Auswirkungen einer Unabhängigkeitserklärung des Kosovo auf dessen serbisch dominierten Norden - Ausarbeitung - © 2007 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000-181/07 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasserin: Auswirkungen einer Unabhängigkeitserklärung des Kosovo auf dessen serbisch dominierten Norden Ausarbeitung WD 2 – 3000-181/07 Abschluss der Arbeit: 16. Januar 2008 Fachbereich WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Telefon: + Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. - Zusammenfassung - Nach dem Scheitern der serbisch-kosovarischen Gespräche über den Status des Kosovo wird allgemein damit gerechnet, dass das Kosovo im Laufe der kommenden Monate einseitig seine Unabhängigkeit erklärt und innerhalb kurzer Zeit durch die Vereinigten Staaten und eine Mehrheit der EU-Staaten anerkannt wird. In diesem Falle erscheint es nicht ausgeschlossen, dass sich der serbisch dominierte Norden des Kosovo, welcher seine eigenen Verwaltungsstrukturen zu haben und sich weiterhin der Republik Serbien zugehörig zu fühlen scheint, gegen den Willen der Kosovo-Albaner seinerseits für unabhängig erklärt und den Anschluss an die Republik Serbien ausruft. Die Frage, welche Auswirkungen eine Unabhängigkeitserklärung des Kosovo sowie eine sich gegebenenfalls daran anschließende Anerkennung des Kosovo durch andere Staaten auf den serbisch-dominierten Norden des Kosovo hätte, kann nicht abschließend beantwortet werden. Hält man ein Mindestmaß effektiver Staatsgewalt im übrigen Kosovo für gegeben, so dürfte jedenfalls dieser Teil des Kosovo die Staatseigenschaft erlangen. Ob sich das Staatsgebiet eines neu entstandenen Staates Kosovo auch auf den von Serben dominierten Norden erstreckt, hängt hingegen davon ab, ob das Kosovo auch dort über ein hinreichendes Mindestmaß effektiver Staatsgewalt verfügt. Ist dies der Fall, so würde das Staatsgebiet eines neu entstandenen Staates Kosovo auch den von Serben dominierten Norden umfassen. Verfügt das Kosovo dagegen im Norden nicht über ein hinreichendes Mindestmaß effektiver Staatsgewalt, so erscheint es ungewiss, ob sich das Staatsgebiet eines neu entstandenen Staates Kosovo auch auf den serbisch dominierten Norden oder nur auf das restliche Kosovo erstrecken würde. Sollte sich das Staatsgebiet eines neu entstandenen Staates Kosovo auch auf den serbisch dominierten Norden erstrecken, so stellt sich die Frage, ob den dort lebenden Serben ein Sezessionsrecht zustünde. Dies dürfte zum derzeitigen Zeitpunkt allerdings selbst dann zu verneinen sein, wenn man mit der wohl überwiegenden Ansicht des völkerrechtlichen Schrifttums ein Sezessionsrecht als ultima ratio in Ausnahmesituationen anerkennt. Eine eindeutige Aussage darüber, welche Auswirkungen die Erlangung der Staatseigenschaft des Kosovo durch eine Unabhängigkeitserklärung des Kosovo und gegebenenfalls sich daran anschließende Anerkennung des Kosovo durch andere Staaten auf die internationalen Präsenzen UNMIK und KFOR hätte, lässt sich der Resolution nicht entnehmen. Gleiches gilt auch hinsichtlich der Fragen, wie es sich auf UNMIK und KFOR auswirken würde, wenn sich das Staatsgebiet eines neu entstandenen Staates Kosovo nicht auf den serbisch dominierten Norden des Kosovo erstrecken würde oder wenn das Staatsgebiet eines neu entstandenen Staates Kosovo zwar das gesamte derzeitige kosovarische Territorium (einschließlich des serbisch dominierten Nordens) umfassen würde, der serbisch dominierte Norden sich jedoch seinerseits für unabhängig erklärte. Inhalt 1. Einleitung 5 2. Auswirkungen einer Unabhängigkeitserklärung des Kosovo auf den serbisch dominierten Norden des Kosovo 6 3. Loslösung des serbisch-dominierten Nordens von einem neu entstandenen Staat Kosovo 10 4. Auswirkungen auf die internationalen Präsenzen KFOR und UNMIK 14 Literaturverzeichnis 17 - 5 - 1. Einleitung Nach dem Scheitern der serbisch-kosovarischen Gespräche unter Vermittlung der aus Diplomaten der EU, der Vereinigten Staaten von Amerika und der Russischen Föderation gebildeten sog. „Troika“ gilt es als unwahrscheinlich, dass die Beteiligten in absehbarer Zukunft zu einer einvernehmlichen Lösung für den künftigen Status des Kosovo gelangen. Vielmehr wird allgemein damit gerechnet, dass die politischen Führer der Kosovo-Albaner im Laufe der kommenden Monate einseitig die Unabhängigkeit des Kosovo erklären werden.1 Dies – so wird erwartet – werde innerhalb kurzer Zeit zur Anerkennung des Kosovo durch die Vereinigten Staaten und eine Mehrheit der EU-Staaten führen.2 Ob der fast ausschließlich von Serben bewohnte Norden des Kosovo, welcher seine eigenen Verwaltungsstrukturen zu haben und sich weiterhin der Republik Serbien zugehörig zu fühlen scheint,3 eine einseitig ausgerufene Unabhängigkeit des Kosovo akzeptiert, erscheint zweifelhaft. Denn es erscheint nicht ausgeschlossen, dass sich der serbisch dominierte Norden des Kosovo – gegen den Willen der Kosovo-Albaner4 – seinerseits für unabhängig erklärt und den Anschluss an die Republik Serbien ausruft.5 Die folgende Ausarbeitung beschäftigt sich zum einen mit der Frage, welche Auswirkungen eine Unabhängigkeitserklärung des Kosovo sowie eine sich gegebenenfalls daran anschließende Anerkennung des Kosovo durch andere Staaten auf den serbisch-dominierten Norden des Kosovo hätte.6 Zum anderen behandelt sie die 1 Siehe Busse, FAZ vom 14.12.2007, S. 2; Bittner/Böhm, Die Zeit vom 06.12.2007; Martens, FAZ vom 20.11.2007, S. 5. 2 Siehe Martens, FAZ vom 20.11.2007, S. 5; ders., Das Parlament vom 03.12.2007, S. 12. 3 Siehe Eiff, ZfP 2006, S. 83 ff., S. 87, nach dem der fast ausschließlich von Serben bewohnte Nordosten des Kosovo faktisch ein Teil Serbiens ist; Bittner/Böhm, Die Zeit vom 06.12.2007, nach denen das Kosovo de facto längst geteilt ist, weil sich der Norden nie der UN-Verwaltung unterstellt habe und praktisch von Belgrad regiert werde; Mappes-Niediek, in: Deutschlandradio vom 09.12.2007, nach dem der serbisch besiedelte Norden des Kosovo schon jetzt faktisch von Belgrad verwaltet wird; siehe auch Martens, Das Parlament vom 03.12.2007, S. 12. 4 Dazu siehe FAZ vom 10.12.2007, S. 1 f. 5 Siehe Bittner/Böhm, Die Zeit vom 06.12.2007, die von einer „Sezession in der Sezession“ sprechen. 6 Zur Vereinbarkeit einer Unabhängigkeitserklärung des Kosovo und gegebenenfalls sich daran anschließender Anerkennung des Kosovo durch andere Staaten mit der Resolution 1244 (1999) des VN-Sicherheitsrates siehe , WD 2 – 3000-099/07, S. 7 ff. Zur Frage, ob das Kosovo im Falle einer Unabhängigkeitserklärung als Staat im Sinne des Völkerrechts anzusehen wäre und welche Auswirkungen eine Anerkennung des Kosovo durch andere Staaten nach allgemeinem Völkerrecht hätte, siehe , WD - 3000-168/07, S. 7 ff. sowie , ebd., S. 6 ff. Zu den Auswirkungen einer solchen Unabhängigkeitserklärung und einer sich gegebenenfalls daran anschließenden Anerkennung auf die Resolution 1244 (1999) des VN-Sicherheitsrates und die internationalen Präsenzen UNMIK und KFOR siehe Schubert/Johann, ebd., S. 12 ff. sowie , ebd., S. 14 ff. Zum Beschlussverfahren des Rates der Europäischen Union in Fragen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), den völkerrechtlichen Anforderungen an eine ESVP-Mission und Möglichkeiten der Gestaltung eines reibungslosen Übergangs der Aufgaben von - 6 - Frage, ob die Serben im Norden des Kosovo für den Fall, dass sich das Staatsgebiet eines neu entstandenen Staates Kosovo auf das gesamte derzeitige kosovarische Territorium einschließlich des serbisch-dominierten Nordens erstrecken sollte, ihre eigene Unabhängigkeit ausrufen oder sich gegebenenfalls der Republik Serbien anschließen könnten. Schließlich untersucht die Ausarbeitung, welche Auswirkungen die Erlangung der Staatseigenschaft des Kosovo durch eine Unabhängigkeitserklärung des Kosovo und gegebenenfalls sich daran anschließende Anerkennung des Kosovo durch andere Staaten einerseits sowie andererseits eine Unabhängigkeitserklärung des serbisch dominierten Nordens des Kosovo in einem solchen Fall auf die internationalen Präsenzen UNMIK und KFOR hätte. 2. Auswirkungen einer Unabhängigkeitserklärung des Kosovo auf den serbisch dominierten Norden des Kosovo Für den Fall, dass das Kosovo seine Unabhängigkeit erklärt und gegebenenfalls durch andere Staaten als Staat anerkannt wird, stellt sich zunächst die Frage, ob es als Staat im Sinne des Völkerrechts anzusehen wäre.7 Voraussetzung dafür wäre das Vorliegen eines Staatsgebietes, eines Staatsvolkes sowie einer Staatsgewalt, wobei die Staatsgewalt ein Mindestmaß an Effektivität aufweisen, d.h. sich tatsächlich durchgesetzt haben muss.8 Da es sich bei der Entstehung eines neuen Staates grundsätzlich um einen politischsoziologischen Vorgang handelt, der nach dem Effektivitätsprinzip zu beurteilen ist, dürfte es sich bei der Frage nach dem Vorliegen eines hinreichenden Mindestmaßes effektiver Staatsgewalt in erster Linie um eine tatsächliche und nicht um eine rechtliche Fragestellung handeln.9 Ob das Kosovo im Falle einer Unabhängigkeitserklärung über ein hinreichendes Mindestmaß an effektiver Staatsgewalt verfügen und infolgedessen die Staatseigenschaft erlangen würde, erscheint derzeit bereits im Hinblick auf die internationale Verwaltung des Kosovo zweifelhaft.10 Auch für den Fall, dass die Verwaltung des Kosovo endgültig auf kosovarische Institutionen überginge, erscheint das Vorliegen eines Mindestmaßes effektiver Staatsgewalt im Kosovo jedoch mit Blick auf seinen fast ausschließlich von Serben bewohnten Norden nicht unproblematisch, da dieser seine eigenen Verwaltungsstrukturen zu haben und sich weiterhin der Republik Serbien zugehörig zu fühlen scheint.11 UNMIK auf eine EU-Mission siehe , ebd., S. 21 ff. Zur Frage eines Sezessionsrechts siehe , Aktueller Begriff Nr. 47/07. 7 Zu den Auswirkungen einer Anerkennung des Kosovo durch andere Staaten siehe (Fn. 6), S. 7 ff. sowie (Fn. 6), S. 6 ff. 8 Dazu siehe (Fn. 6), S. 7 ff. 9 Ebd., S. 8. 10 Ebd., S. 8 f. 11 Ebd., S. 8 f. Dazu siehe auch oben Fn. 3. - 7 - Hält man im serbisch dominierten Norden des Kosovo ein Mindestmaß effektiver kosovarischer Staatsgewalt für nicht gegeben, so fragt sich, welche Konsequenzen dies für die Erlangung der Staatseigenschaft des Kosovo hätte. Da es sich bei diesem Teil des Kosovo nur um ein verhältnismäßig kleines Gebiet handelt, dürfte das Fehlen einer effektiven Staatsgewalt im Norden des Kosovo nicht dazu führen, dass ein hinreichendes Mindestmaß effektiver Staatsgewalt für das gesamte beanspruchte Territorium des Kosovo fehlen würde. Es stellt sich jedoch die Frage, ob sich das Staatsgebiet eines neu entstandenen Staates Kosovo in einem solchen Falle auf das gesamte derzeitige kosovarische Territorium einschließlich des serbisch-dominierten Nordens erstrecken würde oder ob nur der Teil des kosovarischen Territoriums das Staatsgebiet bilden würde, in dem auch tatsächlich ein Mindestmaß an effektiver Staatsgewalt gegeben ist. Letzteres wäre dann der Fall, wenn die Erlangung der Staatseigenschaft auf dem gesamten Territorium voraussetzt, dass auch tatsächlich auf dem gesamten Territorium ein Mindestmaß an effektiver Staatsgewalt gegeben ist, das Fehlen effektiver Staatsgewalt auf einem Teilgebiet also dazu führen würde, dass auf diesem Gebiet die Staatseigenschaft nicht erlangt wird.12 Hingegen wäre Voraussetzung dafür, dass sich das Staatsgebiet eines neu entstandenen Staates Kosovo im Falle einer Unabhängigkeitserklärung des Kosovo innerhalb der gegenwärtig bestehenden Grenzen auf das gesamte derzeit kosovarische Territorium – und damit auch auf den serbisch-dominierten Norden, in dem möglicherweise keine effektive kosovarische Staatsgewalt besteht – erstrecken würde, dass das Fehlen effektiver Staatsgewalt in einem Teilgebiet der Erlangung der Staatseigenschaft auf dem gesamten beanspruchten Staatsgebiet nicht entgegenstünde und dass trotz der fehlenden effektiven Staatsgewalt auf diesem Teilgebiet ein hinreichendes Mindestmaß effektiver Staatsgewalt, bezogen auf das gesamte beanspruchte Gebiet gegeben wäre. Dafür, dass sich das Staatsgebiet eines neu entstandenen Staates Kosovo auf das gesamte kosovarische Territorium erstrecken würde, könnte der sog. uti possidetis-Grundsatz sprechen. Ziel dieses Grundsatzes, dem zunächst im Zusammenhang mit der Entkolonisierung Lateinamerikas und später Afrikas große Bedeutung zukam,13 ist die Wahrung der Territorialgrenzen im Moment der Erlangung der Unabhängigkeit eines 12 In diesem Sinne Baer, die mit Blick auf die Staatseigenschaft Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas feststellt, dass sich die Staatsqualität Kroatiens mangels effektiver Kontrolle in einem Großteil der von den Serben beanspruchten Gebiete nur auf das restliche kroatische Staatsgebiet beschränkte (S. 107 f.) sowie dass der größte Teil Bosnien-Herzegowinas unter serbischer Kontrolle stehe und allenfalls im Hinblick auf das Restgebiet von einem unbestrittenen effektiv beherrschten Kernbereich und damit von der Staatlichkeit Bosnien-Herzegowinas ausgegangen werden könne (S. 114). Auch Hillgruber, S. 655, stellt mit Bezug auf Kroatien fest, dass es angesichts der Stärke der von der Bundesarmee massiv unterstützten serbischen Freischärler höchst zweifelhaft war, ob zu dem unabhängigen Kroatien auch die von den genannten Kräften effektiv besetzt gehaltenen Gebiete gehören würden. 13 Siehe Hobe/Kimminich, S. 78. - 8 - Staates.14 Der Internationale Gerichtshof bezeichnete diesen Grundsatz im sog. Frontier Dispute als allgemeines, mit der Erlangung der Unabhängigkeit logisch verbundenes Prinzip.15 In der Völkerrechtswissenschaft scheint dagegen umstritten zu sein, ob dieser Grundsatz als allgemeines Prinzip des Völkerrechts angesehen werden kann.16 In jüngster Vergangenheit wurde der uti possidetis-Grundsatz beim Untergang des ehemaligen Jugoslawiens und der Sowjetunion auf die Innengrenzen dieser Föderationen angewendet.17 So stellte die sog. Badinter-Kommission, die im August 1991 gleichzeitig mit der Einberufung der Friedenskonferenz für Jugoslawien von der EG und ihren Mitgliedstaaten zur Klärung von Meinungsverschiedenheiten als Schiedskommission eingerichtet worden war,18 in Opinion No. 3 im Hinblick auf die Frage, ob die Innengrenzen zwischen Kroatien und Serbien sowie zwischen Bosnien-Herzegowina und Serbien als Außengrenzen der neu entstandenen Staaten angesehen werden können, fest: „… The boundaries between Croatia and Serbia, between Bosnia-Hercegovina and Serbia, and possibly between other adjacent independent States may not be altered except by agreement freely arrived at. Except where otherwise agreed, the former boundaries become frontiers protected by international law. This conclusion follows from the principle of respect for the territorial status quo and, in particular, from the principle of uti possidetis. Uti possidetis … is today recognized as a general principle, as stated by the International Court of Justice in its Judgement … in the case between Burkina Faso and Mali (Frontier Dispute …). … According to a well-established principle of international law the alteration of existing frontiers or boundaries by force is not capable of producing any legal effect …”19 14 Siehe ICJ, Frontier Dispute (Burkina Faso v. Republic of Mali), ICJ Rep. 1986, S. 565 ff. 15 Siehe ICJ, Frontier Dispute (Burkina Faso v. Republic of Mali), ICJ Rep. 1986, S. 565 ff. 16 Für eine Regel des universellen Völkerrechts siehe Heintze, in: Ipsen, § 29 Rn. 7 sowie die Badinter-Kommission, Opinion No. 3, abgedruckt in ILR 92 (1993), S. 170 ff.; Baer, S. 195; a.A. Hobe/Kimminich, S. 113, der es als fraglich ansieht, ob dieser Grundsatz als allgemeines Prinzip des Völkerrechts akzeptiert werden kann. Kritisch auch Hillgruber, S. 650. 17 Vgl. Heintze, in: Ipsen, § 29 Rn. 7; Baer, S. 188. 18 Siehe Pellet, EJIL 3 (1992), S. 178. Ausführlich zur Badinter-Kommission siehe Terrett, S. 119 ff. 19 Siehe Badinter-Kommission, Opinion No. 3, abgedruckt in ILR 92 (1993), S. 170 ff. - 9 - In Opinion No. 2 stellte die Badinter-Kommission im Zusammenhang mit der Frage, ob der serbischen Bevölkerung in Kroatien und Bosnien-Herzegowina das Selbstbestimmungsrecht zustehe, fest: „… it is well established that, whatever the circumstances, the right to selfdetermination must not involve changes to existing frontiers at the time of independence (uti possidetis juris) except where the States concerned agree otherwise. …“20 Die Rechtsauffassung der Badinter-Kommission hinsichtlich der Anwendbarkeit des uti possidetis-Grundsatzes ist im völkerrechtlichen Schrifttum nicht ohne Kritik geblieben.21 Auch ist zu berücksichtigen, dass die Staatengemeinschaft das Auseinanderbrechen des ehemaligen Jugoslawiens als Prozess des Auseinanderfallens eines Staates (sog. Dismembration22) – und nicht der Sezession, bei der ein Teilgebiet eines Staates unabhängig wird und der alte Staat mit nunmehr verkleinertem Staatsgebiet fortbesteht23 – behandelte.24 Ob diese Kriterien auch im Falle einer Abspaltung des Kosovo von der Republik Serbien Anwendung finden, bei der es sich um eine Sezession handeln dürfte, erscheint deshalb ungewiss.25 So sieht z.B. Heintze 20 Siehe Badinter-Kommission, Opinion No. 2, abgedruckt in ILR 92 (1993), S. 167 ff. 21 Siehe dazu Hillgruber, S. 650 m.w.N.; Terret, S. 281 m.w.N.; Radan, in: MULR 3 (2000), S. 5 ff.; Ratner, in: AJIL 1996, S. 590 ff., S. 613 ff. Vgl. auch Crawford, S. 400, mit dem Hinweis, dass die Badinter-Kommission auch deshalb kritisiert wurde, weil sie die auf eine effektive Kontrolle des Territoriums gegründeten Standardkriterien für eine Unabhängigkeit nicht berücksichtigt habe. 22 Von einer Dismembration spricht man, wenn ein Staat in zwei oder mehrere Nachfolgestaaten zerfällt und der Vorgängerstaat vollständig untergeht; siehe Herdegen, § 8 Rn. 24; Hailbronner, in: Graf Vitzthum, 3. Abschnitt, Rn. 166; vgl. auch Stein/von Buttlar, § 3 Rn. 313. Heintze, in: Ipsen, § 29 Rn. 8, spricht von einer Dissolution, wenn der alte Staat zerfällt und neue Staaten auf seinem vormaligen Gebiet entstehen, so dass er als Völkerrechtssubjekt untergeht. 23 Siehe Heintze, in: Ipsen, § 29 Rn. 8; Stein/von Buttlar, § 3 Rn. 314; Demaj, S. 172. 24 Siehe Badinter-Kommission, Opinion No. 1, abgedruckt in ILR 92 (1993), S. 162 ff. Kritisch dazu Hillgruber, S. 639 ff., nach dem es um eine Sezession ging und der darauf hinweist, dass die Annahme einer Dismembration die völkerrechtliche Anerkennung der Eigenstaatlichkeit der für sich Unabhängigkeit reklamierenden Teilrepubliken erleichterte, da deren Anerkennung bei Annahme einer Sezession „vorzeitig“ gewesen wäre und eine völkerrechtswidrige Intervention zum Nachteil Jugoslawiens bedeutet hätte, die nur durch ein Sezessionsrecht legitimiert hätte werden können. Siehe auch Crawford, S. 400, mit dem Hinweis, dass die Annahme eines Auflösungsprozesses zur Folge hatte, dass lediglich die Republiken anerkennungsfähig waren, der Bevölkerung innerhalb der Republiken jedoch kein Sezessionsrecht zugesprochen wurde. 25 Zur Anwendbarkeit des uti possidetis-Grundsatzes auf Sezessionen siehe Radan, in: MULR 3 (2000), S. 3 f. Siehe auch Hobe/Kimminich, S. 78, nach dem uti possidetis bedeutet, dass die alten internen verwaltungsrechtlichen Grenzen innerhalb der Kolonien oder die staatsrechtlichen Grenzen innerhalb von Bundesstaaten im Augenblick der Unabhängigkeit oder des Zerfalls des Bundesstaates zu völkerrechtlichen Grenzen umgedeutet werden. Zur Frage des Bestehens eines Sezessionsrechts der Kosovo-Albaner siehe Muharremi, S. 119 ff. und S. 123 ff.; Heintze, in: Ipsen, § 28 Rn. 16 m.w.N. sowie Wodarz, S. 181 ff., S. 192 ff. und S. 224 ff.; vgl. auch Hillgruber, S. 741 f. sowie (Fn. 6). - 10 - bei einer Sezession das traditionelle Siedlungsgebiet des Volkes als Territorium des zu bildenden Staates an.26 Festzuhalten bleibt daher, dass die Frage, wie sich eine Unabhängigkeitserklärung des Kosovo auf den serbisch dominierten Norden auswirkt, nicht abschließend beantwortet werden kann. Hält man ein Mindestmaß effektiver Staatsgewalt im übrigen Kosovo für gegeben, so dürfte jedenfalls dieser Teil des Kosovo die Staatseigenschaft erlangen. Ob sich das Staatsgebiet eines neu entstandenen Staates Kosovo auch auf den von Serben dominierten Norden erstreckt, dürfte hingegen davon abhängen, ob das Kosovo auch dort über ein hinreichendes Mindestmaß effektiver Staatsgewalt verfügt. Ist dies der Fall, so würde das Staatsgebiet eines neu entstandenen Staates Kosovo auch den von Serben dominierten Norden umfassen. Verfügt das Kosovo dagegen im Norden nicht über ein hinreichendes Mindestmaß effektiver Staatsgewalt, so erscheint es ungewiss, ob sich das Staatsgebiet eines neu entstandenen Staates Kosovo auch auf den serbisch dominierten Norden oder nur auf das restliche Kosovo erstrecken würde. 3. Loslösung des serbisch-dominierten Nordens von einem neu entstandenen Staat Kosovo Für den Fall, dass sich das Staatsgebiet eines neu entstandenen Staates Kosovo auf das gesamte derzeitige kosovarische Territorium einschließlich des serbisch-dominierten Nordens erstrecken sollte, stellt sich die Frage, ob sich die im Norden lebenden Serben von dem neu entstandenen Staat Kosovo lösen und einen eigenen Staat ausrufen oder aber sich der Republik Serbien anschließen könnten. Voraussetzung einer solchen Sezession, bei der sich ein Teilgebiet aus einem bestehenden Staatsverband löst, um einen eigenen Staat zu gründen oder sich einem anderen Staat anzuschließen,27 wäre ein Sezessionsrecht. Dieses könnte sich aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker ergeben.28 Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist in zahlreichen internationalen Verträgen verankert (siehe z.B. Art. 1 Nr. 2 und Art. 55 VN-Charta sowie Art. 1 IPBPR) und als Gewohnheitsrecht anerkannt.29 Vielfach wird auch sein zwingender Charakter angenommen.30 26 Vgl. Heintze, in: Ipsen, § 29 Rn. 3. 27 Vgl. Hailbronner, in: Graf Vitzthum, 3. Abschnitt, Rn. 166. 28 Zu anderen Möglichkeiten der völkerrechtlichen Rechtfertigung einer Sezession siehe Heintze, in: Ipsen, § 29 Rn. 13. 29 So Heintze, in: Ipsen, § 27 Rn. 3 ff.; Hailbronner, in: Graf Vitzthum, 3. Abschnitt, Rn. 116 m.w.N.; Muharremi, S. 109 m.w.N. Dazu siehe auch Demaj, S. 162 f.; Baer, S. 200 f. 30 So Heintze, in: Ipsen, § 27 Rn. 9; Doehring, § 15 Rn. 780 und Rn. 800, nach dem der zwingende Charakter des Selbstbestimmungsrechts heute nicht mehr streitig ist. Siehe auch Hobe/Kimminich, - 11 - Träger des Selbstbestimmungsrechts ist das Volk. Eine verbindliche Definition des Begriffes des „Volkes“ kennt das Völkerrecht allerdings bis heute nicht.31 Zur Bestimmung der Volkseigenschaft einer Menschengruppe werden subjektive und objektive Kriterien herangezogen. Nach dem subjektiven Ansatz ist eine Menschengruppe dann ein Volk, wenn sie sich selbst als Volk mit einer eigenen Identität versteht.32 Daneben ist aus objektiver Sicht erforderlich, dass die Menschengruppe auf einem abgeschlossenen Territorium siedelt und sich durch gemeinsame kulturelle und ethnische Merkmale auszeichnet.33 Weitgehend ungeklärt und umstritten ist in der völkerrechtlichen Literatur, ob und in welchem Umfang eine Minderheit als Träger des Selbstbestimmungsrechts der Völker in Frage kommt.34 Soweit ersichtlich, scheint das völkerrechtliche Schrifttum jedoch überwiegend davon auszugehen, dass eine Minderheit dann als Träger des Selbstbestimmungsrechts in Betracht kommt, wenn sie zugleich Volksqualität hat.35 Entscheidendes Kriterium für die Bejahung der Volkseigenschaft einer Minderheit dürfte danach sein, dass sie über ein spezifisches Siedlungsgebiet verfügt.36 Kraft des Selbstbestimmungsrechts, dessen konkreter Inhalt allerdings umstritten ist,37 kann ein Volk über seinen Verfassungs- (sog. inneres Selbstbestimmungsrecht) und seinen Territorialstatus (sog. äußeres Selbstbestimmungsrecht) entscheiden.38 Ob das Selbstbestimmungsrecht in letzter Konsequenz auch das Recht zur – u. U. gewaltsamen – Sezession umfasst, ist umstritten. Die Staatengemeinschaft steht einem Sezessionsrecht außerhalb des Kontextes der Entkolonialisierung ausgesprochen distanziert gegenüber.39 So wurde – wie bereits dargestellt – das Auseinanderbrechen des ehemaligen Jugoslawiens als Prozess des Auseinanderfallens eines Staates S. 113; Demaj, S. 163 m.w.N.; Handrick, S. 69; Baer, S. 201 f. Wodarz, S. 166 f.; a.A. Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, § 15 Rn. 60. Siehe auch Terrett, S. 263; Muharremi, S. 109. 31 Siehe Heintze, in: Ipsen, § 28 Rn. 5; Weber, in: AVR 43 (2005), S. 494 ff., S. 495. 32 Siehe Heintze, in: Ipsen, § 28 Rn. 9. 33 Ebd., Rn. 10. Siehe auch Weber, in: AVR 43 (2005), S. 494 ff., S. 495; Thürer, in: Reiter, S. 34 ff., S. 40 f.; Wodarz, S. 173. 34 Siehe Muharremi, S. 118; Demaj, S. 169; Baer, S. 206; Wodarz, S. 175 ff. 35 Siehe Muharremi, S. 118; Heintze, in: Ipsen, § 28 Rn. 15 f.; Weber, in: AVR 43 (2005), S. 494 ff., S. 498 f. m.w.N.; Wodarz, S. 180; Baer, S. 207 f., nach der die wohl h.M. eine solche Minderheit allerdings nicht als Träger des Selbstbestimmungsrechts ansieht. 36 Siehe Weber, in: AVR 43 (2005), S. 494 ff., S. 499; Demaj, S. 172; Hailbronner, in: Graf Vitzthum, 3. Abschnitt, Rn. 117. A.A. wohl Baer, S. 209, nach der bei Volksgruppen Abstriche im Hinblick auf die geschlossene Siedlungsweise hingenommen werden müssten. 37 Siehe Terret, S. 263 ff. sowie Heintze, in: Ipsen, § 27 Rn. 11. 38 Siehe Weber, in: AVR 43 (2005), S. 494 ff, S. 499; Baer, S. 211 f. Dazu siehe auch Heintze, in: Ipsen, § 27 Rn. 11. Ausführlich zum inneren und äußeren Selbstbestimmungsrecht siehe Heintze, in: Ipsen, § 29 Rn. 1 ff. und § 30 Rn. 1 ff. 39 Siehe Heintze, in: Ipsen, § 29 Rn. 11; Thürer, in: Reiter, S. 34 ff., S. 48; Baer, S. 215. Siehe auch Wodarz, S. 200 ff. - 12 - (Dismembration) und nicht der Sezession behandelt.40 Auch blendete die Staatengemeinschaft – so die Feststellung Hillgrubers – den ethnischen Charakter des Jugoslawien-Konflikts bewusst aus und identifizierte stattdessen zur Wahrung der territorialen Binnengrenzen die Völker der jugoslawischen Republiken als Träger des Selbstbestimmungsrechts, obwohl sich die nach Unabhängigkeit strebenden Slowenen und Kroaten auf ein ihrem Ethnos zugeordnetes Selbstbestimmungsrecht beriefen.41 Demgegenüber ging die Badinter-Kommission zwar davon aus, dass auch Volksgruppen Träger des Selbstbestimmungsrechts sein können, ordnete die Ausübung des Sezessionsrechts jedoch der Aufrechterhaltung der bestehenden Grenzen unter.42 Ein Sezessionsrecht der in Kroatien und Bosnien-Herzegowina lebenden Serben erkannte die Staatengemeinschaft somit trotz deren Unabhängigkeitserklärungen nicht an.43 Das wohl überwiegende völkerrechtliche Schrifttum lässt dagegen ein Sezessionsrecht als ultima ratio in Ausnahmesituationen – etwa bei evidenter und eklatanter Verletzung fundamentaler Menschenrechte wie z. B. Völkermord, Vertreibung und ethnischer Säuberung – zu.44 Solange das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes jedoch z.B. durch Gewährung einer Autonomie oder einen föderalen Aufbau des Staatsgebietes entsprechend den Siedlungsgebieten seiner Völker und Volksgruppen beachtet werde, könne das Selbstbestimmungsrecht nicht in ein Recht auf Sezession münden.45 Voraussetzung eines Sezessionsrechts der in einem neu entstandenen Staat Kosovo lebenden Serben wäre somit nach dem wohl überwiegenden völkerrechtlichen 40 Dazu siehe oben Fn. 24 und dazu gehöriger Text 41 Siehe Hillgruber, S. 741 f., nach dem die Haltung der EG-Mitgliedstaaten gegenüber dem Selbstbestimmungsbegehren der Albaner im Kosovo dokumentiert, dass „die EG-Mitgliedstaaten ein wirkliches Sezessionsrecht, d.h. das Recht eines noch nicht, auch nicht ansatzweise staatlich organisierten Volkes auf einseitige Loslösung aus einem bestehenden Staatsverband und Schaffung eines eigenen, unabhängigen Staates nicht anerkannten“. Obwohl hier – so Hillgruber – am ehesten die engen Voraussetzungen eines in der Literatur bei systematischer Diskriminierung und Verfolgung einer ethnischen Gruppe durch die Staatsgewalt gerade wegen ihrer Gruppenzugehörigkeit angenommenen Sezessionsrechts hätten bejaht werden können, sei die europäische Staatengemeinschaft darüber mit Stillschweigen hinweggegangen. Zur Identifikation der Republiken bzw. der darin organisierten Völker als Träger des Selbstbestimmungsrechts siehe auch Baer, S. 237 f. Zum Bestehen eines Sezessionsrechts der Kosovo-Albaner siehe auch oben Fn. 25. 42 Dazu siehe oben Fn. 20 und dazu gehöriger Text; siehe auch Baer, S. 243 ff.; Hillgruber, S. 649; Hille, S. 66. 43 Siehe dazu Hille, S. 66. Zur Frage eines Sezessionsrechts der in Kroatien und Bosnien-Herzegowina lebenden Serben siehe Baer, S. 258 ff. und S. 301 f. 44 Siehe Weber, in: AVR 43 (2005), S. 494 ff., S. 499 f. m.w.N. und S. 508, nach dem sich eine Volksgruppe zunächst mit Autonomieregelungen zufrieden geben muss; Doehring, § 15 Rn. 796 und 798; Baer, S. 214 ff. m.w.N.; Thürer, in: Reiter, S. 34 ff., S. 48; Heintze, in: Ipsen, § 29 Rn. 12 f.; Hobe/Kimminich, S. 115 und S. 118; Muharremi, S. 111; Wodarz, S. 186 ff.; Hailbronner, in: Graf Vitzthum, Abschnitt 3, Rn. 118 und Rn. 120, der als solche Ausnahme z.B. eine Bedrohung der Existenz eines Volkes durch ein Verbleiben im Staatsverband nennt. 45 Siehe Hobe/Kimminich, S. 115; Muharremi, S. 113 ff. Vgl. auch Demaj, S. 174. - 13 - Schrifttum, dass sie die Volkseigenschaft besitzen und damit als Träger des Selbstbestimmungsrechts zu qualifizieren sind sowie dass eine zu einer Sezession berechtigende Ausnahmesituation vorliegt. Die Volkseigenschaft der im Kosovo lebenden Serben dürfte zu bejahen sein.46 So kommt Muharremi zu folgendem Ergebnis: „Unter Berücksichtigung der objektiven und subjektiven Volksmerkmale besteht kein Zweifel, dass es sich bei den Kosovo-Serben um eine Menschengruppe mit Volksqualität handelt. Sie haben eine eigene Sprache und Schrift (Serbisch und Kyrillisch), eine eigene Religion (christlich-orthodox) und eine stark historisch geprägte Identität, die sie zum Bestandteil des staatstragenden serbischen Volkes von Jugoslawien macht, das in diesem Staat die Mehrheit bildet und dem der Kosovo trotz Verwaltung durch die Vereinten Nationen weiterhin angehört. Im Kosovo selbst bilden sie die Mehrheit der Bevölkerung in den drei nördlichen, unmittelbar an Serbien angrenzenden Gemeinden, sind aber insgesamt in der Minderheit (ca. 5 % der Gesamtbevölkerung).“47 Eine zur Sezession von einem neu entstandenen Staat Kosovo berechtigende Ausnahmesituation wie etwa eine evidente und eklatante Verletzung fundamentaler Menschenrechte der im Kosovo lebenden Serben dürfte dagegen derzeit nicht vorliegen.48 Zwar wird die serbische Minderheit, die nach dem Abzug der serbischen Polizei und Armee gewalttätigen Übergriffen, Eigentumsverletzungen, Bedrohungen und Einschüchterungen durch überwiegend Kosovo-Albaner ausgesetzt war,49 nach wie vor Ziel von Diskriminierung und muss Einschränkungen im Zugang zu Bildung sowie aufgrund von Sicherheitsbedenken in der Bewegungsfreiheit hinnehmen. Auch werden die Häuser von Rückkehrern noch immer Ziel gewalttätiger Anschläge.50 Gleichwohl hat sich die Lage der im Kosovo lebenden Serben in den letzten Jahren doch deutlich verbessert.51 Allerdings zeigen die gewaltsamen Übergriffe auf Angehörige der 46 Zur Volkseigenschaft der in Kroatien und Bosnien-Herzegowina lebenden Serben siehe Baer, S. 250 ff. sowie Badinter-Kommission, Opinion No. 2, abgedruckt in ILR 92 (1993), S. 167 ff. Siehe auch Hillgruber, S. 649. 47 Siehe Muharremi, S. 125. 48 So auch die Einschätzung von Muharremi, S. 125 ff. (Stand: 2005), nach dem sowohl für die Kosovo-Albaner als auch für die Kosovo-Serben während der Verwaltung des Kosovo durch die Vereinten Nationen kein Sezessionsrecht besteht und etwas anderes nur gelten würde, wenn die endgültige politische Lösung der Kosovo-Frage für eine der beiden Volksgruppen eine Situation schafft, in der die effektive Ausübung des inneren Selbstbestimmungsrechts nicht gewährleistet wird. 49 Ebd., S. 126. 50 Siehe den Fortschrittsbericht 2007 der EG zum Kosovo vom 06.11.2007, Com(2007) 663 final, S. 21. 51 Siehe auch die Einschätzung von Muharremi, S. 126 (Stand: 2005): „Aufgrund von verstärkten Sicherheitsmaßnahmen durch KFOR und UNMIK Polizei, wie auch durch Maßnamen der PISG - 14 - serbischen Minderheit im Kosovo im März 2004, dass ein erneutes Aufflackern der Konflikte zwischen Kosovo-Serben und Kosovo-Albanern derzeit nicht ausgeschlossen werden kann. Als Ergebnis bleibt somit festzuhalten, dass den im Norden des Kosovo lebenden Serben zum jetzigen Zeitpunkt ein Sezessionsrecht auch dann nicht zustehen dürfte, wenn man ein Sezessionsrecht mit der wohl überwiegenden Ansicht des völkerrechtlichen Schrifttums als ultima ratio in Ausnahmesituationen anerkennt. 4. Auswirkungen auf die internationalen Präsenzen KFOR und UNMIK Das Mandat der internationalen Präsenzen KFOR und UNMIK ist in der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (VN) niedergelegt. Die Frage, wie sich eine etwaige Erlangung der Staatseigenschaft des Kosovo durch eine Unabhängigkeitserklärung und gegebenenfalls daran anschließende Anerkennung des Kosovo durch andere Staaten auf KFOR und UNMIK auswirkt, richtet sich daher nach der Resolution 1244 (1999). Gleiches gilt auch für die Frage, welche Auswirkungen es auf KFOR und UNMIK hätte, wenn sich das Staatsgebiet eines neu entstandenen Staates Kosovo auf das derzeit kosovarische Territorium mit Ausnahme des serbisch dominierten Nordens erstrecken würde oder wenn das Staatsgebiet eines neu entstandenen Staates Kosovo zwar das gesamte derzeit kosovarische Territorium (einschließlich des serbisch dominierten Nordens) umfassen würde, der serbisch dominierte Norden des Kosovo sich jedoch für unabhängig erklären würde und gegebenenfalls den Anschluss an die Republik Serbien ausriefe. Welche Auswirkungen die Erlangung der Staatseigenschaft des Kosovo durch eine Unabhängigkeitserklärung und gegebenenfalls anschließende Anerkennung des Kosovo durch andere Staaten auf die Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (VN) hat, lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten. Zwar dürften einzelne Regelungen der Resolution in einem solchen Falle gegenstandslos werden. Eine eindeutige Beschränkung des Regelungsinhaltes der Resolution auf eine Übergangsphase bis zur Klärung des künftigen Status’ oder bis zur Erlangung der Staatseigenschaft des Kosovo lässt sich der Resolution jedoch genauso wenig entnehmen wie eine eindeutige Weitergeltung im Falle einer Klärung der Statusfrage oder der Erlangung der Staatseigenschaft des Kosovo.52 [Provincial Institutions of Self-Government] … und öffentlichen Appellen von beiden Seiten hat sich die Sicherheitslage für Kosovo-Serben deutlich verbessert. Gerichtlicher Rechtsschutz wird durch internationale Richter und Schutz von Eigentum und Kulturgütern wird durch UNMIK/KFOR gewärleistet. Mittlerweile sind Kosovo-Serben auch in die öffentliche Verwaltung und sogar in den Kosovo Protection Corps eingetreten. Unter den gegebenen Umständen kann von einer schweren Diskriminierung oder Menschenrechtsverletzung der Kosovo-Serben nicht gesprochen werden.“ 52 Dazu siehe ausführlich (Fn. 6), S. 13 ff. - 15 - Käme man zu dem Ergebnis, dass der Regelungsinhalt der Resolution auf eine Übergangsphase bis zur Klärung des künftigen Status’ des Kosovo oder bis zur Erlangung der Staatseigenschaft des Kosovo beschränkt wäre, so dürfte die Rechtsgrundlage für KFOR und UNMIK mit der Klärung der Statusfrage oder der Erlangung der Staatseigenschaft des Kosovo entfallen. Der Umstand, dass sich das Staatsgebiet eines neu entstandenen Staates Kosovo möglicherweise nur auf das derzeit kosovarische Territorium mit Ausnahme des serbisch dominierten Nordens erstrecken würde oder dass das Staatsgebiet eines neu entstandenen Staates Kosovo zwar das gesamte derzeit kosovarische Territorium (einschließlich des serbisch dominierten Nordens) umfassen würde, der serbisch dominierte Norden des Kosovo sich jedoch für unabhängig erklären und gegebenenfalls den Anschluss an die Republik Serbien ausrufen würde, dürfte in diesem Fall keine weiteren Auswirkungen auf KFOR und UNMIK haben. Käme man dagegen zu dem Ergebnis, dass die Resolution im Falle einer Klärung des künftigen Status’ des Kosovo oder der Erlangung der Staatseigenschaft des Kosovo grundsätzlich weiter gälte, so bliebe die Rechtsgrundlage für die im Kosovo stationierten internationalen Präsenzen KFOR und UNMIK auch nach einer Klärung der Statusfrage oder der Erlangung der Staatseigenschaft des Kosovo grundsätzlich bestehen. In diesem Fall wäre zunächst zu klären, wie sich die Erlangung der Staatseigenschaft durch einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo und gegebenenfalls anschließende Anerkennung durch andere Staaten grundsätzlich auf das Mandat und die Aufgaben von KFOR und UNMIK auswirkt. Eine ausdrückliche Regelung hierüber enthält die Resolution nicht, so dass auch diese Frage nicht mit Sicherheit beantwortet werden kann.53 Käme man zu dem Schluss, dass das Mandat von KFOR und UNMIK auch im Falle der Erlangung der Staatseigenschaft des Kosovo durch eine einseitig erklärte Unabhängigkeit des Kosovo und gegebenenfalls sich daran anschließende Anerkennung durch andere Staaten fortbestünde, so stellt sich die Frage, ob sich das Mandat auch dann auf den serbisch dominierten Norden des derzeit kosovarischen Territoriums erstrecken würde, wenn das Staatsgebiet eines neu entstandenen Staates Kosovo dieses Gebiet nicht umfassen oder wenn das Staatsgebiet eines neu entstandenen Staates Kosovo zwar das gesamte derzeit kosovarische Territorium (einschließlich des serbisch dominierten Nordens) umfassen würde, der serbisch dominierte Norden des Kosovo sich jedoch für unabhängig erklären würde und gegebenenfalls den Anschluss an die Republik Serbien ausriefe.54 Der örtliche 53 Dazu ausführlich siehe (Fn. 6), S. 17 ff. 54 Käme man dagegen zu dem Schluss, dass das Mandat von KFOR und UNMIK in einem solchen Falle wegfiele, so dürfte der Umstand, dass sich das Staatsgebiet eines neu entstandenen Staates Kosovo möglicherweise nur auf das derzeit kosovarische Territorium mit Ausnahme des serbisch dominierten Nordens erstrecken würde oder dass das Staatsgebiet eines neu entstandenen Staates Kosovo zwar das gesamte derzeit kosovarische Territorium (einschließlich des serbisch dominierten - 16 - Geltungsbereich der Resolution 1244 (1999) insgesamt sowie der darin niedergelegten Mandate für KFOR und UNMIK erstreckt sich auf das Territorium des Kosovo.55 Zwar enthält die Resolution keine ausdrückliche Aussage darüber, welches Gebiet genau hiervon umfasst ist. Mangels anderweitiger ausdrücklicher Regelung dürfte jedoch davon auszugehen sein, dass die Mitglieder des Sicherheitsrates den Anwendungsbereich der Resolution auf das gesamte Territorium des Kosovo erstrecken wollten, welches zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Resolution nach dem Recht der Bundesrepublik Jugoslawien kosovarisches Gebiet war. Eine etwaige Erlangung der Staatseigenschaft des Kosovo bezogen auf das derzeit kosovarische Territorium mit Ausnahme des serbisch dominierten Nordens dürfte somit nicht dazu führen, dass die Resolution im serbisch dominierten Norden des Kosovo keine Geltung mehr besäße. Gleiches dürfte auch für den Fall gelten, dass sich das kosovarische Territorium auch auf den serbisch dominierten Norden erstreckt, dieser jedoch seine Unabhängigkeit ausruft. Ebenso wenig dürfte das Mandat von KFOR und UNMIK für den serbisch dominierten Norden in einem dieser beiden Fälle automatisch enden. Ob und inwieweit das Mandat in einem solchen Falle nach der Resolution innerhalb des gesamten derzeitigen kosovarischen Territoriums, des derzeitigen kosovarischen Territoriums ohne den serbisch dominierten Norden oder des serbisch dominierten Nordens fortgeführt werden müsste oder könnte, lässt sich jedoch nicht mit Sicherheit sagen. Denn die Resolution enthält weder eine ausdrückliche Regelung, noch dürfte ihr eine eindeutige Präferenz zugunsten einer Weiterführung des Mandats in einem der genannten Gebiete zu entnehmen sein. Nordens) umfassen würde, der serbisch dominierte Norden des Kosovo sich jedoch für unabhängig erklären und gegebenenfalls den Anschluss an die Republik Serbien ausrufen würde, keine weiteren Auswirkungen auf UNMIK und KFOR haben. 55 Dazu siehe S/Res/1244 (1999), insbesondere Ziffern 1, 3, 5, 7, 9 und 10. - 17 - Literaturverzeichnis Baer, Stephanie, Der Zerfall Jugoslawiens im Lichte des Völkerrechts, Frankfurt am Main 1995 Bittner, Johen/Böhm, Andrea, Unser Protektorat, in: Die Zeit vom 6. Dezember 2007, abrufbar unter: http://www.zeit.de/2007/50/Kosovo-Zukunft (Stand: 16.01.2008) Busse, Nikolas, Die vielen Fronten der Kosovo-Unabhängigkeit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Dezember 2007, Nr. 291, S. 2 Crawford, James, The Creation of States in International Law, Second Edition, Oxford 2006 Demaj, Violeta, Kosovo/a – Recht auf Unabhängigkeit?, Wien/Graz 2003 Doehring, Karl, Völkerrecht: ein Lehrbuch, 2. 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