© 2019 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 185/18 Großbritannien und der BREXIT Verteidigungs- und außenpolitische Implikationen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 2 Großbritannien und der BREXIT Verteidigungs- und außenpolitische Implikationen Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 185/18 Abschluss der Arbeit: 23. Januar 2019 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Militärisches Potenzial sowie sicherheits- und verteidigungspolitische Ausrichtung Großbritanniens 7 3. Die Folgen des BREXIT für die internationalen Beziehungen Großbritanniens 11 3.1 Europa 11 3.2 NATO 16 3.3 Vereinte Nationen 17 3.4 The Commonwealth of Nations 17 4. Das Verhältnis Londons zu Nordirland und Schottland 22 5. Möglicher Fortgang der Entwicklung 27 6. Fazit 28 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 4 1. Einleitung Der Austritt Großbritanniens (British Exit – BREXIT) aus der Europäischen Union (EU) beschäftigt Politik, Medien und öffentliche Meinung besonders in Europa massiv. Schon seit der vorangehenden Debatte des britischen Referendums vom 23. Juni 2016, bei dem 51,9 Prozent der Teilnehmenden für den Austritt des Vereinigten Königreiches stimmten, werden die möglichen Folgen dieses Schrittes äußerst kontrovers diskutiert. Im Vordergrund standen dabei zunächst die politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Konsequenzen.1 Doch seither haben sich die Fragen weiter ausdifferenziert. Neben den Politikfeldern, in denen Großbritannien bislang eine Vorreiterrolle innehatte, wie etwa der Agrarpolitik und bei der Einhaltung von Emissionszielen, geriet zunehmend auch der außen-und sicherheitspolitische Sektor in den Fokus.2 Auch die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages haben sich mit solchen Fragestellungen bereits auseinandergesetzt.3 1 Dossier: Der Brexit und die britische Sonderrolle in der EU, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung ; https://www.bpb.de/internationales/europa/brexit/229517/moegliche-folgen-des-brexit [letzter Zugriff: 10.12.2018], Dossiers: Brexit und die Folgen, in: Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik; https://archiv.wirtschaftsdienst .eu/dossiers/dossier.php?dossier=372 [letzter Zugriff: 10.12.2018], Karl von Wogau, Brexit und die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in: Behörden Spiegel, 28.9.2018; https://www.behoerden-spiegel.de/2018/09/28/brexit-und-die-europaeische-sicherheits-und-verteidigungspolitik / [letzter Zugriff: 10.12.2018]. Dr. Karl von Wogau ist Generalsekretär der Kangaroo Group und Mitglied im Beirat der Berliner Sicherheitskonferenz. 2 Till Uebelacker, Die Folgen des Brexit: Chancen und Risiken für ein grünes Europa, Heinrich Böll-Stiftung, 30.11.2017; https://www.boell.de/de/2017/11/28/chancen-und-risiken-fuer-ein-gruenes-europa-experteninnendiskutieren -brexit-folgen-der [letzter Zugriff: 10.12.2018], Claudia Major/Nicolai von Ondarza, Kein »Global Britain« nach dem Brexit. Der Brexit schwächt die britische Außen- und Sicherheitspolitik – eine bilaterale Einbindung ist dennoch im deutschen Interesse, swp-aktuell 29, Mai 2018; https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2018A29_mjr_orz.pdf [letzter Zugriff : 10.12.2018] sowie grundsätzlich The United Kingdom´s Defence after Brexit. Britain‘s Alliances, Coalitions , and Partnerships. Ed. by Rob Johnson and Janne Haaland Matlary, Basingstoke 2019. 3 Ausarbeitung: Mögliche sicherheits- und verteidigungspolitische Folgen des britischen Referendums über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union, WD 2-3000-020/17; https://www.bundestag .de/blob/502256/2573fcdc712d418e76294b4146463748/wd-2-020-17-pdf-data.pdf [letzter Zugriff: 10.12.2018], Ausarbeitung: Mögliche sicherheits- und verteidigungspolitische Auswirkungen des sogenannten „Brexit“ auf die Europäische Union und auf Deutschland, WD 2-3000-039/16 Bibliothek des Deutschen Bundestages, Literaturtipp: BREXIT. Aktualisierte Literaturauswahl 2016-2017, 24.3.2017; https://www.bundestag.de/blob/500304/5c4ea3be89d80cf63df32c2b422eee15/littipp_brexit_aktualisiert -data.pdf [letzter Zugriff: 10.12.2018]. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 5 Heute scheint es allerdings alles andere als sicher, dass das britische Parlament irgendeinem ausgehandelten BREXIT-Vertrag zustimmt.4 Ein dann gegebenenfalls „harter BREXIT“ wäre in seinen konkreten Folgen bislang noch schwieriger vorherzusagen als ein geregelter.5 Als größtes Hindernis gilt derzeit der künftige Status Nordirlands, dessen Bevölkerung mehrheitlich ebenso gegen den BREXIT gestimmt hat wie diejenige Schottlands – was die beiden Landesteile wiederum verbindet .6 Auch in der Außen- und Sicherheitspolitik möchte London nicht die Grundlagen, wohl aber die Rahmenbedingungen für das eigene Handeln aus seiner Sicht verbessern: Nach wie vor sollen die Beziehungen zur EU und anderen europäischen Staaten, zu den USA und den wichtigsten internationalen Organisationen als traditionelle Säulen erhalten bleiben.7 Bereits im Juni diesen Jahres forderte der Kabinettschef der britischen Premierministerin Theresa May, David Lidington, es müsse in den Verträgen über die künftige Beziehung von Großbritannien zur EU einen Pfeiler für die äußere Sicherheit geben. Nach dem Willen der britischen Regierung soll es dazu nach dem EU-Ausstieg Rahmenregeln für eine militärische und Sicherheits-Kooperation geben, die „mit formalisierten Vereinbarungen über eine außenpolitische Zusammenarbeit verknüpft werden sollen“. Am Ende stünde dann wunschgemäß „die engstmögliche Kooperationsvereinbarung 4 European Commission, Brusseles, 19.12.2018 COM82018) 890 final: Preparing for the withdrawal of the United Kingdom from the European Union on 30 March 2019: Implementing the Commission’s Contingency Action Plan; https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/com-2018-890-final.pdf [letzter Zugriff: 19.12.2018]. Siehe zur Diskussion z.B. „Großbritannien war einfach zu arrogant“ – Gina Miller im Interview mit Bettina Schulz, in: Zeit online, 9.12.2018; https://www.zeit.de/wirtschaft/2018-12/gina-miller-brexit-volksabstimmungverbleib -eu [letzter Zugriff: 10.12.2018], Sebastian Borger, Die Fronten sind nicht aufzulösen. Bittere Debatte im britischen Unterhaus/Premierministerin May: Zweite Volksabstimmung wäre Verrat, in: Frankfurter Rundschau vom 18.12.2018, S. 6; http://prarchiv .bundestag.btg/PressDok/docview.html;sessionid=9959ADE091C57A43B015F1C4?mode=pressmap&doclist =DBT:PressmapServlet:doclist&n=40&pdf=0 [letzter Zugriff: 18.12.2018]. 5 Carla Neuhaus/Heike Jahberg/Laurin Meyer/Leonhard Rosenauer, Was ist, wenn sich die EU und Großbritannien nicht einigen, in: Der Tagesspiegel, 22.10.2018; https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/angst-vor-dembrexit -was-ist-wenn-sich-die-eu-und-grossbritannien-nicht-einigen/23211216.html [letzter Zugriff: 10.12.2018], Brexit und die Folgen: Großbritannien, die unterschätzte Gefahr, in: Handelsblatt, 10.12.2018; https://www.handelsblatt .com/unternehmen/management/brexit-und-die-folgen-warum-der-brexit-unternehmen-auch-vorteileverschaffen -kann/19481676-2.html?ticket=ST-1078247-eXHUCDq2zYLfn4wyecGD-ap1 [letzter Zugriff: 10.12.2018], Marcus Theurer, Das ist die Woche der Wahrheit für den Brexit, in: FAZ, 10.12.2018; https://www.faz.net/aktuell /brexit/ [letzter Zugriff: 10.12.2018], Carla Neuhaus, Deutsche Firmen fürchten harten Brexit, in: Der Tagesspiegel vom 17.12.2018, S. 15; http://prarchiv .bundestag.btg/PressDok/docview.html;sessionid=B97EA2F1A1C585A0ACB6AFB6?mode=pressmap&doclist =DBT:PressmapServlet:doclist&n=56&pdf=0 [letzter Zugriff: 18.12.2018]. 6 apr/dpa/reuters: EU-Gipfel in Brüssel. May kämpft um weitere Zugeständnisse beim BREXIT, in: Spiegel online, 13.12.2018; http://www.spiegel.de/politik/ausland/brexit-theresa-may-kaempft-auf-eu-gipfel-in-bruessel-umweitere -zugestaendnisse-a-1243467.html [letzter Zugriff: 13.12.2018]. 7 Major/Ondarza, Kein „Global Britain“ [wie Anm. 2], S. 1f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 6 (…), die sich denken lässt".8 Absolute Priorität aber hat für die britische Seite die eigene Souveränität . Demnach will Großbritannien auch künftig entscheidend in der NATO mitwirken, sieht aber in der europäischen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eine wichtige Ergänzung.9 Dabei erscheint es geradezu als „Ironie des Brexits“, dass sich London nun als Drittstaat an der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GVSP) zu beteiligen bemüht, die es als EU- Mitgliedstaat stets ablehnte.10 Die außenpolitische Ideenwelt Londons zur eigenen Zukunft nach dem BREXIT erscheint deswegen auch Analysten wie ein déjà vu: Bereits zu Beginn der 1960er Jahre stand London nämlich vor der Frage, „what should Britain’s place in the modern world be? In 1962, like today, the UK doesn ’t have the capacity to be all things to all people, so will need to make choices. Its main task will be to figure out what kind of power it wants to be and the tools it will need to support its new role.“11 Schon damals wirkte das Festhalten am nationalstaatlichen Souveränitätsprinzip einer Kooperation am politischen Projekt „Europa“ entgegen. London mochte sich nicht überstaatlich integrieren , sondern favorisierte eine Konföderation, einen Staatenbund also, der in erster Linie einen gemeinsamen Wirtschaftsraum erschaffen sollte: „Insgesamt orientierte sich die britische Europapolitik sehr viel stärker an Fragen nach den wirtschaftlichen Vorteilen einer Mitgliedschaft in der Gemeinschaft als an der Idee ‚Europa‘ als Friedensordnung und Wertegemeinschaft. Die ambivalente Haltung Großbritanniens zu Europa resultierte in der Gründungsphase letztlich auch aus dem Umstand, dass der Weg nach Europa zusammenfiel mit dem Niedergang Großbritanniens als Weltmacht.“12 8 Zitiert nach Vanessa Steinmetz/Reuters, EU-Ausstieg: Briten wollen trotz Brexit enge Zusammenarbeit in Verteidigungspolitik , in: Spiegel online, 15.6.2018; http://www.spiegel.de/politik/ausland/eu-briten-wollen-trotzbrexit -enge-zusammenarbeit-in-verteidigungspolitik-a-1213175.html [letzter Zugriff: 10.12.2018]. 9 Ebd. 10 Major/Ondarza, Kein „Global Britain“ [wie Anm. 2], S. 2. 11 Georgina Wrigt/Matt Bevington, Britain must decide, what kind of power it wants to be after Brexit, in: Chatham House, 18.7.2018; https://www.chathamhouse.org/expert/comment/britain-must-decide-what-kind-power-itwants -be-after-brexit [letzter Zugriff: 11.12.2018]. 12 Ursula Lehmkuhl, Großbritannien zwischen Empire und Europa. Geopolitische Spannungen und wirtschaftspolitische Ambivalenzen in der unmittelbaren Nachkriegszeit, 10.6.2016, in: Dossier: Der Brexit und die britische Sonderrolle in der EU, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung; https://www.bpb.de/internationales /europa/brexit/229517/moegliche-folgen-des-brexit [letzter Zugriff: 11.12.2018]. Siehe dazu grundlegend Thomas Mergel, Großbritannien seit 1945. Göttingen 2005. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 7 Die kritische Sicht auf Europa teilen die Austrittsbefürworter, die „Brexiteers“, heute – bis hin zu dem Versuch, dem bis dato nahezu bedeutungslosen Commonwealth neues Leben einzuhauchen . Jener wird von nicht wenigen nationalen wie internationalen Kommentatoren als beinahe neo-kolonialer Versuch gesehen, ein „Empire 2.0“ zu errichten.13 Während man jedoch versucht, nach dem Verlassen der EU das vormalige Weltreich zumindest in einer Abwandlung zu reanimieren, vollzieht sich auf den britischen Inseln zeitgleich der Zerfall des Vereinigten Königreichs. Mehrheitlich konnten sich die Brexiteers nur in England und Wales durchsetzen, nicht aber in Schottland und Nordirland. Letztendlich war es die rein zahlenmäßige Überlegenheit, die den Ausschlag für den Austritt gab. Entgegen der Befürchtung ist ganz offensichtlich also nicht die Europäische Union durch den BREXIT vom Zerfall bedroht, wie allenthalben zuvor vermutet, sondern eher Großbritannien selbst; das Referendum spaltete nicht nur die britische Gesellschaft, sondern gleich die gesamte Staatlichkeit. Damit sind gleichwohl die Themenbereiche umrissen, denen sich diese Ausarbeitung im Folgenden annehmen wird, nämlich auf der Basis einer kurzen Darstellung des militärischen Potenzials Großbritanniens sein Verhältnis zur EU sowie zur NATO darzustellen, seine Absichten hinsichtlich der Reanimierung des Commonwealth zu beleuchten und schließlich die Problematik gegenüber den schottischen und nordirischen Landesteilen aufzuzeigen. Vorauszuschicken ist allerdings, dass zum derzeitigen Zeitpunkt jede Aussage über die tatsächlichen Folgen des BREXIT kaum mehr sein können als oberflächliche Vermutungen. Diese Ausarbeitung wird sich deswegen darauf beschränken, die entsprechenden Diskurse zu skizzieren und die bekannten Statements zu den denkbaren Szenarien zusammenzufassen. Weitergehende Aussagen sind zumal angesichts des eben vom britischen Parlament abgelehnten ausgehandelten BREXIT-Abkommens kaum seriös. 2. Militärisches Potenzial sowie sicherheits- und verteidigungspolitische Ausrichtung Großbritanniens Angesichts der Tatsache, dass es sich bei der britischen Armee neben der französischen um die schlagkräftigste auf dem europäischen Kontinent handelt, und man insbesondere die Expertise und das engmaschige Netz an Auslandsaufklärung nicht verlieren möchte, zeigt man sich in Brüssel offen für die Pläne Londons zur künftigen engen Zusammenarbeit. Umgekehrt möchte 13 Benjamin Fox, Der Traum vom Commonwealth 2.0, in: Der Tagesspiegel, 9.4.2018; https://www.tagesspiegel .de/politik/brexit-der-traum-vom-commonwealth-2-0/21156760.html [letzter Zugriff: 11.12.2018]. Boris Johnson und seine politischen Weggefährten benannten das Commonwealth als einen der wichtigsten Gründe, warum ihre Nation nach dem Ausstieg aus der Europäischen Union zum Empire 2.0 zum „Great Global Britain“ werden wird. Siehe Stefanie Bolzen, Großbritanniens neuer Traum vom Empire, in: Die Welt, 16.4.2018; https://www.welt.de/politik/ausland/article175465954/Commonwealth-Grossbritanniens-neuer- Traum-vom-Empire-nach-dem-Brexit.html [letzter Zugriff: 11.12.2018]. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 8 man im Vereinigten Königreich außerdem nicht auf die bestehenden Beteiligungen an veritablen Rüstungsprojekten wie beispielsweise beim Satellitenortungssystem Galileo verzichten.14 Neben Frankreich ist Großbritannien vor allem das einzige westeuropäische Land, das mittels atomar bewaffneter U-Boote über die nukleare Erst- und Zweitschlagfähigkeit verfügt.15 Auch wegen seines Status als Atommacht steht für London im Kontext der Austrittsagenda auf dem Sektor der Sicherheitspolitik an erster Stelle, ein eigenständiger Global Player zu werden. Theresa May präsentierte dafür am 17. Januar 2017 in ihrer Rede im Lancaster House in London zu ihrem Plan für die britische Außen- und Sicherheitspolitik nach dem BREXIT das Schlagwort vom „Global Britain“.16 Die dafür notwendige Fähigkeit, militärische Macht weltweit zu projizieren , wollen die Planer im Verteidigungsministerium durch das Vorhaben „Warfighting Division“ sowie den Bau zweier Flugzeugträger, der „Queen Elisabeth“ und der „Prince of Wales“, erwerben . Ab 2025 möchte man in der Lage sein, ein schlagkräftiges Expeditionskorps von bis zu 40.000 Soldatinnen und Soldaten überall hin entsenden zu können, das für den Landkrieg gegen moderne Streitkräfte gewappnet ist. Rechnerisch werden dazu neben 82.000 Berufssoldatinnen und -soldaten noch 30.000 Reservisten benötigt. Allerdings verfügt die British Army, deren Sollstärke seit 2010 von 102.000 auf 82.000 Soldatinnen und Soldaten abgeschmolzen wurde, über dieses Personal nicht, weil die notwendigen Rekrutierungsziele seit Jahren und prognostiziert auch künftig nicht erreicht werden. Die regierenden Konservativen nahmen ihr Bekenntnis zu einer Kernarmee von 82.000 Mann deswegen bereits aus ihrem Wahlprogramm. Denn nicht nur personell, auch in der Ausrüstung ist es schwierig, einen solchen Großverband auszustatten. Großbritannien hat deswegen zwar zahlreiche Rüstungsprojekte aufgelegt, deren Finanzierung nach einer Studie des britischen Rechnungshofes allerdings zu niedrig kalkuliert ist und nicht einmal alle notwendigen Fahrzeuge und Waffensysteme abdeckt. Trotz der fast 52 Mrd. Euro an Verteidigungsausgaben, mit denen im Übrigen das Zwei-Prozent-Ziel der NATO erfüllt wird, reichen die Mittel bei weitem nicht aus. Britische Militärexperten schätzen, dass die Streitkräfte im Alltagsbetrieb der kommenden Jahre bis zu elf Milliarden Euro einsparen müssten, um den eigenen Ansprüchen annähernd gerecht zu werden. In der Konsequenz scheint es derzeit unwahrscheinlich , dass es die „Warfighting Division“ bis 2025 geben wird, falls überhaupt.17 Mit den beiden Flugzeugträgern, die trotz des Ressourcenmangels Anfang der 2020er Jahre einsatzbereit sein sollen, möchte sich die Royal Navy neben der US Navy quasi als Hüterin der 14 Steinmetz/Reuters, EU-Ausstieg [wie Anm. 8], Ralph Bossong, Intelligence Support for EU Security Policy. Options for Enhancing the Flow of Information and Political Oversight, in: swp Comment 2018/C 51, December 2018; https://www.swp-berlin.org/en/publication /intelligence-support-for-eu-security-policy/ [letzter Zugriff: 16.12.2018]. 15 Björn Müller, Großbritanniens Armee-Pläne. Militärmacht auf dem Weg ins Abseits, in: FAZ, 30.7.2017; https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/grossbritanniens-armee-plaene-militaermacht-auf-dem-weg-insabseits -15124514-p3.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2 [letzter Zugriff: 13.12.2018]. 16 Patrick Bahners, Auf zum Brexit. Was soll das heißen: Global Britain?, in: FAZ, 19.1.2017; https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/theresa-may-haelt-rede-zum-brexit-was-bedeutet-global-britain- 14690337.html [letzter Zugriff: 13.12.2018]. 17 Müller, Großbritanniens Armee-Pläne [wie Anm. 15]. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 9 Handelsseewege profilieren und sich selbst insbesondere als Anlehnungsmacht kleinerer asiatischer Länder wie Singapur anbieten, die angesichts des zunehmend erdrückenden Einflusses Chinas nach potenten Partnern suchen. Ein solches Engagement im Pazifik bände in der Summe der notwendigen Geleitschiffe immerhin circa 30 Prozent des derzeitigen Bestandes der Royal Navy. Deren Schiffe sind außerdem teilweise überaltert oder nicht adäquat ausgerüstet für eine solche Trägerkampfgruppe, die jeweiligen Bauprogramme sind zudem nicht ausreichend finanziert oder hängen aus anderen Gründen dem Zeitplan hinterher.18 Grundsätzlich aber verfügt London über eine Schiffstonnage, die genauso hoch ist wie die deutsche und französische zusammen . Ob das britische Militär alleine deswegen jedoch in einer „anderen Liga spielt“, ist wenigstens strittig.19 In diesem Kontext offenbart sich das strategische Problem der britischen Planungen: Um den Status einer Weltmacht mit globalem Anspruch militärisch abzusichern, müsste London Kapazitäten einsetzen, die weder derzeit noch in absehbarer Zukunft vorhanden sein werden, es sei denn, sie würden von anderen Aufgaben abgezogen. Das aber kann nur durch eine entsprechend verminderte Beteiligung an NATO-Operationen geschehen. Für die transatlantische Allianz aber gelten Russland und der Krisengürtel von Afrika bis in den Mittleren Osten als hauptsächliche Bedrohung. Dort sähe man die Briten eher traditionell in der Verantwortung für den Nordatlantik , wo wiederum kaum Flugzeugträger, sondern vielmehr Patrouillen- und U-Boote benötigt werden . London könnte im Bündnis deutlich an Einfluss verlieren, wenn diese Fähigkeiten fürderhin von anderen NATO-Staaten übernommen würden, wie beispielsweise Kanada.20 Alles in allem fehlen in Großbritannien Konzepte, um seine militärischen Fähigkeiten langfristig zu erhalten, zumal angesichts gleichzeitiger Ausdehnung der Aufgabenbereiche. Es dürfte deswegen weiterhin auf das von ihm in der NATO präferierte Modell der kurzfristigen Kooperation mit anderen Partnern in einer so genannten Joint Expeditionary Force setzen. Mit einer Erhöhung der britischen Verteidigungsausgaben im dafür notwendigen Ausmaß ist derzeit allerdings kaum zu rechnen: Dafür sind die Defizite in den sozialen Bereichen, nicht zuletzt dem maroden Gesundheitssystem zu dramatisch.21 Im Gegenteil ist fraglich, ob sich London derartige Verteidigungsausgaben noch leisten kann und will, sollte die britische Wirtschaft, wie allgemein befürchtet, drastisch unter dem BREXIT leiden.22 Ohnehin ist die veröffentlichte Meinung in Großbritannien hinsichtlich der Verteidigungspolitik und des eigenen Militärs eher disparat. Den eigenen Streitkräften steht man einschlägigen Meinungsumfragen nach zwar durchweg positiv gegenüber, von den durch sie geführten Kriegen hält man indes wenig. Innerhalb der Armee ist man darüber offenbar besorgt, weil Soldatinnen 18 Müller, Großbritanniens Armee-Pläne [wie Anm. 15]. 19 Alan Mendoza/James Rogers, Verteidigung nach dem Brexit. Das britische Militär spielt in einer anderen Liga, in: FAZ, 27.11.2018; https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/nach-brexit-grossbritannien-als-fuehrendemilitaermacht -europas-15903473.html [letzter Zugriff: 14.12.2018]. 20 Müller, Großbritanniens Armee-Pläne [wie Anm. 15]. 21 Ebd. 22 Major/Ondarza, Kein „Global Britain“ [wie Anm. 2], S. 7. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 10 und Soldaten zunehmend als Opfer unpopulärer Kriege, aus denen sie zudem traumatisiert zurückkehrten , wahrgenommen werden. Analysten der gegenwärtigen Lage wie der langjährige britische Diplomat James de Waal warnen daher davor, dass „(d)er traditionelle Standpunkt, dass Großbritannien weiterhin als Weltmacht agieren wird, (…) tatsächlich außerhalb der Parlaments- und Regierungskreise nicht sehr weit verbreitet sein (könnte)“.23 Demgegenüber stehen die größten Kritiker einer Sparpolitik bei den Verteidigungsausgaben nicht nur ganz weit rechts im Parteienspektrum, sondern auch mit an der Spitze der Brexiteers. Daher war der Regierung schon aus innenpolitischen Gründen nicht daran gelegen, Verteidigungsfragen im Kontext der BREXIT-Verhandlungen zu thematisieren. Zumal Theresa Mays Prioritäten, ganz anders als die ihres Vorgängers David Cameron, auf der Bekämpfung des Terrorismus innerhalb der eigenen Landesgrenzen durch die Stärkung der Nachrichtendienste sowie des Polizei- und Justizapparates liegen, also gerade nicht auf einer weltweiten aktiven militärischen Präsenz. Daran dürfte sich nichts ändern, solange keine wesentliche unerwartete Sicherheitsbedrohung auftritt.24 Die von May im Januar 2017 vorgestellte Außen- und Sicherheitspolitik nach dem EU-Austritt mit ihrem Kern des „Global Britain“ war seinerzeit bereits politisch weitgehend unformuliert und ist es bis heute auch geblieben. „Leadership and diplomatic support“ würden die Briten bieten , meinte dazu Simon Duke, Professor an der Uni Maastricht und Experte für Sicherheits- und Verteidigungspolitik, „but not many boots“.25 Seiner Meinung nach sei es für das Vereinigte Königreich „unvorstellbar, wirklich ‚global‘ zu sein, ohne europäisch zu sein“.26 Doch in London möchte man eben jene stärkere globale Präsenz nach dem BREXIT über eine Belebung alter beziehungsweise den Aufbau neuer Allianzen, die Stärkung der multilateralen Ordnung, vor allem aber durch ein Netz an Freihandelsverträgen abbilden. Konzepte oder Ressourcen wurden dafür bis heute indes nicht hinterlegt.27 23 James de Waal, Der Brexit und die britische Verteidigungspolitik. Kein „business as usual“, BAKS- Arbeitspapier Sicherheitspolitik, Nr. 28/2016; https://www.baks.bund.de/sites/baks010/files/arbeitspapier_sicherheitspolitik _2016_28_9.pdf [letzter Zugriff: 10.12.2018]. James de Waal ist ehemaliger britischer Diplomat und als Senior Consulting Fellow für internationale Sicherheit am Chatham House auf westliche Verteidigungspolitik spezialisiert . 24 Ebd. 25 Simon Duke, High stakes: Brexit, security, and defence. in: ECDPM Great Insights magazine 3/2018, S. 44-46; https://ecdpm.org/great-insights/beyond_brexit/high-stakes-brexit-security-and-defence/ [letzter Zugriff: 14.12.2018] sowie ausführlich Ders., Will Brexit damage our security and defence? The impact on the UK and the EU. London 2019. 26 Duke, High stakes [wie Anm. 25]. Ähnlich auch die Analyse bei Major/Ondarza, Kein „Global Britain“ [wie Anm. 2]. 27 Ebd., S. 1. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 11 Grundsätzlich setzt man dort auf Einzel-Verträge, die dann erst noch auszuhandeln wären. Am 5. Oktober 2018 hat der britische Verteidigungsminister Gavin Williamson beispielsweise mit seiner deutschen Amtskollegin Ursula von der Leyen in Minden das „Joint Vision Statement“ unterzeichnet. Diese bilaterale Erklärung zur engeren Zusammenarbeit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik soll als „Letter of Intent“ den Rahmen für weitere gemeinsame Projekte bilden - so etwa zur Verbesserung der Interoperabilität beider Streitkräfte, vertieften Zusammenarbeit bei der Zukunfts- und Fähigkeitsentwicklung sowie einer intensiveren Ausbildungs- und Übungskooperation. Flankiert durch regelmäßige bilaterale Treffen auf unterschiedlichen Ebenen und die Implementierung von Austauschoffizieren möchte man in den Bereichen strukturierter Dialog, Einsätze Heer, Luftwaffe und Marine sowie auf den Feldern Unterstützung, Sanität, Doktrinen , Konzepte und vor allen Dingen Cyber kooperieren.28 Außerdem lässt die Deutsche Marine auch weiterhin ihre Schiffe für die Seekriegführung bei einer Ausbildungseinrichtung der Royal Navy zertifizieren.29 Das „Joint Vision Statement“ wurde nach Aussage der Bundesregierung allerdings bereits seit 2015 und unabhängig von der BREXIT-Entscheidung vorbereitet: „Es ersetzt keine Kooperation innerhalb der EU und steht auch nicht anstelle von EU-Vereinbarungen, sondern liefert den politischen Rahmen für die traditionell bestehende intensive Zusammenarbeit der Verteidigungsministerien und der Streitkräfte beider Seiten.“30 In einen „strategischen Dialog über Außen- und Sicherheitspolitik“ jenseits des BREXIT, den der deutsche Außenminister und sein britischer Amtskollege im April 2018 angekündigt hatten, sind beide hingegen bislang nicht essentiell getreten.31 3. Die Folgen des BREXIT für die internationalen Beziehungen Großbritanniens 3.1 Europäische Union In einem Positionspapier vom 12. September 2017 zu Sicherheit, Verteidigung und Entwicklung hatte die britische Regierung eine „tiefe und besondere Partnerschaft mit der EU, die über die bestehenden Vereinbarungen mit Drittländern hinausgeht“, gefordert. Zehn Tage später versicherte May in Florenz, die Entschlossenheit des Vereinigten Königreichs, die Stabilität, Sicherheit und den Wohlstand ihrer europäischen Freunde zu verteidigen, sei ungebrochen: 28 Jörg Fleischer, Ministerin zeichnet mit britischem Amtskollegen Joint Vision Statement, BMVg, 8.10.2018; https://www.bmvg.de/de/aktuelles/ministerin-zeichnet-mit-britischem-amtskollegen-joint-vision-statement- 28180 [letzter Zugriff: 10.12.2018]. 29 Müller, Großbritanniens Armee-Pläne [wie Anm. 15]. 30 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der FDP-Fraktion– Drucksache 19/4416 vom 20.9.2018: Folgen des Brexit für Deutschland und Europa; Deutscher Bundestag Drucksache 19/5194 vom 22.10.2018, S. 8; https://kleineanfragen.de/bundestag/19/5194-folgen-des-brexit-fuer-deutschland-und-europa-verteidigungspolitik [letzter Zugriff: 10.12.2018]. 31 Major/Ondarza, Kein „Global Britain“ [wie Anm. 2], S. 4. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 12 „Wir verlassen zwar die Europäische Union, nicht aber Europa. (…) Unser Wunsch ist es vielmehr, Ihr stärkster Freund und Partner zu sein, und dass die EU und das Vereinigte Königreich Seite an Seite gedeihen.“32 Ein knappes halbes Jahr später auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2018 relativierte sie diese Aussage, indem sie zwischen den Verhältnissen inner- und außerhalb der EU eine klare Trennlinie zog: Für ersteres forderte sie einen neuen Vertrag, „um unsere künftigen Beziehungen zur inneren Sicherheit zu untermauern“, bezüglich der Sicherheit außerhalb der EU lediglich ein lockereres „Abkommen“ und stellte in Aussicht, sich an anderen Formen der Assoziierung wie bilateralen oder Ad-hoc-Gruppen zu beteiligen.33 Ganz in diesem Sinne zeigte sich Mays Kabinettschef Lidington für den französischen Vorstoß für eine europäische Interventionsarmee (European Intervention Initiative/EII), der auch von der deutschen Bundesregierung unterstützt wird, zwar offen, verwies aber darauf, dass über die Entsendung britischer Soldatinnen und Soldaten ausschließlich die britische Regierung befinden würde, die europäische gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik immerhin eine wichtige Ergänzung zur entscheidenden Mitwirkung seines Landes in der NATO bleiben könnte.34 Ließe sich die EU darauf ein, würde dies wohl bedeuten, Großbritannien in die Prozesse vor wichtigen Gipfeln und Treffen regelmäßig einzubinden, ohne sicher sein zu können, dass es dennoch eigene, möglicherweise andere, Positionen bezieht. Für London bestünde der Vorteil darin, die Gefahr der Isolierung zu mindern. Aus diesem Grund will man neben der NATO auch innerhalb der G7- und G20-Formate sowie den Vereinten Nationen aktiv bleiben.35 Denn als Nicht-EU-Mitglied kann das Vereinigte Königreich künftig freilich keine EU-Beschlüsse mehr mitgestalten, sondern lediglich entscheiden, ob es sich jenen anschließen möchte. 36 32 Rede der britischen Premierministerin in Florenz, 22.9.2017: Eine neue Ära der Zusammenarbeit und Partnerschaft zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union; https://www.gov.uk/government /speeches/pms-florence-speech-a-new-era-of-cooperation-and-partnership-between-the-uk-and-the-eu.de [letzter Zugriff: 14.12.2018]. 33 Duke, High stakes [wie Anm. 25]. 34 Steinmetz/Reuters, EU-Ausstieg [wie Anm. 8]. Siehe dazu auch weiterführend Hans Peter Bartels u.a. (Hg.), Strategic Autonomy and the Defence of Europa. On the Road to a European Army?, Bonn 2017. 35 Siehe z.B. Wrigt/Bevington, Britain [wie Anm. 11]. 36 Major/Ondarza, Kein „Global Britain“ [wie Anm. 2], S. 7. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 13 Konkret hat die britische Regierung im Juli 2018 ein Weißbuch zu ihren künftigen Beziehungen mit der EU vorgelegt37, die in ihrem Kern eine Wirtschafts- und Sicherheitspartnerschaft vorsehen , die nach Einschätzung der Bundesregierung „weit über bisher existierende Vereinbarungen der EU mit Drittstaaten hinausgehen“.38 Bereits im Monat zuvor unterzeichnete Großbritannien außerdem eine Absichtserklärung zur Gründung der vom französischen Präsidenten initiierten „Europäischen Interventionsinitiative“ (EI2) – zusammen mit Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland, Frankreich, den Niederlanden, Portugal und Spanien. Ganz nach dem britischen Geschmack soll es sich dabei um ein „flexibles, unverbindliches Forum“ von Staaten handeln, die - falls nötig - europäische Sicherheitsinteressen verteidigen. Sehr bewusst hält man hier den Zugang ebenso offen wie beim Konstrukt der „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ (SSZ bzw. Permanent Structured Cooperation/PE- SCO), um auch Nicht-EU-Mitglieder in die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik einzubinden.39 Nur so glaubt man derzeit in Brüssel dem Anspruch der jüngst verabschiedeten „Globalen Strategie“40 gerecht werden zu können. Mit ihr reagiert die EU auf die grundlegenden weltweiten politischen Veränderungen – von den zerfallenden Staaten in direkter Nachbarschaft über den internationalen Terrorismus bis hin zur zunehmenden Aggressivität Russlands in Osteuropa . Dazu gehört auch die darin festgelegte Vertiefung der Beziehungen zur NATO als „wichtigste Rahmenwerk für die meisten Mitgliedstaaten“.41 37 The future relationship between the United Kingdom and the European Union. Presented to Parliament by the Prime Minister by Command of Her Majesty, July 2018; https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads /system/uploads/attachment_data/file/725288/The_future_relationship_between_the_United_Kingdom _and_the_European_Union.pdfn [letzter Zugriff: 14.12.2018]. 38 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der FDP-Fraktion– Drucksache [wie Anm. 30]. 39 Annegret Bendiek, Europäische Verteidigungspolitik, in: Dossier Deutsche Verteidigungspolitik, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, 21.9.2018; http://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verteidigungspolitik /275518/europaeische-verteidigungspolitik [letzter Zugriff: 10.12.2018]. 40 Gemeinsame Vision, gemeinsames Handeln: Ein stärkeres Europa. Eine Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, 2016; https://europa.eu/globalstrategy/sites/globalstrategy/files /eugs_de_0.pdf [letzter Zugriff: 10.12.2018], Elisabeth Guigou/Gwendal Rouillard, Die europäische Verteidigungsindustrie. Französische Empfehlungen für die Stärkung der europäischen Verteidigungspolitik, Friedrich Ebert-Stiftung Paris, September 2017; http://library.fes.de/pdf-files/bueros/paris/13686.pdf [letzter Zugriff: 14.12.2018]. 41 Bendiek, Europäische Verteidigungspolitik [wie Anm. 39]. Siehe hierzu weiterführend Ringo Wagner/Hans-Joachim Schaprian (Hg.), Handlungsfähigkeit stärken – Stabilität schaffen. Überlegungen zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion, Friedrich Ebert-Stiftung Sachsen-Anhalt, Magdeburg 2018. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 14 In diesem Sinne sprach sich auch das Europäische Parlament mit großer Mehrheit (544 Ja- zu 110 Nein-Stimmen bei 51 Enthaltungen) für ein künftiges Assoziationsabkommen mit Großbritannien nach dem Brexit aus.42 Die Abgeordneten bestanden allerdings auf „einem soliden Mechanismus zur Streitbeilegung“ als „Bestandteil des künftigen Beziehungsrahmens“ ebenso wie auf der Garantie für die uneingeschränkten Rechte der Bürgerinnen und Bürger seitens der britischen Regierung. Demnach könnte die Beziehung auf vier Säulen beruhen: Handels- und Wirtschaftsbeziehungen (Freihandelsabkommen), Innere Sicherheit, thematische Zusammenarbeit, z.B. bei grenzüberschreitenden Forschungs- und Innovationsprojekten sowie der Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik. Auf dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat am 22./23. März 2018 in Brüssel einigte man sich schließlich auf die Leitlinien für die künftigen Beziehungen der EU zum Vereinigten Königreich.43 Demnach strebt die EU im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik „eine möglichst enge Partnerschaft mit dem Vereinigten Königreich an, die sich auf den Handel und die wirtschaftliche Zusammenarbeit sowie auf andere Bereiche, insbesondere Sicherheit und Verteidigung, erstrecken soll“.44 Gleichzeitig haben die Staats- und Regierungschefs der EU-27 darauf hingewiesen, dass die Standpunkte, die London bislang vertritt, „der Tiefe einer solchen künftigen Partnerschaft Grenzen setzen“.45 Tatsächlich fielen auch bislang die wichtigsten verteidigungspolitischen Beziehungen Großbritanniens nicht in den Rahmen der EU, sondern in den der NATO oder gründen auf bilateralen Beziehungen, insbesondere mit den USA, dem Commonwealth und im Nahen Osten. Die EU als Organisation spielte in keinem von Großbritanniens letzten Kriegen eine wichtige Rolle, weder 42 Brexit: EP empfiehlt Assoziierungsabkommen für künftige Beziehungen zu Großbritannien, Pressemitteilung des Europäischen Parlaments, 13.3.2018; http://www.europarl.europa.eu/news/de/pressroom /20180309IPR99418/ep-empfiehlt-assoziierungsabkommen-fur-kunftige-beziehungen-zu-grossbritannien [letzter Zugriff: 10.12.2018]. 43 Leitlinien des Europäischen Rates (Artikel 50) zum Rahmen für die künftigen Beziehungen der EU zum Vereinigten Königreich, 23.3.2018; https://www.consilium.europa.eu/media/33497/23-euco-art50-guidelines-de.pdf [letzter Zugriff: 14.12.2018]. 44 Europäischer Rat, 22./23.3.2018, Wichtigste Ergebnisse; https://www.consilium.europa.eu/de/meetings/european -council/2018/03/22-23/ [letzter Zugriff: 14.12.2018]. Siehe zu den Vorstellungen im Detail Keeping Europe safe after Brexit. Findings of a reflection group led by Marta Dassù, Wolfgang Ischinger, Pierre Vimont, and Robert Cooper. Edited by Susi Dennison, Eurpean Council on Foreign Affairs, 20.3.2018; https://www.ecfr.eu/page/-/Keeping_Europe_Safe_After_Brexit2.pdf [letzter Zugriff : 10.12.2018]. 45 Ebd. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 15 im Irak, in Afghanistan, Libyen noch im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS). Insofern hatte die EU-Mitgliedschaft bis jetzt nur einen geringen Einfluss auf die Verteidigungspolitik Großbritanniens.46 Umgekehrt lassen sich die britischen Beiträge vergleichsweise einfach aus den 13 (von 16) Missionen und Operationen im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP), an denen sich Großbritannien beteiligt, herauslösen. Zwar verfügt London auf dem Papier über rund 20 Prozent der gesamten europäischen Fähigkeiten, war jedoch stets äußerst zurückhaltend mit deren Einsatz im europäischen Kontext.47 London bauschte seinen Beitrag offenbar auf, um seine Verhandlungsposition für eine neue Sicherheitspartnerschaft nach dem BREXIT mit der EU zu stärken, die vor allem die Themen Verteidigung , Cybersicherheit und externe Migration umfassen würde. In Wirklichkeit leistet Großbritannien nur 2,3 Prozent aller GSVP-Missionen und damit erheblich weniger als zum Beispiel Frankreichs, Spaniens oder Italiens Beiträge zu zivilen und militärischen Operationen der EU. Außerdem hat Großbritannien abgesehen von der Mission am Horn von Afrika insbesondere zu den meisten Missionen in Afrika nichts beigetragen. Frankreich übernahm bei fast allen Missionen die Führung. Die direkten Auswirkungen des BREXIT auf die Sicherheitsmaßnahmen der EU in Afrika sind sind also eher gering.48 Dagegen hat London im bi- und minilateralen Rahmen zuletzt Initiative entwickelt, neben Deutschland vor allem mit Frankreich, aber auch mit Polen die Zusammenarbeit intensiviert und die Joint Expeditionary Force (JEF) gestärkt. Dennoch „klafft eine Lücke zwischen dem rhetorischen Anspruch, qualitativ neue Beziehungen zu entwickeln, und der Praxis“.49 Finanziell werden auf die verbliebenen EU-Mitglieder allerdings höhere Beitragszahlungen zukommen , um den Wegfall des mit circa 16 Prozent zweitgrößten Beitragszahlers der Europäischen Verteidigungsagentur zu kompensieren.50 Die Auswirkungen auf gemeinsame Rüstungsprojekte wie beispielsweise den Eurofighter oder den A400M sind derzeit außerdem Gegenstand laufender Untersuchungen.51 46 Waal, Der Brexit [wie Anm. 23]. 47 Claudia Major/Alicia von Voß, Brexit und europäische Verteidigung. Nicht die militärischen Fähigkeiten leiden, sondern die politische Entscheidungskraft, in: swp-aktuell 46, Juli 2017, S. 1f; https://www.swp-berlin .org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A46_mjr_vos.pdf [letzter Zugriff: 10.12.2018]. 48 Dirk Kohnert, Post-Brexit: Die Zukunft der britischen Beziehungen zu Afrika. Was von einem „globalen Großbritannien “ zu erwarten ist – und was nicht, in: Portal für Politikwissenschaft, 5.11.2018; https://www.pw-portal .de/brexit-grossbritannien-zwischen-re-nationalisierung-und-globalisierung/40812-brexit-und-afrika [letzter Zugriff: 11.12.2018]. 49 Major/Ondarza, Kein „Global Britain“ [wie Anm. 2], S. 3f, Zitat S. 4. 50 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der FDP-Fraktion– Drucksache [wie Anm. 30]. 51 Ebd., S. 10. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 16 3.2 NATO Die NATO wird für Großbritannien nach dem BREXIT das Hauptforum für die Abstimmung mit seinen Verbündeten bleiben. London hat früh klargestellt, dass es sein Engagement im transatlantischen Pakt intensivieren wird, während man die europäische gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik als eine zwar wichtige, aber eben doch nur Ergänzung betrachtet.52 Bereits auf dem NATO-Gipfel in Warschau, nur zwei Wochen nach dem BREXIT-Referendum, erklärte die britische Regierung ihre Bereitschaft, sich als eine der vier Rahmennationen für die neuen Battle Groups zu engagieren, nämlich in Estland.53 Dass die British Army dort das „Enhanced Forward Presence“-Bataillon zur Rückversicherung der Osteuropäer, die sich von Russland bedroht sehen, führt, geht indes auf eine Entscheidung zurück, die vor dem Referendum fiel.54 Darüber hinaus hat das Vereinigte Königreich bislang nicht präzisiert, womit das angekündigte intensivere Engagement unterlegt werden soll. Allgemein vermutet wird, dass man sich auf den Bereich Cyber konzentriert.55 Momentan wird die Kooperation durch das geplante Ausgreifen der britischen Außenpolitik des „Global Britain“ in den Pazifik eher verkompliziert, weil das zwangsläufig eine Verminderung der Präsenz im „NATO-Gewässer“ Atlantik bedeutet.56 So fallen die wichtigsten verteidigungspolitischen Beziehungen des Landes bislang zwar schon in den Rahmen der NATO oder gründen auf bilateralen Beziehungen, insbesondere mit den USA, dem Commonwealth und im Nahen Osten; dabei wird auch sein Status als Atommacht weiterhin von Bedeutung sein.57 Allerdings scheint die britische Politik von den BREXIT-Verhandlungen derart absorbiert, dass nicht nur den Ankündigungen bis dato kaum Substantielles gefolgt ist, sondern sogar die „special relationship“ mit den Vereinigten Staaten unter Druck geriet: Einerseits ist das dann Nicht-EU-Mitglied Großbritannien für Washington von deutlich geringerem diplomatischen Interesse, andererseits stellte sich London in wesentlichen Fragen – wie beispielsweise beim Iran- oder dem Pariser Klima-Abkommen dezidiert gegen die Entscheidungen von US-Präsident Trump. Ironischerweise rückt man damit wieder näher an die Europäer heran, aus deren so wahrgenommenen Zwängen man sich doch eigentlich gerade befreien will.58 52 Steinmetz/Reuters, EU-Ausstieg [wie Anm. 8]. Major/Ondarza, Kein „Global Britain“ [wie Anm. 2], S. 6. 53 Waal, Der Brexit [wie Anm. 23]. 54 Müller, Großbritanniens Armee-Pläne [wie Anm. 15], Major/Ondarza, Kein „Global Britain“ [wie Anm. 2], S. 6f. 55 Ebd., S. 6. 56 Müller, Großbritanniens Armee-Pläne [wie Anm. 15]. 57 Waal, Der Brexit [wie Anm. 23]. 58 Major/Ondarza, Kein „Global Britain“ [wie Anm. 2], S. 5. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 17 Dass US-Präsident Trump den ausgehandelten BREXIT-Vertrag herb kritisiert, ordnen Beobachter wiederum in den größeren Kontext als „Stellvertreterkonflikt zwischen den USA und der EU“ ein.59 Eine durch den BREXIT militärisch geschwächte EU ist jedenfalls weder im Sinne der NATO noch der USA. EU und NATO benötigen sich gegenseitig als potente Partner, die sich aus unterschiedlichen Interessenlagen heraus sicherheitspolitisch ergänzen. Auch in diesem Kontext muss der britische Rückzug innerhalb der EU also durch neue Ideen kooperativ kompensiert werden.60 3.3 Vereinte Nationen (VN) Das Gewicht Großbritanniens innerhalb der VN gründet nach wie vor auf seinem ständigen Sitz im Sicherheitsrat und seinem Status als Atommacht. Bislang handelte London dort im Großen und Ganzen in enger Abstimmung mit den europäischen und transatlantischen Partnern. Das letzte Veto brachte London vor 30 Jahren ein, das letzte alleinige sogar schon vor beinahe einem halben Jahrhundert. Alleingänge waren also bislang die absolute Ausnahme, eingebrachte Resolutionen sind regelmäßig in enger partnerschaftlicher Abstimmung entstanden, meist mit Washington und/oder Paris.61 Wie hier die Zusammenarbeit künftig gestaltet werden soll, bleibt abzuwarten. Zum einen ist das strategische Dilemma, in das man sich mit dem BREXIT und der „Global Britain“-Politik selbst manövriert hat, offensichtlich, zum anderen wirkt das internationale Renommee Londons angesichts der nun fast schon ein Jahrzehnt währenden Fokussierung auf die Innenpolitik arg lädiert. Wenn man sich in Großbritannien aber weiterhin derart intensiv um innenpolitische Belange kümmern muss, engt sich dadurch der Handlungsspielraum für den außen- und sicherheitspolitischen Bereich jedenfalls drastisch ein. 3.4 The Commonwealth of Nations62 Die britische Regierung sieht vor allen Dingen in den Ex-Kolonien des Commonwealth die goldene Zukunft nach dem EU-Ausstieg. Dabei sind viele Mitgliedsstaaten sowohl in politischer als auch wirtschaftlicher Hinsicht nur von minderer Bedeutung. Nicht wenige Beobachtende sehen Linda Risso, Brexit and NATO: an essential piece of the puzzle, in: The UK in a Changing Europe, 9.5.2018; http://ukandeu.ac.uk/brexit-and-nato-an-essential-piece-of-the-puzzle/ [letzter Zugriff: 16.12.2018]. 59 Christian Bunke, Brexit wird zum Ort eines Stellvertreterkonfliktes zwischen den USA und der EU, in: Telepolis , 30.11.2018; https://www.heise.de/tp/features/Brexit-wird-zum-Ort-eines-Stellvertreterkonfliktes-zwischenden -USA-und-der-EU-4236195.html [letzter Zugriff: 16.12.2018]. 60 Ian Bond, NATO, the EU and BREXIT: Joining Forces?, insight, 5.7.2016, S. 2f; https://www.cer.eu/insights /nato-eu-and-brexit-joining-forces [letzter Zugriff: 16.12.2018]. 61 Major/Ondarza, Kein „Global Britain“ [wie Anm. 2], S. 6. 62 Siehe grundsätzlich http://thecommonwealth.org/ [3.1.2019], http://thecommonwealth.org/brexit-and-commonwealth [letzter Zugriff: 11.12.2018] sowie Philip Murphy, The Empire´s New Clothes. The Myth of the Commonwealth. Oxford 2018. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 18 diese quasi neo-imperialen Pläne äußerst kritisch.63 Ihnen scheint das Commonwealth mit seinen 53 Mitgliedern, die sich im Zuge der Unabhängigkeit von Großbritannien seit 1949 in einem lockeren Bündnis zusammengeschlossen hatten, als zu heterogen, um ein relevantes außen- und sicherheitspolitisches Forum darzustellen.64 Die meisten dieser Staaten waren zwar einst britische Kolonien, doch inzwischen erkennen nur mehr 16 die Queen als eigene Monarchin und Staatsoberhaupt an. Mit Mosambik und Ruanda gehören außerdem Länder dazu, die unter portugiesischer und belgischer Herrschaft standen, Industrieländer wie Kanada und Australien ebenso wie die Schwellenländer Botswana und Pakistan sowie die EU-Mitglieder Zypern und Malta. So umfasst das Commonwealth wohl rund 2,4 Milliarden Menschen, fast ein Drittel der Weltbevölkerung also, und beinahe ein Viertel der gesamten Landmasse der Erde. Doch neben den Riesen auf der Weltkarte wie Indien, Kanada und Australien stehen auch Zwerge wie die pazifischen Staaten Nauru und Tuvalu mit je nur rund 10.000 Einwohnerinnen und Einwohnern.65 Darüber hinaus ist der Organisierungsgrad begrenzt. Die Mitglieder fühlen sich der Demokratie und dem Frieden verpflichtet, bilden jedoch keinen wirtschaftlichen Block, keine Freihandelszone und nicht einmal einen eng verzahnten Wirtschaftsraum. Sie teilen sich zwar ein Sekretariat , aber keine supranationalen Institutionen mit Entscheidungsgewalt. Militärische Bedeutung besitzt das Commonwealth außerdem bislang nicht. 66 Ob der wirtschaftliche Nutzen die ökonomischen Folgen des BREXIT wird ausgleichen können, ist ebenfalls fraglich. Das gemeinsame Bruttoinlandprodukt (BIP) der Commonwealth-Staaten beläuft sich nach eigenen Aussagen auf 10.400 Mrd. US-Dollar, der gemeinsame Handel umfasst rund 15 Prozent des Welthandels und soll von knapp 600 Mrd. US-Dollar im Jahr 2016 auf rund 63 Bolzen, Großbritanniens neuer Traum [wie Anm. 13]. 64 Ebd., Major/Ondarza, Kein „Global Britain“ [wie Anm. 2], S. 6. 65 Benjamin Triebe, Großbritannien feiert das Commonwealth, kann aber auf die EU nicht verzichten, in: Neue Züricher Zeitung (NZZ), 16.4.2018; https://www.nzz.ch/wirtschaft/grossbritannien-feiert-das-commonwealthkann -aber-auf-die-eu-nicht-verzichten-ld.1377981 [letzter Zugriff: 11.12.2018], Marcus Theurer, Großbritannien umgarnt Commonwealth-Länder, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 17.4.2018; https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/grossbritannien-besinnt-sich-wieder-mehr-auf-den-postkolonialen -staatenbund-15545069.html [letzter Zugriff: 11.12.2018], Theo Sommer, Der illusorische Traum vom neuen Empire, in: Zeit online, 24.4.2018; https://www.zeit.de/politik /ausland/2018-04/grossbritannien-commonwealth-brexit-europaeische-union-5vor8 [letzter Zugriff: 11.12.2018]. 66 Siehe Charter of the Commonwealth; http://thecommonwealth.org/our-charter [3.1.2019], Triebe, Großbritannien [wie Anm. 65], Theurer, Großbritannien [wie Anm. 65]. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 19 700 Mrd. bis 2020 wachsen.67 Es erwirtschaftet ein Sozialprodukt von 10,5 Billionen US-Dollar (EU: 17 Billionen), das sind 14 Prozent der Weltwirtschaftsleistung (EU: 22 Prozent).68 Im globalen Kontext sank der Anteil am Welthandel von 17 Prozent im Jahr 1997 auf diese 15 Prozent im Jahr 2016.69 Innerhalb der Staatengruppe aber nahm der Handel zu und macht inzwischen fast ein Fünftel ihres gesamten Außenhandels aus.70 Demgegenüber beträgt der britische Handel mit Commonwealth-Mitgliedern derzeit nur einen Bruchteil des Geschäfts mit den europäischen Nachbarn: Mehr als 40 Prozent der britischen Exporte gehen in die Europäische Union - davon rund zehn Prozent alleine nach Deutschland71 -, aber weniger als zehn Prozent in die Commonwealth-Staaten.72 Selbst die Schweiz importiert fast dreimal so viel aus Großbritannien wie das vergleichsweise riesige Australien.73 Unter den zehn größten Handelspartnern Londons ist nicht ein einziger Commonwealth-Staat. Deren Anteil am Gesamtexport ist überschaubar: Australien 1,6 Prozent, Kanada 1,5 Prozent, Singapur 1,3 Prozent, Indien 1,0 Prozent, Südafrika 0,8 Prozent.74 BREXIT-Vorkämpfer wie Außenminister Johnson sehen das Commonwealth dennoch als ein Vehikel für ihre Vision von einem prosperierenden „globalen Britannien“. Der Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahr 1973 und zum EU-Binnenmarkt bezeichnete er als einen „Verrat“ an den alten Commonwealth-Partnern wie Australien und Neuseeland.75 Abgesehen davon, dass davon bis zur britischen BREXIT-Debatte nicht die Rede war, steht das britische Streben nach Autonomie einem entsprechenden Umbau des Commonwealth zu einer ähnlichen Wirtschaftsintegration wie bei der EU ebenso im Weg wie aus Sicht der übrigen Mitglieder einem aus London gelenkten Handelsimperium.76 Bedeutende Mitgliedsstaaten wie 67 Ebd., Triebe, Großbritannien [wie Anm. 65]. 68 Sommer, Der illusorische Traum [wie Anm. 65]. 69 Triebe, Großbritannien [wie Anm. 65]. 70 Ebd., 71 Ebd. 72 Theurer, Großbritannien [wie Anm. 65], Triebe, Großbritannien [wie Anm. 65]. 73 Bolzen, Großbritanniens neuer Traum [wie Anm. 13]. 74 Sommer, Der illusorische Traum [wie Anm. 65]. 75 Theurer, Großbritannien [wie Anm. 65], Triebe, Großbritannien [wie Anm. 65]. 76 Ebd. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 20 Indien und Australien stellten bereits Forderungen auf, die in Großbritannien innenpolitisch kaum durchsetzbar sein dürften.77 So führte der Kampf um den EU-Austritt bislang beinahe ausschließlich rhetorisch zu einer Wiederentdeckung der Staatengruppe. Zum ersten Mal seit 1997 richtete Großbritannien deswegen ein Gipfeltreffen des Commonwealth aus, das alle zwei Jahre stattfindet.78 Immerhin rund 30 Staats- und Regierungschefs aus den 53 Mitgliedsstaaten trafen sich vom 16. bis 20. April zum Commonwealth Heads of Government Meeting (CHOGM) in London.79 Dafür engagierte sich auch die königliche Familie umfassend: Königin Elizabeth II. als formelles Oberhaupt des Commonwealth empfing die Regierungschefs im Buckingham Palast, Kronprinz Charles und seine beiden Söhne nahmen an einigen Veranstaltungen teil, und Prinz Harrys Ehefrau Meghan Markle besuchte ein „Frauenforum“. London versucht also sehr deutlich, neues allgemeines Interesse an der Organisation zu entfachen.80 Ganz oben auf der Agenda steht dabei der Ausbau des Handels, womit man die nach dem BREXIT erwarteten Einbußen wettzumachen hofft.81 Premierministerin Theresa May umwarb schon zum Auftakt die angereisten Wirtschaftsführer, pries die wirtschaftlichen Vorteile des Staatenbundes und forderte eine entschlossenere Bekämpfung der Handelsbarrieren untereinander .82 London hofft dabei auf die Zeit nach dem 30. März 2019, wenn Großbritannien offiziell kein EU-Mitglied mehr ist und eigene Freihandelsabkommen schließen kann.83 Sechs Commonwealth -Mitglieder sind hier als Prioritätsstaaten für neue Anreize zur Förderung von Handel und Investitionen vorgesehen:84 Australien, Kanada, Indien, Singapur und Südafrika machen zusammen rund zwei Drittel des britischen Handels mit dem Commonwealth aus.85 77 Indien beispielsweise will seinen Markt nur dann stärker für britische Exporteure öffnen, wenn die Briten im Gegenzug mehr Einreisevisa für indische Arbeitnehmer erteilen. Australien wiederum pocht darauf, hormonbehandeltes Rindfleisch im Königreich verkaufen zu dürfen. Siehe Theurer, Großbritannien [wie Anm. 65]. 78 Triebe, Großbritannien [wie Anm. 65]. 79 Fox, Der Traum [wie Anm. 13]. 80 Theurer, Großbritannien [wie Anm. 65]. 81 Ebd. 82 Ebd. 83 Bolzen, Großbritanniens neuer Traum [wie Anm. 13]. 84 Fox, Der Traum [wie Anm. 13], Triebe, Großbritannien [wie Anm. 65]. 85 Ebd., Kohnert, Post-Brexit [wie Anm. 48]. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 21 Bei Australien und Kanada handelt es sich zusammen mit Neuseeland um die enthusiastischsten Verfechter eines neuen Freihandelsabkommen.86 London hat außerdem bereits zugesagt, die derzeitige Exportkreditfinanzierung für Handel und Investitionen mit Südafrika auf 3,5 Milliarden Pfund zu verdoppeln. Pretoria, das den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA) der EU mit afrikanischen Regionalblöcken kritisch gegenübersteht, erwartet seinerseits von einem bilateralen Vertrag mit Großbritannien bessere Konditionen.87 Kritische britische Beamte prägten für die Idee einer Wiederbelebung des Commonwealth das Schlagwort vom „Empire 2.0“ und machten gerade in diesem Kontext Bedenken geltend, jeder Verweis auf eine Rückkehr in die Kolonialzeit würde insbesondere in Afrika kaum auf Sympathien stoßen.88 Immerhin gehören 19 von 54 afrikanischen Staaten zum Commonwealth, darunter die mit Abstand bevölkerungsreichsten und potentesten wie Nigeria, Südafrika, Kenia, Ägypten und Ghana.89 Selbst Professor Phil Murphy, Direktor des Instituts für Commonwealth-Studien, hat den Staatenbund als ein „kauziges Relikt des britischen Imperialismus“ bezeichnet, und auch andere äußerten sich kritisch über den Londoner Gipfel, in dem sie bislang eher eine nostalgische postkoloniale Familienfeier erkannt haben wollten.90 Der Versuch Londons, in Zukunft autonomer und somit ähnlich erfolgreich weltweit operieren zu können, wie es vor allen Dingen Peking praktiziert, ignoriert die dezidiert unterschiedlichen Ausgangspositionen der beiden Staaten. Denn für Länder wie Südafrika, Nigeria, Ägypten, Kenia , aber auch Kleinstaaten wie Mauritius werden erhebliche nachteilige Folgen des BREXIT vorhergesagt , da etwa 25 bis 30 Prozent von deren Ausfuhren in die EU nach Großbritannien gehen. Und während der Handel Großbritanniens mit Indien zeitgleich stagnierte, verdreifachte er sich zwischen Indien und der EU seit 2000.91 Ob es der Regierung in London, wie dort vorgesehen, gelingen wird, diese Entwicklung zu ihren Gunsten umzuwandeln, bleibt fraglich. Umso mehr, 86 Fox, Der Traum [wie Anm. 13]. 87 Ebd. 88 Ebd., Peter Beaumont, Only Brexit could inspire this cynical, lost empire vision of Commonwealth, in. The Guardian, 18.4.2018; https://www.theguardian.com/global-development/2018/apr/18/commonwealth-leaders-brexit-cynical -lost-empire-vision-peter-beaumont [letzter Zugriff: 11.12.2018]. 89 Kohnert, Post-Brexit [wie Anm. 48]. 90 Sommer, Der illusorische Traum [wie Anm. 65], Beaumont, Only Brexit [wie Anm. 88]. 91 Kohnert, Post-Brexit [wie Anm. 48], Ahmed Kamal, Can the Commonwealth be good for ptts-Brexit Britain?, in: BBC News, 16.4.2018; https://www.bbc.com/news/business-43779196 [letzter Zugriff: 11.12.2018]. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 22 als den meisten Beobachtenden unklar ist, was das Vereinigte Königreich in Konkurrenz zu globalen Akteuren wie China, Indien, die USA oder die EU anbieten könnte.92 4. Das Verhältnis Londons zu Nordirland und Schottland Die sogenannte Irland-, beziehungsweise genauer Nordirlandfrage ist die Gretchenfrage des BREXIT-Abkommens überhaupt, im Kern also diejenige nach der Grenze zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich sowie deren Beschaffenheit. Bislang wurde hier keine Antwort gefunden , für die eine Mehrheit angenommen werden kann. Jedes eventuelle Entgegenkommen Mays wird dabei von der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) blockiert. Deren zehn Abgeordnete stützen ihre Minderheitsregierung. Entzöge die DUP May ihre Unterstützung, würde das eine schwere Regierungskrise auslösen.93 Noch zuletzt kündigte die DUP gegebenenfalls entschlossenen Widerstand gegen die Premierministerin an.94 Damit belastet der anstehende Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU die ohnehin labile Lage des Friedensarrangements in Nordirland schwer. War es vor 20 Jahren mit dem Belfast -Abkommen 199895 gelungen, einen Friedensprozess zu initiieren, in dem auch die EU eine förderliche Rolle spielte, verlief die Implementierung dieses Vorhabens mühsamer als erhofft.96 Sowohl bei den unionistischen als auch nationalistischen Parteien übernahmen im Laufe der Jahre die radikalen Flügel das Ruder und verhinderten eine allmähliche Beseitigung der Wurzeln des Konflikts. Die stattdessen zunehmende Polarisierung zeigte sich in der dichten Abfolge von Wahlakten zwischen 2015 und 2017 derart drastisch, dass im Januar 2017 die obligatorische unionistisch -nationalistische Exekutive schließlich zusammenbrach und seitdem in Nordirland weder eine funktionsfähige Legislative noch Exekutive existieren. Weil das Land infolgedessen nun erneut von London aus verwaltet wird, fehlt ihm in den BREXIT-Verhandlungen eine eigene Stimme. Insbesondere die umstrittene Grenzfrage hat dabei den bereits erodierenden Friedensprozess endgültig gelähmt. Während die Unionisten den Wunsch der britischen Regierung nach 92 Kohnert, Post-Brexit [wie Anm. 48]. 93 Ulrich Ladurner, Ein Königreich im Zerfall, in: Zeit online, 4.12.2017; https://www.zeit.de/politik/ausland /2017-12/brexit-verhandlungen-irland-eu [letzter Zugriff: 10.12.2018]. 94 apr/dpa/reuters: EU-Gipfel in Brüssel. May kämpft um weitere Zugeständnisse beim BREXIT, in: Spiegel online, 13.12.2018; http://www.spiegel.de/politik/ausland/brexit-theresa-may-kaempft-auf-eu-gipfel-in-bruessel-umweitere -zugestaendnisse-a-1243467.html [letzter Zugriff: 13.12.2018]. 95 The Agreement. Agreement reached in the multi-party negotiations (10 April 1998); http://cain.ulst.ac.uk/events/peace/docs/agreement.htm [letzter Zugriff: 3.1.2019]. 96 Amanda Sloat, Divided Kingdom: How Brexit is making Uk´s constitutional order, in: Brookings Institution, Oktober 2018; https://www.brookings.edu/wp-content/uploads/2018/10/FP_20181005_divided_kingdom.pdf [letzter Zugriff: 11.12.2018]. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 23 einem EU-Austritt teilen, obwohl die Mehrheit der nordirischen Bevölkerung sich dagegen ausgesprochen hat (55,8 Prozent)97, sehen sich die Nationalisten ihrer Hoffnung beraubt, mit einer Öffnung zur EU die Teilung der irischen Insel zu überwinden. 85 Prozent der nationalistischen Wählerschaft haben entsprechend für einen Verbleib in der EU gestimmt. Diese Entwicklung erscheint umso gravierender, als London die DUP als Mehrheitsbeschaffer für ihre Minderheitsregierung benötigt und jene deswegen ein überproportionales Gewicht erhielt. Statt eines Sonderstatus ´ für Nordirland fordert sie gar die Republik Irland auf, gleich mit aus der EU auszutreten. Nach Umfragen sind dort allerdings 84 Prozent für einen Verbleib. 98 Und auch in Nordirland scheint sich die Stimmung zu wandeln: Angesichts der erwarteten veritablen Folgen des BREXIT für den eigenen Wohlstand - die Republik Irland ist der bei weitem wichtigste Handelspartner für die nordirische Wirtschaft - und den Frieden, stieg in Umfragen die Zahl derjenigen, die eine irische Vereinigung befürworten, von 33 auf 46 Prozent; deutlich mehr allerdings (67 Prozent) befürworten einen Sonderstatus.99 Mays Konzessionsbereitschaft in der Irlandfrage hat in Großbritannien außerdem Begehrlichkeiten geweckt. Die schottische Premierministerin Nicola Sturgeon kündigte bereits an, was für Nordirland gelte, das könne man anderen nicht verwehren. Und auch der Bürgermeister von London, Sadigh Khan, wies für den Fall, dass es für einen Teil des Vereinigten Königreiches möglich sein sollte, im Binnenmarkt und der Zollunion zu bleiben, darauf hin, auch die Stimmberechtigten seiner Stadt hätten mit großer Mehrheit für den Verbleib in der EU gestimmt. Offensichtlich hat die BREXIT-Debatte also eher in Großbritannien einen Zerfallsprozess ausgelöst als, wie zuvor befürchtet, innerhalb der EU.100 Durch sie wurde auch die Frage nach der Unabhängigkeit Schottlands neu aufgeworfen, denn beim Referendum 2014 hatten sich viele schottische Wahlberechtigte auch deswegen für Großbritannien entschieden, weil sie Teil der EU bleiben wollten. Mit genau diesem Argument wird nun 97 Das gilt auch für die unionistische Wählerschaft. Siehe John Coakley/John Garry, Unionist Public More Open to Special Status than Leaders. Surveys Show Island of Ireland Controls Acceptable as ‚Frictionless‘ Border’s Price, in: The Irish Times, 1.12.2017; https://www.irishtimes.com/opinion/unionist-public-more-open-to-special-status -than-leaders-1.3311157 [letzter Zugriff: 3.1.2019]. 98 Bernhard Moltmann, Nordirland: Das Ende vom Lied? Der Friedensprozess und der Brexit, in: Portal für Politikwissenschaft , 5.2.2018; https://www.pw-portal.de/brexit-grossbritannien-zwischen-re-nationalisierung-undglobalisierung /40624-nordirland-das-ende-vom-lied-der-friedensprozess-und-der-brexit [letzter Zugriff: 11.12.2018]. 99 Jonathan Bell, Brexit Impact on Northern Ireland Could Sway Border Poll Result: Survey, in: Belfast Telegraph, 25.10.2017; https://www.belfasttelegraph.co.uk/news/northern-ireland/brexit-impact-on-northern-irelandcould -sway-border-poll-result-survey-36261684.html [letzter Zugriff: 3.1.2019]. 100 Ladurner, Ein Königreich [wie Anm. 93], Nicolai von Ondarza, Tanz auf der Brexit-Klippe. Der Schlüssel zur Einigung in den Austrittsverhandlungen liegt in der britischen Innenpolitik, in: swp aktuell A 55, Oktober 2018; https://www.swp-berlin.org//publikation /brexit-der-schuessel-liegt-in-der-britischen-innenpolitik/ [letzter Zugriff: 11.12.2018]. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 24 mancherorts ein zweites Referendum gefordert.101 Während in England 53,4 Prozent derjenigen, die an der Abstimmung teilgenommen haben, für Leave stimmten, sprachen sich die meisten Schotten (62 Prozent) für einen Verbleib in der EU aus. Die schottische Regierung hat sich vor dem Hintergrund dieses Votums klar positioniert, man will mit oder ohne die anderen Landesteile weiterhin zum europäischen Binnenmarkt gehören. Die britische Regierung lässt derweil nicht erkennen, auf schottische Wünsche Rücksicht nehmen zu wollen – womit sich die politischen wie demokratietheoretischen Fragwürdigkeiten rund um das EU-Referendum noch erweitern . Kommt es zu keinem zweiten Unabhängigkeitsreferendum, sind trotzdem etliche Fragen nicht geklärt, etwa ob die britische Regierung tatsächlich ihren Anspruch, das Vereinigte Königreich nach außen zu vertreten, unangefochten erheben kann, und inwiefern der Prozess der Devolution – also die Verlagerung von Kompetenzen auf die Regionen – eine andere, neue politische Realität und Verfassungswirklichkeit geschaffen hat. Auch darüber wird im Vereinigten Königreich noch zu streiten sein.102 In militärischer Hinsicht ist die weitere Zugehörigkeit gerade Schottlands zudem von erheblicher Relevanz. Abgesehen von schottischen Männern und Frauen in den britischen Streitkräften befinden sich diverse militärische Einrichtungen in Schottland. Allen voran ist hier die Basis der UK Nuclear Deterrent Forces in Faslane-on-Clyde zu nennen. Alle vier strategische, weil atomwaffenbestückte, U-Boote sind hier stationiert, dazu weitere zehn U- und drei Patrouillenboote ; die Basis ist außerdem Anlaufpunkt für U-Boote anderer, vor allem NATO-Staaten, sowie Standort für das NATO Submarine Rescue System, das U-Boot-Rettungssystem der NATO. Die britische Regierung plant ferner, zukünftig auch ihre neuen Jagd-U-Boote hier zu dislozieren. Schon seit 1982 protestieren etliche Friedensorganisationen gegen den Atomwaffenstandort, der im Kontext des Unabhängigkeitsreferendums von 2014 bereits eine erhebliche Rolle spielte.103 Die Scottish National Party (SNP) fordert weiterhin ein atomwaffenfreies Schottland.104 101 Sloat, Divided Kingdom [wie Anm. 96]. 102 Natalie Wohlleben, Devolutuion oder Unabhänigkeit. Erste Überlegungen über die Zukunft Schottlands nach dem Brexit-Votum, in: Portal für Politikwissenschaft, 10.7.2017; https://www.pw-portal.de/brexit-grossbritannien -zwischen-re-nationalisierung-und-globalisierung/40456-devolution-oder-unabhaengigkeit [letzter Zugriff: 11.12.2018]. 103 Schottische Unabhängigkeit: Briten bangen um ihren Atom-U-Boot-Hafen, in: Spiegel online, 11.7.2013; http://www.spiegel.de/politik/ausland/briten-bangen-um-ihren-schottischen-atom-u-boot-hafen-a-910579.html [letzter Zugriff: 4.1.2019], „Ultimative Absicherung“: Großbritannien beschließt Erneuerung seiner Atom-U-Boote, in: Spiegel online, 19.7.2016; http://www.spiegel.de/politik/ausland/grossbritannien-stimmt-fuer-erneuerung-der-atom-u-bootflotte -a-1103602.html [letzter Zugriff: 4.1.2019]. 104 22.7.2016 Großbritannien: Britisches Parlament beschließt Bau neuer Atom-U-Boote; https://www.atomwaffenaz .info/heute/atomwaffenstaaten/grossbritannien/aktuelles-grossbritannien/artikel/acfdfa746c/britisches-parlament -beschliesst-bau-neuer-atom-u-boote.html [letzter Zugriff: 4.1.2019]. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 25 Derzeit ist ein zweites schottisches Referendum politisch zwar in weiter Ferne, das könnte sich je nach der Entwicklung der BREXIT-Verhandlungen allerdings rasch ändern. Die schottische Premierministerin hatte bereits 2016 klargestellt, dass es kein Ausscheiden Schottlands aus der EU gegen den Willen der schottischen Bevölkerung geben dürfte: „However, the Scottish Government will not compromise on our determination to build a strong economy and ensure that Scotland remains an open, welcoming European society. If the real and substantial risks that Brexit poses to Scotland's interests cannot be mitigated within the UK, the option of choosing a better future through independence should be open to the Scottish people.“105 Aktuell wesentlich problematischer ist jedoch die Frage der künftigen EU-Außengrenze mit dem und vor allem für das EU-Mitglied Irland, sowohl wegen ihrer Bedeutung für den nordirischen Friedensprozess als auch der engen wirtschaftlichen Verflechtung der beiden Inselteile.106 Die Grenze weist 208 Übergänge auf, mehr als die gesamte EU-Außengrenze in Osteuropa, und ist daher kaum zu kontrollieren. Dass diese Grenze offen bleibt, war seit Beginn der BREXIT-Verhandlungen zentrale Bedingung der EU-27 für ein Austrittsabkommen.107 Ihrerseits hat die Regierung in London drei - tatsächlich allerdings miteinander unvereinbare - Ziele vorgegeben:108 Gegenüber der eigenen Bevölkerung und Partei hat May stets betont, dass Großbritannien Binnenmarkt und Zollunion der EU verlassen wird. Alles andere lehnt die Regierung als Verrat am Referendum ab. Den EU-27 hingegen hat London im Dezember 2017 versprochen, die Grenze in jedem Fall offen zu halten. Hierfür soll das Austrittsabkommen nach dem Willen der EU eine Rückfalloption enthalten („Backstop“), mit der die Grenze auch dann offen bleiben kann, wenn dies nicht über das allgemeine britisch-europäische Verhältnis gewährleistet werden kann. So soll es zum Beispiel in keinem Fall Zollkontrollen an der irisch-britischen Grenze geben, selbst wenn dies zwischen Großbritannien und den EU-27 nötig wäre. Zudem hat May der DUP zugesagt, keine Kontrollen zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs zu schaffen. 105 Scotish Government, Scotland´s Place in Europe; https://www.gov.scot/publications/scotlands-place-europe/ [letzter Zugriff: 11.12.2018]. 106 Nicolai von Ondarza/Julia Becker, Ein differenzierter Brexit für das Vereinigte Königreich. Optionen der EU für den Umgang mit Schottland und Nordirland in den Austrittsverhandlungen, in: SWP-Aktuell 2017/A 11, März 2017; https://www.swp-berlin.org/publikation/ein-differenzierter-brexit-fuer-das-vereinigte-koenigreich/ [letzter Zugriff: 10.12.2018]. 107 Ondarza, Tanz [wie Anm. 100]. 108 Ebd. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 26 Den Vorschlag der EU vom März 2018 für einen „Backstop“ lehnt die britische Regierung kategorisch ab. Er sieht vor, einen gemeinsamen Zoll- und Regulierungsraum zwischen den EU-27 und Nordirland zu schaffen, so dass dieses zwar Teil des Vereinigten Königreiches bliebe, effektiv aber in die Zollunion der EU und Teile ihres Binnenmarkts eingebunden wäre. Das stößt in Großbritannien parteiübergreifend auf Ablehnung und wird öffentlich als „Annexion“ Nordirlands durch die EU gebrandmarkt. Einen eigenen Vorschlag hat die britische Regierung jedoch bisher nicht unterbreitet.109 Der beste Weg, die Wirkung des „Backstop“ für Großbritannien zu mildern, wäre daher eine politische Erklärung, die für die Zeit nach 2020 ein Handelsverhältnis in Aussicht stellt, in dem dieser gar nicht benötigt werden würde. Doch gerade diese politische Erklärung bildet das zweite große Hindernis für eine Einigung. Lange haben die Tories vor allem mit sich selbst über das künftige Verhältnis zu den EU-27 verhandelt, während diese sich auf eine klare Position zurückgezogen haben: Das Vereinigte Königreich solle sich in die bestehenden Drittstaaten-Beziehungen der EU einordnen, also entweder wie etwa Norwegen mit allen Rechten und Pflichten am Binnenmarkt teilnehmen oder als Drittstaat wie Kanada ein vertieftes Freihandelsabkommen mit der Union schließen. Auch in diesem Kontext ist eine mehrheitsfähige Einigung mehr als fraglich .110 Für May selbst stellen die Unwägbarkeiten der britischen Innenpolitik also kurzfristig das kritischste Element in den BREXIT-Verhandlungen dar. Denn ohne die Zustimmung des Unterhauses zum Austrittsabkommen samt politischer Erklärung kann die Premierministerin das Abkommen bei der EU nicht unterzeichnen. Die derzeit 315 Konservativen erreichen auch zusammen mit den zehn Abgeordneten der DUP nur deswegen eine Mehrheit der 650 Sitze, weil die sieben Abgeordneten der irisch-nationalistischen Sinn Fein aus Nordirland ihre Sitze nicht annehmen .111 Dabei ist die DUP in Nordirland selbst Konfliktpartei, steht für einen klar unionistischen Kurs und macht sich für einen harten BREXIT stark. Selbstverständnis und Daseinsberechtigung der 109 Ebd. 110 Ebd.: Nach dem Chequers-Plan - benannt nach seinem Entstehungsort, dem offiziellen Landsitz der britischen Premierministerin rund 60 Km nordwestlich Londons - will May Großbritannien über ein „gemeinsames Regelbuch “ im Binnenmarkt für Waren der EU halten. Auch in der Zollunion soll das Land mittelfristig bleiben, bis neue technische Möglichkeiten für eine Doppellösung gefunden sind. Aus den übrigen Freiheiten für Dienstleistungen , Kapital und Personen hingegen will sie Großbritannien herausnehmen, ebenso wie aus den anderen Politikbereichen der EU. Für rein inländische Produkte sollen deren Regeln ebenfalls nicht gelten und das britische Parlament soll ein Vetorecht behalten. Diese Lösung würde die Notwendigkeit für Kontrollen in Nordirland fast völlig aufheben. 111 Ebd. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 27 Partei ist jedoch die Bindung an Großbritannien; sie kann daher keiner Differenzierung zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs zustimmen.112 Die Labour Party könnte May mit ihren 257 Abgeordneten wiederum jederzeit zur Mehrheit verhelfen . Ihre Führung hat das BREXIT-Votum auch grundsätzlich akzeptiert, ihrerseits jedoch sechs Bedingungen gestellt, die so formuliert sind, dass keine Form des BREXITS sie erfüllen wird, und bereits früh angekündigt, gegen das Austrittsabkommen zu votieren. Die Partei ist diesbezüglich zwar ebenfalls gespalten - in der Vergangenheit stimmten fünf ihrer Abgeordneten mit der Regierung für den BREXIT -, spekuliert aber auf vorgezogene Neuwahlen. Liberaldemokraten und Scottish National Party sind freilich zu keiner Verantwortungsübernahme für die BREXIT-Folgen bereit, und so existiert derzeit für keine Spielart des BREXIT eine Mehrheit im britischen Parlament.113 5. Möglicher Fortgang der Entwicklung Angesichts dieser gravierenden Interessenunterschiede ist der Ausgang der Brexit-Verhandlungen völlig offen und es stehen mittelfristig fünf Szenarien im Raum, wie sie von Nicolai von Ondarza, dem Forschungsgruppenleiter EU/Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zusammengefasst wurden:114 Geordneter BREXIT am 29. März 2019 Großbritannien könnte zum 29. März 2019 geordnet aus der EU austreten und bis mindestens Ende 2020 als Teil der Übergangsphase de facto in Binnenmarkt und Zollunion verbleiben . Bis zum 1. Januar 2021 bliebe dann Zeit, die Konflikte über das künftige Verhältnis zwischen EU und Großbritannien zu lösen. So lange hielten die Unsicherheit über die künftigen Beziehungen zwischen beiden aber an. Verlängerung Lehnt das britische Parlament das Verhandlungsergebnis ab oder scheitern die Verhandlungen ganz, ist eine Regierungskrise in Großbritannien unausweichlich. Rechtlich möglich wäre es, die Austrittsverhandlungen gemäß Artikel 50 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) mittels eines einstimmigen Beschlusses des Europäischen Rates im Einvernehmen mit Großbritannien zu verlängern. Während dieses Zeitraums bliebe Großbritannien EU-Mitglied mit allen Rechten und Pflichten. Allerdings haben die BREXIT-Befürworter als Teil der Austrittsgesetzgebung in Großbritannien durchgesetzt, dass das Austrittsdatum parlamentarisch auf den 29. März 2019 festgelegt wurde. Deshalb kann die britische Regierung eine Verlängerung nur beantragen oder ihr zustimmen, wenn sie dafür ebenfalls das Plazet des Parlaments bekommen hat. 112 Ebd. 113 Ebd. 114 Ebd., wie auch zum Folgenden. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 28 „Managed No Deal“ Kommt es weder zur Einigung noch zur Fristverlängerung, muss Großbritannien die Union ohne jegliche Regelung verlassen – mit allen gravierenden wirtschaftlichen, politischen und persönlichen Folgen. Für diesen Fall versucht die britische Regierung die Konsequenzen durch eine Serie von Einzelabsprachen abzufedern. „Disruptive No Deal“ Der Übergang zum folgenreichsten Szenario, einem disruptiven BREXIT ohne gemeinsame Vereinbarungen, ist daher fließend, nämlich dass Großbritannien die EU ohne Übergangsphase und jegliche Regelung verlässt. Zweites Referendum Ein zweites Referendum ist zwar möglich, liegt politisch jedoch in weiter Ferne.115 Abgesehen davon, dass das britische Parlament einem neuerlichen Referendum zustimmen müsste, zeigen auch Umfragen seit 2016 durchweg, dass die Bevölkerung im Hinblick auf eine EU-Mitgliedschaft in nahezu zwei gleich große Hälften gespalten bleibt, zuletzt mit marginalem Vorsprung für den Verbleib. 6. Fazit: Der BREXIT ist ein noch längst nicht abgeschlossener Prozess. Die größten Unwägbarkeiten auf dem Weg zu einer Einigung sind untrennbar miteinander verwoben:116 die Sicherstellung einer offenen Grenze in Nordirland, die politische Erklärung zum künftigen Verhältnis und die Zustimmung des britischen Parlaments. Derzeit scheint sich für keine denkbare Form des BREXIT im britischen Parlament eine Mehrheit abzubilden und es ist wahrscheinlich, dass jedes der möglichen Szenarien eine politische Krise in Großbritannien auslöst. Zwar stellt der erstmalige Austritt eines Mitgliedslandes zum ersten Mal den Zusammenhalt innerhalb der EU ebenso ernsthaft in Frage wie die autoritären und freiheitsfeindlichen Tendenzen in einigen osteuropäischen EU-Staaten, gleichzeitig stieg dadurch aber auch länderübergreifend die Bereitschaft, mehr Kompetenz von der nationalen auf die europäische Ebene zu verlagern, 115 Nordirland: 1000 Polizisten trainieren für Chaos-Brexit, in: tageschau.de, 4.1.2019; https://www.tagesschau .de/ausland/brexit-irland-103.html [letzter Zugriff: 4.1.2019]. 116 Ondarza, Tanz [wie Anm. 100]. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 29 um so die Gemeinschaft zu stärken. Dies gilt nicht zuletzt für die Außen- und Sicherheitspolitik .117 Bislang haben die Brexiteers damit ihr Land in eine schwierige Position gebracht, nicht nur wirtschafts-, sondern eben auch außen- und sicherheitspolitisch. Sehr viel mehr als Absichtserklärungen und Symbolpolitik haben sie dafür nicht angeboten.118 Kenner der Zusammenhänge vermuten wohl nicht zu Unrecht, dass „viele derjenigen, die für ein wahres ‚globales Großbritannien‘ gestimmt haben, womöglich in Erinnerungen an die ‚goldenen Zeiten‘ des kolonialen britischen Afrikas, offenbar nicht ausreichend über die Auswirkungen ihrer Entscheidung nachgedacht (haben). (…) Die Geschichte des ‚Verrats‘ des Commonwealth durch den in den 1970er-Jahren eingeschlagenen EU-Beitritt, die häufig von den Brexiteers verwendet wird, ist ein Mythos. Es ist ein verzweifeltes politisches Mittel, um die überwiegend desillusionierten britischen Armen, die anscheinend mehrheitlich für den Brexit und eine engere Bindung zum afrikanischen Commonwealth gestimmt haben, zum Narren zu halten.“119 Tatsächlich ist es mehr als fraglich, ob sich vor allen Dingen die potenteren Commonwealth- Staaten auf für London vorteilhafte Bedingungen einlassen. Zumal sich Großbritannien dann als single gamer in Konkurrenz zu China, den USA und nicht zuletzt der EU befände, ohne dass klar wäre, was es dafür bieten könnte – zumal umgekehrt der große Vorteil von Staaten wie Indien beispielsweise bislang eben gerade im Zugang zum europäischen Binnenmarkt via Vereinigtes Königreich bestand. Ob die britischen Versprechungen hinsichtlich vereinfachter wirtschaftlicher Beziehungen verlockend genug sein werden, wenn man erst die Hände wieder frei hat - wie es die Brexiteers sich und anderen versprechen -, bleibt abzuwarten. Nur dann jedoch werden die ökonomischen und fiskalischen Löcher, welche der EU-Austritt zweifellos reißen wird, zu stopfen sein. Nicht zuletzt davon wird auch abhängig sein, inwieweit man sich außen- und sicherheitspolitische Autonomie leisten kann. Denn jene kostet in erster Linie Geld, um eigene Fähigkeiten aufzubauen, während andere Staaten zeitgleich zum Pooling and Sharing übergehen. Dabei ausschließlich auf die NATO-Mitgliedschaft zu setzen und den Sitz im Sicherheitsrat der VN, scheint sich als verlockender herausstellen denn realistisch. Schon jetzt hat das internationale Renommee Londons unter der nunmehr fast ein Jahrzehnt währenden Fokussierung auf die Innenpolitik arg gelitten. 117 Was hält Europa zusammen? Die EU nach dem Brexit. Eine repräsentative Acht-Länder-Studie der Friedrich- Ebert-Stiftung, durchgeführt von policy matters 2017; https://library.fes.de/pdf-files/id/ipa/13505.pdf [letzter Zugriff: 14.12.2018]. 118 Major/Ondarza, Kein »Global Britain« [wie Anm. 2], S. 7; https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products /aktuell/2018A29_mjr_orz.pdf [letzter Zugriff: 10.12.2018] 119 Kohnert, Post-Brexit [wie Anm. 48]. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 185/18 Seite 30 Gerade dort zeigt sich die Unüberlegtheit mancher Brexiteers, denn im Kern erwies sich nicht das Geld als größtes Problem bei den Austrittsverhandlungen: Während man von nationaler außenpolitischer Autonomie geschwärmt hat, unterschätzten zu viele die innenpolitische Sprengkraft eines EU-Ausstiegs. Schottlands Widerwillen, mit aus der EU gerissen zu werden, mag man in London ignorieren, doch dass sich die Irische Frage neu stellen würde, war von Anfang an offenbar . Ohne auch nur die Idee einer praktikablen und mehrheitsfähigen Lösung in die Verhandlungen gegangen und bis heute geblieben zu sein, erweist sich als der große strategische Fehler. Möglicherweise löst man dadurch den zumindest befriedeten Konflikt erneut aus, doch selbst wenn nicht: „Langfristig wird sich der Blick darauf richten müssen, die politische Landkarte der britischen Inselwelt neu zu gestalten.“120 So scheint es derzeit, als würde nicht die EU auseinanderbrechen, sondern eher das Vereinigte Königreich selbst. Sollte dies geschehen, wird das außenpolitische und diplomatische Gewicht Großbritanniens dramatisch darunter leiden. Ganz zu schweigen davon, dass London wohl weiterhin deutlich mehr Energie auf die Innen- als die Außenpolitik verwenden muss. Ob unter solch veränderten Vorzeichen überhaupt eine Außen- und Sicherheitspolitik noch möglich sein wird, wie sie die Brexiteers nimmermüde skizzieren, ist sehr fraglich. Sollte es so kommen - und angesichts der Tatsache, dass derzeit kein einziges mögliches Szenario denkbar ist, das London anschließend nicht in eine tiefe Regierungs-, wenn nicht sogar Verfassungskrise stürzt, liegt diese Befürchtung nahe -, hätten die Ausstiegsbefürworter genau das Gegenteil dessen erreicht, was sie (sich) versprachen: Am Ende stünde kein „Global Britain“, sondern ein geschrumpftes Großbritannien mit drastisch beschränkter politischer Reichweite. Dann jedoch könnte sich London gerade wegen seines erheblichen militärischen Potenzials, insbesondere seines atomaren Arsenals, zu einer Belastung für die globalen Sicherheitsstruktur entwickeln. *** 120 Moltmann, Nordirland [wie Anm. 98].