Deutscher Bundestag Die Türkei und der arabische Raum Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 2 – 3000 - 161/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 - 161/12 Seite 2 Die Türkei und der arabische Raum Verfasser: Aktenzeichen: WD 2 – 3000 - 161/12 Abschluss der Arbeit: 1. Februar 2013 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Telefon: + Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 - 161/12 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Das neue außenpolitische Konzept der Türkei 4 2. Zum Wandel des Verhältnisses zwischen der Türkei und dem arabischen Raum 5 3. Beziehungen der Türkei zu ausgewählten arabischen Staaten 7 3.1. Saudi-Arabien 7 3.2. Ägypten 8 3.3. Syrien 9 4. Die Türkei als Modell für die arabischen Reform-Staaten ? 11 5. Ausblick 12 6. Literatur 13 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 - 161/12 Seite 4 1. Das neue außenpolitische Konzept der Türkei Der Wahlsieg der „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“ (AKP) im November 2002 und der Regierungsantritt von Ministerpräsident Erdoğan im März 2003 brachten eine konzeptionelle Neuausrichtung der türkischen Außenpolitik mit sich. Der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu, ehemaliger Professor für Internationale Beziehungen, prägte dazu das außenpolitische Konzept der “Strategischen Tiefe”. Das Konzept sieht u.a. vor, dass sich die Türkei intensiver als bisher auf ihre direkten Nachbarn konzentriert und mit allen gute Beziehungen anstrebt. Fachleute sehen in dem neuen Konzept die Grundlage für eine „diplomatisch aktive, an friedlicher Nachbarschaft, Demokratie und Stabilität orientierte ´multidimensionale` Außenpolitik“ ohne exklusive Bindung an einzelne Partner.1 Mit der neuen außenpolitischen Doktrin scheint auch das Selbstverständnis der Türkei als enger Partner des „Westens“ in Frage gestellt: So reflektiert die neue türkische Außenpolitik zunehmend die von nationalen Interessen geprägten Ordnungsvorstellungen für die MENA- Region (MENA steht für Middle East & North Africa - Nahost und Nordafrika). Demnach hegt die Türkei offenbar die Vision einer regionalen Großmacht, die ihre arabische Nachbarschaft politisch und wirtschaftlich an sich binden und nicht zuletzt auch den Umbruch in der arabischen Welt mitgestalten möchte.2 Aus Sicht der Fachliteratur bestimmen zwei grundlegende Determinanten die türkische Außenpolitik für den arabischen Raum:3 Erstens zeigt die türkische AKP-Regierung ein wachsendes Interesse, die wirtschaftlichen Beziehungen zu den arabischen Staaten auszuweiten und zu intensivieren. Seit etwa einer Dekade ist ein deutlich gestiegenes Investitions- und Handelsvolumen sowie eine Diversifizierung türkischer Wirtschaftspartner im arabischen Raum zu verzeichnen. Der vornehmlich an Wirtschaftsinteressen orientierte, weniger dogmatische als vielmehr pragmatische Politikansatz mag als Erklärung dienen für die zum Teil nicht immer konsistenten politischen Reaktionen Ankaras auf die Transformationsprozesse des Arabischen Frühlings, dessen rasante politische Dynamik auch die Türkei überraschte.4 Zweitens besteht ein Interesse der Türkei an der Generierung von „soft power“ im arabischen Raum. Mittels ihres kulturellen Einflusses möchte die Türkei zum einen um Unterstüt- 1 Erdmann/Herzog, Die Türkei in Afrika, GIGA-Studie Nr. 1 / 2012, S. 2. 2 Seuffert, IP 2012, S. 80. 3 Zum folgenden Bank, Die Türkei und die Arabische Revolte, GIGA-Studie Nr. 9/2011, S. 1 f. sowie Pope, Pax Ottomana, in: Foreign Affairs, S. 7. 4 Öniş, Turkey and the Arab Spring, in: Insight Turkey 2012, S. 50 f., mit einer tabellarischen Übersicht über die unterschiedlichen Phasen der türkischen Antwort auf die Ereignisse des Arabischen Frühlings. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 - 161/12 Seite 5 zung für ihre außenpolitischen Ambitionen in der Region (und insbesondere ihre Vermittler- Rolle im Nahostkonflikt) werben. Zum anderen strebt die Türkei danach, einen positiven kulturellen „Nährboden“ für ein günstiges Investitionsklima im arabischen Raum zu schaffen. Dem kulturellen Einfluss der Türkei im arabischen Raum stehen jedoch häufig kulturelle Barrieren – insbesondere die beiderseits fehlenden Sprachkenntnisse (Türkisch bzw. Arabisch) – entgegen.5 Im folgenden soll der Wandel in den Beziehungen (und die gegenseitige Wahrnehmung) zwischen der Türkei und der arabischen Welt skizziert werden (2.). Anschließend sollen die Beziehungen der Türkei zu ausgewählten arabischen Staaten untersucht werden, die exemplarisch für das Verhältnis der Türkei zur arabischen Welt erscheinen (3.): So steht Saudi- Arabien (3.1.) stellvertretend für die Golfregion, Ägypten (3.2.) für die nordafrikanischen Reformstaaten des Maghreb und Syrien (3.3.) für die Region Nahost. Abschließend soll der Frage nachgegangen werden, ob die Türkei ein Modell für die arabische Welt sein kann (4.). 2. Zum Wandel des Verhältnisses zwischen der Türkei und dem arabischen Raum Die Beziehungen zwischen der Türkei und vielen arabischen Staaten waren infolge der jahrhundertelangen Kolonialherrschaft des Osmanischen Reiches im arabischen Raum durch Ressentiments und Vorurteile belastet.6 In weiten Teilen der arabischen Bevölkerung herrschte lange die Auffassung vor, dass die Türken als Nachfahren der Osmanen die arabische Welt daran gehindert hätten, am Fortschritt von Europa zu partizipieren. Nach Gründung der (laizistisch -kemalistischen) Türkischen Republik durch Kemal Atatürk im Jahre 1923 musste sich die Türken vielfach den Vorwurf gefallen lassen, sie hätten sich vom gemeinsamen Erbe (dem Islam) losgesagt und sich dann der westlichen Welt „angebiedert“.7 Noch im Jahre 2002 lag die Türkei bei Meinungsumfragen in der Region auf den unteren Rängen der Beliebtheitsskala. Im Laufe der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts hat sich dieses Bild offenbar grundlegend gewandelt: So genießt die Türkei heute bei den arabischen Nachbarn hohe Sympathiewerte und rangiert unter den beliebtesten Ländern der ganzen Region. Diesen Wandel dokumentiert eine Studie des renommierten Istanbuler Forschungsinstituts TESEV (Turkish Economic and 5 So Steinberg, Guido, Die Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und der Türkei, in: Faath (Hrsg.), Zukunft, S. 137. 6 Zum Osmanischen Reich gehörten seit dem 16. Jahrhundert bis zum 1. Weltkrieg weite Gebiete des heutigen Libyens , Ägyptens, Syriens und des Libanons sowie Teile Saudi-Arabiens, Algeriens und des Iraks. Tunesien war dagegen ein tributpflichtiger Vasallen-Staat. 7 Seuffert, Günter, Die Türkei als Modell für die arabischen Staaten, BPB-Studie 2011, S. 2. So ist die Türkei z.B. seit 1952 NATO-Mitglied und seit 1963 der EU assoziiert. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 - 161/12 Seite 6 Social Studies Foundation) zum „Türkeibild“ in den arabischen Staaten aus den Jahren 2009 und 2010.8 Das Ergebnis der Studie, welcher Umfragen in sieben Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas zugrunde liegen, deutet auf eine durchweg positive Beurteilung der neuen türkischen („Zero-Problems-with-Neighbours“-)Außenpolitik hin. Die Studie ergab eine überwältigende Mehrheit für das verstärkte türkische Engagement im Nahen Osten sowie eine deutliche Zustimmung zum Ausbau der wirtschaftlichen Kooperation. Sympathien in der arabischen Welt konnte die Türkei zudem dadurch gewinnen, dass sich das Land 2003 weigerte, den USA den Aufmarsch von Truppen gegen den Irak von türkischem Territorium aus zu gestatten.9 Positiv bewertet wurde auch, dass die Türkei ihre Nahostpolitik nicht mehr ausschließlich an westlichen Interessen ausrichte. Dem lange Zeit vorherrschenden negativen Bild von der Türkei in der arabischen Welt entsprach auf der türkischen Seite eine klischeehafte und herabsetzende Darstellung der Araber, die durch das kemalistisch geprägte Erziehungswesen in der Türkei offenbar bewusst gefördert wurde.10 Der zurückgehende Einfluss des Kemalismus und die allmähliche Öffnung der Türkei gegenüber den arabischen Staaten seit den 1980er Jahren bewirkten dagegen eine deutliche Entspannung der türkischen Sicht auf die arabische Welt. Auch hier scheinen vorurteilsbehaftete sowie religiös oder nationalistisch bedingte Sichtweisen einem zunehmenden Pragmatismus in den gegenseitigen Beziehungen zu weichen.11 Positiv wirkt sich insbesondere aus, dass mit der AKP auch eine Generation von Politikern – allen voran der Begründer des türkischen Islamismus und ehemalige Ministerpräsident Necmettin Erbakan – an die Macht gekommen ist, die trotz aller Vorbehalte die arabischen Staaten sehr viel positiver beurteilen und enge Beziehungen in die arabische Welt unterhalten.12 8 Mensur Akgün, The perception of Turkey in the Middle East, Istanbul 2009 (TESEV Foreign Policy Analysis 10), unter www.tesev.org.tr. Zur Umfrage vgl. auch Faath (Hrsg.), Zukunft, S. 21 ff.; Schmid, Die neue Rolle der Türkei , S. 2 f. 9 Öniş, in: Insight Turkey Nr. 3/2012, S. 49. 10 Fuller, The new Turkish Republic, S. 13, 21. So wurde den Arabern unterstellt, sie hätten im 1. Weltkrieg an der Seite von Briten und Franzosen gegen den Sultan gekämpft und damit zum Zusammenbruch des Osmanischen Reiches beigetragen. 11 Ähnlich Steinberg, Guido, Die Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und der Türkei, in: Faath (Hrsg.), Zukunft, S. 123. 12So lebte der amtierende türkische Staatspräsident Abdullah Gül von 1983-1991 in der saudischen Stadt Dschidda, wo er als Analyst für die islamische Entwicklungsbank arbeitete. Auch der türkische Außenminister Davutoğlu lebte in Dschidda und spricht fließend Arabisch. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 - 161/12 Seite 7 3. Beziehungen der Türkei zu ausgewählten arabischen Staaten 3.1. Saudi-Arabien Das Verhältnis der Türkei zu Saudi-Arabien war lange Zeit von gegenseitigem Desinteresse, wenn nicht sogar von Ressentiments geprägt.13 Verbindendes Element auf außenpolitischem Gebiet war vor allem der gemeinsame Verbündete USA. Mit der ablehnenden türkischen Haltung im Irakkrieg 2003 verbesserten sich auch die saudisch -türkischen Beziehungen.14 Den Irakkrieg der USA wurde von Saudi-Arabien vor allem deshalb kritisch gesehen, weil der Irak bis dato ein Gegengewicht zu Iran in der Golfregion bildete. In der Konsequenz scheint Saudi-Arabien vor allem in Sorge über das iranische Atomprogramm und Irans Hegemonialstreben in der Region.15 Experten zufolge sei Saudi- Arabien seit dem Irakkrieg verstärkt auf der Suche nach regionalen Verbündeten in der Auseinandersetzung mit Iran und sehe dabei die Türkei als möglichen Alliierten, der als „Gegengewicht “ zu Iran dienen könnte. Obwohl die türkische und die saudische Position gegenüber dem Iran keineswegs deckungsgleich erscheinen, hoffe die saudische Führung, dass sich die Türkei über kurz oder lang dem iranischen Hegemonialstreben entgegenstellt.16 In den saudisch-türkischen Beziehungen hat mittlerweile eine eher pragmatische, an gegenseitigen Wirtschaftsinteressen orientierte Kooperation Einzug gehalten. So hat das bilaterale Handelsvolumen in der letzten Dekade stetig zugenommen – mit einem Schwerpunkt auf den saudischen Ölexporten. Das finanzstarke Königreich ist dabei ein wachsender Markt für türkische Exporte (insbesondere Nahrungsmittel und Textilien). Experten zufolge versuche die türkische Regierung im Gegenzug, saudische Investitionen in der Türkei zu fördern. Türkische Firmen seien vor allem im Bau- und Eisenbahnwesen in Saudi-Arabien aktiv; geplant sei etwa eine Anbindung des türkischen Eisenbahnverkehrs an die expandierenden Eisenbahntrassen 13 Steinberg, Die Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und der Türkei, in: Faath (Hrsg.), Zukunft, S. 123 f. Von dem Streit zwischen Saudi-Arabien und der Türkei im Jahre 2002 um die Zerstörung einer historischosmanischen Burg in Mekka, um an deren Stelle ein Luxushotel zu errichten, berichtet das Wall Street Journal v. 10.1.2002. 14 So war der Türkeibesuch des saudischen Königs Abdallah in Ankara im Jahre 2006 der erste Türkeibesuch eines saudischen Königs seit 40 Jahren. Staatspräsident Gül besuchte das Königreich 2009. 15 Steinberg, ebenda, S. 120. 16 Die saudische Regierung sieht in Iran nicht nur den aggressiven Anwärter auf eine politische und militärische Hegemonialstellung, sondern auch einen weltanschaulichen Konkurrenten. Nach dem Zusammenbruch des Regimes von Saddam Hussein befürchtet Saudi-Arabien den zunehmenden iranisch-schiitischen Einfluss im Irak und damit auch den weiteren Aufstieg des Irans in der Region. Im eigenen Land befürchtet Saudi-Arabien zudem die Gefahr einer Aufwiegelung schiitischer Bevölkerungsteile. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 - 161/12 Seite 8 der arabischen Halbinsel. Der Abschluss eines gegenseitigen Freihandelsabkommen steht aber noch aus.17 Die kulturellen Beziehungen beider Staaten waren – abgesehen von der obligatorischen Pilgerfahrt vieler Türken – traditionell eher schwach ausgeprägt. Doch auch hier zeichnet sich seit 2002 offenbar eine allmähliche Intensivierung ab. Unlängst versucht die türkische AKP- Regierung, in der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) eine Führungsrolle zu übernehmen und die Möglichkeiten der OIC für die eigene Außenpolitik zu nutzen.18 Die Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und der Türkei könnten nach Auffassung von Experten künftig noch an Bedeutung gewinnen. Langfristig könnte der Einfluss der Türkei auf Saudi-Arabien sogar die stark religiös geprägte Lebensart der Saudis „unterwandern“, da die Türkei als ein muslimisch, aber gleichwohl wirtschaftlich und gesellschaftlich modernes Land viele Saudis fasziniert.19 3.2. Ägypten Die fast 400-jährige osmanische Kolonialherrschaft hat in der ägyptischen Alltagskultur deutliche Spuren hinterlassen. 20 Hundert Jahre nach Ende der Kolonialherrschaft gewinnt die Türkei heute offenbar erneut an wirtschaftlichem aber auch kulturellen („soft power“) Einfluss in Ägypten: Türkische Firmen engagieren sich zunehmend im Land am Nil, türkische Fernsehsendungen scheinen bei Ägyptern immer populärer; der türkische Ministerpräsident ist – nicht zuletzt wegen seiner Haltung in der Nahostfrage – in der ägyptischen Bevölkerung beliebt; Wissenschaftler aus Istanbul oder Ankara sind an ägyptischen Universitäten wohl gelitten. Insgesamt genießt die Türkei in Ägypten offenbar den „Ruf eines besseren (muslimischen ) Europas.“21 17 Steinberg, Die Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und der Türkei, in: Faath (Hrsg.), Zukunft, S. 135 f. 18 Fuller, The new Turkish Republic, S. 77. Die 1969 in Marokko gegründete Organisation of the Islamic Conference (Organisation der Islamischen Konferenz, seit 2011 umbenannt in Organisation of Islamic Cooperation - OIC) hat ihren Sitz im saudischen Dschidda. Die OIC ist eine Internationale Organisation von derzeit 57 Staaten, in denen der Islam entweder Staatsreligion oder die Religion der Bevölkerungsmehrheit ist. Die Organisation nimmt für sich in Anspruch, die Islamische Welt zu repräsentieren. Zur OIC vgl. http://www.crpinfotec .de/06orgs/02_m_z/oic/oic.html. 19 So Steinberg, Die Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und der Türkei, in: Faath (Hrsg.), Zukunft, S. 140. 20 So verbänden Ägypter traditionell vieles Türkische mit Prestige und Qualität. Die städtische ägyptische Oberschicht pflege sogar eine gewisse Nostalgie für die gute alte (türkische) Zeit; im ägyptischen Militär werde zum Teil immer noch nach alter osmanischer Schule gedrillt. Vgl. dazu Jacobs, Andreas, Die Rückkehr der Paschas, in: Faath (Hrsg.), Zukunft, S. 221 f. 21 Jacobs, ebenda, S. 230. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 - 161/12 Seite 9 Im wirtschaftlichen Bereich erscheint Ägypten in den Augen der Türkei vordringlich als kostengünstiger Investitions- und Produktionsstandort; als türkischer Absatzmarkt, Niedriglohnland sowie als Tor zum arabischen und afrikanischen Markt. Die Regierungen in Kairo und Ankara haben diesen Trend durch Investitionsförderungs-, Doppelbesteuerungs- und Freihandelsabkommen konsequent gefördert. Türkische Investitionen sind in Ägypten aufgrund der finanziellen Misere hochwillkommen. Ägypten exportiert dagegen vor allem Rohstoffe und industrielle Vorprodukte, wünscht sich aber langfristig wirtschaftliche Beziehungen auf Augenhöhe. Sowohl die Türkei als auch Ägypten verstehen sich selbst als Regionalmächte mit einem vergleichsweise starken militärischen Potential. Für beide Staaten galten bislang ihre strategisch guten Beziehungen zu den USA als außenpolitische Staatsraison. Vor diesem Hintergrund traf besonders die türkische Israelpolitik einen empfindlichen Nerv der ägyptischen Öffentlichkeit , die bislang ein „Wohlverhalten“ gegenüber Israel stillschweigend als Voraussetzung für die überlebenswichtige Hilfe aus den USA betrachtet hatte. Die türkische Regierung setzt jüngst auf ein betont kooperatives Verhältnis zu Ägypten. In seiner Rede an der Kairoer Universität im November 2012 rief Ministerpräsident Erdoğan zur Zusammenarbeit zwischen den beiden großen Mächten der Region – Ägypten und der Türkei – auf, um die Probleme im Mittleren Osten zu lösen. Erdoğan betonte, dass die Türkei entschlossen sei, Ägypten in seinem demokratischen Veränderungsprozess zu unterstützen.22 3.3. Syrien Seit der Staatsgründung Syriens im Jahre 1946 gestalteten sich die syrisch-türkischen Beziehungen ausgesprochen schwierig. Zum einen hatte sich Syrien nie mit dem Verlust seiner Gebiete abgefunden, die das Land – damals unter französischem Mandat – als Resultat einer französisch-türkischen Allianz nach dem 1. Weltkrieg an die neugegründete Türkische Republik abtreten musste.23 Weitere Spannungsfaktoren, welche die bilateralen Beziehungen seit dem 2. Weltkrieg belasteten, waren zum anderen die Anerkennung Israels durch die Türkei im Jahre 1949, der türkische NATO-Beitritt 1952, die türkische Mitgliedschaft im prowestlichen Bagdad-Pakt24 seit 1955, die Konzentration türkischer Truppen an der Grenze zu Syrien, die Machtübernahme durch die sozialistische Baath-Partei in Syrien im Jahre 1963 22 http://dtj-online.de/news/detail/1195/.html . Erdoğan sagte wörtlich: „Die Türkei wird genauso stark, wie Ägypten sein wird und Ägypten wird genauso stark sein, wie die Türkei es ist.“ 23 Näher Kawakibi, Salam, Die syrisch-türkischen Beziehungen, in: Faath (Hrsg.), Zukunft, S. 182 f. 24Der sog. „Bagdad-Pakt“, eigentlich Central Treaty Organisation (abgekürzt CENTO, dt.: Zentrale Paktorganisation ), war ein von 1955 bis 1979 bestehendes Militärbündnis, bestehend aus den Mitgliedern Großbritannien, Irak, Iran, Pakistan und Türkei (USA hatte Beobachterstatus). Als reines Verteidigungsbündnis konzipiert, lag das politische Ziel des Paktes in einer Eindämmung des Einflusses der Sowjetunion in der Region des Mittleren Ostens. 1979 wurde der Pakt nach den politischen Veränderungen im Iran aufgelöst. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 - 161/12 Seite 10 sowie die nachfolgende syrische Unterstützung der Revolution in Iran (1979) – Ereignisse, welche die türkische Militärführung extrem beunruhigten. Im 1. Golfkrieg 1980 (zwischen Irak und Iran) stellte sich die Türkei auf die Seite der Anti-Iran-Allianz und unterstützte damit auch die westliche Eindämmungspolitik gegenüber Syrien. Das gegenseitige Misstrauen zwischen Syrien und der Türkei nahm in den 1980er Jahren noch einmal zu, als die Türkei Syrien verdächtigte, die militante kurdische PKK in der Türkei militärisch zu unterstützen. Weiteren Streit gab es im Nachgang zu dem 1987 abgeschlossenen bilateralen Vertrag über die Aufteilung des Euphratwassers, in dem die Türkei dem Nachbarstaat Syrien eine Garantie für den Bezug von Wasser einräumte, diese aber 1990 wegen des neuerrichteten Atatürk- Staudamms widerrief. Erst mit dem Amtsantritt von Baschar al-Assad (dem Sohn des verstorbenen Staatspräsidenten Hafiz al-Assad) im Jahre 2000 verbesserten sich die türkisch-syrischen Beziehungen – nicht zuletzt durch eine intensivierte Besuchsdiplomatie in der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts . Im neuen außenpolitischen Konzept der türkischen AKP-Regierung von 2003 bildete Syrien nachgerade „das Herzstück der türkischen Nahostpolitik“.25 Nach Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs im Jahre 2011 setzte die Türkei anfangs auf Stabilität und stützte das Assad-Regime noch bis Mitte 2011 – vor allem, um die Wirtschaftsbeziehungen zum Nachbarstaat nicht zu gefährden. Doch der außenpolitische Ansatz der „Null- Probleme-mit-Nachbarn“, der auf die Möglichkeiten einer Selbstregulierung regionaler Konflikte durch die Konfliktparteien setzte, erwies sich im syrischen Bürgerkrieg offensichtlich als erfolglos.26 Nach den (wohl eher als vergeblich zu bezeichnenden) Versuchen der Türkei, als Gesprächspartner und (nicht-konfessioneller) Vermittler sowohl für das alawitische Assad- Regime als auch für die schiitisch-kurdische Opposition zur Verfügung zu stehen, änderte Ankara seine außenpolitische Haltung gegenüber der syrischen Führung. So förderte die Türkei die Gründung des oppositionellen Syrischen Nationalrates und unterstützte die Bildung der Freien Syrischen Armee. Auch gewährte Ankara den syrischen Aufständischen Rückzugsmöglichkeiten auf türkischem Territorium. Damit verbunden ist die (Wieder-) Annäherung der Türkei an die Position der EU in der Syrienfrage.27 Das Ersuchen Ankaras gegenüber der NATO um Verstärkung der integrierten Luftverteidigung an der syrisch-türkischen Grenze durch Stationierung von Patriot-Abwehrraketen im Dezember 2012 ließe sich insoweit als Zeichen dieser (Wieder-)Einbindung der türkischen in die europäische Syrienpolitik deuten.28 Der Eigenständigkeit türkischer Außenpolitik könnten damit zunächst Grenzen gesetzt sein, 25 Bank, Die Türkei und die Arabische Revolte, GIGA-Studie No. 9/2011, S. 1. 26 Seuffert, Günter, Mit Volldampf, in: IP 2012, S. 79. 27 Öniş, in: Insight Turkey 2012, S. 53. 28 Seuffert, Mit Volldampf, IP 2012, S. 81. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 - 161/12 Seite 11 zumal ein weiteres Engagement der Türkei in Syrien ohne Absprache mit den NATO- Verbündeten kaum mehr denkbar erscheint.29 4. Die Türkei als Modell für die arabischen Reform-Staaten ? In der Literatur wurde oft das Bild von der Türkei als einer „Brücke“ oder eines „Mittlers“ zwischen Orient und Okzident bemüht.30 Daran knüpfte sich (vor allem in Europa) die Vorstellung , die Türkei könne als „Modell“ einer modernen muslimischen Demokratie für den Transformationsprozess des Arabischen Frühlings dienen.31 Bei derartigen Überlegungen fehlte selten der Verweis auf die einschränkte Übertragbarkeit der türkischen Erfahrungen auf die überdies sehr heterogenen Verhältnisse in den arabischen Staaten. Zu unterschiedlich sind die historischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen sowie die jeweilige politische Kultur. So waren islamistische Tendenzen in der Türkei schon immer gemäßigter als in vielen arabischen Staaten. Das politische Personal in der Türkei besteht aus muslimischen Pragmatikern, die sich – trotz autoritärer Tendenzen – insgesamt an die demokratischen Spielregeln halten. Die laizistisch-kemalistische Tradition der Türkei sowie ihre konsequente West- bzw. EU-Anbindung (NATO-Vollmitgliedschaft seit 1952 und EU- Assoziierung seit 1963) bieten der Türkei gänzlich andere Voraussetzungen und Bedingungen für eine durchgreifende Demokratisierung und einen wirtschaftlichen Aufschwung; solche Voraussetzungen sind mit der Situation in den meisten arabischen Staaten nicht vergleichbar. Der bisherige Verlauf des Arabischen Frühlings hat überdies deutlich gemacht, dass die einzelnen Staaten der arabischen Welt sehr unterschiedliche Wege der Demokratisierung und Transformation einschlagen, für die offenbar kein bestimmtes „Modell“ Pate steht. In der arabischen Welt verbindet sich mit dem Schlagwort „türkisches Modell“ zunächst einmal der Respekt für die politischen, gesellschaftlichen und vor allem wirtschaftlichen Modernisierungsleistungen der Türkei.32 Anerkennung in der arabischen Welt finden insbesondere der Wandel der türkischen AKP von einer islamischen Randpartei hin zur mächtigen Regierungspartei , aber auch die wirtschaftliche Potenz sowie das neue türkische Selbstbewusstsein gegenüber Israel und den USA. 29 Kaim/Seuffert, Deutsche Patriot-Raketen, SWP-Studie 2013, S. 2. 30 Faath, Die arabisch-türkischen Beziehungen, in: dies.(Hrsg.), Zukunft, S. 270. 31 Als der tunesische Islamistenführer Rachid Ghannouchi nach 22 Jahren Exil in seine tunesische Heimat zurückkehrte , soll er sinngemäß gesagt haben: "Mir schwebt eine Struktur nach dem Vorbild der AKP vor. Sie hat gezeigt , das Islam und Demokratie vereinbar sind." 32 Schmid, Die neue Rolle der Türkei, S. 6. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 - 161/12 Seite 12 Viele Araber sehen die Türkei so, wie sie sich selbst gerne sähen – wohlhabend, selbstbewusst , einflussreich, geachtet und gottesfürchtig. Hinter der Begeisterung für die Türkei auf der regionalen Bühne steht daher immer auch die Hoffnung auf eine Renaissance der arabischen Welt.33 Die Bewunderung der Araber für die Türkei, die als Projektion für eigene Hoffnungen und Frustrationen dient, sagt daher weniger über den „Modellcharakter“ der Türkei aus als vielmehr etwas über die politische und gesellschaftliche Selbstwahrnehmung der Araber . In der Türkei selbst wird die Vorstellung, die Türkei könne als „Modell“ für die demokratische Transformation der arabischen Staaten herhalten, vor allem von türkischen Intellektuellen eher zurückhaltend gesehen. Vielmehr herrscht die Auffassung vor, die Türkei solle den arabischen Transformationsstaaten weniger Ratschläge erteilen, sondern vielmehr beispielhaft den eigenen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Reformprozess vorantreiben .34 Ungeachtet aller Differenzen zwischen den politischen Systemen der arabischen Welt und der Türkei ließe sich die Diskussion um das „türkische Modell“ doch zumindest auf eine zentrale Lehre reduzieren, dass nämlich einerseits Islamisten Pragmatiker sein können und dass andererseits Demokratie keine Bedrohung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung sein muss.35 5. Ausblick Die wirtschaftliche Bedeutung sowie das politische Selbstverständnis der Türkei als Stabilitäts - und Balancemacht in der Region haben mehr und mehr ein positives Bild von der Türkei im arabischen Raum entstehen lassen. Die weit verbreitete Zustimmung in vielen arabischen Staaten zur türkischen Außenpolitik paaren sich indes mit (alten) Ängsten vor einer (Re-) Hegemonialisierung durch die Türkei, die zum Teil kritisch als „Neo-Osmanismus“ gesehen wird.36 Die Beziehungen zwischen der Türkei und den arabischen Staaten erscheinen heute kaum als ein Verhältnis „auf gleicher Augenhöhe“. Vor allem in den Transformationsstaaten Ägypten, 33 Jacobs, Die Rückkehr der Pachas, in: Faath (Hrsg.), Zukunft, S. 233 f. 34 Mehmet Kalyoncu, What can Turkey do for the Middle East´s freedom-seeking peoples?, in: Today´s Zaman, 14.2.2001, zitiert bei Faath (Hrsg.), Zukunft, S. 272, Anm. 34. 35 Stieger, Cyrill, Das türkische Modell verliert an Glanz, in: NZZ v. 9.4.2011. Stieger weist folgerichtig darauf hin, dass bereits diese „Lehre“ für die radikal-islamischen Kräften in der arabischen Welt als Bedrohung wahrgenommen wird. 36 Dazu Erdmann/Herzog, Die Türkei in Afrika: Im Schatten des Neo-Osmanismus, GIGA-Studie 2012. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 - 161/12 Seite 13 Tunesien und Libyen sind türkische Investitionen unverzichtbar für den wirtschaftlichen Aufschwung in diesen Ländern. Viele Araber erklären die Stärke der Türkei auch mit der Schwäche (und Rückständigkeit) der arabischen Welt. Erst der eigene Niedergang – so ist oft zu hören – habe den Aufstieg anderer Regionalmächte wie der Türkei (oder Iran) begünstigt. Ob die derzeit guten Beziehungen zwischen der Türkei und der arabischen Welt zu einer dauerhaft stabilen Kooperation und strategischen Partnerschaft führen werden, bleibt abzuwarten. Viel wird davon abhängen, ob es der Türkei gelingt, das gewonnene Vertrauen im arabischen Raum nicht eigenen machtpolitischen oder wirtschaftlichen Interessen zu opfern. 6. Literatur Ataman, Muhittin, Turkish - Saudi Arabian Relations during the Arab Uprisings: Towards a Strategic Partnership ?, in: Insight Turkey Vol. 14/No. 4/2012, pp. 121-136. Bank, André, Die Türkei und die Arabische Revolte: Regionalpolitischer Auf- oder Abstieg?, GIGA-Studie Nr. 9/2011, http://www.gigahamburg .de/dl/download.php?d=/content/publikationen/pdf/gf_nahost_1109.pdf Erdmann, Gero / Herzog, Olga, Die Türkei in Afrika: Im Schatten des Neo-Osmanismus ?, in: GIGA Studie Nr. 1/2012, http://www.gigahamburg .de/dl/download.php?d=/content/publikationen/pdf/gf_afrika_1201.pdf Faath, Sigrid (Hrsg.), Die Zukunft arabisch-türkischer Beziehungen, Baden-Baden: Nomos, 2011 (mit Länderberichten verschiedener Autoren). Fuller, Graham E., The new Turkish Republic. Turkey as a pivotal state in the Muslim World, Washington D.C., 2008. Kaim, Markus / Seufert, Günter, Deutsche Patriot-Raketen in der Türkei, SWP-Aktuell 1/2013, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2013A01_kim_srt.pdf . Öniş, Ziya, Turkey and the Arab Spring: Between Ethics and Self-Interest, in: Insight Turkey Vol. 14/No. 3/2012, pp. 45-63. Pope, Hugh, Pax Ottomana? The Mixed Success of Turkey´s New Foreign Policy, in: Foreign Affairs vol. 89 (2010), S. 6 ff. http://www.ihavenet.com/World-Turkey-Pax-Ottomana-Mixed- Success-of-New-Turkish-Foreign-Policy-Foreign-Affairs.html Schmidt, Laura, Die neue Rolle der Türkei angesichts der jüngsten Entwicklungen in der arabischen Welt – Nettoprofiteur ja, Demokratiemodell nein ?, Hintergrundpapier der Friedrich Naumann Stiftung Nr. 6/2011, http://edoc.vifapol.de/opus/volltexte/2011/3146/pdf/N_6_Die_neue_Rolle_der_Tuerkei.pdf Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 - 161/12 Seite 14 Seufert, Günter, Mit Volldampf in den Zickzackkurs. Die Syrien-Politik der Türkei, in: Internationale Politik (IP) 2012, S. 78-81. http://www.swpber - linl.org/fileadmin/contents/products/fachpublikationen/Srt_Mit_Volldampf_in_den_Zickzack kurs12.pdf Seufert, Günter, Die Türkei als Modell für die arabischen Staaten?, Bundeszentrale für politische Bildung v. 16.11.2011, http://www.bpb.de/internationales/afrika/arabischerfruehling /52427/die-rolle-der-tuerkei.