© 2015 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 - 165/15 Die Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen zwischen rechtlicher Verpflichtung und politischem Ermessen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 165/15 Seite 2 Die Aufnahme von Flüchtlingen zwischen rechtlicher Verpflichtung und politischem Ermessen Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 165/15 Abschluss der Arbeit: 9. November 2015 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 165/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Bürgerkriegsflüchtlinge als Asylberechtigte 4 2. Bürgerkriegsflüchtlinge als Flüchtlinge i.S.d. Genfer Flüchtlingskonvention 5 3. Bürgerkriegsflüchtlinge unter internationalem (subsidiärem) Schutz 6 3.1. Subsidiärer Schutz 6 3.2. Vorübergehender Schutz 7 3.3. Entscheidung über die Zuerkennung des subsidiären (internationalen) Schutz-Status 8 3.4. Entscheidungskriterien 9 3.5. Zuständigkeiten 9 4. Begrenzung der Flüchtlingszahlen 11 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 165/15 Seite 4 Ist die Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen in Deutschland eine rechtliche Pflicht oder eine politische Ermessensentscheidung? Zur Beantwortung dieser Frage soll zunächst der rechtliche Status von Bürgerkriegsflüchtlingen geklärt werden – als Asylberechtigte nach Art. 16a GG (dazu 1.), als Flüchtlinge i.S.d. Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 (dazu 2.) sowie als „de-facto- Flüchtlinge“ unter internationalem Schutz (dazu 3.). Erörtert werden dabei die Schutzkategorien des subsidiären (dazu 3.1) und des vorübergehenden Schutzes (dazu 3.2). Geklärt wird sodann, wer über den internationalen Schutzstatus entscheidet (dazu 3.3.) und welche Kriterien dabei zu berücksichtigen sind (3.4). Schwierig gestaltet sich die Frage nach der Zuständigkeit innerhalb der EU, wenn es an der Bereitschaft der Nachbarstaaten fehlt, die Regelungen der Dublin III-Verordnung einzuhalten und welche rechtlichen Konsequenzen sich daraus ergeben (dazu 3.5). 1. Bürgerkriegsflüchtlinge als Asylberechtigte Nach Art. 16a GG genießen „politisch Verfolgte“ Asylrecht. Keine „politische Verfolgung“ i.S.v. Art. 16a GG liegt i.d.R. vor bei Nachteilen, die jemand auf Grund der allgemeinen Zustände in seinem Heimatstaat zu erleiden hat, wie Hunger, Unruhen, Revolutionen und Kriege.1 Daraus folgt nicht, dass ein Bürgerkrieg das Entstehen eines Asylanspruchs durchweg ausschließt.2 Eine politische Verfolgung kann nach Auffassung des BVerfG dann vorliegen, wenn ein Staat etwa Gegenterror einsetzt, der auf die „physische Vernichtung von auf der Gegenseite stehenden (…) und nach asylerheblichen Merkmalen bestimmten Personen gerichtet ist, obwohl diese keinen Widerstand mehr leisten wollen oder können.“3 Fraglich ist überdies, ob die vom sog. „Islamischen Staat“ in Syrien ausgehende Gefahr für die Menschen vor Ort als „politische Verfolgung“ i.S.v. Art. 16a GG (der grundsätzlich „staatliche“ Verfolgung voraussetzt)4 angesehen werden kann oder eher ein Element des Bürgerkrieges ist. So könnten sich im Falle Syrien möglicherweise unterschiedliche Bewertungen hinsichtlich der Asylberechtigung ergeben, wenn jemand syrischer Kurde, yesidischer Abstammung, Anhänger des Assad-Regimes oder Angehöriger der Rebellen-Gruppen ist. Die Grundrechtsberechtigung von Bürgerkriegsflüchtlingen ist vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Rahmen eines förmlichen Asylverfahrens nach dem AsylG5 zu klären. 1 BVerfGE 80, 315 (335) – Tamilen, Beschluss vom 10.7.1989. 2 Jarass/Pieroth, GG - Kommentar, München: Beck 2014, Art. 16a, Rdnr. 11. 3 BVerfGE 80, 315 (340) –Tamilen. 4 Jarass/Pieroth, GG - Kommentar, München: Beck 2014, Art. 16a, Rdnr. 9. 5 http://www.gesetze-im-internet.de/asylvfg_1992/index.html#BJNR111260992BJNE016300311. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 165/15 Seite 5 Die Anerkennungsentscheidung des BAMF betreffend den Status als Asylberechtigter ist keine politische Ermessensentscheidung, sondern ein rechtlich gebundener und gerichtlich voll überprüfbarer Verwaltungsakt (§ 31 AsylG). Erforderlich ist eine konkrete Prüfung im Einzelfall. Das BAMF wird dabei auch prüfen, ob eine Berufung auf Art. 16a GG mit Blick auf die „sichere Drittstaatenregelung “ (Art. 16a Abs. 2 GG) in Betracht kommt (vgl. § 26a Abs. 1 S. 1 AsylG). Der anerkannte Asylberechtigte genießt einen grundrechtlich verbürgten Anspruch auf Aufenthalt in Deutschland (§ 25 Abs. 1 AsylVfG). Ausweislich der Statistik des BAMF betreffen allerdings nur rund zwei Prozent der jährlichen Entscheidungen des BAMF die Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a GG.6 2. Bürgerkriegsflüchtlinge als Flüchtlinge i.S.d. Genfer Flüchtlingskonvention Bürgerkriegsflüchtlinge, die nicht „politisch Verfolgte“ i.S.d. Asylgrundrechts sind, fallen regelmäßig auch nicht unter den Begriff der „Flüchtlinge“ i.S.d. Genfer Flüchtlingskonvention (GFK). Art. 1 A Nr. 2 GFK fordert als notwendige Voraussetzung für die „Flüchtlingseigenschaft“ die begründete Furcht vor einer (diskriminierenden) Verfolgung, die an Merkmale wie Rasse, Religion, politische Überzeugung, etc. sowie an den Aufenthalt außerhalb des Heimatstaates anknüpft . Das BVerwG hat entschieden, dass der Begriff des „Flüchtlings“ in Art. 1 A Nr. 2 und Art. 33 GFK mit demjenigen des „politisch Verfolgten“ in Art. 16a Abs. 1 GG übereinstimmt.7 Nach dieser Rechtsprechung basieren beide Schutzformen auf einem im Kern gleichen Schutzbegriff . Nur gewährt Art. 16a GG einen individuellen Asylanspruch, während die GFK letztlich nur staatliche Pflichten begründet. Die Genfer Konvention ist insoweit vor allem für Staaten relevant, die kein verfassungsrechtliches Asylgrundrecht kennen.8 6 Vgl. Statistik des BAMF, Aktuelle Zahlen zum Asyl, Stand: Sept. 2015, verfügbar unter http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Flyer/flyer-schluesselzahlen-asyl-halbjahr- 2015.pdf?__blob=publicationFile. (Anhang 2). 7 BVerwGE 89, 196 und E 95, 42; Urt. v. 21.1.1992 und v. 18.1.1994; ebenso Arnauld, in: v.Münch/Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, München, 6. Aufl. 2012, Art. 16a, Rdnr. 11. 8 Das allgemeine Völkerrecht kennt keine Pflicht der Staaten zur Gewährung von (territorialem) Asyl (vgl. insoweit Randelzhofer, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, München: Beck Losebl., 49. Lfg. 2007, Art. 16a, Rdnr. 22; Arnauld, in: v.Münch/Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, München, 6. Aufl. 2012, Art. 16a, Rdnr. 3; Marx, Reinhard, AsylVfG. Kommentar, München: Luchterhand 2014, § 3, Rdnr. 2). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 165/15 Seite 6 3. Bürgerkriegsflüchtlinge unter internationalem (subsidiärem) Schutz Die GFK trifft weder eine Entscheidung über den Status des Bürgerkriegsflüchtlings (gebräuchlich war früher der Begriff der „de-facto-Flüchtlinge“), noch begründet sie eine Verpflichtung der Staaten, Bürgerkriegsflüchtlinge bei sich aufzunehmen.9 Es obliegt vielmehr den Vertragsstaaten der GFK, ob sie aus dem Umstand, dass sie eine Person als Flüchtling betrachten, die Konsequenz der Statusgewährung ziehen wollen.10 3.1. Subsidiärer Schutz Die EU hat sich – mit Blick auf Art. 18 EU-Grundrechtecharta – für diesen Weg entschieden und in Art. 18 der EU-Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU11 den sog. „subsidiären Schutzstatus“ als Kategorie des „internationalen Schutzes“ eingeführt. Das deutsche Flüchtlings- und Asylverfahrensrecht ist insoweit europarechtlich überformt.12 Art. 15 lit. c) der EU-Qualifikationsrichtlinie bzw. § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG definieren den subsidiären Schutzstatus wie folgt: „Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt (…) eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.“ Der Status des subsidiären Schutzes ergibt sich weder aus Art. 16a GG noch aus der Genfer Flüchtlingskonvention. Der in Art. 15 der EU-Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU etablierte Status schafft aber keine völlig neuen Rechtskategorien; vielmehr greift die Richtlinie eine 9 Die GFK verpflichtet die Vertragsstaaten lediglich insoweit, dass sie Personen, welche aufgrund einer nationalen Entscheidung als Flüchtlinge anerkannt wurden, die Rechte aus den Art. 2 bis 34 GFK gewähren müssen. Die Rechtstellung von Flüchtlingen und Asylberechtigten ist dabei weitgehend identisch (§ 2 Abs. 1 AsylG). 10 Marx, Reinhard, Kommentar zum AsylVfG, München: Luchterhand, 8. Aufl. 2014, § 3, Rdnr. 2. 11 RL 2011/95/EU vom 13.12.2011, ABl. EU Nr. L 337/9, abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2011:337:0009:0026:DE:PDF. 12 So regelt die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vom 26. Juni 2013 (sog. Dublin III-Verordnung, ABl. EU L 180/1 vom 19.6.2013, http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=OJ:L:2013:180:FULL&from=DE) die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist. Die Europäische Union trifft weitere Regelungen für den internationalen Schutz, wie die „Aufnahme- Richtlinie“ 2013/33/EU vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen oder die „Verfahren-Richtlinie“ 2013/32/EU vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 165/15 Seite 7 international bestehende (z.T. schon völkergewohnheitsrechtliche) Staatenpraxis auf und regelt diese für die Praxis der Mitgliedstaaten europarechtlich verbindlich.13 Anders als der Flüchtlingsstatus begründet der subsidiäre Schutz kein dauerhaftes Bleiberecht, sondern ist temporär ausgestaltet.14 Bürgerkriegsflüchtlinge, die nicht unter das Asylgrundrecht fallen (und das ist die Mehrheit), wird insoweit ein subsidärer (humanitärer) Schutzstatus eingeräumt.15 Die nationale Statusentscheidung wird nach europäischem Recht (Art. 24 Abs. 1 der RL 2011/95/EU) bzw. nationalem Recht (§ 25 Abs. 2 AufenthG) mit einem Aufnahmeanspruch verbunden. Gem. § 25 Abs. 2 AufenthG hat ein Bürgerkriegsflüchtling einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis, wenn ihm das BAMF den subsidiären Schutzstatus (i.S.v. § 4 AsylG) zuerkannt hat.16 3.2. Vorübergehender Schutz Nach der Richtlinie 2001/55/EG zum vorübergehenden Schutz vom 20. Juli 200117 können zudem Personen geschützt werden, die aus Gebieten geflohen sind, in denen ein bewaffneter Konflikt oder dauernde Gewalt herrscht, bzw. die ernsthaft von systematischen oder weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen bedroht waren oder Opfer solcher Menschenrechtsverletzungen sind (Art. 2 lit. c i) und ii) dieser Richtlinie). Anders als nach Art. 15 der EU-Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU sind in Art. 2 der Richtlinie 2001/55/EG zum vorübergehenden Schutz die Fluchtgründe begrifflich weiter gefasst und es wird auch keine individuelle Gefährdung vorausgesetzt. Der vorübergehende Schutz ist gewissermaßen eine Ausnahmeregelung für unüberschaubare Notsituationen, in denen das 13 Marx, Reinhard, Kommentar zum AsylVfG, München: Luchterhand, 8. Aufl. 2014, § 4, Rdnr. 5. 14 Der Schutz erlischt, „wenn die Umstände, die zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes geführt haben, nicht mehr bestehen oder sich in einem Maße verändert haben, dass ein solcher Schutz nicht mehr erforderlich ist“ (Art. 16 der QRL). 15 Marx, Reinhard, Kommentar zum AsylVfG, München: Luchterhand, 8. Aufl. 2014, § 4, Rdnr. 3; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Tübingen: Mohr 2013, Art. 16a, Rdnr. 26; Arnauld, Völkerrecht, Heidelberg: Müller, 2012, Rdnr. 784; näher Maaßen, Die Rechtsstellung des Asylbewerbers im Völkerrecht, Frankfurt u.a.: Lang 1997, S. 43 ff.; Markard, Nora, Kriegsflüchtlinge. Gewalt gegen Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten als Herausforderung für das Flüchtlingsrecht und den subsidiären Schutz, Tübingen: Mohr 2012, S. 57 ff. 16 Die Zuerkennung kann nach Maßgabe von § 73b AsylG widerrufen oder zurückgenommen werden. 17 Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten, ABl. EG L 212/12 vom 7.8.2001 (sog. „Schutzgewährungsrichtlinie“), abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2001:212:0012:0023:DE:PDF. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 165/15 Seite 8 Schutzbedürfnis auf der Hand liegt und vorerst keine Möglichkeit besteht, das Schutzbedürfnis jedes Einzelnen festzustellen.18 Die EU hat mit den beiden Richtlinien voneinander getrennte und abgrenzbare Konzepte des subsidiären und des vorübergehenden Schutzes entwickelt.19 Anders als der subsidiäre Schutz vermittelt der vorübergehende Schutz aber keinen Rechtsstatus , der nach Anerkennung des individuellen Schutzbedürfnisses und einer Feststellung der erforderlichen Voraussetzungen in einem rechtsförmigen Verwaltungsverfahren zuerkannt wird. Vorübergehender Schutz ist vielmehr eine Gruppenbeurteilung des Bedarfes an internationalem Rechtsschutz, der gem. Art. 5 der Richtlinie 2001/55/EG durch den EU-Ministerrat auf Vorschlag der EU-Kommission auf der Grundlage allgemeiner Verhältnisse im Herkunftsland festgestellt wird. Aufgrund des Beschlusses des EU-Ministerrates wird in allen Mitgliedstaaten der vorübergehende Schutz gemäß dieser Richtlinie zugunsten der Vertriebenen, die Gegenstand des Beschlusses sind, eingeführt. Infolgedessen wird nach § 24 Abs. 1 AufenthG einem Ausländer, dem durch einen Ratsbeschluss auf Grundlage der Richtlinie 2001/55/EG vorübergehender Schutz gewährt wird, für die nach den Artikeln 4 und 6 der Richtlinie bemessene Dauer des vorübergehenden Schutzes eine befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt.20 Da in der EU eine Einigkeit bislang nicht erzielt werden konnte und ein entsprechender Beschluss nicht gefasst worden ist, kann Deutschland das europarechtliche Instrument des „vorübergehenden Schutzes“ gegenwärtig nicht nutzen. Dies wäre indes sinnvoll, um das BAMF zu entlasten und Verfahren zügiger abzuschließen. Derzeit fehlen allerdings die rechtlichen Voraussetzungen , damit deutsche Behörden unabhängig von einem EU-Beschluss den vorübergehenden humanitären Schutz gewähren können. 3.3. Entscheidung über die Zuerkennung des subsidiären (internationalen) Schutz-Status Das geltende Asylrecht macht in § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG den subsidiären Schutz vollständig zum Gegenstand des Asylverfahrens. Die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes werden damit (ebenso wie die der Asylberechtigung und des Flüchtlingsstatus nach der GFK) im Asylverfahren durch das BAMF ermittelt und verbindlich festgestellt.21 18 Marx, Reinhard, Kommentar zum AsylVfG, München: Luchterhand, 8. Aufl. 2014, § 4, Rdnr. 5 und 43. 19 Marx, Reinhard, Kommentar zum AsylVfG, München: Luchterhand, 8. Aufl. 2014, § 4, Rdnr. 5. 20 Wer im Besitz eines solchen Aufenthaltstitels ist, kann Asyl beantragen (§ 14 Abs. 2 Nr. 1 AsylG). 21 Marx, Reinhard, Kommentar zum AsylVfG, München: Luchterhand, 8. Aufl. 2014, § 4, Rdnr. 2. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 165/15 Seite 9 Die nationale Entscheidung über die Aufnahme als Flüchtling ist keine politische Ermessensentscheidung , sondern ein rechtlich gebundener und gerichtlich überprüfbarer Verwaltungsakt. Die gesetzlichen Grundlagen für diesen Verwaltungsakt stehen – da es sich um EU-Recht handelt – nicht zur Disposition des einfachen Gesetzgebers. 3.4. Entscheidungskriterien Bei der Entscheidung des BAMF über die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus müssen die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG (= Art. 15 RL 2011/95/EU) geprüft werden (also: ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts). Der Entscheidung zugrunde liegen regelmäßig Fallkonstellationen, in denen Personen aus ihrem Heimatland vertrieben werden und nicht mehr dahin zurückkehren können, weil sie bei einer Rückkehr in das Herkunftsland allein durch ihre Anwesenheit in dem betreffenden Land tatsächlich Gefahr laufen, einer ernsthaften Gefährdung für Leib und Leben ausgesetzt zu sein.22 Fraglich ist, inwieweit in diesem Zusammenhang die Reisewege des Flüchtlings berücksichtigt werden müssen. So bezweifeln etwa Schachtschneider und Hailbronner das Vorliegen einer „individuellen Bedrohungslage“, wenn ein Flüchtling bereits in einem Flüchtlingslager Schutz gefunden hat, das zumindest ein Minimum an Lebensgrundlage gewährleistet und er sich nun nicht direkt aus seinem ihn bedrohenden Herkunftsland auf den Weg nach Deutschland gemacht hat, sondern aus einem Flüchtlingslager im Libanon oder der Türkei.23 3.5. Zuständigkeiten Die Frage nach der Berücksichtigung von Reisewegen stellt sich weiter, wenn die Einreise nach Deutschland durch andere EU-Mitgliedstaaten erfolgt. Die Frage der Zuständigkeit eines EU- Mitgliedstaats für die Registrierung und Prüfung von Anträgen von Bürgerkriegsflüchtlingen ist in der Dublin III-Verordnung24 geregelt, die auch auf den internationalen / subsidiären Schutz anzuwenden ist (Art. 49 Abs. 2 der Verordnung). 22 Vgl. insoweit EuGH-Urteil v. 17.2.2009, Rs. C-465/07 – Elgafaji (= NVwZ 2009, 705). Vgl. auch Hailbronner, Ausländerrecht. Kommentar, Losebl. (86. Erg.-Lfg. Juni 2014), Ordner 3, B 2, Kommentar zum AsylVfG, § 4, Rdnr. 46 ff. 23 Schachtschneider, Karl Albrecht, Verfassungswidrige Einwanderung von Flüchtlingen nach Deutschland, verfügbar online unter http://www.wissensmanufaktur.net/verfassungswidrige-einwanderung, S. 6. Ähnlich Kay Hailbronner im Experteninterview zur Asylpolitik, in: Oberbayerisches Volksblatt online v. 13.10.2015, http://www.ovb-online.de/politik/eine-kette-falscher-entscheidungen-5637532.html. 24 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vom 26. Juni 2013 (ABl. EU L 180/1 vom 19.6.2013, http://eurlex .europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=OJ:L:2013:180:FULL&from=DE) Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 165/15 Seite 10 Erreichen also Bürgerkriegsflüchtlinge die deutsche Grenze über andere EU-Staaten (etwa Ungarn und Österreich), so ist zunächst nicht Deutschland für die Registrierung und Zuerkennung des subsidiären Schutzes zuständig, sondern der EU-Mitgliedstaat, den der Bürgerkriegsflüchtling zuerst erreicht. Dies gilt auch für den Fall des illegalen Grenzübertritts (Art. 13 Dublin III-VO). Hat sich der Antragsteller für Zeiträume von mindestens fünf Monaten in verschiedenen Mitgliedstaaten aufgehalten, so ist der Mitgliedstaat, wo er sich zuletzt aufgehalten hat, für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig (Art. 13 Abs. 2 der Dublin III-VO). Werden die Flüchtlinge in Ungarn und Österreich ohne Registrierung nach Deutschland „durchgewunken “, ohne dass sie in dem jeweiligen Staat einen Antrag auf subsidiären Schutz gestellt haben, so stellt sich die Frage nach dem konkreten Schutzbedürfnis dieser Flüchtlinge. Die Dublin-III-Verordnung regelt indes nur die formelle Frage der Zuständigkeit eines EU-Mitgliedstaates , nicht jedoch die materiell-rechtliche Frage, ob ein Anspruch auf subsidiären Schutz infolge einer Einreise über ein EU-Nachbarstaat ausgeschlossen ist. Im Kern geht es also darum, ob und inwieweit die asylrechtliche Rechtskonstruktion der „sicheren Drittstaaten“ aus Art. 16a Abs. 2 GG auch auf den subsidiären Flüchtlingsschutz übertragen werden kann. Im Falle eines Asylbewerbers sieht Art. 16a Abs. 2 GG vor, dass sich auf das Asylgrundrecht „nicht berufen kann“, wer aus einem anderen EU-Staat einreist. Die Asylrechtsneuregelung aus dem Jahre 1993 wurde nicht auf den subsidiären internationalen Schutz übertragen, weil dieses Rechtsinstitut damals noch nicht existierte. Vereinzelte Stimmen aus der Rechtswissenschaft plädieren daher für eine analoge Anwendung der Asylrechtsvorschriften.25 Diese Rechtsfrage ist allerdings bislang noch nicht gerichtlich entschieden und auch in der Kommentarliteratur nicht erörtert worden. Bei einer analogen Anwendung der sicheren Drittstaatenregelung auf Bürgerkriegsflüchtlinge stellt sich letztlich die Frage nach der praktischen Durchsetzung, wenn es zum einen an der Kooperationsbereitschaft einiger EU-Nachbarstaaten fehlt, ihre Zuständigkeiten aus der Dublin III-Verordnung wahrzunehmen und die Flüchtlinge aufzunehmen26 – eine einheitliche EU-weite (Quotenverteilungs)-Regelung existiert derzeit noch nicht –, und wenn zum anderen eine Rückführung von Flüchtlingen in Richtung Herkunftsland am refoulement-Verbot (Art. 33 GFK, § 60 AufenthG) scheitern würde. Vor diesem Hintergrund ermöglicht Art. 17 der Dublin III-VO, dass jeder Mitgliedstaat nach Ermessen beschließen kann, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. 25 Schachtschneider, a.a.O. (Anm. 23). 26 Vgl. dazu Sachstand PE 6 – 3000 – 207/14 vom 21.11.2014, „Möglichkeiten der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die Einhaltung der Dublin III-Verordnung durch andere Mitgliedstaaten einzufordern“, S. 10 (verfügbar im bundestagsinternen WD-Dossier vom 12.10.2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 165/15 Seite 11 Der Mitgliedstaat, der beschließt, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen.27 Deutschland hat eine solche (humanitäre) Ermessensentscheidung nach Art. 17 der Dublin III- Verordnung in den letzten Monaten wiederholt getroffen. Insoweit lässt sich nicht pauschal von einer „völkerrechtswidrigen“ Einreise von Bürgerkriegsflüchtlingen nach Deutschland sprechen. Allerdings beruht die Aufnahme der Bürgerkriegsflüchtlinge nicht auf einer rechtlichen Verpflichtung , sondern auf einer politischen Ermessensentscheidung der Regierung. Die Entscheidung über die Aufnahme von Flüchtlingen betrifft fundamentale und virulente Fragen des politischen Gemeinwesens und sollte nach den Grundsätzen der sog. „Wesentlichkeitstheorie “28 unter Mitwirkung des Parlaments getroffen werden.29 4. Begrenzung der Flüchtlingszahlen Die Frage nach Möglichkeiten einer (faktischen) Begrenzung der Flüchtlingszahlen ist ein politisches Desiderat, das seit Monaten auf verschiedenen Ebenen (kommunale bis EU-Ebene) und in zahlreichen Gremien diskutiert wird, ohne dass sich derzeit schon eine rechtlich tragfähige und politisch konsensfähige „Patentlösung“ abzeichnen würde. Die Wissenschaftlichen Dienste haben nur begrenzte Möglichkeiten und Kapazitäten, eigene politikgestaltende Vorschläge zu erarbeiten . Verwiesen sei in diesem Zusammenhang aber auf die WD-Gutachten im bundestagsinternen Dossier „Rechtliche Verpflichtungen zur Aufnahme von Asylsuchenden und Flüchtlingen“ vom 12.10.2015 (verfügbar im Intranet). Ende der Bearbeitung 27 Also ggf. Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 25 Abs. 2 AufenthG. 28 Mit der Wesentlichkeitstheorie wird die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellte Forderung bezeichnet, dass alle grundlegenden und wesentlichen Entscheidungen allein vom Gesetzgeber getroffen werden müssen (BVerfGE 49, 89 - Kalkar I); vgl. dazu Badura, Peter, Staatsrecht, München: Beck, 3. Aufl. 2003, S. 544 f. 29 Vgl. insoweit Nettesheim, Martin, „Ein Vakuum darf nicht hingenommen werden“, in: FAZ v. 29.10.2015, S. 8.