AUSARBEITUNG Thema: Außen- und sicherheitspolitische Konsequenzen des demographischen Wandels Fachbereich II Auswärtiges, Internationales Recht, Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Tel.: Verfasser: Abschluss der Arbeit: 12. Januar 2006 Reg.-Nr.: WF II - 166/05 Ausarbeitungen von Angehörigen der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung des einzelnen Verfassers und der Fachbereichsleitung. Die Ausarbeitungen sind dazu bestimmt, das Mitglied des Deutschen Bundestages, das sie in Auftrag gegeben hat, bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. - 2 - Inhaltsverzeichnis Seite Zusammenfassung ......................................................................................................... 3 1. Einleitung ............................................................................................................ 5 2. Ausmaß und Verteilung des Wachstums der Weltbevölkerung ................................................................................................ 6 3. Außen- und sicherheitspolitische Auswirkungen unterschiedlicher Bevölkerungsentwicklungen ........................................................ 8 3.1 Politische und militärische Machtbalance ........................................... 8 3.2 Sicherheitspolitische Implikationen starken Bevölkerungswachstums ...................................................................... 10 3.2.1 Konkurrenz um Ressourcen ................................................... 10 3.2.2 Urbane Räume als neue Konfliktzentren................................ 11 3.2.3 Destabilisierung politischer Ordnungen ................................ 12 3.2.4 Divergierende Geburtenraten benachbarter Ethnien als Konfliktursache ........................................ 12 4. Außen- und sicherheitspolitische Auswirkungen von Migration und Flucht ............................................................................... 14 4.1 Allgemeines ........................................................................................... 14 4.2 Auswirkungen auf das Gastland ......................................................... 15 4.3 Auswirkungen auf das Herkunftsland ............................................... 16 4.4 Außenpolitische Strategien zur Begrenzung von Migration und Flucht ................................................................... 17 Literatur ....................................................................................................................... 19 - 3 - Zusammenfassung Die Frage, ob und in welchem Ausmaß demographische Faktoren Auswirkungen auf die Außen- und Sicherheitspolitik haben, ist in den Sozialwissenschaften umstritten. Es herrscht die Auffassung vor, dass der demographische Wandel einen von zahlreichen Faktoren darstellt, die die gesellschaftliche und politische Entwicklung beeinflussen. Als bedeutsam gelten dabei folgende Trends: die globale Bevölkerungszunahme, regionale Siedlungsmuster, der globale und regionale Strukturwandel der Bevölkerungspyramide (Altersaufbau) und die anhaltende Migration. Der globale Haupttrend der demographischen Entwicklung ist das weitere Wachstum der Weltbevölkerung von derzeit weit über sechs auf eine Zahl zwischen neun und zwölf Milliarden. Da die Größe der Bevölkerung eine von mehreren Quellen politischer Macht darstellt, ist die stark ungleiche regionale Verteilung dieses Wachstums von großer außenpolitischer Bedeutung. Sie lässt erwarten, dass einige große Länder außerhalb Europas ihre weiterhin zunehmenden demographische Ressourcen zur Steigerung ihrer wirtschaftlichen und politischen Bedeutung nutzen werden, während das Gewicht der Industrieländer, in denen schon derzeit nur noch 25 Prozent der Weltbevölkerung leben, abnimmt. Die großen Unterschiede in der Bevölkerungsentwicklung sind auch unter verteidigungspolitischen Aspekten relevant. Das niedrige Bevölkerungswachstum bedeutet für die – überwiegend betroffenen – westlichen Länder, dass die Rekrutierungsprobleme für ihre Streitkräfte zunehmen und deren Personalstärke tendenziell abnimmt. Dies wirft vor allem die Frage auf, wie die quantitativen Restriktionen auf Dauer qualitativ kompensiert werden können. Staaten mit hohem Bevölkerungswachstum stehen demgegenüber vor dem Problem eines Überangebots an Jugendlichen für ihre Armeen. Personalstarke Streitkräfte werden hier vor allem aus arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Gründen sowie aus Gründen der inneren Sicherheit aufrechterhalten. Da die Soldaten überwiegend schlecht ausgebildet sind, ergibt sich für die Streitkräfte jedoch ein Qualitätsproblem . Starkes Bevölkerungswachstum hat für die betroffenen Länder vier zentrale sicherheitspolitische Implikationen: 1. Starkes Bevölkerungswachstum führt zu einer Verknappung von natürlichen Ressourcen wie Rohstoffen, Süßwasser, Acker- und Weideland und kann daher Konflikte um Nutzungsrechte auslösen. Erneuerbare Ressourcen wie Wasser werden unter diesen Umständen auch als Mittel des Zwangs in Kriegszeiten eingesetzt. 2. Eine Begleiterscheinung der globalen Bevölkerungsentwicklung mit Auswirkungen auf den Charakter zukünftiger Konflikte ist die zunehmende Urbanisierung in vielen - 4 - Entwicklungsländern. Wahrscheinlich werden in dem Maße, wie sich die städtischen Regionen zu politischen Gravitationszentren entwickeln, hier auch die (gewaltsamen) Konflikte zunehmen. 3. Demographischer Wandel kann die politischen Kräfteverhältnisse eines Landes so verändern, dass es zu revolutionären Situationen, zum Scheitern staatlicher Ordnung oder zum Bürgerkrieg kommt. Maßgebender Faktor ist dabei ein starkes Wachstum der Bevölkerung im Zusammenwirken mit massiven Wanderungen in die Megastädte. 4. Eine demographische Gegebenheit mit hoher sicherheitspolitischer Sprengkraft stellen stark unterschiedliche Geburtenraten von benachbarten Bevölkerungsgruppen dar. Eine wesentlich höhere Fertilität in der Nachbarschaft deutet auf einen Entwicklungsrückstand und damit auf Abwanderungswilligkeit hin, die auf Abwehr stößt. Selbstschutzmaßnahmen einer ethnischen Gruppe können von anderen Gruppen als Bedrohung gewertet werden, die Gegenmaßnahmen hervorruft. Eine solche Spirale vergrößert das Risiko eines Bürgerkrieges. Internationale Migrations- und Flüchtlingsbewegungen gelten heute unter den demographischen Faktoren als die wichtigste Konfliktursache. Internationale Zuwanderung kann zu Konflikten zwischen einzelnen ethnischen bzw. religiösen Einwanderergruppen oder zwischen ihnen und Teilen der Mehrheitsgesellschaft führen. Häufig werden im Wege der Migration Konflikte des Heimatlandes in das Gastland übertragen. Migranten können auch als politische Lobby agieren, die Einfluss auf die Außen- und Sicherheitspolitik des Gastlandes nimmt. Wenn die Zugewanderten ihre Loyalität vom Gastland abziehen und sie ausschließlich der Herkunftsgruppe und ihren spezifischen Werten und Normen entgegenbringen, kann dies zur Entstehung von gesetzesfreien Räumen und Regellosigkeit führen. Ethnische Minderheiten können sich aber auch zu strategischen Faktoren im Kalkül der Herkunftsländer entwickeln. Nicht selten machen die Regierungen oder auch einzelne politische, ethnische oder religiöse Gruppen der jeweiligen Herkunftsländer den Versuch, Migranten für ihre Ziele zu mobilisieren. Aufgrund der z. T. gravierenden außen- und sicherheitspolitischen Auswirkungen von Migration und Flüchtlingsströmen wird verstärkt über politische Strategien nachgedacht , mit denen sich das Wanderungsgeschehen möglicherweise beeinflussen lässt. Die genaue Wirkung von wirtschaftlichen, politischen und diplomatischen Maßnahmen auf das Migrationsgeschehen ist jedoch noch wenig bekannt. Es gibt bisher nur einzelne Anhaltspunkte dafür, dass eine Verbesserung der politischen und ökonomischen Verhältnisse in den Herkunftsländern die Migrationsneigung vermindert. Entwicklungshilfe könnte somit ein Hebel zur Anregung von Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen in Ländern mit hohem Auswanderungspotential sein. - 5 - 1. Einleitung Die Frage, ob und in welchem Ausmaß demographische Faktoren Auswirkungen auf gesellschaftliche und politische Entwicklungen haben, ist in den Sozialwissenschaften umstritten. Konsens besteht allenfalls hinsichtlich der sehr allgemeinen Aussage, dass eine Veränderung der Größe und Zusammensetzung der Bevölkerung eines Landes dessen politische Handlungsmöglichkeiten dann verändert, wenn alle anderen Umstände gleich bleiben. Im Zusammenwirken von Bevölkerungsentwicklung und Weltpolitik sind jedoch diese Umstände einem ständigen Wandel unterworfen. Die relative Bedeutung verschiedener Faktoren, die die globale politische Arena beeinflussen, ist dergestalt , dass demographische Trends nur einen Faktor unter anderen darstellen (Eberstadt 1998: 33). Während man bis in die siebziger Jahre hinein die Größe und Dichte der Bevölkerung als eine unabhängige Variable ansah, von der etwa das Machtpotential eines Staates unmittelbar abhängt, hat sich heute eine dynamische Sichtweise durchgesetzt , der zufolge von einer Interaktion zwischen verschiedenen demographischen, ökologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Faktoren auszugehen ist, wenn man verstehen will, welche Rolle der demographische Wandel bei der Entstehung von Konflikten in der Außen- und Sicherheitspolitik spielt (Nichiporuk 2000: 1, 6 f.). Aber auch hinsichtlich der relativen Bedeutung der demographischen Faktoren liegen die wissenschaftlichen Positionen weit auseinander. So findet man auf der einen Seite die Auffassung, dass in dem Bündel von Einflussfaktoren demographische Trends selten eine entscheidende Rolle spielen. Die Zusammenhänge, die zwischen Bevölkerungswachstum und gesellschaftlicher Entwicklung bestehen, seien alles andere als eindeutig und in vielen Fällen anders, als dies landläufig angenommen werde (Eberstadt 1998: 34). Jedenfalls könne der spezifische Einfluss der Bevölkerungsentwicklung auf die internationalen Angelegenheiten oft entweder nicht nachgewiesen werden oder sei nachweislich nicht vorhanden (Eberstadt 1998: 33). Dem steht die Auffassung gegenüber , dass demographischen Faktoren zwar nicht allein, wohl aber in Kombination mit anderen Faktoren durchaus außen- und sicherheitspolitische Bedeutung zukomme (Wöhlke 1997: 38). Wenn demographische Veränderungen sich in einer politischen Umwelt abspielen, die aufgrund von Territorialstreitigkeiten, ethnischen Rivalitäten, ideologischen Spaltungen, Umweltbelastungen usw. ohnehin von Spannungen gekennzeichnet sei, könnten sie den auslösenden Faktor bilden, der eine Spannungssituation in einen bewaffneten Konflikt oder einen Krieg umschlagen lasse (Nichiporuk 2000: 1).1 1 Exemplarisch für diese Kontroverse ist der Streit über die Frage, ob Bevölkerungswachstum die wirtschaftliche Entwicklung in Entwicklungsländern behindert oder fördert. So vertritt Eberstadt die Auffassung, dass rasches und nachhaltiges Bevölkerungswachstum raschen und nachhaltigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt nicht ausschließe. Jedenfalls lieferten die verfügbaren Resultate empirischer Untersuchungen keinen zweifelsfreien Nachweis, dass Bevölkerungswachstum die Entwicklungschancen negativ beeinflusse und zur Ausbreitung von Armut führe (Eberstadt 1998: - 6 - Geht man, ungeachtet aller Skepsis gegenüber monokausalen Erklärungen, davon aus, dass zwischen demographischen Entwicklungen und der Außen- und Sicherheitspolitik grundsätzlich ein Zusammenhang besteht, so sind vor allem folgende Trends zu beachten : die globale Bevölkerungszunahme, regionale Siedlungsmuster, der globale und regionale Strukturwandel der Bevölkerungspyramide (Altersaufbau), sowie eine anhaltende Migration mit der Besonderheit einer stark anwachsenden Urbanisierung. Im Folgenden wird zunächst der globale Haupttrend des demographischen Wandels2 skizziert und dann der Frage nachgegangen, auf welche Weise dieser Trend die internationale Sicherheitslage beeinträchtigt und welche spezifischen Implikationen er für die Außen- und Sicherheitspolitik hat (Kaestner/Müller-Seedorf 2004: 247 f.; Nichiporuk 2000: XI). Anschließend werden die außen- und sicherheitspolitischen Auswirkungen von Migration und Flucht betrachtet. 2. Ausmaß und Verteilung des Wachstums der Weltbevölkerung Der globale Haupttrend der demographischen Entwicklung ist das weitere Wachstum der Weltbevölkerung von derzeit weit über sechs Milliarden auf einen Wert, der in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts wahrscheinlich zwischen neun und zwölf Milliarden liegen wird (Wagner 2004: 26). Diese Entwicklung ist jedoch von starken regionalen Ungleichgewichten gekennzeichnet. Das Wachstum der Weltbevölkerung findet heute zu 99 Prozent in den Schwellen- und Entwicklungsländern statt, weil viele entwickelte Länder chronisch niedrige Geburtenraten aufweisen. Die Unterschiede der Wachstumsraten sind innerhalb der Gruppe der Entwicklungsländer jedoch vielfach größer als die zwischen Entwicklungs- und Industrieländern, so dass wir heute bei den Entwicklungsländern eine zunehmende Zweiteilung in solche mit abnehmenden und solche mit nicht abnehmenden Geburtenraten beobachten. Verstärkt wird die regionale Ungleichverteilung zudem durch die zunehmende Verstädterung der Weltbevölkerung. Im Jahre 2000 wohnte die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten, verglichen mit nur 17 Prozent im Jahre 1950, wobei das rascheste Wachstum der Stadtbevölkerung in den Entwicklungsländern stattfindet (Nichiporuk 2000: XII, 16, Wagner 2004: 27). 36, 38). Dagegen ist Wagner davon überzeugt, dass ein rasches Bevölkerungswachstum dem Wirtschaftswachstum abträglich sei. Die Ergebnisse einer Vergleichsstudie mit Daten aus 120 Staaten deuteten darauf hin, dass Länder, in denen sich das Bevölkerungswachstum in den vergangenen Jahrzehnten verlangsamte, wirtschaftlich produktiver waren, mehr Rücklagen bildeten und größere Investitionen vornehmen konnten als Länder mit gleich bleibend starkem Bevölkerungswachstum (Wagner 2004: 37). 2 Demographischer Wandel bezeichnet die Änderung der Zusammensetzung einer Bevölkerung im Zeitverlauf bei solchen Faktoren wie Umfang, Altersverteilung, geographische Verteilung, ethnische /religiöse Zusammensetzung, Niveau und Verteilung von Humankapital (Nichiporuk 2000: 3). - 7 - Fasst man die verschiedenen Weltregionen nach typischen demographischen Merkmalen zusammen, dann gelangt man zu einer Aufteilung in vier Ländergruppen: Die erste Gruppe, zu der die meisten Industrieländer gehören, zeichnet sich durch geringe Fertilität und Bevölkerungsschrumpfung aus. Eine zweite Gruppe mit abnehmender Fertilität und geringem Bevölkerungswachstum umfasst Länder wie die USA, China und weitere ostasiatische Staaten. Die Länder des südlichen Afrika, die zur dritten Gruppen gehören, zeichnen sich durch steigende Mortalität und abnehmende Raten des Bevölkerungswachstums aus. In der vierten Gruppe schließlich finden wir Länder mit rasch wachsenden Bevölkerungen. Dabei handelt es sich überwiegend um die ärmsten Länder der Erde (Wagner 2004: 27 f.). Prognosen über die weitere Entwicklung der Bevölkerung weltweit und in einzelnen Regionen sind mit großen Unsicherheiten behaftet. Demographische Trends wie der Babyboom in den westlichen Ländern während der ersten Nachkriegsjahrzehnte sowie der OECD-weite Fall der Geburtenziffern unter die Nettoreproduktionsrate kamen auch für viele Demographieforscher überraschend. Daher ist die denkbare Variationsbreite zukünftiger demographischer Entwicklungen vor allem in den Schlüsselländern wahrscheinlich größer, als dies gegenwärtig vielfach angenommen wird (Eberstadt 1998: 43, 45). Dies wird auch durch die demographische Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten unterstrichen. Auf der einen Seite hat sich global gesehen das Wachstum der Weltbevölkerung in jüngster Zeit verlangsamt. Die Kinderzahlen pro Frau haben sich in den letzten 40 Jahren halbiert. Noch 1960 hatten Frauen weltweit im Durchschnitt sechs Kinder. Gegenwärtig liegt der Weltdurchschnitt bei 2,8 Kindern pro Frau. Experten gehen davon aus, dass die Kinderzahlen pro Frau auch in den Entwicklungsländern weiter sinken werden. Auf der anderen Seite hat sich jedoch gezeigt, dass der Rückgang der Fertilität keinem bestimmten Muster folgt. Während die Kinderzahlen pro Frau in Kuba, Südkorea und Thailand auf unter zwei gesunken sind, hat sich der Fertilitätsrückgang in Pakistan, Bangladesh und Ägypten in jüngster Zeit verlangsamt. Angesichts dieser Unsicherheiten über die künftige Entwicklung der Geburtenraten gehen die Vereinten Nationen in ihren Bevölkerungsprojektionen von unterschiedlichen Szenarien aus. Nach der mittleren von drei Varianten wäre zu erwarten, dass die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau weltweit bis zum Jahr 2050 kapp unter das so genannte Ersatzniveau von 2,1 Kindern fällt. Nur unter den Bedingungen dieses einen möglichen Szenarios würde damit die Weltbevölkerung bis dahin auf den oben bereits genannten unteren Wert von knapp neun Milliarden Menschen anwachsen (Wagner 2004: 27 f., 31). - 8 - 3. Außen- und sicherheitspolitische Auswirkungen unterschiedlicher Bevölkerungsentwicklungen 3.1 Politische und militärische Machbalance Nach einer in den Sozialwissenschaften verbreiteten Auffassung ist die Größe der Bevölkerung eine von mehreren Quellen politischer Macht, d. h. ein Faktor, welcher Defizite in anderen Bereichen zu einem gewissen Grad kompensieren kann. Unter sonst gleichen Umständen wäre somit ein Land mit einer großen Bevölkerung in der Lage, mehr Ressourcen zur Förderung seiner außenpolitischen Ziele zu mobilisieren als ein Land mit einer kleinen Bevölkerung. Es gibt zwar Staaten mit großer Bevölkerung, die nur wenig politische Macht haben (z. B. Bangladesh und Nigeria) und umgekehrt Staaten mit kleiner Bevölkerung und vergleichsweise großer politischer Macht (z. B. Israel oder Taiwan). Dies sind jedoch Extremfälle. Tendenziell haben Staaten mit großer Bevölkerung mehr Macht als Staaten mit kleiner Bevölkerung, und zwar insbesondere dann, wenn es ihnen gelingt, ihre „Bevölkerungsressource“ optimal für die technologische und wirtschaftliche Entwicklung sowie für die Rüstung zu nutzen (Eberstadt 1998: 33; Wöhlke 1997: 34). Auch wenn man die Bedeutung des demographischen Faktors nicht allzu hoch einschätzt , wird man allein schon aufgrund der sich drastisch verändernden Zahlenverhältnisse davon ausgehen können, dass einige große Länder außerhalb Europas mit weiterhin starkem Bevölkerungswachstum ihre demographische Ressource tendenziell in wirtschaftliche und politische Bedeutung umsetzen werden. In den Industrieländern leben zurzeit 25 Prozent und in den NATO-Staaten 10 Prozent der Weltbevölkerung, mit abnehmender Tendenz. Im Jahre 2025 werden 16 Staaten mehr als 100 Millionen Einwohner haben, und darunter werden sich lediglich zwei hoch entwickelte Industrieländer befinden (USA und Japan). Die Europäer werden dann eine Situation vorfinden, die sie aus ihrer eigenen Geschichte nicht kennen: Staaten mit 100 Millionen Einwohnern und mehr, deren Bevölkerung sich vermutlich in 20 bis 30 Jahren noch einmal verdoppelt, sind geprägt von vorindustriellen Armutsverhältnissen und gebieten zugleich über Atombomben oder andere gefährliche Waffenpotentiale. Das Bevölkerungswachstum könnte daher die derzeitige Machtverteilung im internationalen System spürbar verändern. Einige der bevölkerungsreichen Staaten werden zumindest versuchen , den westlichen Einfluss in ihrer Region zunehmend zurückzudrängen, zu relevanten wirtschaftlichen Partnern bzw. Konkurrenten der Industrieländer zu avancieren und vermehrten Einfluss in den internationalen Organisationen zu bekommen (Schmid - 9 - 2000: 487 f.; Wöhlke 1997: 7, 35).3 Vereinzelt wird auch die Ansicht vertreten, die westliche Sicherheitspolitik müsse sich darauf einstellen, dass zukünftige Gefährdungen westlicher Sicherheit mehr und mehr „aus dem Süden“ kommen, und zwar vor allem aus den bevölkerungsreichsten Staaten (Wöhlke 1997: 55). Ob solche Gefährdungen entstehen und welches Ausmaß sie annehmen werden, hängt jedoch weniger von den bloßen Bevölkerungszahlen, als vielmehr von den spezifisch sicherheitspolitischen Implikationen des demographischen Wandels ab. Stagnierendes Bevölkerungswachstum in den entwickelten Ländern und hohe Wachstumsraten in den Entwicklungsländern haben unterschiedliche Konsequenzen für die Quellen militärischer Macht (Nichiporuk 2000: XVI). Niedriges Bevölkerungswachstum hat zwei bedeutende verteidigungspolitische Folgewirkungen für die betroffenen Länder. Erstens bedeuten abnehmende Kohorten an Jugendlichen, dass die Rekrutierungsprobleme für die westlichen Streitkräfte zunehmen und daher ihre Personalstärke tendenziell abnimmt. Die westliche Sicherheitspolitik wird sich daher zunehmend mit der Frage auseinander setzen müssen, wie die quantitativen Restriktionen auf Dauer qualitativ kompensiert werden können (Wöhlke 1997: 55). Die Schlagkraft ihrer Streitkräfte würde nur dann nicht abnehmen, wenn technologische und organisatorische Innovationen die Bedeutung der reinen Zahl von Soldaten auf den Schlachtfeldern in Zukunft kompensieren. Zweitens werden es steigende Anteile von Älteren an der Bevölkerung nötig machen, mehr für Renten und Gesundheit auszugeben; und dies könnte zu Lasten der Verteidigungsausgaben gehen. Unter diesen Umständen werden die Quellen militärischer Macht in Staaten mit niedrigem Bevölkerungswachstum sich von personalintensiven hin zu kapitalintensiven Kräften verschieben. Dieser Trend zeichnet sich in Europa bereits in Form des Wandels von Wehrpflichtigen-Armeen hin zu Berufsheeren ab. In diesen Streitkräften werden Investitionen in das Humankapital zunehmend wichtig, weil mit der abnehmenden Zahl der verfügbaren Soldaten das Ausbildungs - und Erfahrungsniveau der Truppen für ihre Kampfkraft entscheidend wird (Nichiporuk 2000: XVI, 27 f.). Staaten mit hohem Bevölkerungswachstum stehen vor einem anderen Problem. Sie haben ein Überangebot an Jugendlichen für ihre Armeen. Da diese aber überwiegend schlecht ausgebildet sind, ergibt sich für die Streitkräfte eher ein Qualitäts- als ein Quantitätsproblem. Denn im Laufe des 21. Jahrhunderts wird es immer schwieriger werden, allein durch eine Erhöhung der schieren Zahl der Soldaten die militärische 3 Zumindest vereinzelt wird darauf hingewiesen, dass das rasche Bevölkerungswachstum in einzelnen Entwicklungsländern auch gegenläufige Effekte haben könnte. So könne das Bevölkerungswachstum die Überwindung der Unterentwicklung erschweren, die Massenarmut in großen Städten konzentrieren , die Ernährungssicherheit beeinträchtigen, soziale und ethnische Konflikte anheizen sowie Demokratie und politische Stabilität gefährden (Wöhlke 1997: 8). - 10 - Schlagkraft auszubauen. Dies wird durch das Beispiel Israels demonstriert, dessen Nachbarn ihre demographische Überlegenheit immer weiter gesteigert haben, ohne an militärischem Machtpotential gegenüber Israel zu gewinnen (Nichiporuk 2000: 32). Gleichwohl neigen Länder mit starkem Bevölkerungswachstum dazu, große stehende Heere zu unterhalten und dies nicht allein bzw. nicht einmal überwiegend aus sicherheitspolitischen Gründen. Erstens gibt es oft einen ökonomischen Zwang, große Zahlen von jungen Menschen einzuziehen, um die Jugendarbeitslosigkeit auf einem vertretbaren Niveau zu halten und die soziale Stabilität zu sichern. Zweitens sehen viele Entwicklungsländer die Armee nicht nur als ein Kampfinstrument an, sondern auch als einen Hebel, um jungen Menschen Nationalstolz und Vertrauen in das eigene Land zu vermitteln. Insofern können Armeen ein Mittel zur Verbesserung des sozialen Zusammenhalts sein, insbesondere in Staaten mit multiethnischer Bevölkerung. Drittens haben Armeen in bevölkerungsreichen Staaten eine interne Sicherheitsfunktion. Einige Entwicklungsländer benötigen große Streitkräfte und paramilitärische Hilfskräfte, um die Ordnung aufrecht zu erhalten und um das Regime vor Aufständen zu schützen (Nichiporuk 2000: XVIII, 29). 3.2 Sicherheitspolitische Implikationen starken Bevölkerungswachstums 3.2.1 Konkurrenz um Ressourcen Natürliche Ressourcen wie Rohstoffe, Süßwasser oder Acker- und Weideland sind kollektive Güter, die nur in begrenztem Maße zur Verfügung stehen. Starkes Bevölkerungswachstum führt zu ihrer Verknappung und kann daher Konflikte um Nutzungsrechte auslösen. Dies lässt sich am Beispiel von Wasser und Ackerland verdeutlichen. Auf der ganzen Erde gibt es 214 internationale Fluss- und Seebecken. Bei vielen von ihnen sind Wasserentnahme, Wasserregulierung und Wasserverschmutzung umstritten. Man denke etwa an die Wasserreserven des Euphrat, um die die Türkei, Syrien und der Nordirak konkurrieren. In Zukunft wird sich die Konkurrenz um Wasserressourcen weiter verschärfen. Allein im Laufe der nächsten 20 Jahre werden weltweit die durchschnittlichen Wasservorräte pro Person um ein Drittel sinken. Je nachdem wie sich die Bevölkerungszahlen entwickeln, könnten bis zur Mitte dieses Jahrhunderts zwischen zwei und sieben Milliarden Menschen in 48 bis 60 Ländern unter Wasserknappheit leiden. Auch um Acker- und Weideland gibt es Konflikte von sicherheitspolitischer Relevanz, die durch Bevölkerungsdruck verschärft werden. Denn seit längerem nimmt die Zahl der Länder stetig zu, die aus Mangel an fruchtbarem Ackerland auf eine Intensivlandwirtschaft oder Grundnahrungsmittelimporte angewiesen sind. Global betrachtet nimmt die pro Kopf verfügbare landwirtschaftliche Nutzfläche aber seit Jahren ab. - 11 - Betrug sie 1960 noch 0,44 Hektar, so war sie 1990 auf 0,27 Hektar gesunken. Im Jahr 2025 werden voraussichtlich nur noch 0,17 Hektar pro Person verfügbar sein (Wagner 2004: 34, Wöhlke 1997: 50 f.; Nichiporuk 2000: XV). Erneuerbare Ressourcen werden unter diesen Umständen immer öfter auch als Instrument der Kriegsführung eingesetzt. Dazu hat zu einem großen Teil der demographische Wandel beigetragen, weil eine steigende Zahl von Schlüsselstaaten unter den Entwicklungsländern in geopolitisch wichtigen Regionen wie dem Mittleren Osten eine Rate des Bevölkerungswachstums aufweist, die zu einer Belastung für die natürlichen Ressourcen wird. Das gilt vor allem für die Wasserversorgung. Beispiele dafür lassen sich in der Euphrat- und der Nilregion finden. Da diese Flüsse jenseits der Grenzen von bevölkerungsreichen Staaten entspringen, sind diese in hohem Maße verwundbar durch die „Wasserwaffe“. Dabei sind in der Regel die Unterlaufanlieger dem Druck der Oberlaufanlieger ausgesetzt, weil diese über mehr Handlungsmöglichkeiten verfügen (Nichiporuk 2000: 23 f., XV, 26). 3.2.2 Urbane Räume als neuen Konfliktzentren Eine Begleiterscheinung der globalen Bevölkerungsentwicklung, die auch Auswirkungen auf den Charakter zukünftiger Konflikte hat, ist die zunehmende Urbanisierung in Asien, Afrika, dem Mittleren Osten und Lateinamerika. Es ist anzunehmen, dass in dem Maße, wie sich die städtischen Regionen zu politischen Gravitationszentren entwickeln, hier auch die (gewaltsamen) Konflikte zunehmen werden. Vor allem Konflikte mit niedriger Intensität werden immer häufiger als innerstädtische Auseinandersetzungen ausgetragen werden. Der physische Charakter städtischer Umwelten und die strategischen Gelegenheiten, die sie als Resultat langfristiger und andauernder Trends bieten, erzeugen Anreize sowohl für die Anführer regionaler Mächte, die den Industriestaaten feindlich gesinnt sind, als auch für aufständische Gruppen, ihre militärischen Operationen vermehrt auf städtisches Terrain zu verlagern. Umgekehrt lassen sich in solchen Regionen die militärtechnologischen Vorteile von Großmächten nicht in gleicher Weise wie bei konventionellen Territorialschlachten ausspielen. Die Überlegenheit von Staaten wie den USA bei Langstrecken-Präzisionswaffen und beim Informationstransfer wird in Städten weitgehend zunichte gemacht durch Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und durch Sichtbehinderungen, aber auch durch die Anwesenheit einer großen Zahl von Zivilisten, die als menschliche Schutzschilde benutzt werden können (Nichiporuk 2000: XIII f., 19-21). - 12 - 3.2.3 Destabilisierung politischer Ordnungen Demographischer Wandel kann die politischen Kräfteverhältnisse eines Landes so verändern, dass es zu revolutionären Situationen, zum Scheitern staatlicher Ordnung oder zum Bürgerkrieg kommt. Dies hat wiederum Auswirkungen auf die Außenpolitik dieses Landes sowie auf die Sicherheitslage vor allem angrenzender, aber auch anderer Staaten. So verstärkt starkes Wachstum der Bevölkerung die Binnenmigration, mit der Konsequenz massiver Wanderungen in die Megastädte. Geringe Bildungschancen und hohe Arbeitslosigkeit machen vor allem aus der jungen Bevölkerungsgruppe eine mobile Gruppe, die sowohl von Staatseliten als auch von extremistischen Gruppen leicht zu mobilisieren ist (Kaestner/Müller-Seedorf 2004: 249). Der algerische Bürgerkrieg in den neunziger Jahren ist auf ein solches Faktorenbündel zurückzuführen. Das Zusammenwirken von großen Jugendkohorten, hoher struktureller Arbeitslosigkeit und der Existenz eines radikalen Islam schuf jene explosive Konstellation, die zum offenen Ausbruch des Konfliktes führte (Nichiporuk 2000: 39 f.). 3.2.4 Divergierende Geburtenraten benachbarter Ethnien als Konfliktursache Eine demographische Gegebenheit mit hoher sicherheitspolitischer Sprengkraft stellen stark unterschiedliche Geburtenraten von benachbarten Bevölkerungen bzw. Bevölkerungsgruppen dar. Solche demographische Verschiebungen treten in zwei Varianten auf: Zum einen können sie die Spannungen zwischen den Staaten einer Region verschärfen und zum anderen können sie die Innenpolitik eines Staates so verändern, dass dieser zu einem Sicherheitsproblem für seine Nachbarn wird. Im ersten Fall führen Unterschiede im Bevölkerungswachstum zwischen Nachbarstaaten zu einer Veränderung der überkommenen militärischen Balance und erhöhen das Risiko von regionaler Instabilität und Krieg. Dieses Risiko erhöht sich in dem Maße, wie es zu Wanderungen von Migranten und Flüchtlingen über internationale Grenzen sowie zu einer Konkurrenz um knappe Ressourcen kommt (Nichiporuk 2000: 30). Im zweiten Fall resultiert der Konflikt aus unterschiedlichen Wachstumsraten miteinander konkurrierender Bevölkerungsgruppen (Ethnien) eines Landes (Eberstadt 1998: 48). Der Reproduktionsmodus reflektiert eine besondere generative Struktur und demzufolge eine relativ geschlossene Kultur, die, zumeist religiös gestützt, ein Eigenleben und Eigeninteresse verrät. Nach allgemeinem Kenntnisstand deutet eine wesentlich höhere Fertilität in der Nachbarschaft auf einen Entwicklungsrückstand und damit auf Abwanderungswilligkeit hin, die auf Abwehr stößt (Schmid 2000: 486). Die Konfliktkonstellation kann aber auch als Resultat einer speziellen Ausprägung des Sicherheitsdilemmas - 13 - aufgefasst werden. Sofern eine ethnische Gruppe Selbstschutzmaßnahmen ergreift, kann dies von anderen Gruppen als Angriff oder Bedrohung gewertet werden, die wiederum Gegenmaßnahmen hervorrufen. Eine Spirale solcher Maßnahmen vergrößert das Risiko eines Bürgerkrieges. Wenn eine der ethnischen Gruppen schneller wächst als die andere , vergrößert sich das Sicherheitsdilemma aus der Perspektive der langsamer wachsenden Bevölkerungsgruppe, was wiederum einen zusätzlichen Anreiz erzeugt, die Vorbereitungen für einen bewaffneten Konflikt zu beschleunigen (Nichiporuk 2000: 43). Diese Art demographischer Folgewirkung mag eine der sekundären Ursachen für den ethnischen Konflikt im früheren Jugoslawien in den neunziger Jahren gewesen sein. Denn von den sechziger bis zu den achtziger Jahren übertrafen die Wachstumsraten der muslimischen Bevölkerung die der serbischen Bevölkerung. Im Laufe der Zeit setzte sich der steigende Anteil der Moslems an der bosnischen Bevölkerung in größeren politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss der Moslems in Region um. Noch klarer liegt der Fall im Kosovo, wo zwischen 1948 und 1981 der albanische Bevölkerungsanteil von 69 auf 77 Prozent stieg und der serbische Anteil von 23 auf 13 Prozent sank. In beiden Fällen auf dem Balkan hatte die langsamer wachsende Bevölkerungsgruppe den Eindruck, dass die schneller wachsende Gruppe den Zugang zu Privilegien und Ressourcen mehr und mehr monopolisierte (Schmid 2000: 486; Nichiporuk 2000: 44 ff.). Der Nigerianische Bürgerkrieg und der Bürgerkrieg in Libanon liefern zwei weitere Beispiele für Staaten, deren Scheitern durch anhaltend unterschiedliche Geburtenraten zweier sich gegenseitig misstrauender innerstaatlicher Gruppen verursacht worden ist (Eberstadt 1998: 48). Etwas anders liegt der Fall im Nahost-Konflikt. Zwar hat der Gaza-Streifen die höchste Geborenenziffer der Welt und bildet damit das Reservoir für die „Intifada“, den Kinderkrieg. Zugleich fungieren die stark unterschiedlichen Geburtenziffern zwischen Israelis und Palästinensern aber auch als unterschwelliges Druckmittel für die Schaffung endgültiger Territorien und Frieden an den Grenzen (Schmid 2000: 486). All diesen ethnischen Konflikten gemeinsam ist jedoch, dass sie schwer wiegende Sicherheitsprobleme für außen stehende Mächte aufwerfen, zumal sie oft nur durch militärische Intervention und durch gewaltsame Trennung der Konfliktparteien gelöst werden können (Nichiporuk 2000: 45). - 14 - 4. Außen- und sicherheitspolitische Auswirkungen von Migration und Flucht 4.1 Allgemeines In Laufe der letzten anderthalb Jahrzehnte ist zunehmend deutlich geworden, dass internationale Migrations- und Flüchtlingsbewegungen eine sicherheitspolitische Dimension haben (Münz/Weiner 1997: 217 f.). Unfreiwillige grenzüberschreitende Wanderungen großen Maßstabs stellen nicht selten eine Bedrohung für den internationalen Frieden und die Sicherheit dar (Loescher 1997: 187). Unter den demographischen Faktoren gelten Massenmigrationen oder Flüchtlingsströme mittlerweile sogar als die wichtigste Konfliktursache (Nichiporuk 2000: XVIII f.). Damit werden innenpolitische Gegebenheiten anderer Länder mehr und mehr zum Gegenstand außenpolitischer Strategien. Menschenrechtsverletzungen und interne Konflikten können nicht mehr als rein innerstaatliche Angelegenheit abgetan werden, wenn sie Flüchtlingsströme verursachen und Nachbarländer in die Konflikte hineinzuziehen drohen (Münz/Weiner 1997: 212 f.). Daher wird unfreiwillige Migration zunehmend auch als Anlass für das Eingreifen anderer Staaten, einschließlich militärischer Intervention, akzeptiert (Loescher 1997: 187). Zwischen Migrationsdruck und Bevölkerungswachstum besteht ein enger Zusammenhang . Hohe Geburtenraten können zu solchen Wanderungen beitragen, insbesondere dann, wenn es an Arbeitsplätzen für geburtenstarke Jahrgänge, die neu in den Arbeitsmarkt eintreten, mangelt (Nichiporuk 2000: 34 f., 38). Dabei sind die Entwicklungsländer häufig nicht nur der Ausgangspunkt von Wanderungsbewegungen, sondern sie haben meist auch deren Hauptlast zu tragen. Die weltweit wachsende Zahl von Flüchtlingen , Vertriebenen und Personen mit befristetem Schutz oder Duldung ist primär eine Belastung für die ökonomisch weniger entwickelten Staaten. 80 bis 90 Prozent aller Flüchtlinge und Vertriebenen leben entweder in einem Land der Dritten Welt oder in einem Nachfolgestaat der Sowjetunion. Eine Analyse der Determinanten der Fluchtbewegungen verdeutlicht, dass diese häufiger auf interne Konflikte als auf Kriege zwischen Staaten zurückzuführen sind. Am wichtigsten sind das zunehmende Maß an Gewaltanwendung gegenüber der Zivilbevölkerung und die gute Bewaffnung vieler Konfliktparteien (Münz/Weiner 1997: 212 f.). Aber auch für die Industrieländer bilden Migration und Flüchtlingsströme ein potentielles Sicherheitsproblem. Schon heute ist die Rede von einer schleichenden „Lateinamerikanisierung und Asiatisierung“ der USA sowie von einer „Afrikanisierung und Islamisierung“ Europas. Durch solche Entwicklungen können Konflikte vom Heimatland in das Gastland transportiert werden und neue Konfliktlagen im Gastland entstehen (Wöhlke 1997: 8). - 15 - 4.2 Auswirkungen auf das Gastland Außen- und sicherheitspolitisch bedeutet Migration automatisch eine stärkere Verflechtung des Gastlandes mit den Herkunftsländern (Münz 2001: 215). Hinsichtlich ihrer sozialen und kulturellen Auswirkungen können Massenwanderungen die oft sorgfältig ausgewogenen Beziehungen zwischen den Gemeinschaften des Aufnahmelandes beeinflussen und grundlegende gesellschaftliche Werte in Frage stellen, indem sie die ethnische , kulturelle, religiöse und sprachliche Zusammensetzung der Bevölkerung des Gastlandes verändern. In der Hoffnung auf eine Rückkehr in ihr Herkunftsland bemühen sich viele Migranten und Flüchtlinge, ihr eigenes kulturelles Erbe und ihre nationale Identität auch im Gastland zu bewahren, was ihre Integration in die fremde Gesellschaft erschwert (Loescher 1997: 183). Wanderungsvorgänge von gewisser Stetigkeit führen dann im Aufnahmeland zu einer Ethnisierung der Sozialstruktur, vor allem der Wohnquartiere und Arbeitsmärkte (Schmid 2000: 487). Sofern sich die Abgrenzung der Migranten von der Bevölkerung des Gastlandes verfestigt und es zur Herausbildung von Subkulturen und Ghettos kommt, kann dies den Zusammenhalt des Gastlandes und seine kulturelle Identität beeinträchtigen (Wöhlke 1997: 39 f.). Das Konfliktpotential steigt, wenn die Menschen ihre Loyalität von der Nation abziehen und sie primär der Herkunftsgruppe und dem besonderen Wohnviertel entgegenbringen, in dem andere Gesetze, Pflichtgefühle und Autoritäten gelten als in dem Aufnahmestaat an sich. Im Extremfall führt dies zu Anomie, d. h. zur Herausbildung von gesetzesfreien Räumen und Regellosigkeit, zum Verlust allgemein-verbindlicher Symbole und zur Steigerung des Risikos enttäuschter Erwartungen (Schmid 2000: 487). Migranten und Flüchtlinge werden oftmals zu einer politischen Kraft im Aufnahmeland. Sie wirken dann als politische Lobby, die auch Einfluss auf die Außen- und Sicherheitspolitik nimmt (Wöhlke 1997: 8). Die Existenz großer ethnischer Minderheiten kann vor allem die Politik eines Landes zu deren Herkunftsländern beeinflussen. In den USA ist diese Lobby-Funktion ethnischer Gruppen mit engen Verbindungen zum Herkunftsland besonders gut zu beobachten (Münz 2001: 215). So wird etwa die pazifische Orientierung der USA durch die große asiatische Minderheit gefördert (Wöhlke 1997: 41). Außerdem haben Immigrantengemeinschaften in den Vereinigten Staaten einiges Gewicht bei der Formulierung außenpolitischer Positionen der USA gegenüber einer ganzen Reihe weiterer Länder wie China, Haiti, Kuba, Mexico, Nicaragua, Nordirland, Polen, Vietnam und Zypern. In Deutschland sind solche Einflüsse nicht direkt nachweisbar . Entsprechende Bedeutung käme wohl am ehesten der türkischen Minderheit zu. Ansonsten sind es vor allem die politischen Aktivitäten von kurdischen und kroatischen Immigranten, welche außen- und sicherheitspolitische Fragen aufwerfen (Loescher 1997: 184). - 16 - Transnationale Wanderungsbewegungen können bewirken, dass über Migrantengemeinden Konflikte des Heimatlandes in das Gastland übertragen werden (Münz 2001: 214). So kann internationale Migration zum innerstaatlichen Konfliktfall werden, wenn es innerhalb der Migrantengruppe zu ideologischen Auseinandersetzungen zwischen den politischen Lagern und Weltanschauungsgruppen kommt (Schmid 2000: 488 f.). Häufig importieren die Zielländer von Migranten auch andere Probleme wie z. B. organisierte Kriminalität. Falls die Integration in das Gastland nicht gelingt und die Migranten wie bereits in ihrer Heimat zu den Marginalisierten gehören, wird dies die Gefahr ihrer Kriminalisierung und politischen Mobilisierung vergrößern. Dies kann bis zum offenen Terrorismus reichen (Wöhlke 1997: 41; Kaestner/Müller-Seedorf 2004: 250). Sofern eine Flüchtlingsgruppe ethnisch verwandte Gruppen in der Grenzregion des Gastlandes hat, beschwört der vereinte ethnische Block die Gefahr der Abspaltung der Grenzregion vom Gastland herauf. Das türkische Unbehagen über die Zuwanderung von Kurden in die ohnehin kurdisch dominierten südwestlichen Regionen des Landes im Frühjahr 1991 stellt den klassischen Fall eines Regimes dar, das sich mit der Gefahr eines ethnisch motivierten Separatismus aufgrund von Flüchtlingsbewegungen konfrontiert sieht. Großer Einfluss von Flüchtlingen erzeugt oft hoch aufgeladene Emotionen in Bezug auf territoriale Integrität, ethnische Identität und Verteilung von Ressourcen, die auch zu bewaffneten Konflikten zwischen Staaten führen können (Nichiporuk 2000: 37). 4.3 Auswirkungen auf das Herkunftsland Ethnische Minderheiten können sich zu strategischen Faktoren im Kalkül der Herkunftsländer entwickeln (Nichiporuk 2000: XIV). So versuchen die Regierungen mancher Herkunftsländer, die Migranten in der Diaspora zu beeinflussen, d. h. ihre kulturellen Bindungen an das Herkunftsland aufrecht zu erhalten oder sie für bestimmte politische Ziele zu mobilisieren. Auch viele politische, ethnische oder religiöse Gruppen der jeweiligen Herkunftsländer operieren in den für sie relevanten Zielländern und versuchen , Migranten für ihre Ziele zu mobilisieren (Münz 2001: 215). Heute gibt es in ethnischen Diasporas aktivistische Gruppen, die zu einem strategischen Aktivposten werden könnten, auf den sich ihre Heimatländer und Heimatterritorien stützen, um ihre regionalen politisch-militärischen Ziele leichter zu erreichen. Das wachsende Netz von Informationen, Kommunikation und Massenmedien steigert die Gelegenheiten für ethnische Diasporas, eine Schlüsselrolle in militärischen Auseinandersetzungen zu spielen, in die ihre Heimatstaaten oder -territorien verwickelt sind. Dies kann geschehen durch intensives Fundraising für den Kauf oder Transfer von Waffen, eine internationa- - 17 - le Werbekampagne, um Feinde des Heimatstaates zu dämonisieren, oder durch die Ausübung von Druck auf die Regierungen der Gastländer, sich gegen die Feinde des Heimatlandes zu wenden. Beispiele für solche Mechanismen lassen sich vor allem in Kosovo und Kroatien finden (Nichiporuk 2000: 22). Flüchtlingsströme können für das Herkunftsland aber auch ein Sicherheitsproblem darstellen. Das Heimatland sieht sich mit dem Risiko konfrontiert, dass die abgewanderten Flüchtlinge die Gastnation als Sprungbrett benutzen, um Handlungen zu vollziehen, die darauf abzielen, die heimische Regierung zu schwächen oder zu stürzen, wie das die Hutu-Rebellen in den Flüchtlingscamps in Zaire oder die kubanischen Flüchtlinge in Kuba versucht haben (Nichiporuk 2000: 36). 4.4 Außenpolitische Strategien zur Begrenzung von Migration und Flucht Aufgrund der z. T. gravierenden außen- und sicherheitspolitischen Auswirkungen von Migration und Flüchtlingsströmen wird verstärkt über politische Strategien nachgedacht , mit denen sich das Wanderungsgeschehen möglicherweise beeinflussen lässt. Vor allem an politische Entscheidungsträger in Europa und den USA richtet sich die Aufforderung, außenpolitische Instrumente zu entwickeln, um diejenigen Verhältnisse zu verändern, die Menschen zum Verlassen ihrer Heimat bewegen (Münz/Weiner 1997: 217 f.). Allerdings weiß man bislang wenig darüber, wie gewaltsame Konflikte und Menschenrechtsverletzungen, die Fluchtbewegungen auslösen, verhindert oder beendet werden können. Während die Förderung von freiem Handel, wirtschaftlicher Entwicklung und Menschenrechtsschutz unbestritten als essentieller Bestandteil jeder langfristigen Strategie gilt, ist die genaue Beziehung zwischen Migration und diesen wirtschaftlichen , politischen und diplomatischen Instrumenten kaum bekannt (Loescher 1997: 186, 188). Einige Anhaltspunkte dafür, wie migrationshemmende Maßnahmen aussehen könnten gibt es jedoch bereits: So belegen Untersuchungen der Vereinten Nationen, dass die lokale Erhöhung der Nahrungsmittelproduktion sowie die Stärkung von Erziehungs - und Gesundheitssystemen unerwünschte Migration reduzieren können. Entwicklungshilfe kann demnach ein Hebel zur Anregung von Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen in Ländern mit hohem Auswanderungspotential sein. Allerdings ist sie kein Mittel zur kurzfristigen Verringerung von Migration. Bei politischen Krisen, Bürgerkriegen und Naturkatastrophen erweisen sich Nahrungsmittellieferungen und humanitäre Hilfe als die wirksameren Instrumente (Münz/Weiner 1997: 202). Die ähnliche Erfahrung, dass sich mit gezielten Maßnahmen das Migrationsgeschehen durchaus beeinflussen lässt, hat auch Deutschland mit seinen Unterstützungsprogrammen in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion gemacht. Die ökonomische Hilfe, die Deutsch- - 18 - land gezielt an Angehörige deutscher Minderheiten in Russland, Kasachstan, Kirgistan und in anderen Regionen leistet, soll die Volksdeutschen animieren, in diesen Ländern zu bleiben, anstatt die Auswanderung nach Deutschland anzustreben. Eine Auswertung bisheriger Rückkehrhilfeprogramme kommt zu dem Ergebnis, dass Rückkehrentscheidungen stärker durch eine Verbesserung der politischen und ökonomischen Verhältnisse in den Herkunftsländern als durch finanzielle Anreize beeinflusst werden (Münz/Weiner 1997: 202, 205). - 19 - Literatur Eberstadt, Nicholas (1998): Demography and International Relations, in: The Washington Quarterly, Vol. 21, No. 2, Spring 1998, S. 33-52. Kaestner, Roland/Müller-Seedorf (2004): Demographischer Wandel. Konsequenzen und Chancen für äußere Sicherheit und Verteidigung, in: Bernhard Frevel (Hrsg.), Herausforderung demographischer Wandel, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften , S. 238-255. Loescher, Gil (1997): Wanderungsbewegungen und internationale Sicherheit, in: Steffen Angenendt (Hrsg.), Migration und Flucht. Aufgaben und Strategien für Deutschland , Europa und die internationale Gemeinschaft, Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung, S. 181- 189. Münz, Rainer (2001): Vergangenheit und Zukunft Deutschlands aus demographischer Sicht, in: Sicherheitspolitik in neuen Dimensionen. Kompendium zum erweiterten Sicherheitsbegriff, hrsg. von der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Hamburg: Verlag E. S. Mittler & Sohn, S. 201-216. Münz, Rainer/Weiner, Myron (1997): Migration, Flucht und Außenpolitik, in: Steffen Angenendt (Hrsg.), Migration und Flucht. Aufgaben und Strategien für Deutschland, Europa und die internationale Gemeinschaft, Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung, S. 200-219. Nichiporuk, Brian (2000): The Security Dynamics of Demographic Factors, hrsg. von der RAND Corporation, RAND, Population Matters, a RAND Program of Policy- Relevant Research Communication, Arroyo Center, Santa Monica, Calif. Schmid, Josef (2000): Bevölkerungswachstum und internationales Konfliktpotential – vom ideologischen zum demographischen Jahrhundert, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft , hrsg. vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung beim Statistischen Bundesamt, 25. Jg., Heft 1, S. 477-494. Wagner, Angelika (2004): Entwicklung der Weltbevölkerung, in: Bernhard Frevel (Hrsg.), Herausforderung demographischer Wandel, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften , S. 26-41. Wöhlke, Manfred (1997): Bevölkerungswachstum: Folgerungen für die internationale Politik, Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP – AP 3035, August, Ebenhausen.