Deutscher Bundestag Zu ausgewählten Statusfragen im Rahmen des israelischpalästinensischen Konflikts Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 2 – 3000 – 177/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 177/12 Seite 2 Zu ausgewählten Statusfragen im Rahmen des israelisch-palästinensischen Konflikts Verfasser: Aktenzeichen: WD 2 – 3000 – 177/12 Abschluss der Arbeit: 28. Februar 2013 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 177/12 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Zur Bestimmung der Grenze zwischen Israel und den besetzten Gebieten 4 3. Siedlungen im Westjordanland und in Ostjerusalem 5 3.1. Zur Anwendbarkeit der IV. Genfer Konvention 6 3.2. Das Verbot des Bevölkerungstransfers in besetzte Gebiete (Art. 49 Abs. 6 GK IV) 7 4. Zur völkerrechtlichen Beurteilung der Sperranlage 8 4.1. Das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs 9 4.2. Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs Israels 12 4.3. Verhältnis zwischen IGH-Gutachten und verändertem Verlauf der Sperranlage 12 5. Palästinensische Flüchtlinge 13 5.1. Zur völkerrechtlichen Diskussion um ein Rückkehrrecht der Flüchtlinge 13 5.2. Zur Bedeutung völkerrechtlicher Standpunkte für die Lösung der Flüchtlingsfrage 16 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 177/12 Seite 4 1. Einleitung Im Rahmen des Nahostkonflikts sind eine Reihe von Fragen zwischen Israel und den Palästinensern umstritten, die den Status von Personen und bestimmten Gebieten und Ressourcen betreffen . Prominente Beispiele sind die israelischen Siedlungen im Westjordanland, die Sperranlage in den besetzten Gebieten und die Diskussion über eine Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge , die im Zuge des israelisch-arabischen Krieges von 1948/49 das Gebiet des heutigen Israel verlassen haben.1 Die Konflikte um Siedlungen und die Sperranlage hängen eng miteinander zusammen , unter anderem da die Errichtung der Sperranlage auf palästinensischem Gebiet oftmals jedenfalls auch dem Schutz dieser Siedlungen dienen soll. Im Folgenden werden insbesondere die völkerrechtlichen Aspekte dieser drei Konfliktpunkte erörtert. Dies geschieht in dem Bewusstsein, dass es wohl eine Überforderung des Völkerrechts darstellen dürfte, von ihm die Blaupause für eine Friedenslösung zu erwarten. Insbesondere zentrale Vorfragen, wie etwa die Festlegung der zukünftigen Grenze zwischen den beiden Staaten , werden im Verhandlungswege geklärt werden müssen. 2. Zur Bestimmung der Grenze zwischen Israel und den besetzten Gebieten Zur Bestimmung der Grenze zwischen dem Staatsgebiet Israels und den besetzten Gebieten wird regelmäßig auf die sogenannte Grüne Linie verwiesen, die auf dem Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und Jordanien aus dem Jahr 1949 basiert. Diese Linie ist jedoch zum einen nicht vollständig, da es zwei größere Gebiete gibt, die als Niemandsland deklariert wurden. Zum anderen sieht bereits das Waffenstillstandsabkommen von 1949 vor, dass der endgültige Grenzverlauf nicht präjudiziert werden soll. Auch das Oslo- Übereinkommen und nachfolgende Friedensverhandlungsinitiativen betonen die Notwendigkeit einer Verhandlungslösung in der Grenzfrage. Die Grüne Linie wird dabei nur der Ausgangspunkt sein können. Vor diesem Hintergrund wird von Beobachtern davon ausgegangen, dass eine Friedenslösung nur möglich ist, wenn es zu einem Gebietstausch kommt. Auf diese Weise könnten nicht zuletzt die Sicherheitsinteressen Israels berücksichtigt werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass ein solcher Gebietstausch in der Vergangenheit bereits Gegenstand von Verhandlungen war.2 Eine Festlegung der Grenzen würde auch eine Einigung über weitere Fragekomplexe erleichtern. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass auch die israelischen Regierungen den vorübergehenden Status der Siedlungen im Westjordanland betont haben, wäre mit einer Grenzziehung zugleich festgelegt, welche Siedlungen geräumt werden müssen. 1 Weitere Statusfragen betreffen insbesondere die Verteilung der knappen Wasserressourcen und den Status Jerusalems . 2 Baumgart-Ochse, Abbau statt Baustopp, HSFK-Standpunkt 12/2010, S. 7 f., verfügbar unter: http://www.hsfk.de/fileadmin/downloads/standpunkt1210.pdf (26.2.2012). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 177/12 Seite 5 3. Siedlungen im Westjordanland und in Ostjerusalem Seit dem Ende des Sechs-Tage-Krieges 1967 haben zahlreiche israelische Regierungen auf unterschiedliche Weise den Siedlungsbau in Gebieten östlich der Grünen Linie gefördert und betrieben . Nach Angaben des beim Generalsekretariat der Vereinten Nationen angesiedelten Amtes für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (Office for the Coordination of Humanitarian Affairs – OCHA) bestehen derzeit circa 250 solcher Siedlungen (davon 150 mit behördlicher Genehmigung ), in denen geschätzte 520000 Personen leben.3 Dabei unterscheiden sich die Siedlungen nicht unerheblich in ihrer Entfernung von der Grünen Linie. Einen Sonderfall stellen dabei Siedlungen in Ostjerusalem dar, da Israel Ostjerusalem seit 1967 als eigenes Staatsgebiet beansprucht . Diese Annexion wird von der internationalen Gemeinschaft und im völkerrechtlichen Schrifttum jedoch ganz überwiegend nicht anerkannt.4 Seit 1992 und im Schwerpunkt im Zeitraum bis 2002 wurden neue Siedlungen vor allem ohne formale Genehmigung durch die Regierung errichtet (sogenannte Outposts). Insbesondere mit dem Status dieser Siedlungen haben sich zwei von der israelischen Regierung eingesetzte Expertenkommissionen befasst. 2005 legt die Kommission unter Vorsitz von Talya Sasson ihren Bericht vor und empfahl Maßnahmen, um die informelle Unterstützung solcher Siedlungen zu beenden .5 Im Gegensatz hierzu kam die Kommission unter Vorsitz von Edmund Levy 2012 zu dem Schluss, dass die Outposts legalisiert werden sollten.6 In der völkerrechtlichen Diskussion über die Rechtmäßigkeit des Siedlungsbaus in den besetzen Gebieten spielt Art. 49 Abs. 6 der vierten Genfer Konvention (GK IV) eine zentrale Rolle. Danach darf eine Besatzungsmacht nicht Teile ihrer Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet verschleppen oder verschicken. Diese Regelungen werden zudem überwiegend als Völkergewohnheitsrecht angesehen.7 Auch auf der Ebene des Völkerstrafrechts findet die Regelung ihre Ent- 3 Davon ca. 200.000 in Ostjerusalem. Siehe OCHA, The Humanitarian Impact of Israeli Settlement Policies, Update Dezember 2012, verfügbar unter: http://unispal.un.org/pdfs/OCHA_HumImpact-Settlements.pdf (25.2.2013). Zur Entwicklung der Siedlerzahlen siehe Baumgart-Ochse (Anm. 2), S. 3 4 Zu den Reaktionen der internationalen Gemeinschaft und zur völkerrechtlichen Diskussion Akram/Lynk, Arab- Israeli Conflict, in Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law (MPEPIL), online edition , http://www.mpepil.com, Rn. 94 ff. Prägnant zum Status von Jerusalem auch Dinstein, The International Law of Belligerent Occupation, 2009, S. 18 f. Auch der Internationale Gerichtshof hat in seinem Gutachten zur Sperranlage in den besetzten palästinensischen Gebieten Ostjerusalem als Teil dieser Gebiete gesehen, Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, Advisory Opinion, 9.7.2004, ICJ Reports 2004, S. 136, Z. 120, verfügbar unter http://www.icj-cij.org/docket/files/131/1671.pdf (20.2.2013). 5 Summary of the Opinion Concerning Unauthorized Outposts, März 2005, verfügbar unter: http://www.mfa.gov.il/MFA/Government/Law/Legal+Issues+and+Rulings/Summary+of+Opinion+Concerning+ Unauthorized+Outposts+-+Talya+Sason+Adv.htm (25.2.2013). 6 The Commission to Examine the Status of Building in Judea and Samaria, Conclusions and Recommendations, 13.7.2012, verfügbar unter http://unispal.un.org/UNISPAL.NSF/0/D9D07DCF58E781C585257A3A005956A6 (25.2.2013). Eine inoffizielle Übersetzung des völkerrechtlichen Teils findet sich unter http://elderofziyon.blogspot.cz/2012/07/english-translation-of-legal-arguments.html (25.2.2013). Der Bericht ist soweit ersichtlich bisher noch nicht von der israelischen Regierung angenommen worden. 7 Scobbie, Justice Levy’s Legal Tinsel: The Recent Israeli Report on the Status of the West Bank and Legality of the Settlements, EJILtalk!, 6.9.2012, verfügbar unter http://www.ejiltalk.org/justice-levys-legal-tinsel-the-recentisraeli -report-on-the-status-of-the-west-bank-and-legality-of-the-settlements/ (6.2.2013) unter Verweis auf Inter- Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 177/12 Seite 6 sprechung. Art. 8 Abs. 2 b) viii) des IStGH-Statuts stellt unter anderem die unmittelbare oder mittelbare Überführung durch die Besatzungsmacht eines Teils ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet als Kriegsverbrechen unter Strafe.8 3.1. Zur Anwendbarkeit der IV. Genfer Konvention Vertreter der Auffassung, dass die israelischen Siedlungen nicht völkerrechtswidrig seien, haben weiterhin angenommen, dass die GK IV allgemein auf die Situation im Westjordanland nicht anwendbar sei, da es sich um keine militärische Besatzung handele.9 Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass Israel 1967 nicht das Gebiet eines fremden Staates besetzt habe, da zuvor auch Jordanien das Westjordanland nur besetzt habe. Die GK IV gelte aber aufgrund ihres Art. 2 nur, wenn das Gebiet einer „Hohen Vertragspartei“ besetzt werde. Bereits das Mandat des Völkerbundes an Großbritannien habe das Recht des jüdischen Volkes anerkannt, in Palästina zu siedeln, und dieses Recht sei nach dem Scheitern der Zwei-Staaten-Lösung 1949 wiederaufgelebt . Daher sei der israelische Anspruch auf dieses Gebiet besser begründet als der anderer Staaten .10 Demgegenüber hat der Internationale Gerichtshof (IGH) in seinem Gutachten zur Sperranlage in den besetzen palästinensischen Gebieten im Einklang mit der ganz überwiegenden Auffassung in Staatenpraxis und Literatur angenommen, dass der Anwendungsbereich der GK IV nicht auf das Gebiet der Hohen Vertragsparteien beschränkt sei. Vielmehr falle jeder bewaffnete Konflikt unter die Regeln der GK IV, nicht zuletzt um Schutzlücken zu vermeiden.11 Dass Israel im Westjordannational Committee of the Red Cross, Customary International Humanitarian Law, Rule 130, verfügbar unter: http://www.icrc.org/customary-ihl/eng/docs/v1_rul_rule130 (25.2.2013); a.A. der israelische Oberste Gerichtshof (High Court of Justice) dazu Kretzmer, The law of belligerent occupation in the Supreme Court of Israel , International Review of the Red Cross 94 (2012), S. 207, 214. 8 Auf die Frage, ob und unter welchen Umständen diese Situation vor den IStGH gebracht werden könnte, kann hier nicht näher eingegangen werden. Eine gute Einführung in die Probleme bieten Cerone, Legal Implications of the UN General Assembly Vote to Accord Palestine the Status of Observer State, ASILinsight vom 7.12.2012, verfügbar unter http://www.asil.org/insights121208.cfm sowie Kontorovich, Settlements, Territory, and the ICC, EJILtalk 3.1.2013, verfügbar unter: http://www.ejiltalk.org/settlements-territory-and-the-icc/ (6.2.2013). 9 Israel behauptet jedoch nicht, das Westjordanland annektiert zu haben, wohl nicht zuletzt, da dann dessen Bewohner Bürger Israels würden, vgl. Becker, IGH-Gutachten über „Rechtliche Konsequenzen des Baus einer Mauer in den besetzten palästinensischen Gebieten“, Archiv des Völkerrechts 2005, S. 218, 226 f. 10 Diese Auffassung geht zurück auf Blum, The Missing Reversioner: Reflections on the Status of Judea and Samaria , Israeli Law Review 3 (1968), S. 279. Zur Rezeption als Position der israelischen Regierung vgl. Rubin, Israel, Occupied Territories, in MPEPIL (Anm. 4), Rn. 45 ff. 11 International Court of Justice, Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, Advisory Opinion, 9.7.2004, ICJ Reports 2004, S. 136, Z. 95, verfügbar unter http://www.icjcij .org/docket/files/131/1671.pdf (20.2.2013). In diesem Punkt zustimmend auch die Erklärung des Richters Buergenthal , Z. 2. Zu den entsprechenden Auffassungen des IKRK, der Generalversammlung und des Sicherheitsrats vgl. IGH, Z. 97 ff. Zum völkerrechtlichen Schrifttum stellvertretend Dinstein (Anm. 4), S. 20 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 177/12 Seite 7 land die Rolle einer Besatzungsmacht ausübe, hat auch der israelische Oberste Gerichtshof durchgängig angenommen.12 Dabei hat er die Frage nach der völkerrechtlichen Anwendbarkeit der GK IV zwar letztlich im formalen Sinne nicht entschieden, aber angedeutet, von ihrer Anwendbarkeit auszugehen.13 Im völkerrechtlichen Schrifttum wird zudem darauf hingewiesen, dass der Verweis auf die besseren Ansprüche Israels das Selbstbestimmungsrecht der lokal ansässigen Bevölkerung zu wenig berücksichtige.14 3.2. Das Verbot des Bevölkerungstransfers in besetzte Gebiete (Art. 49 Abs. 6 GK IV) Auf der Grundlage von Art. 49 Abs. 6 GK IV hat der Internationale Gerichtshof in seinem Gutachten zur Sperranlage in den besetzen palästinensischen Gebieten angenommen, dass die israelischen Siedlungen im Westjordanland rechtswidrig seien. In seiner Begründung verweist der IGH zudem auf die Sicherheitsratsresolutionen 446, 452 und 465 aus den Jahren 1979 und 1980.15 Auch der Richter Buergenthal, der die Entscheidung nicht mitgetragen hat, weist in seiner Erklärung darauf hin, dass die israelischen Siedlungen im Westjordanland gegen Art. 49 Abs. 6 GK IV verstießen.16 In dieser Frage bestand daher – wie hinsichtlich der Anwendbarkeit der GK IV – ein Konsens unter den Richtern des IGH. Das Gutachten des IGH spiegelt im Kern die ganz überwiegende Ansicht im völkerrechtlichen Schrifttum und in der Staatenpraxis wieder.17 Sie bildet auch die Grundlage für den kürzlich veröffentlichten Bericht einer mit Experten besetzten Fact-Finding-Mission des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen unter dem Vorsitz der französischen Völkerrechtlerin Christine Chanet.18 In der völkerrechtlichen Literatur wird teilweise vorgebracht, mit Blick auf Art. 49 Abs. 6 GK IV seien zwei Arten von Siedlungen zu unterscheiden. Das Verbot, die eigene Zivilbevölkerung in 12 Auf diese Rechtsprechung verweist auch der IGH, Legal Consequences of the Wall (Anm. 11), Z. 100. Siehe auch Rubin (Anm. 10), Rn. 53; Akram/Lynk (Anm. 4), Rn. 76. 13 Ausführlich die Analyse der Rechtsprechung bei Kretzmer, The law of belligerent occupation in the Supreme Court of Israel, International Review of the Red Cross 94 (2012), S. 207, 211 ff. 14 Rubin (Anm. 10), Rn. 51 ff. sowie die Darstellung bei Akram/Lynk (Anm. 4), Rn. 75. Rostow, AJIL 84 (1990), S. 717, 720 hält die Ansprüche demgegenüber für gleichgewichtig. 15 IGH, Legal Consequences of the Wall (Anm. 11), Z. 120. 16 IGH, Legal Consequences of the Wall, Declaration of Judge Buergenthal (Anm. 11), Z. 9. 17 Stellvertretend Akram/Lynk (Anm. 4), Rn. 98 ff. Vgl. zuletzt auch die Erklärungen von 14 der 15 Mitglieder des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 19.12.2012, FAZ vom 21.12.2012. 18 Report of the independent international fact-finding mission to investigate the implications of Israeli Settlements on the civil, political, economic, social and cultural rights of the Palestinian people throughout the Occupied Palestinian Territories, including East Jerusalem, A/HRC/22/63, 7.2.2013, insb. Rn. 16, verfügbar unter: http://www.ohchr.org/Documents/HRBodies/HRCouncil/RegularSession/Session22/A-HRC-22-63_en.pdf (27.2.2013). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 177/12 Seite 8 besetztes Gebiet zu verschicken, richte sich nur gegen Siedlungen, die durch die Besatzungsmacht veranlasst seien. Anders verhalte es sich aber, wenn Siedlungen von Privatpersonen errichtet worden seien, insbesondere wenn sie wie nicht selten im Westjordanland entgegen der offiziellen Regierungspolitik errichtet worden seien.19 Mit Blick auf zahlreiche formal private israelischen Siedlungen im Westjordanland ist jedoch zu bedenken gegeben worden, dass sie auf Regierungsebene unterstützt, geplant und finanziert worden seien. Auch solche Siedlungen würden daher durch Art. 49 Abs. 6 GK IV erfasst.20 Im völkerrechtlichen Schrifttum wird vereinzelt angenommen, dass Art. 49 Abs. 6 GK IV nur Situationen betreffe, in denen Umsiedlungen durch Zwangsmaßnahmen erfolgen. Sinn sei es, die Bevölkerung vor Vertreibungen zu schützen, die im Westjordanland durch die Siedlungen aber nicht erfolgt seien. Die Regelung sei daher auf israelische Siedlungen nicht anwendbar.21 Auf diese Position stützt sich auch der Bericht der sogenannten Levy-Kommission.22 Dagegen wird von der ganz überwiegenden Ansicht im völkerrechtlichen Schrifttum angenommen, dass Art. 49 Abs. 6 GK IV anders als Art. 49 Abs. 1 GK IV gerade nicht die Ausübung von Zwang oder die Vertreibung der lokalen Bevölkerung voraussetze.23 Der israelische Oberste Gerichtshof hat sich bisher nicht zur Grundsatzfrage geäußert, ob die Siedlungspolitik allgemein mit dem Völkerrecht im Einklang steht. Jedoch hat er wiederholt festgehalten , dass die Siedlungen als Akte der Besatzungsmacht jedenfalls nur solange zulässig seien , wie die Besatzung des Westjordanlandes aufrecht erhalten wird. Zudem hat er in Einzelfällen entschieden, dass bestimmte Siedlungen unzulässig seien. Dies betrifft insbesondere die Enteignung von Grundbesitzern aus politischen im Gegensatz zu militärischen Gründen.24 4. Zur völkerrechtlichen Beurteilung der Sperranlage Als Reaktion auf eine drastische Zunahme terroristischer Anschläge in Israel im Zuge der zweiten Intifada beschloss die israelische Regierung im Jahr 2002, eine insgesamt ca. 720 km lange Sperranlage zu bauen, die zwischen Israel und dem besetzten Westjordanland verlaufen sollte. Erhebliche Teile dieser Anlage sollten nach den Planungen dabei in besetztem Gebiet verlaufen, teilweise in unmittelbarer Nähe zur Grünen Linie, in größeren Teilen hingegen einige Kilometer 19 Dinstein, The International Law of Belligerent Occupation, 2009, S. 240 f. 20 Roberts, Prolonged Military Occupation, American Journal of International Law (AJIL) 84 (1990), S. 44, 84. Vgl. auch Wedgwood, The ICJ Advisory Opinion on the Israeli Security Fence and the Limits of Self-Defense, AJIL 99 (2005), S. 52, 60. 21 Siehe auch das Israelische Außenministerium, Israeli Settlements and International Law, 2001,verfügbar unter: http://www.mfa.gov.il/MFA/Peace+Process/Guide+to+the+Peace+Process/Israeli+Settlements+and+Internation al+Law.htm (27.2.2013) 22 Levy Kommission, Inoffizielle Übersetzung (Anm. 6) unter Verweis auf die Arbeiten von Rostow und Stone. 23 Dinstein (Anm. 4), S. 239 f.; Scobbie (Anm. 7). 24 Zum Ganzen ausführlich Dinstein (Anm. 4), S. 242 ff.; Rubin, Rn. 108 ff.; Siehe auch Akram/Lynk (Anm. 4), Rn. 108. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 177/12 Seite 9 östlich der Grenze, in Einzelfällen bis zu 22 km von ihr entfernt. Zudem werden eine Reihe palästinensischer Siedlungen durch die Sperranlage weitgehend eingekreist. Der IGH ging in seinem bereits erwähnten Gutachten von einem Routenverlauf aus, bei dem 16,6 % des Gebiets des Westjordanlandes zwischen der Grünen Linie und der Sperranlage gelegen hätten.25 Davon betroffen gewesen wären 237.000 Palästinenser. Der zunächst geplante Routenverlauf wurde aufgrund diverser Verfahren vor dem Obersten Gerichtshofs Israels jedoch nicht unerheblich modifiziert (soweit ersichtlich zuletzt 2006). Bei vollständiger Umsetzung dieser Planungen würden zwischen 8,5 und 9,4 % des Westjordanlandes durch die Sperranlage isoliert .26 Der Bau der Sperranlage ist derzeit zu ca. 62 % abgeschlossen, 8 % befinden sich im Bau und 30 % noch im Planungsstadium. Soweit ersichtlich stagniert der Baufortschritt seit mehreren Jahren. Derzeit leben nach Angaben von OCHA ca. 6500 Palästinenser in der Zone zwischen der Grünen Linie und der Sperranlage. Bei einem Vollausbau wären nach Schätzungen ca. 25.000 Personen im Westjordanland sowie weitere 220.000 Personen in Ostjerusalem betroffen.27 4.1. Das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs Auf Antrag der Generalversammlung der Vereinten Nationen hat sich der IGH wie erwähnt mit den rechtlichen Folgen des Baus einer Mauer in den besetzten palästinensischen Gebieten im Rahmen eines Gutachtenverfahrens befasst. Die Entscheidung bindet Israel daher nicht wie ein Urteil in einem Streitverfahren, in dem ein Staat Partei ist. Die Nichtbefolgung des Gutachtens führt deshalb nicht schon für sich genommen zu einem weiteren Völkerrechtsverstoß. Ungeachtet der fehlenden formalen Bindungswirkung besitzen Gutachten des IGH als Auffassungen des höchsten gerichtlichen Organs der Vereinten Nationen völkerrechtlich jedoch besonderes Gewicht . Der IGH hat in seinem Gutachten die Vereinbarkeit der Sperranlage als Ganzes mit dem Völkerrecht erörtert. Nicht Gegenstand waren konkrete Routenverläufe und mögliche Alternativen hierzu . Bei dieser Prüfung hat der IGH mit großer Mehrheit angenommen, dass der Bau der Sperran- 25 IGH, Legal Consequences of the Wall (Anm. 11), Z. 84. 26 Vgl. einerseits B’Tselem, The Seperation-Barrier – Statistics, verfügbar unter: http://www.btselem.org/separation_barrier/statistics (27.2.2013), andererseits OCHA, Barrier Update, Seven Years After The Advisory Opinion of the ICJ on the Barrier: The Impact of the Barrier in the Jerusalem Area, S. 3, verfügbar unter: http://www.ochaopt.org/documents/ocha_opt_barrier_update_july_2011_english.pdf (27.2.2013). Die Unterschiede in den Zahlen rühren möglicherweise in einer unterschiedlichen Einstufung des Niemandslandes. Die Zahlen von OCHA schließen dieses ausdrücklich mit ein. 27 Zahlen zum Westjordanland und eine Karte des Baufortschritts bei OCHA (Anm. 26), S. 3. Dort werden auch die humanitären Auswirkungen auf die von der Sperranlage betroffenen Bevölkerung erörtert. Schätzung zu Ostjerusalem nach B’Tselem (Anm. 26). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 177/12 Seite 10 lage auf besetztem Gebiet28 insbesondere unter drei Aspekten nicht mit dem Völkerrecht nicht in Einklang stünde. Erstens nahm er einen Verstoß gegen die Pflicht Israels an, das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes zu respektieren, da der Bau der Sperranlage unter den gegebenen Umständen einer de facto Annexion gleichkomme und die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts erheblich beeinträchtige. Ein wichtiger Aspekt war hierbei, dass die Sperranlage nach Ansicht des IGH zu einem erheblichen Teil dem Schutz israelischer Siedlungen diene, die völkerrechtswidrig errichtet worden seien. Der IGH geht hingegen nicht von einer (rechtswidrigen) Annexion im engeren Rechtssinne durch den Bau der Sperranlage aus. Dabei hat der IGH die Versicherungen der israelischen Regierung zur Kenntnis genommen, dass keine Annexion beabsichtigt sei und die Sperranlage nicht als permanente, die Friedensverhandlungen präjudizierende Einrichtung vorgesehen sie.29 Zweitens kam der IGH zu dem Schluss, dass der Bau der Sperranlage zu einer Zerstörung bzw. Nutzung von fremden Eigentum geführt habe, die nicht mit den Rechten und Pflichten einer Besatzungsmacht vereinbar sei (Art. 46 und 52 der Haager Landkriegsordnung, sowie Art. 53 GK IV).30 Drittens stellt der IGH fest, dass menschenrechtliche Gewährleistungen in nicht gerechtfertigter Weise durch den Bau der Sperranlage beeinträchtigt würden, insbesondere das Recht auf Freizügigkeit (Art. 12 Abs. 1 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte). Weiterhin betroffen seien die Rechte auf Arbeit, Gesundheit, Bildung und einen angemessenen Lebensstandard wie sie im Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie in der Konvention über die Rechte des Kindes niedergelegt sind.31 Bei der Begutachtung der im Prinzip sowohl nach humanitärem Völkerrecht als auch nach den menschenrechtlichen Konventionen berücksichtigungsfähigen Sicherheitsinteressen Israels geht der IGH davon aus, dass solche Eingriffe jedenfalls unverhältnismäßig seien. Dabei hat sich der IGH jeweils darauf beschränkt, festzustellen, dass er nach den ihm vorliegenden Informationen von der Notwendigkeit bzw. Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen nicht überzeugt sei.32 Die Kürze der Argumentation legt nahe, dass die Richter mit Blick auf die Auswirkungen des Gesamtprojekts eine offensichtliche Unverhältnismäßigkeit angenommen worden haben. In den Sondervoten der Richterin Higgins und des Richters Kooijmans wird dementsprechend auch davon gesprochen , dass die Eingriffe „unzweifelhaft“ bzw. „offensichtlich“ nicht gerechtfertigt werden könnten.33 28 Die Teile der Sperranlage, die sich auf israelischem Gebiet befinden, waren ausdrücklich nicht Verfahrensgegenstand , IGH, Legal Consequences of the Wall (Anm. 11) Z. 67. 29 IGH, Legal Consequences of the Wall (Anm. 11), Z. 120-122. 30 IGH, Legal Consequences of the Wall (Anm. 11), Z. 132-135. 31 IGH, Legal Consequences of the Wall (Anm. 11), Z. 127-130 und 136. 32 IGH, Legal Consequences of the Wall (Anm. 11), Z. 135, 136 f. 33 Sondervotum der Richterin Higgins, Z. 40 und Sondervotum des Richters Kooijmans, Z. 34. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 177/12 Seite 11 Der IGH nimmt schließlich an, dass die Verletzungen der genannten Bestimmungen nicht durch andere völkerrechtliche Bestimmungen gerechtfertigt werden können. Insbesondere erlaubten weder das Recht auf Selbstverteidigung noch die Berufung auf einen Notstand den Bau der Sperranlage .34 Das Recht auf Selbstverteidigung stehe einer Besatzungsmacht gegen Angriffe aus dem von ihm besetzten Gebiet gerade nicht zu.35 Mit Blick auf einen möglichen Notstand unterstreicht der IGH, dass Israel das Recht und sogar die Pflicht habe, seine Bevölkerung vor Terrorangriffen zu schützen.36 Allerdings war der IGH jedenfalls nicht überzeugt, dass die Sperranlage entlang der zum damaligen Zeitpunkt geplanten Route erforderlich war und den (vergleichsweise strengen) Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit in diesem Kontext genügte.37 In der Rezeption des Gutachtens ist von Völkerrechtlern kritisch bemerkt worden, dass der IGH sich nicht umfassend mit den Gründen auseinandergesetzt habe, die für ein Abweichen der Sperranlage von der Grünen Linie zum Schutz der Bevölkerung in Israel (im Gegensatz zum Schutz der Siedlungen) angeführt worden seien. Dabei wird insbesondere auf drei Erwägungen Bezug genommen. Erstens sei aufgrund der topographischen Gegebenheiten teilweise der Beschuss Israels von Höhen östlich der Grünen Linie möglich. Zweitens werde ein Sicherheitsabstand zu grenznahen Orten in Israel benötigt, um den Beschuss durch Mörsergranaten und Raketen zu verhindern. Drittens sei ein Schutz gegen Selbstmordattentäter nur durch eine Vorverlagerung effektiv möglich.38 Dies ist im Zusammenhang mit der Kritik an einer als unzureichend angesehenen Ermittlung des Sachverhalts durch den IGH zu sehen39, die zudem einer der Gründe dafür waren, dass Richter Buergenthal die Entscheidung des Gerichtshofs nicht mitgetragen hat.40 34 IGH, Legal Consequences of the Wall (Anm 11), Z. 138-142. 35 IGH, Legal Consequences of the Wall (Anm 11), Z. 139. Kritisch hierzu das Sondervotum der Richterin Higgins, Z. 33. Kritisch auch Wedgwood (Anm. 20), S. 58 f. unter anderem mit der Bemerkung, der IGH sei Berichten, dass die Terroranschläge durch ausländische Staaten finanziert worden seien, nicht nachgegangen. Zu dogmatischen Aspekten auch Becker (Anm. 9), S. 234 ff. und Watts, Israeli Wall Advisory Opinion, in MPEPIL (Anm. 4), Rn. 42. 36 IGH, Legal Consequences of the Wall (Anm. 11), Z. 141. 37 IGH, Legal Consequences of the Wall (Anm. 11), Z. 140 am Ende. 38 Stellvertretend Wedgwood (Anm. 20), S. 59. Vgl. auch die Darstellung dieser Gründe durch den Obersten Gerichtshof Israels in , Mara’abe u.a. ./. The Prime Minister of Israel (The Alphei Menashe Case), 15.9.2005, Z. 98 f., verfügbar unter: http://elyon1.court.gov.il/files_eng/04/570/079/a14/04079570.a14.pdf (27.2.2013). 39 Wedgwood (Anm. 20), S. 54 40 Erklärung des Richters Buergenthal, Z. 1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 177/12 Seite 12 4.2. Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs Israels Bereits wenige Tage vor der Verkündung des Gutachtens des IGH hatte der israelische Oberste Gerichtshof den Verlauf eines Segments der Sperranlage als unverhältnismäßig angesehen.41 Aufgrund einer fehlenden Prüfung von alternativen Routen wurden in einem weiteren Verfahren die Planungen für ein anderes Teilstück verworfen.42 Im letzteren Verfahren ist der Oberste Gerichtshof Israels ausführlich auf die Bedeutung des Gutachtens des IGH eingegangen. Indem er die Rechtmäßigkeit und insbesondere die Verhältnismäßigkeit einzelner Teilstücke der Sperranlage und nicht nur deren Gesamtwirkung untersucht, wählt der Oberste Gerichtshof Israels in seinen Urteilen einen anderen Ansatz als der IGH.43 Die unterschiedlichen Herangehensweisen dürften nicht zuletzt in den verschiedenen Verfahrenssituationen begründet sein, in denen die Frage der Rechtmäßigkeit der Sperranlage jeweils vor die beiden Gerichtshöfe gelangt war. Auf der Grundlage seines Ansatzes kommt der Oberste Gerichtshof Israels bei zentralen Aspekten zu einer anderen bzw. differenzierteren Würdigung des Sachverhalts als der IGH. Dies spielt sowohl bei der Beurteilung der Ziele des Baus der Sperranlage als auch in der Gewichtung der Beeinträchtigungen der palästinensischen Bevölkerung eine Rolle.44 4.3. Verhältnis zwischen IGH-Gutachten und verändertem Verlauf der Sperranlage Das Gutachten des IGH erging auf der Basis einer geplanten Route der Sperranlage, die in der Zwischenzeit erheblich modifiziert worden ist. Dies wirft die Frage auf, inwieweit die konkreten Schlussfolgerungen des IGH auf den geänderten Routenverlauf anwendbar bleiben. Angesichts der durchweg knappen Begründung zur Unverhältnismäßigkeit der Sperranlage kann hier keine präzise Schwelle bestimmt werden, ab der eine Sperranlage aus der Sicht des IGH gerechtfertigt werden kann. Es erscheint aber jedenfalls gut vertretbar, dass die durch die Rechtsprechung des israelischen Obersten Gerichtshofs modifizierte Route den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit eher gerecht wird. Ein wichtiger Faktor könnte hierbei sein, dass die Zahl der betroffenen Personen eine Größenordnung geringer ist als bei dem Sachverhalt, den der IGH seinem Gutachten zugrundegelegt hat. Weiterhin wäre zu bedenken, dass eine Reihe der Richter, die das Ergebnis der Entscheidung mitgetragen haben, in Sondervoten zu erkennen gegeben haben, dass sie bei 41 Oberster Gerichtshof Israels, Beit Sourik Village Council ./. The Government of Israel, 30.6.2004, verfügbar unter http://elyon1.court.gov.il/files_eng/04/560/020/a28/04020560.a28.pdf (27.2.2013). 42 Oberster Gerichtshof Israels, Mara’abe u.a. ./. The Prime Minister of Israel (The Alphei Menashe Case), 15.9.2005, verfügbar unter: http://elyon1.court.gov.il/files_eng/04/570/079/a14/04079570.a14.pdf (27.2.2013). 43 Oberster Gerichtshof Israels, The Alphei Menashe Case (Anm. 42), Rn. 70, 75 f.; allgemein zum Vergleich der beiden Ansätze Rubin (Anm. 10), Rn. 39 ff. 44 Oberster Gerichtshof Israels, The Alphei Menashe Case (Anm. 42), Z. 61 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 177/12 Seite 13 einer geringeren Beeinträchtigung der Bevölkerung des Westjordanlandes die Errichtung der Sperranlage jedenfalls nicht als offensichtlich unverhältnismäßig angesehen hätten.45 5. Palästinensische Flüchtlinge Nach Angaben des Hilfswerks der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten (United Nations Relief and Work Agency for Palestine Refugees in the Near East – UN- RWA) waren zu Beginn des Jahres 2012 rund 4,8 Millionen Personen als Flüchtlinge bei UNRWA registriert. Diese Flüchtlinge leben in Jordanien, Libanon, Syrien, im Westjordanland und im Gaza Streifen, knapp ein Drittel von ihnen in Flüchtlingscamps.46 Hierbei handelt es sich um Personen , die 1948 im Zuge der bewaffneten Auseinandersetzungen bei der Gründung des Staates Israel geflohen sind, und ihre Nachkommen.47 Die Lösung der hiermit im Zusammenhang stehenden Probleme gehört zu den wichtigen Säulen zukünftiger Friedensverhandlungen.48 Dementsprechend sah bereits die sogenannte Roadmap des Nahost-Quartetts vor, dass in der letzten Phase der Verhandlungen auch eine gerechte, faire und realistische Lösung der Flüchtlingsfrage gefunden werden müsse.49 5.1. Zur völkerrechtlichen Diskussion um ein Rückkehrrecht der Flüchtlinge Zur Begründung eines Rechts auf Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge wird von seinen Befürwortern unter anderem auf Resolution 194 (III) der Generalversammlung der Vereinten Na- 45 Vgl. insbesondere die Sondervoten der Richterin Higgins, Z. 40 und des Richters Kooijmans, Z. 34. 46 Zahlen aus UNRWA, UNRWA in Figures, Stand 1.1.2012, verfügbar unter: http://www.unrwa.org/userfiles/20120317152850.pdf (8.2.2012). 47 Die Umstände, die zu dieser Flucht geführt haben, sind äußerst umstritten, vgl. die Darstellung der israelischen und palästinensischen Erzählungen sowie des Forschungsstands bei Golan, The Spatial Outcome of the 1948 War and Prospects For Return, in Benvenisti/Gans/Hanafi (Hrsg.), Israel and the Palestinian Refugees, 2007, S. 41, 45 f.; aus völkerrechtlicher Sicht vgl. Zilbershats, International Law and the Palestinian Right of Return to the State of Israel, ebenda, S. 191, 213. Grundlegend in der geschichtswissenschaftlichen Diskussion ist die einflussreiche Monographie von Morris, The Birth of the Palestinian Refugee Problem, 1987, 2. Auflage 2004, der zwischen verschiedenen Phasen des Konflikts differenziert und in der Gesamtschau eine gemeinsame Verantwortung beider Seiten annimmt. Zur Diskussion über die Anzahl der Flüchtlinge Dershowitz, The Case for Israel , 2003, S. 85. 48 Facettenreiche Analysen zu den wichtigsten Aspekten der Flüchtlingsfrage bieten die Beiträge in Benvenisti /Gans/Hanafi (Hrsg.), Israel and the Palestinian Refugees, 2007. 49 Vgl. Akram/Lynk, Arab-Israeli Conflict, in Wolfrum (Hrsg.), MPEPIL, Rn. 90, online edition, http://www.mpepil.com. Der Text der Roadmap ist verfügbar unter http://news.bbc.co.uk/2/hi/middle_east/2989783.stm (08.2.2013). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 177/12 Seite 14 tionen verwiesen, die regelmäßig durch die Generalversammlung erneuert wurde.50 Darin heißt es unter anderem: „… the refugees wishing to return to their homes and live at peace with their neighbours should be permitted to do so at the earliest practical date …”51 Jedoch sind Resolutionen der Generalversammlung nicht rechtlich verbindlich und können für sich genommen kein Recht auf Rückkehr begründen. Zudem wird darauf verwiesen, dass nach der Resolution nur den Personen, die in Frieden mit Israel leben wollen, eine Rückkehr ermöglicht werden solle und Israel das Recht besitze, über die Erfüllung dieser Voraussetzung zu befinden . Vor diesem Hintergrund hat Israel die Herstellung eines allgemeinen Friedens in der Region als Voraussetzung dafür gesehen, dass ein geeigneter Zeitpunkt für eine Rückkehr der Flüchtlinge gekommen sei.52 Im Gegensatz zur Generalversammlung hat der Sicherheitsrat in seinen Resolutionen lediglich eine „gerechte“ Lösung der Flüchtlingsfrage gefordert, ohne ein Rückkehrrecht oder eine andere konkrete Vorgehensweise zu erwähnen.53 Auf die Resolutionen 242 und 338 ist auch im Oslo- Übereinkommen zwischen Israel und der PLO Bezug genommen worden.54 Ein weiterer Begründungsansatz möchte insbesondere aus Art. 12 Abs. 4 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) ein Rückkehrrecht ableiten.55 Diese Norm sieht vor, dass niemandem willkürlich das Recht entzogen werden darf, in sein eigenes Land einzureisen . Gegen eine Anwendbarkeit dieser Vorschrift auf die Situation palästinensischer Flüchtlinge lässt sich allerdings einwenden, dass Art. 12 Abs. 4 IPbpR nach wohl überwiegender Ansicht nur gegenüber dem Heimatstaat gelte und die palästinensischen Flüchtlinge gerade nicht Staatsangehörige Israels seien. In diesem Zusammenhang wird auf die allgemeine Regel verwiesen , nach der jeder Staat erheblichen Spielraum besitzt zu bestimmen, welche Personen zu seinen Staatsangehörigen zählen.56 Andere Stimmen in der völkerrechtlichen Literatur verweisen auf eine Gesamtschau aus dem Prinzip der Nichtdiskriminierung in Verbindung mit Regelungen aus dem Recht der Staatennachfolge und des Staatsangehörigkeitsrechts. Diese Positionen nehmen an, dass die palästinensi- 50 A/RES/194 (III) vom 11.12.1948, Nr. 11. Vgl. zuletzt A/RES/67/114 vom 14.1.2013. 51 Bemerkenswert an dieser Formulierung ist auch, dass sie nicht auf palästinensische Flüchtlinge beschränkt ist, sondern allgemein formuliert ist, vgl. dazu Zilbershats (Anm. 47), S. 195. 52 Zum Ganzen Zilbershats (Anm. 47), S. 195 f.; vgl. auch die Wiedergabe dieser Position bei Akram/Lynk (Anm. 49), Rn. 84. 53 S/RES/242 (1967) und S/RES/338 (1973). Zuvor hatte Resolution 233 (1967) mit einer weichen und unverbindlichen Formulierung („facilitate return“) die Ermöglichung einer Rückkehr der Flüchtlinge gefordert. 54 Zum Ganzen Zilbershats (Anm. 47), S. 197 ff. 55 Boling, The 1948 Palestinian Refugees and the Individual Right of Return: An International Law Analysis, 2007, S. 61 ff., verfügbar auf http://www.badil.org (18.2.2013). 56 Zilbershats (Anm. 47), S. 205 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 177/12 Seite 15 schen Flüchtlinge als „gewohnheitsmäßige Einwohner“ des 1948 gegründeten Israel berechtigt seien, als israelische Staatsangehörige anerkannt zu werden.57 Von einer ähnlichen Prämisse geht der Ansatz aus, dass sich aus den Regelungen der GK IV ein Rückkehrrecht ableiten lasse.58 Dagegen wird eingewandt, dass die GK IV nur bestimmte Personengruppen betreffe, aber kein allgemeines Rückkehrrecht für Flüchtlinge etabliere. Zudem wird angeführt, dass die GK IV auf die palästinensischen Flüchtlinge des Jahres 1948 nicht anwendbar sei, da sie nicht aus besetzten Gebieten geflohen seien.59 Schließlich wird zur Begründung eines Rückkehrrechts auf das (auch völkergewohnheitsrechtlich bestehende) Verbot, die einheimische Bevölkerung, insbesondere aus besetzten Gebieten, zu vertreiben, abgestellt. Dieses Verbot werde auch durch ein Rückkehrrecht für völkerrechtswidrig Vertriebene abgesichert. Ob dies mit Blick auf die Situation der palästinensischen Flüchtlinge zu einem Rückkehrrecht führt, würde danach von den Ursachen der Flucht im Einzelfall abhängen. Ob diese eine Folge von Vertreibungen waren, ist jedenfalls in dieser Allgemeinheit äußerst umstritten .60 Zudem ist nicht abschließend geklärt, ob eine völkerrechtswidrige Vertreibung zwingend ein Rückkehrrecht auslöst oder ob andere Formen der Entschädigung, insbesondere finanzieller Art, vorrangig in Frage kommen.61 Eine übergreifende Streitfrage in der Diskussion um ein Rückkehrrecht für palästinensische Flüchtlinge betrifft das in zeitlicher Hinsicht anwendbare Recht. Die vertraglichen Regelungen, die zur Begründung eines Rückkehrrechts angeführt werden, sind in der Regel erst nach 1948 in Kraft getreten. Für die Situation der palästinensischen Flüchtlinge können sie daher nur dann von Bedeutung sein, wenn angenommen wird, dass die Ereignisse des Jahres 1948 zu einer sogenannten fortdauernden Verletzung geführt haben. Der bloße Umstand, dass ein möglicherweise nach den Verträgen völkerrechtswidriger Zustand nicht beseitigt worden ist, reicht dabei nicht aus, um eine fortdauernde Verletzung zu begründen.62 So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit Blick auf die Enteignungen in der unmittelbaren Folge des zweiten Weltkrieges entschieden, dass diese nicht in den zeitlichen Anwendungsbereich der EMRK fallen.63 Auch diejenigen Stimmen in der völkerrechtlichen Literatur, die mit Blick auf die palästinensischen Flüchtlinge eine fortdauernde Verletzung annehmen, begründen dies nicht mit dem Fortdauern der Handlungen des Jahres 1948 an sich. Vielmehr wird angenommen, dass Israel sich bereits 1948 völkerrechtswidrig verhalten habe und daraus ein andauerndes Rückkehrrecht folge. 57 Vgl. die Darstellung dieser Position bei Akram/Lynk (Anm. 49), Rn. 85. Siehe auch Boling (Anm. 55), S. 25 ff. 58 Vgl. die Darstellung dieser Position bei Akram/Lynk (Anm. 49), Rn. 85. Siehe auch Boling (Anm. 55), S. 47 ff. 59 Zilbershats (Anm. 47), S. 211 f. 60 Vgl. die Nachweise oben in Anm. 47. 61 Zilbershats (Anm. 47), S. 215 ff. 62 In der Rechtsprechung des EGMR wird insofern zwischen fortdauernden Situationen und angeschlossenen Rechtsakten mit fortdauernden Auswirkungen unterschieden, dazu Grabenwarter, EMRK, 4. Auflage 2009, § 17, Rn. 16; siehe auch International Law Commission, Draft Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, 2001, Art. 14 Abs. 1. 63 EGMR, 7.10.2008, Preußische Treuhand ./. Polen, Nr. 47550/06, Z. 58 ff.; 12.7.2001 (GK), Prinz von Liechtenstein ./. Deutschland, Nr. 42527/98, Z. 81, 85. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 177/12 Seite 16 Lediglich zur Verstärkung dieses wohl völkergewohnheitsrechtlich begründeten Rückkehrrechts wird dann auf die nachfolgenden Verträge verwiesen.64 Kontrovers ist dabei nicht nur die Annahme, dass der Flucht eine Vertreibung durch Israel zugrunde liege. Ob auf völkergewohnheitsrechtlicher Basis ein Rückkehrrecht bei völkerrechtswidrigen Vertreibungen begründet werden kann, wird jedenfalls mit Blick auf die Rechtslage 1948 mit guten Gründen bezweifelt.65 Die wohl überwiegende Ansicht geht zudem davon aus, dass zu diesem Zeitpunkt Umsiedlungen aufgrund von politischen Entwicklungen nicht unter allen Umständen als völkerrechtswidrig angesehen wurden.66 5.2. Zur Bedeutung völkerrechtlicher Standpunkte für die Lösung der Flüchtlingsfrage Die völkerrechtlichen Standpunkte der Konfliktparteien zur Flüchtlingsfrage liegen sowohl was den Sachverhalt angeht als auch in seiner rechtlichen Beurteilung weit auseinander. Zugleich ist kein rechtliches Forum ersichtlich, dass eine von beiden Seiten akzeptierte umfassende Klärung über das Bestehen eines Rückkehrrechts erzielen könnte. Vor diesem Hintergrund dürfte kaum zu erwarten sein, dass eine Lösung der Flüchtlingsfrage im Rahmen zukünftiger Friedensverhandlungen zugleich eine Verständigung über die völkerrechtliche Fragen der Vergangenheit umfassen könnte.67 Auch von Beobachtern, die prinzipiell von einem Rückkehrrecht der Flüchtlinge ausgehen, wird darauf hingewiesen, dass es im Ergebnis keine Rückkehrmöglichkeit für alle Flüchtlinge geben könne. Ansonsten würde die Existenz des Staates Israel als jüdischer Staat und damit der Kern der Zwei-Staaten-Lösung in Frage gestellt.68 Als Bausteine für eine Verhandlungslösung werden im Schrifttum vier Säulen genannt, die auf Erfahrungen mit Flüchtlingssituationen in anderen Konflikten beruhen. Neben einer teilweisen Rückkehr in die ursprünglichen Heimatorte sind dies insbesondere eine Ansiedlung im neugegründeten Palästina, die Aufnahme durch Drittstaaten sowie die lokale Integration in den Staaten der Region, in denen die Flüchtlinge seit ihrer Flucht leben.69 Mögliche Ansätze, um ein be- 64 Boling, The Question of „Timing“ in Evaluating Israel’s Duty Under International Law to Repatriate the 1948 Palestinian Refugees, in Benvenisti u.a. (Anm. 48), S. 219, 249 f. 65 Zilbershats (Anm. 47), S. 215 f. unter Verweis auf die Vertreibungen während des Zweiten Weltkriegs. Danach ist zu unterscheiden zwischen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Vertreibungen, die nicht zuletzt mit Blick auf die Prinzipien des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals 1948 bereits gegeben war, und der allgemeinen Verantwortlichkeit des Staates für völkerrechtswidriges Verhalten einerseits und dem Bestehen der konkreten Rechtsfolge des Rückkehrrechts andererseits. Vgl. auch Dershowitz (Anm. 47), S. 87. 66 Zilbershats (Anm. 47), S. 214. 67 Vgl. mit Blick auf die Klärung der historischen Ursachen und Verantwortlichkeiten grundlegend Fried, The Palestinian Refugee Problem and Ist Historical Origins and Development, in Benvenisti u.a. (Anm. 48), S. 493. 68 Takkenberg, The Search for Durable Solutions for Palestinian Refugees, in Benvenisti u.a. (Anm. 48), S. 373, 377 f. 69 Helton, End of Exile: Practical Solutions to the Palestinian Refugee Question, in Benvenisti u.a. (Anm. 48), S. 350, 353 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 177/12 Seite 17 schränktes Rückkehrrecht zu ermöglichen, werden beispielsweise in einer vorrangigen Rückkehr der Flüchtlinge der ersten Generation70 oder für Personen, deren Heimatorte noch existieren und die Angehörige dort haben,71 gesehen. 70 Rabinowitz, Beyond Recognition, Staggered Limited Return of Palestinians Into Israel, in Benvenisti u.a. (Anm. 48), S. 411. 71 Takkenberg (Anm. 68), S. 378.