK auszugehen sei. Er betonte zudem, dass sich die Beziehung zwischen dem Einzelnen und dem Staat seit der Verabschiedung der EMRK gravierend verändert hätte und staatliche Regelungen zunehmend in zivilrechtliche Sachverhalte eingreifen würden . - Der EGMR stellte die hohe faktische Komplexität des Falles fest. Das Verhalten der Beschwerdeführer habe zwar auch zu Verzögerungen des Verfahrens geführt. Angesichts der Gesamtdauer des Verfahrens in Höhe von sechzehn Jahren und fünf Monaten sei die von ihnen verschuldete Verzögerung von zwei Jahren und acht Monaten jedoch gering. Das Verhalten der Behörden und Gerichte habe entscheidend zu der übermäßigen Gesamtdauer beigetragen. 21 EGMR Stork v. Germany, Urteil vom 13. Juli 2006, Antragsnr. 38033/02, Abs. 25 ff., 42 ff. - 23 - 2.18. Klasen v. Germany, Urteil vom 5. Oktober 2006, Antragsnr. 75204/01 Verstoß: gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK Art des Gerichtsverfahrens: Sozialrecht (Entschädigungsforderung gegen die Berufsgenossenschaft Düsseldorf; strittig war die Einordnung als Berufskrankheit) Verfahrensdauer: Das Verfahren dauerte insgesamt neun Jahre und sechs Monate. Gründe des Gerichtes:22 - Der EGMR stellte fest, dass der Fall Tatsachen- und Rechtsfragen von einiger Komplexität enthielt. Er stellte ferner fest, dass das Verhalten des Klägers keine Verzögerung des Verfahrens verursacht habe. - Die Verfahrensdauer vor dem Sozialgericht von zwei Jahren und vier Monaten, die aus dem Abwarten des Ausgangs eines parallel laufenden Musterverfahrens vor dem Landes - und Bundessozialgericht resultierte, sah der EGMR aus verfahrensökonomischen Gründen als gerechtfertigt an. - Kritisiert wurde jedoch die Verfahrensdauer von etwa vier Jahren und neun Monaten vor dem Bundesverfassungsgericht als vierter Instanz. Auch wenn dem Verfassungsgericht als Hüter der Verfassung eine größere Freiheit in der Organisation der Fallbearbeitung einzuräumen sei – so sei es unter Umständen geboten, andere Faktoren zu berücksichtigen als nur die chronologische Reihenfolge der Eintragung in das Gerichtsregister, wie beispielsweise die Natur der Sache und ihre politische und soziale Bedeutung –, wurde das Vorgehen im vorliegenden Fall kritisiert: Konkret sei der Beschluss, die Beschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen, dem Beschwerdeführer erst mehr als zweieinhalb Jahre nach Vorliegen sämtlicher erforderlicher Stellungnahmen zugegangen. Dabei hätte das Bundesverfassungsgericht gerade angesichts der zu diesem Zeitpunkt bereits vorliegenden Verfahrensdauer mit besonderer Zügigkeit vorgehen müssen. - Hingewiesen wurde schließlich noch darauf, dass die besonderen Umstände der deutschen Wiedervereinigung allein die Untätigkeit des Bundesverfassungsgerichtes nicht rechtfertigten. 22 EGMR Klasen v. Germany, Urteil vom 5. Oktober 2006, Antragsnr. 75204/01, Abs. 32 ff. - 24 - 2.19. Grässer v. Germany, Urteil vom 5. Oktober 2006, Antragsnr. 66491/01 Verstoß: gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK Art des Gerichtsverfahrens: Amtshaftungsverfahren nach versagter Baugenehmigung Verfahrensdauer: Das Verfahren dauerte insgesamt 28 Jahre und 11 Monate. Gründe des Gerichtes:23 - Der EGMR stellte einleitend fest, dass die Verfahrensdauer von 28 Jahren und 11 Monaten ungewöhnlich lang sei und daher besonders überzeugende Rechtfertigungsgründe erforderlich mache. - Der EGMR räumte zwar ein, dass der Fall kompliziert gewesen sei. Allerdings habe das Verhalten des Klägers nicht erheblich zur Verfahrensdauer beigetragen. Insbesondere weise allein die Gesamtverfahrensdauer von fast 29 Jahren darauf hin, dass nicht davon ausgegangen werden könne, dass die Zivilgerichte den Fall mit der gebotenen Sorgfalt behandelt hätten. Gerade im vorliegenden Fall wäre jedoch eine besonders zügige Bearbeitung erforderlich gewesen, da die wirtschaftliche Existenz des Klägers auf dem Spiel stand. 23 EGMR Grässer v. Germany, Urteil vom 5. Oktober 2006, Antragsnr. 66491/01, Abs. 10, Abs. 56 ff. - 25 - 2.20. Kirsten v. Germany, Urteil vom 15. Februar 2007, Antragsnr. 19124/02 Verstoß: gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 13 EMRK Art des Gerichtsverfahrens: Arbeitsrecht i. V. m. dem Recht des Einigungsvertrages24 (Zahlung einer Gehaltszulage nach Übergang des ehemaligen Arbeitgebers, des zur Nationalen Volksarmee gehörenden Erich-Weinert-Ensembles, in das Bundesfinanzministerium ) Verfahrensdauer: Das Verfahren dauerte insgesamt neun Jahre und acht Monate. Gründe des Gerichtes:25 Zu Art. 6 Abs. 1 EMRK: - Der EGMR stellte zunächst die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf den vorliegenden Fall fest. Er erinnerte daran, dass der Begriff der „zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen“ im Sinne von Art. 6 EMRK autonom sei, auch wenn das Recht des betreffenden Staates in diesem Zusammenhang nicht ohne Bedeutung sei. Der EGMR verwies auf die Feststellung des Bundessozialgerichtes, dass der vorliegende Fall in den Bereich des Arbeitsrechts und damit des Zivilrechts fiele. Auch der EGMR stellte fest, dass die Rechtsfrage nicht vorrangig das Verhältnis der Beschwerdeführerin zu den Verwaltungsbehörden beträfe, sondern das individuelle wirtschaftliche Recht, einen Eingriff in ihre Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts abzuwehren. Der Anspruch auf die Gehaltszulage stelle damit einen „zivilrechtlichen“ Anspruch im Sinne von Art. 6 EMRK dar. - Es handele sich um einen juristisch komplizierten Fall. Auch habe das Verhalten des Klägeranwalts durch komplizierte Schriftsätze zur langen Verfahrensdauer beigetragen. In Anbetracht der Gesamtdauer des Verfahrens sei die Verantwortung der Beschwerdeführerin hierfür jedoch als geringfügig anzusehen. - Was das Verhalten der innerstaatlichen Gerichte angeht, betonte der EGMR, dass es unter bestimmten Umständen angemessen sein könne, wenn diese aus verfahrensökonomischen Gründen den Ausgang parallel laufender Verfahren abwarteten. Diese Entscheidung müsse jedoch verhältnismäßig im Hinblick auf die besonderen Umstände der Rechtssache sein. Während der EGMR das Abwarten des Sozialgerichtes Berlin auf den Ausgang des parallel laufenden Verfahrens vor dem Bundessozialgericht aus verfahrensökonomischen Gründen für gerechtfertigt hielt, wurde das Verhalten des Landesar- 24 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. August 1990. 25 EGMR Kirsten v. Germany, Urteil vom 15. Februar 2007, Antragsnr. 19124/02, Abs. 27 f., 43 ff. - 26 - beitsgerichtes gerügt, das seine Entscheidung der Beschwerdeführerin erst sieben Monate nach dem Ausgang des abgewarteten parallelen Verfahrens zugestellt habe. In Anbetracht der zu diesem Zeitpunkt bereits vorliegenden Verfahrensdauer ließe sich diese Verzögerung nicht mit prozessökonomischen Erwägungen rechtfertigen. - Auch die durch das Bundesverfassungsgericht verursachten Verzögerungen wurden kritisiert. Auch wenn Verfassungsgerichte als Hüter der Verfassung freier als die sonstigen Gerichte bei der Organisation und insbesondere ihrer Prioritätensetzung der Fallbearbeitung seien, sei das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichtes vorliegend nicht nachvollziehbar gewesen. Den Kontext der deutschen Wiedervereinigung zog der EGMR hierbei zwar in Betracht. Allerdings ließe sich die Verzögerung zum einen nicht allein mit den außergewöhnlichen Umständen der deutschen Wiedervereinigung erklären ; zum anderen hätte das Bundesverfassungsgericht den vorliegenden Fall angesichts der zu diesem Zeitpunkt bereits vorliegenden Verfahrensdauer besonders zügig bearbeiten müssen. - Schließlich stellte der EGMR fest, dass die Gehaltszulage einen Teil der Altersversorgung der Beschwerdeführerin abdecken sollte und daher, wenn auch nicht ihre einzige Existenzgrundlage, so doch von entscheidender Bedeutung für sie war. - Zusammenfassend war der EGMR der Auffassung, dass die Gesamtdauer des Verfahrens und insbesondere die Dauer des Verfahrens vor dem Landesarbeitsgericht und dem Bundesverfassungsgericht überlang seien und dem Erfordernis der „angemessenen Frist“ gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht entsprächen. Zu Art. 13 EMRK: - Die Beschwerdeführerin sei in ihrem Recht auf wirksame Beschwerde gem. Art. 13 EMRK insoweit verletzt worden, als ihr kein innerstaatlicher Rechtsbehelf zur Verfügung gestanden hätte, mit dem sie ihr nach Art. 6 Abs. 1 EMRK garantiertes Recht auf eine Verhandlung innerhalb angemessener Frist hätte durchsetzen können. - 27 - 2.21. Laudon v. Germany, Urteil vom 26. April 2007, Antragsnr. 14635/03 Verstoß: gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK Art des Gerichtsverfahrens: Zivilrecht (Schadensersatzklage auf Entschädigung und Erwerbsunfähigkeitsrente nach Operationsfehler) Verfahrensdauer: Das Verfahren dauerte insgesamt elf Jahre und elf Monate. Gründe des Gerichtes:26 - Der Gerichtshof erkannte an, dass das Verhalten der Beschwerdeführerin teilweise zu der Verfahrensverzögerung beigetragen habe und dass das Schadensersatzverfahren nicht einfach war; es stellte aber gleichwohl fest, dass die Beweiserhebung vereinfacht war, da bestimmte Fakten, die für die Schadensersatzklage entscheidend waren, bereits in einem vorangegangenen Schlichtungsverfahren von unabhängigen Sachverständigen geprüft worden waren. - Der EGMR kritisierte die viereinhalbjährige Verfahrensdauer vor dem Landgericht, während der es immer wieder Phasen der Untätigkeit gegeben hätte. Für die Verzögerung sei weiter das Verhalten des Oberlandesgerichtes verantwortlich gewesen, das die Aussetzung des Verfahrens für fast vier Jahre anordnete, um das von der Beschwerdeführerin betriebene sozialgerichtliche Verfahren abzuwarten. Auch wenn der Ausgang dieses Verfahrens für das in Rede stehende Verfahren in gewisser Weise entscheidungserheblich gewesen sei, sei die Aussetzung angesichts der Tatsache, dass das Verfahren im Zeitpunkt der Aussetzung bereits mehr als sechs Jahre vor den Zivilgerichten anhängig war, nicht angemessen. Hier wies der EGMR abermals darauf hin, dass auch in Zivilverfahren , in denen es Aufgabe der Parteien ist, im Hinblick auf den Verfahrensfortgang selbst die Initiative zu ergreifen, die nationalen Gerichte nicht von der Verpflichtung entbunden seien, die Anforderungen nach Art. 6 Abs. 1 EMRK zu erfüllen. - Das Verfahren sei für die Beschwerdeführerin außerdem von grundlegender Bedeutung gewesen, da hierdurch eine monatliche Rente für den Verdienstausfall seit der Operation gesichert werden sollte, die für ihren Lebensunterhalt entscheidend sei. - Damit stellte der EGMR eine überlange Verfahrensdauer fest, die dem Erfordernis der „angemessenen Frist“ gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht entspräche. 26 EGMR Laudon v. Germany, Urteil vom 26. April 2007, Antragsnr. 14635/03, Abs. 67 ff. - 28 - 2.22. Skugor v. Germany, Urteil vom 10. Mai 2007, Antragsnr. 76680/01 Verstoß: gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK (teilweise) Art des Gerichtsverfahrens: Familienrecht (Umgangsrecht und Sorgerecht) Verfahrensdauer: Das Verfahren zum Umgangsrecht dauerte insgesamt etwa drei Jahre und zehn Monate, das Verfahren zum Sorgerecht drei Jahre und fünf Monate. Gründe des Gerichtes:27 Zum Verfahren zum Umgangsrecht: - Das Verfahren sei nicht besonders kompliziert gewesen. Auch habe das Verhalten des Klägers nicht zu Verzögerungen geführt. Vielmehr hätten die Gerichte das Verfahren verzögert , u. a. indem sie es versäumt hätten, die Einhaltung von Fristen durch die beteiligten Sachverständigen sicherzustellen. Zwar stellte der EGMR keine Phase der übermäßigen Untätigkeit fest. Die Gerichte träfe jedoch angesichts der Bedeutung des Verfahrens für den Beschwerdeführer und angesichts der Tatsache, dass die zeitliche Verzögerung unabänderliche Auswirkungen auf die Beziehung zu den Kindern haben könnte, eine besondere Pflicht zur Beschleunigung des Verfahrens, der sie nicht nachgekommen seien. - Die Gesamtdauer des Verfahrens habe daher die angemessene Frist gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK überschritten. Zum Verfahren zum Sorgerecht: - Zum Sorgerechtsverfahren stellte der EGMR fest, dass die Gerichte den Ausgang des Verfahrens zum Umgangsrecht, in dessen Verlauf eine Reihe von relevanten Informationen beigebracht wurde, in rechtsgültiger Weise abwarten durften. - Obgleich nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR Sorge- und Umgangsrechtssachen grundsätzlich eine besonders zügige Verfahrensweise geböten, sei dies nicht pauschal in jedem Fall gegeben. Vorliegend hätten keine Anhaltspunkte dafür vorgelegen , dass das Wohl der Kinder durch ihre Mutter gefährdet sei; außerdem sei eine Klärung aller Aspekte der Beziehung der Kinder zu ihrem Vater im parallelen Umgangsrechtsverfahren erfolgt. - Schließlich stellte der EGMR fest, dass ein Teil des Verfahrens, hier vor dem Amtsgericht , dann länger sein könne, ohne dass Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt würde, wenn das Verfahren insgesamt von angemessener Dauer sei. 27 EGMR Skugor v. Germany, Urteil vom 10. Mai 2007, Antragsnr. 76680/01, Abs. 70 ff., 75 ff. - 29 - - Angesichts der Umstände des Falles habe demnach die Verfahrensdauer des Sorgerechtsverfahrens die angemessene Frist im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht überschritten . - 30 - 2.23. Nanning v. Germany, Urteil vom 12. Juli 2007, Antragsnr. 39741/02 Verstoß: gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK Art des Gerichtsverfahrens: Familienrecht (Personensorge: Herausgabe eines Pflegekindes an die leibliche Mutter) Verfahrensdauer: Das beanstandete Verfahren dauerte insgesamt fünf Jahre und zwei Monate. Diesem war ein inhaltsgleiches Verfahren vorausgegangen. Gründe des Gerichtes:28 - Der EGMR wies darauf hin, dass bei Verfahren zum Personenstand besondere Zügigkeit geboten sei: In Situationen, in denen ein Elternteil von seinem kleinen Kind getrennt sei, schwänden die Möglichkeiten einer Zusammenführung mit dem Zeitablauf bzw. würden letztendlich zunichte gemacht. Da somit immer die Gefahr bestünde, dass Verfahrensverzögerungen zu einer faktischen Entscheidung der dem Gericht vorgelegten Frage führten, hätten die innerstaatlichen Behörden in Fällen dieser Art eine besondere Sorgfaltspflicht. - Obwohl der Fall kompliziert gewesen sei, sei die vierjährige Verfahrensdauer vor dem Landgericht als zweiter Instanz unverhältnismäßig. Diesem Gericht sei die Komplexität des Verfahrens aufgrund eines vorangegangenen Verfahrens vertraut gewesen. Zusammen mit der Tatsache, dass der Zeitfaktor bei diesem Personensorge-Fall von entscheidender Bedeutung gewesen sei, hätte dies das Landgericht dazu verpflichtet, jegliche unnötige Verzögerung zu verhindern. So hätte z. B. die Gutachtenerstellung genau überwacht und ein strenger Zeitplan eingehalten werden sollen. Dieser besonderen Sorgfaltspflicht sei das Gericht nicht nachgekommen, sodass dem Erfordernis der „angemessenen Frist“ nicht entsprochen worden sei. 28 EGMR Nanning v. Germany, Urteil vom 12. Juli 2007, Antragsnr. 39741/02, Abs. 43 ff. - 31 - 2.24. Glüsen v. Germany, Urteil vom 10. Januar 2008, Antragsnr. 1679/03 Verstoß: gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK (teilweise) Art des Gerichtsverfahrens: Sozialrecht (Entschädigungsforderung nach dem Opferentschädigungsgesetz und Festlegung des Behindertenstatus) Verfahrensdauer: Das Verfahren zur Entschädigungsforderung dauerte insgesamt zehn Jahre und neun Monate. Gründe des Gerichts:29 Zum Verfahren zur Entschädigungsforderung nach dem Opferentschädigungsgesetz : - Zunächst erklärte der EGMR Art. 6 Abs. 1 EMRK für anwendbar, da das Opferentschädigungsgesetz einen Anspruch begründe, der unter Art. 6 Abs. 1 EMRK falle. - Zwar räumte der EGMR ein, dass der Fall relativ kompliziert gewesen sei. Zudem hätten die Anträge des Beschwerdeführers in beiden Instanzen, einen zusätzlichen Sachverständigen zu bestellen, zur zusätzlichen Dauer des Verfahrens beigetragen. Der Beschwerdeführer habe damit aber von seinen Rechten Gebrauch gemacht. Das Sozialgericht habe jedoch den Sachverständigen erst sieben Monate nach dem Antrag bestellt, sodass die durch die Anträge verursachte Verfahrensdauer nicht allein dem Beschwerdeführer zuzurechnen sei. - Zum Verhalten der Gerichte merkte der EGMR abermals an, dass die Verantwortung der nationalen Gerichte, in Übereinstimmung mit Art. 6 EMRK eine angemessene Dauer des Verfahrens zu gewährleisten, auch nicht in solchen Verfahren entfalle, in denen es grundsätzlich die Aufgabe der Parteien sei, für den Fortgang des Verfahrens zu sorgen . So hätten die Gerichte für ein schnelleres Verfahren sorgen können, indem sie die Anträge, weitere medizinische Sachverständigenberichte anzufordern, abgelehnt hätten. - Beim Verfahren sei es um Rentenleistungen gegangen, sodass für den Beschwerdeführer viel auf dem Spiel stand. Zugunsten der Gerichte sei jedoch zu berücksichtigen, dass dem Beschwerdeführer schon während des Verfahrens Geldzahlungen zuerkannt wurden . - Unter Berücksichtigung aller Umstände sei die Verfahrensdauer nicht angemessen gewesen, sodass Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt sei. 29 EGMR Glüsen v. Germany, Urteil vom 10. Januar 2008, Antragsnr. 1679/03, Abs. 58 ff., 80 ff. - 32 - Zum Verfahren zur Festlegung des Behindertenstatus: Der EGMR erklärte die Beschwerde in Bezug auf das Verfahren zur Festlegung des Behindertenstatus des Beschwerdeführers für offensichtlich unbegründet. Unter anderem sei das Verfahren, das in erster Instanz etwa zwei Jahre in Anspruch nahm, innerhalb angemessener Frist gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK erfolgt.