© 2017 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 - 156/16 Der Begriff der „Gefährdung“ des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Gesundheit nach der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention im Kontext von Abschiebungen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. 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Die Europäische Menschenrechtskonvention 5 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 156/16 Seite 4 Die Genfer Flüchtlingskonvention (1951, GFK)1 und die Europäische Menschenrechtskonvention (1950, EMRK)2 schützen Ausländer vor Abschiebung und Ausweisung, wenn im Aufnahmeland eine Gefährdung bestimmter Rechtsgüter droht. Dieser Sachstand geht auf den Begriff der „Gefährdung “ im Rahmen der genannten Konventionen ein. 1. Die Genfer Flüchtlingskonvention Die Genfer Flüchtlingskonvention schützt jeden Flüchtling vor Ausweisung in Staaten, in denen sein Leben und seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde (Art. 33 Abs. 1 GFK, sog. Prinzip des non-refoulement). Trotz unterschiedlicher Wortlaute meint Art. 33 GFK inhaltlich dieselbe Bedrohungslage, die in Art. 1 A Abs. 2 GFK („begründete Furcht vor Verfolgung“) beschrieben ist.3 Denn aus der Entstehungsgeschichte der Konvention geht hervor, dass der Begriff „Bedrohung von Leben und Freiheit“ in Art. 33 GFK weit – und somit als Verfolgung i.S.v. Art. 1 A Abs. 2 GKF – auszulegen ist.4 Eine Gefährdung des Lebens liegt damit nach Art. 33 Abs. 1 GKF vor, wenn der Betroffene ein aktuell bestehendes oder künftiges Risiko der Verfolgung im Abschiebestaat glaubhaft machen kann.5 Wie der Wortlaut des Art. 33 Abs. 1 GKF („bedroht sein würde“) nahelegt, muss ein objektiver Bezugspunkt für die Bedrohung existieren. Das bloße subjektive Empfinden des Betroffenen genügt nicht, da ein ungleicher Schutzstandard entstehen würde, wenn „ängstlichere“ Flüchtlinge besser behandelt würden als „weniger ängstliche“.6 Insofern werden sowohl die Aussagen des Betroffenen (soweit glaubhaft) als auch objektive Länderinformationen zur Beurteilung der Bedrohungslage herangezogen.7 Außerdem haben vergangene, nachgewiesene Verfolgungen oftmals Indizwirkung für aktuelle oder künftige Verfolgungen.8 Letztlich muss in der Gesamtschau verschiedener, möglichst belastbarer Quellen eine Bedrohung glaubhaft dargelegt sein. 1 Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (unterzeichnet am 28. Juli 1951, in Kraft getreten am 22. April 1954), BGBl. 1953, Teil II, S. 560. 2 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (unterzeichnet am 4. November 1950, in Kraft getreten am 3. September 1953), BGBl. 1954, Teil II, S. 14. 3 Kälin/Caroni/Kein, „Art. 33“, in Zimmermann (Hrsg.), The 1951 Convention relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol: A Commentary (2011), Rn. 156-163. 4 Ibid., Rn. 163. 5 Ibid., Rn. 165. 6 Ibid., Rn. 166. 7 Ibid.; siehe auch UNHCR, Handbook and Guidelines on Procedures and Criteria for Determining Refugee Status (2011), verfügbar unter: http://www.refworld.org/docid/4f33c8d92.html (zuletzt aufgerufen am 22. Dezember 2016), Rn. 38. 8 Kälin/Caroni/Heim (Fn. 3), Rn. 165. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 156/16 Seite 5 Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) hält die Furcht vor Verfolgung für begründet, wenn einen „vernünftiger Grad“ der Glaubhaftmachung („reasonable degree“) erreicht ist.9 Hierfür sei keine exakte Berechnung von Wahrscheinlichkeiten auf der Grundlage der Zahl bisher getöteter, verletzter oder verdrängter Personen erforderlich, sondern vielmehr eine Gesamtauswertung der vorhandenen quantitativen und qualitativen Informationen.10 Ferner schütze die GFK Betroffene, deren Leben im Zeitpunkt der Entscheidung bedroht ist, unabhängig davon, ob sie bereits in der Vergangenheit von Verfolgung bedroht waren.11 Der UNHCR hat in diesem Zusammenhang schließlich festgestellt, dass Flüchtlinge ihr Vorbringen auf Grund ihrer besonderen Situation oftmals nicht mittels Dokumenten oder sonstigen „handfesten“ Beweismitteln nachweisen könnten. Deshalb sollte ihnen nach Ansicht des UNHCR das Zweifelsprivileg zugestanden werden, wenn ihre Schilderung grundsätzlich glaubhaft erscheint .12 In der Staatenpraxis fällt die Beurteilung des Gefährdungsstandards unterschiedlich aus.13 Während etwa ein kanadisches Bundesgericht eine „deutliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung“ („clear probability of persecution“)14 verwendet, verlangte das Oberverwaltungsgericht Rheinland -Pfalz 2005 eine „beachtliche Wahrscheinlichkeit“ bzw. die Tatsache, dass eine Bedrohung „nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden“ kann.15 2. Die Europäische Menschenrechtskonvention Eine Gefährdung des Lebens und damit eine Verletzung des Art. 2 Abs. 1 Satz 1 EMRK (Recht auf Leben) liegt vor, wenn Menschen in Staaten abgeschoben werden, in denen es mit einer 9 UNHCR (Fn. 7), Rn. 42. 10 UNHCR, Guidelines on International Protection No. 12 (2016) verfügbar unter: http://www.unhcr.org/58359afe7 (zuletzt aufgerufen am 22. Dezember 2016), Rn. 21. 11 Ibid., Rn. 24. 12 UNHCR, Handbook on Procedures and Criteria for Determining Refugee Status under the 1951 Convention and the 1967 Protocol relating to the Status of Refugees (1992), HCR/IP/4/Eng/REV.1, verfügbar unter: http://www.unhcr.org/4d93528a9.pdf (zuletzt aufgerufen am 21. Dezember 2016), Rn. 196. 13 Kälin/Caroni/Heim (Fn. 3), Rn. 169-172. 14 R. v. Canadian Council for Refugees et al., (21. Mai 2008) Federal Court of Appeal, verfügbar unter: http://www.refworld.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain?docid=497f38fa2&page=search (zuletzt aufgerufen am 21. Dezember 2016). 15 OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss (24. Januar 2005), Az. 10 A 10001/05.OVG, verfügbar unter: http://www3.mjv.rlp.de/rechtspr/DisplayUrteil_neu.asp?rowguid=%7b3242F635-BB9C-4619-BE1F- AA141E724CD6%7d (zuletzt aufgerufen am 22. Dezember 2016). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 156/16 Seite 6 hohen Wahrscheinlichkeit zum Tod des Betroffenen kommt16 – unabhängig davon, ob dieser durch staatliche Behörden, private Dritte oder lebensbedrohliche Krankheiten verursacht wird.17 Damit wird die Verantwortlichkeit eines Konventionsstaates vorverlagert von der vollendeten Tötung auf die Lebensgefährdung. Im Übrigen liegt der Prüfungsschwerpunkt in Fällen der Abschiebung auf Art. 3 EMRK (Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung).18 Hiernach können Abschiebungen konventionswidrig sein, wenn stichhaltige Gründe dafür sprechen, dass der Betroffene im Empfangsstaat einem tatsächlichen Risiko von Misshandlungen ausgesetzt ist.19 Für die Beurteilung ist der Moment vor der Abschiebung relevant (sog. ex ante-Beurteilung). Diplomatische Zusicherungen und grundrechtsschützende nationale Vorschriften des Aufnahmestaates entbinden den Konventionsstaat nicht von seiner Verpflichtung, das Risiko einer Misshandlung selbst zu prüfen.20 In diesem Zusammenhang muss der Betroffene die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen, ernsthaften Gefahr schlüssig darlegen, indem er etwa möglichst objektive Dokumente vorlegt.21 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellt zwar hohe Anforderungen an die Darlegungen des Betroffenen, gewährt ihm aber gleichzeitig auf Grund seiner besonderen Situation das Zweifelsprivileg.22 Darüber hinaus gewährt Art. 3 EMRK keinen Abschiebeschutz, wenn zwar in einigen Teilen das Aufnahmestaates eine Gefahr von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung droht, jedoch in verlässlicher Weise garantiert ist, dass der Betroffene die Möglichkeit hat, in andere Landesteile auszuweichen, in denen keine solche Gefahr droht.23 Anders als Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG statuiert die EMRK kein Recht auf körperliche Unversehrtheit als solches. Auch die Gesundheit wird als solche nicht eigens geschützt. Vielmehr schützt die Konvention die körperliche Integrität des Individuums nur in bestimmten Zusammenhängen – vor allem durch das Verbot der Folter nach Art. 3 EMRK.24 In einigen Fällen hat der Europäische 16 EGMR, Al Nashiri/ Polen, Urteil (16. Februar 2015), Beschwerdenr. 28761/11, Rn. 458; Schübel-Pfister, „Art. 2“, in Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK: Kommentar (2015), Rn. 21. 17 Schübel-Pfister (Fn. 16); Nußberger, „Menschenrechtsschutz im Ausländerrecht“ (2013), NVwZ 1305 (1307). 18 Schübel-Pfister (Fn. 16). 19 Sinner, „Art. 3“, in Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK: Kommentar (2015), Rn. 24. 20 Ibid., Rn. 25. 21 EGMR, Soering/GB, Urteil (7. Juli 1989), Beschwerdenr. 14038/88, Rn. 91, 98; Sinner (Fn. 19), Rn. 25. 22 Nußberger, „Menschenrechtsschutz im Ausländerrecht“ (2013), NVwZ 1305 (1307). 23 EGMR, Hilal/GB, Urteil (6. Juni 2001), Beschwerdenr. 45276/99, Rn, 67-68 („reliable guarantee“); vgl. EGMR, Thampibillai/ Die Niederlande, Urteil (15. Mai 2004), Beschwerdenr. 61350/00, Rn. 67-68. Zimmermann, „Kapitel 27: Ausweisungsschutz“, in Grote/Marauhn, EMRK/GG: Konkordanzkommentar (2006), S. 1515, Rn. 64. 24 Spickhoff, Medizinrecht: Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (2014), Art. 2 EMRK, Rn. 7. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 156/16 Seite 7 Gerichtshof für Menschenrechte auch auf das Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 EMRK zurückgegriffen.25 Als Teil des Privatlebens wird die physische und psychische Unversehrtheit der Person geschützt. Hierbei sind die Konventionsstaaten verpflichtet, angemessene Vorschriften zum Schutz der physischen und psychischen Unversehrtheit zu schaffen.26 Wegen der umfänglichen Kasuistik des EGMR zur Integrität der Person kann keine generalisierende Aussage darüber getroffen werden, wann eine Abschiebung auf Grund einer Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit oder der Gesundheit einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK darstellt. In einem Fall hat der EGMR zumindest entschieden, dass die Auslieferung eines Schwerkranken in ein Land ohne Behandlungsmöglichkeiten ausnahmsweise gegen Art. 3 EMRK verstoßen kann.27 Der EGMR stützt sich bei der Beurteilung der Bedrohungslage auf allgemein zugängliche Quellen, insbesondere die Berichte des UNHCR, sowie die Einschätzungen der Außenministerien der Vertragsstaaten und unter Umständen auch von Drittstaaten.28 Wenn nötig, ermittelt der EGMR auch eigeninitiativ.29 *** 25 Ibid. 26 Pätzold, „Art. 8“, in Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK: Kommentar (2015), Rn. 65. 27 Sinner (Fn. 19), Rn. 26. EGMR, D./GB, Urteil (2. Mai 1997), Beschwerdenr. 30240/96, Rn. 50 ff. 28 Nußberger, „Menschenrechtsschutz im Ausländerrecht“ (2013), NVwZ 1305 (1307). 29 EGMR, Hilal/GB (Fn. 23), Rn. 60, m.w.N.; EGMR, Al Nashiri/ Polen (Fn. 16), Rn. 458.