© 2016 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Flucht, irreguläre Migration und Migration im Zusammenhang von Außen- und Entwicklungspolitik Sachstand Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Seite 2 Flucht, irreguläre Migration und Migration im Zusammenhang von Außen- und Entwicklungspolitik Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Abschluss der Arbeit: 12. November 2015 Fachbereiche: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe PE 6: Europa Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 4 2. Begriffsklärung 4 3. Aktuelle Situation 5 3.1. Zahl der irregulären Migranten in die EU 5 3.2. Herkunftsländer 7 4. Gründe für Flucht und Migration 8 4.1. Flucht und erzwungene irreguläre Migration 8 4.2. Irreguläre Migration aus anderen Gründen 9 4.3. Migration und Flucht als Aspekte der Globalisierung 10 5. Bekämpfung der Ursachen irregulärer Migration 11 5.1. Fluchtursachen bekämpfen und Elend in Flüchtlingslagern lindern 11 5.2. Entwicklungspolitik als langfristige Strategie zur Bekämpfung der Ursachen von Flucht und irregulärer Migration 12 5.2.1. Grundsätzliches 12 5.2.2. Kohärenz und Finanzierung der Entwicklungspolitik aus politischer Sicht 14 5.2.3. Reform der EU-Handelspolitik und Freihandel als möglicher Beitrag zur Entwicklung insbesondere afrikanischer Staaten ? 16 6. Juristische Grundlagen der europäischen Entwicklungspolitik 17 7. Entwicklungspolitik auf Ebene der Union 18 7.1. Standardinstrumente 18 7.2. Kurzfristige Maßnahmen 20 7.3. Gipfeltreffen zum Thema Migration in Valetta 21 7.4. Konnexität von finanzieller Unterstützung und Bekämpfung von Fluchtursachen 22 8. Verhältnis zwischen unionsrechtlicher und mitgliedstaatlicher Entwicklungspolitik 22 9. Verhältnis zwischen Entwicklungspolitik und GASP 24 9.1. Institutionelle Konflikte 24 9.2. Kohärenz der unterschiedlichen Maßnahmen 25 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Seite 4 1. Einführung Ziel dieses Sachstandes ist es, die Ursachen für Flucht und Migration aus (vornehmlich) Entwicklungsländern nach Europa und die Zusammenhänge mit der europäischen Außen- und Entwicklungspolitik dazulegen und zu klären. Angesichts der Tatsache, dass mehrere hunderttausend Menschen in jüngster Zeit versucht haben bzw. versuchen, in Europa Aufnahme zu finden und dabei sogar vielfach riskieren, ihr Leben verlieren, steht die Politik in Deutschland und in der EU vor der Aufgabe, Antworten auf diese Herausforderung zu finden. Hierbei soll dieser Sachstand durch Begriffsklärung und die Darlegung von – zum Teil oft unbeachteten – Zusammenhängen Ansatzpunkte liefern. In den Abschnitten 1 – 5 erfolgt die Erläuterung migrationswissenschaftlicher , ökonomischer und politischer Fragestellungen, in den Abschnitten 6 – 9 werden die juristischen Hintergründe insbesondere in Hinblick auf die Politik der Europäischen Union dargelegt. Die Abschnitte 6 – 9 wurden vom Referat PE 6 (Europa) verfasst. 2. Begriffsklärung Im Rahmen dieser Arbeit werden die Menschen, die ohne Visum und/oder nicht über einen regulären Grenzübergang in die EU zu gelangen versuchen, primär als „irreguläre Migranten“ bezeichnet . Irregulär bezieht sich allein auf die Tatsache, dass diese Menschen nicht über den regulären Weg, also über offizielle Grenzübergänge und mit einem vorab erteilten Visum (sofern dies aufgrund ihres Herkunftslandes für die EU erforderlich ist) einzureisen versuchen. Es wird damit keine Bewertung der Motive für die Einreise vorgenommen. Migration folgt der Definition des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und bedeutet daher nur, dass Menschen ihren Aufenthaltsort von einem Land in ein anderes verlagern. Binnenmigration wird hier – wie beim BAMF – ausgeklammert.1 Die Begriffe Flucht und Flüchtling werden vermieden, sofern sich ihre juristisch korrekte Verwendung nicht aus dem Sinnzusammenhang ergibt oder in einem Zitat vorkommt. Dies erfolgt deshalb, weil der Status Flüchtling auf die Menschen, um die es geht, nicht konsequent angewandt werden kann: nach der Genfer Flüchtlingskonvention sind Flüchtlinge nur Menschen, die aufgrund von „begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“ fliehen, und ihnen muss nach internationalem Recht Asyl gewährt werden.2 Nationale Gesetzgebungen haben aber zum Teil weiter gefasste Regelungen (so die Bundesrepublik bis 1993). Unabhängig von der (völker-)rechtlichen Situation kann die Praxis aber so aussehen, dass tatsächlich 1 Oliver Raczum und Jacob Spallek, Definition von Migration und von der Zielgruppe "Migranten", Kurzdossier für die Bundeszentrale Politische Bildung vom 1. April 2009, http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers /57302/definition (zuletzt abgerufen am 12. November 2015). 2 Vereinte Nationen, Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967, http://www.unhcr.de/fileadmin/user_upload/dokumente /03_profil_begriffe/genfer_fluechtlingskonvention/Genfer_Fluechtlingskonvention_und_New_Yorker_Protokoll .pdf (zuletzt abgerufen am 12. November 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Seite 5 gemäß Flüchtlingskonvention verfolgten Menschen kein Asyl gewährt wird, weil sie nach dem Recht des Staates, bei dem sie um Asyl ersuchten, kein Flüchtling sind. Diese komplizierte Situation wird noch durch die unterschiedliche Verwendung der Begriffe in den Medien und der Politik erschwert, sowie dadurch, dass es sich bei den Menschen, die in die EU zu gelangen versuchen, um keine homogene Gruppe handelt. „Irreguläre Migranten“ bezieht sich somit auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. 3. Aktuelle Situation Weltweit gelten aktuell3 59,5 Millionen Menschen als Asylsuchende oder (Binnen-)Flüchtlinge. 19,5 Millionen Menschen sind Flüchtlinge, 1,2 Millionen Menschen Asylsuchende und 38, 2 Millionen Binnenflüchtlinge.4 Die meisten Menschen, die sich gezwungen sahen, ihren Heimatort zu verlassen, verbleiben innerhalb des jeweiligen Staates.5 Die Zahl der Menschen, die nach Europa flüchten, ist im Vergleich gering. Im Libanon z.B. leben mehr als 1,2 Millionen syrische Flüchtlinge, was einem Bevölkerungsanteil von 25 Prozent entspricht.6 3.1. Zahl der irregulären Migranten in die EU Laut EU-Grenzschutzbehörde FRONTEX betrugen die Zahlen der aufgegriffenen Migranten auf den drei Seerouten (Westliches, Mittleres und Östliches Mittelmeer) sowie der Westbalkanroute7: WM MM ÖM WB Insgesamt im Jahre 2010 5.000 4.500 55.700 2.370 67.570 im Jahre 2011 8.450 64.300 57.000 4.670 134.420 im Jahre 2012 6.400 15.900 37.200 6.390 65.890 im Jahre 2013 6.800 40.000 24.800 19.950 91.550 3 Der Anstieg in den letzten Jahren wird vor allem auf den Krieg in Syrien zurückgeführt. 4 UNHCR, Global Trends 2014, S. 2, http://unhcr.org/556725e69.html (zuletzt abgerufen am 12. November 2015). 5 Europäische Kommission – Humanitäre Hilfe und Zivilschutz, Refugees and Internally Displaced Persons, ECHO Factsheet 2014, http://ec.europa.eu/echo/files/aid/countries/factsheets/thematic/refugees_en.pdf (zuletzt abgerufen am 12. November 2015). 6 Deutschlandfunk, Jordanien und Libanon appellieren an Staatengemeinschaft, 27. September 2015, http://www.deutschlandfunk.de/syrien-fluechtlinge-jordanien-und-libanon-appellierenan .447.de.html?drn:news_id=529127 (zuletzt abgerufen am 12. November 2015). 7 Die Westbalkanroute beinhaltet häufig eine Reise auf der Route über das östliche Mittelmeer. Beide Routen zusammen bilden derzeit (November 2015) den Weg, der von den weitaus meisten irregulären Migranten genommen wird. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Seite 6 im Jahre 2014 7.840 170.760 50.830 43.360 227.043 bis August 2015 7.892 106.341 228.962 155.120 498.3158 Teilweise sprunghafte Anstiege bei der Zahl der irregulären Migranten in verschiedenen Jahren lassen sich Ereignissen wie dem Ausbruch des Krieges in Syrien oder dem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung in Libyen unter anderem als Folge der internationalen Intervention zuordnen .9 Die Zahlen von FRONTEX spiegeln aber nicht das wahre Ausmaß der Verhältnisse wider, weil ein großer Teil der nach Europa kommenden Menschen eben nicht von der EU-Grenzschutzbehörde aufgegriffen wird. Seit etwa August 2015 hat sich die Dynamik insbesondere auf der Westbalkanroute sowie der Route über das östliche Mittelmeer deutlich verstärkt. Zahlreiche Menschen versuchen, über die EU-Länder Ungarn, Kroatien und Slowenien nach Österreich und von dort zum Teil weiter nach Deutschland und von dort wiederum zum Teil weiter nach Schweden zu gelangen. Ein sehr großer Anteil dieser Menschen gibt als Herkunftsland Syrien an. Schätzungen von FRONTEX gehen von etwa 710.000 Menschen aus, die von Januar bis September 2015 versucht haben, in die EU zu gelangen, um dort z.B. einen Antrag auf Asyl zu stellen.10 Alleine im September 2015 kamen nach Angaben des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer 170.000 Menschen in Bayern an, dies wären mehr als im ganzen Jahr 2014.11 Bereits im August 2015 waren 105.000 Menschen nach Deutschland gekommen, um dort Asyl zu beantragen oder z.B. weiter nach Schweden zu reisen.12 Der überwiegende Teil der Migranten in die EU reist mit Visum bzw. ausreichenden Reisedokumenten per Flugzeug ein und bleibt dann unter Bruch der Visumsregelung in der EU, erst dann 8 FRONTEX, Migratory Routes Map, 2015, http://frontex.europa.eu/trends-and-routes/migratory-routes-map/ /zuletzt abgerufen am 12. November 2015). 9 FRONTEX (Anm.8). 10 FRONTEX, 710 000 Migrants entered EU in first nine months of 2015, 13. Oktober 2015, http://frontex.europa .eu/news/710-000-migrants-entered-eu-in-first-nine-months-of-2015-NUiBkk (zuletzt abgerufen am 12. November 2015). 11 Frankfurter Neue Presse, Flüchtlingsrekord im September: 170 000 allein in Bayern, 29. September 2015, http://www.fnp.de/nachrichten/politik/tagesthema/Fluechtlingsrekord-im-September-170-000-allein-in-Bayern ;art113,1617170 (zuletzt abgerufen am 12. November 2015). 12 Frankfurter Allgemeine Zeitung, Täglich kommen bis zu 10.000 Flüchtlinge, 29. September 2015, http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/rekordzahlen-im-september-taeglich-kommen-bis-zu-10- 000-fluechtlinge-13829653.html (zuletzt abgerufen am 12. November 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Seite 7 werden sie zu irregulären Migranten.13 Die jüngsten Schätzungen zur Zahl dieser Menschen in den 27 EU-Staaten stammen aus dem Jahre 2009 und reichen von 1,9 Mio. bis 3, 8 Mio.14 3.2. Herkunftsländer15 Die Herkunftsländer, aus denen die meisten irregulären Migranten kommen, ändern sich von Jahr zu Jahr. Bis November 2015 gibt FRONTEX für die vier wichtigsten Routen jeweils die drei Hauptherkunftsländer wie folgt an: Westliches Mittelmeer: Syrien, Guinea, Algerien Zentrales Mittelmeer: Eritrea, Nigeria, subsaharisches Afrika16 Östliches Mittelmeer: Syrien, Afghanistan, Irak Westbalkan: Syrien, Afghanistan, Kosovo Insgesamt (unter Hinzunahme der Migranten, die die EU über den Landweg erreichen) bildeten in den letzten zwei Jahren Syrer17, Afghanen, Eritreer, Malier und Somalier die fünf größten Gruppen. Die Zahl der aus Syrien stammenden Menschen, die über das Mittelmeer in die EU zu gelangen versuchen, ist seit Mitte 2013 deutlich angestiegen, d.h. seitdem die EU die Grenzen in Bulgarien zur Türkei sowie die zu den Nicht-EU-Staaten des Balkan strenger bewacht. Vorher war ein großer Teil der vor dem Bürgerkrieg fliehenden Syrer über den Landweg in die EU gekommen. Auch andere, zum Teil temporäre, Anstiege bei den Migrantenzahlen lassen sich in Verbindung mit bestimmten Ereignissen bringen: so gab es z.B. nach der israelischen Militäraktion in Gaza im Sommer 2014 einen deutlichen Anstieg palästinensischer Migranten. Die meisten Überfahrten werden im Frühling und Sommer gewagt.18 13 FRONTEX (Anm.8). 14 Europäische Komission, CLANDESTINO Research Project, Size and Development of Irregular Migration to the EU, Oktober 2009, http://irregular-migration.net/fileadmin/irregular-migration/dateien/4.Background_Information /4.2.Policy_Briefs_EN/ComparativePolicyBrief_SizeOfIrregularMigration_Clandestino_Nov09_2.pdf (zuletzt abgerufen am 12. November 2015). 15 FRONTEX (Anm. 8) sowie unter Berufung auf die FRONTEX-Zahlen, DIE ZEIT Online, Wer steigt in die Flüchtlingsboote ?, DIE ZEIT Online vom 22. April 2015, http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-04/fluechtlingemittelmeer -herkunftslaender (zuletzt abgerufen am 12. November 2015). 16 FRONTEX liefert hierzu keine weiteren Angaben, sondern gibt die genaue Herkunft nur als „unspezifiziert“ an. 17 Die derzeit mit Abstand größte Gruppe. Von Januar bis August 2015 wurden auf allen Routen zusammen 211.431 Syrer von FRONTEX aufgegriffen, dies sind mehr als die Hälfte aller aufgegriffenen Menschen. 18 FRONTEX (Anm.8). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Seite 8 Die Internationale Organisation für Migration (IOM) schätzt, dass von Januar bis August 2015 mindestens 350.000 Menschen irregulär in die EU migrierten, wobei diese Zahl nicht jene beinhaltet, deren Grenzübertritt gar nicht registriert wurde.19 Deren Anzahl dürfte deutlich höher sein: Das Bundesministerium des Innern geht davon aus, dass „in diesem Jahr bis zu 800.000 Asylbewerber bzw. Flüchtlinge nach Deutschland kommen werden.“20 4. Gründe für Flucht und Migration Zwar lassen sich aus oben erklärten Gründen kaum definitiven Aussagen über die sehr heterogene Gruppe der irregulären Migranten machen, aber die Ursachen von Migration und Flucht lassen sich prinzipiell identifizieren. Es muss hierbei eindeutig zwischen Flucht und Migration unterschieden werden. Diese Differenzierung , die aufgrund klarer Regelungen des nationalen und des Völkerrechtes getroffen werden kann - in der medialen und politischen Debatte aber häufig nicht vorgenommen wird - ist grundlegend für die folgenden Ausführungen. 4.1. Flucht und erzwungene irreguläre Migration Der Krieg und die religiöse Verfolgung in Syrien, die Militärdiktatur in Eritrea und die politische Situation in Afghanistan beispielsweise sind klare, völkerrechtlich anerkannte Gründe für eine Flucht, was sich auch in den entsprechenden Anerkennungsquoten von Asylanträgen von Bürgern dieser Länder in Deutschland und anderen europäischen Ländern niederschlägt. So wird den Asylanträgen von Syrern und Eritreern z.B. zu fast 100 Prozent stattgegeben, diese Menschen sind also sowohl völkerrechtlich als auch nach deutschem Recht anerkannte Flüchtlinge . Die jüngsten gesicherten Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zur Schutzquote stammen aus dem Jahre 2014: demnach wurden (nach Abzug der formell erledigten Fälle21) in diesem Jahr 48,5 aller Asylanträge positiv beschieden.22 19 BBC, Why is EU struggling with migrants and asylum?, 21. September 2015, http://www.bbc.com/news/worldeurope -24583286 (zuletzt abgerufen am 12. November 2015). 20 Bundesministerium des Innern, Zahl der Asylbewerber erreicht neues Allzeithoch, Mitteilung vom 19. August 2015, http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/2015/08/neue-asylprognose-vorgelegt.html (zuletzt abgerufen am 12. November 2015). 21 Dies sind z.B. Fälle, bei denen nach Prüfung eines Antrages auf Zuständigkeit eines anderen EU-Staates aufgrund der Dublin-Regelungen erkannt wird. 22 ProAsyl, Zahlen und Fakten 2014, 2014, http://www.proasyl.de/de/themen/zahlen-und-fakten/ (zuletzt abgerufen am 12. November 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Seite 9 Primäre Zielländer innerhalb der EU sind Schweden, Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich und Großbritannien.23 Die Gründe für die Wahl des Ziellandes sind verschieden. Zum einen wird mit diesen Ländern Sicherheit, Wohlstand und Rechtsstaat verbunden, zum anderen kann der Grund darin liegen, dass dort bereits Familienmitglieder leben. Auch die vergleichsweise 24 deutlich höheren Standards der zu erwartenden Hilfeleistung können eine Rolle spielen. Die Höhe der Hilfen ist für die Mehrheit der Migranten aber höchstens ein Faktor bei der Wahl des Ziellandes und für die wenigsten ausschlaggebend.25 So sind z.B. auch die sehr unterschiedlichen Schutzquoten innerhalb der EU ein Grund, ein Land einem anderen vorzuziehen.26 Nicht zuletzt dürften entsprechende politische Signale aus der Bundesrepublik ab August 2015 zu einer häufigeren Entscheidung für Deutschland als Zielland gespielt haben. 4.2. Irreguläre Migration aus anderen Gründen Menschen, die aufgrund von Armut bzw. mit der Hoffnung auf Arbeit oder ein höheres Einkommen irregulär nach Europa migrieren, sind gemäß Genfer Flüchtlingskonvention keine Flüchtlinge und haben auch nach deutschem Recht kein Recht auf Aufnahme bzw. Asyl. Ungeachtet der individuellen Motive und der politisch vorgenommenen Bewertung ihrer Migration handelt es sich bei diesen Menschen um Migranten, aber nicht um Flüchtlinge. Entsprechend sind z.B. die Anerkennungsquoten für Asylbewerber aus den Nicht-EU-Balkanstaaten (Serbien, Kosovo, Mazedonien) sehr niedrig – den Anträgen serbischer Staatsangehöriger wird nur zu 0,2 Prozent stattgegeben.27 Über die Beweggründe der Gruppe der „Nicht-Flüchtlinge“ unter den irregulären Migranten gibt es keine wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse, was auch an der Heterogenität dieser Gruppe liegt. Schon die Herkunftsländer unterscheiden sich deutlich. 23 Süddeutsche Zeitung, Welche EU-Länder die meisten Asylbewerber aufnehmen, 17. Juni 2015, http://www.sueddeutsche .de/politik/fluechtlingspolitik-in-europa-welche-eu-laender-die-meisten-asylbewerber-aufnehmen- 1.2523410 (zuletzt abgerufen am 12. November 2015). 24 In Griechenland ist die Situation von Flüchtlingen z.B. so schlecht, dass dorthin keine Rückführungen aufgrund des Dublin-Abkommens mehr vorgenommen werden. 25 Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Warum Deutschland?, S. 6, 2013, http://www.bamf.de/Shared- Docs/Anlagen/DE/Publikationen/Forschungsberichte/fb19-warum-deutschland.pdf?__blob=publicationFile sowie Interview mit Günther Burkhardt, Flüchtlingsversorgung - "Ich finde, die Diskussion hat etwas Unanständiges “, Deutschlandfunk am 17. August 2015, http://www.deutschlandfunk.de/fluechtlingsversorgung-ich-findedie -diskussion-hat-etwas.694.de.html?dram:article_id=328521 (zuletzt abgerufen am 12. November 2015). 26 Während in vielen EU-Ländern die Schutzquote bei Syrern bei fast 100 Prozent liegt, ist sie z.B. in Rumänien oder Großbritannien sehr viel niedriger. Die Welt, In den Untiefen der europäischen Schutzlotterie, 22. September 2015, http://www.welt.de/politik/deutschland/article146679134/In-den-Untiefen-der-europaeischen- Schutzlotterie.html (zuletzt abgerufen am 10. November 2015). 27 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Das deutsche Asylverfahren - ausführlich erklärt, S. 39, Schutzquoten 2013, November 2014, abrufbar unter http://www.sachsen.de/assets/Das_deutsche_Asylverfahren _ausfuehrlich_erklaert_Broschuere_BAMF(1).pdf (zuletzt abgerufen am 11. November 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Seite 10 Dennoch ist es zumindest naheliegend, primär wirtschaftliche Motive zu vermuten. Armut ohne Perspektive auf Verbesserung ist schon historisch die größte Triebfeder für Migrationsbewegungen gewesen. Die großen Auswanderungswellen von Europäern im 19. Jahrhundert, z.B. von Iren, Italienern und Deutschen in die USA, wurden nicht in erster Linie durch politische oder religiöse Verfolgung ausgelöst, sondern durch die Hoffnung auf bessere Überlebenschancen als in der Heimat (dies traf besonders auf die wegen der Großen Hungersnot von 1845 – 1852 auswandernden Iren zu) und auf bessere wirtschaftliche Chancen (was auf große Teile der deutschen Auswanderer ab ca. 1860 zutraf). Selbst innerhalb von Staaten lässt sich beobachten, dass Menschen dazu bereit sind, der wirtschaftlichen Aussichten wegen ihren Wohnort zu wechseln: so verließen seit 1990 z.B. 1,2 Millionen Menschen Ostdeutschland, um in den westdeutschen Bundesländern zu leben.28 Migration aus wirtschaftlichen Gründen ist also ein normales, aus rein wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive auch erwartbares und sinnvolles menschliches Verhalten. Es wird in anderen Kontexten auch als Merkmal von Leistungsbereitschaft („Mobilität und Flexibilität des Arbeitnehmers“) verstanden. Dies leitet über zu einer grundsätzlichen Betrachtung der Verknüpfung von Globalisierung und Migration. 4.3. Migration und Flucht als Aspekte der Globalisierung Grundsätzlich ist Migration kein rezentes Phänomen. Historische Migrationsbewegungen sind gut belegt und finden sich weltweit. Die Zusammenhänge von Globalisierung und internationaler Migration werden in der Wissenschaft seit geraumer Zeit diskutiert und erforscht. Globalisierung wird in der Regel als die zunehmende , grenzüberschreitende Verknüpfung von Waren- und Kapitalströmen sowie eine zunehmende Internationalisierung von Dienstleistungen beschrieben. Es liegt daher nahe, auch die zunehmende Migration von Menschen in den Kontext der Globalisierung zu stellen. Sie ist ebenfalls historisch gut belegt: zwischen 1870 und 1914, in einem Zeitraum, den die Weltbank in einer Studie von 2002 als „Erste Welle der Globalisierung“ bezeichnet29, migrierten 60 Millionen Menschen von Europa nach Nordamerika und Australien, und geschätzt ebenso viele aus den dichtbesiedelten Teilen Chinas und Indiens in unterschiedliche Weltteile, insbesondere nach Südostasien und Afrika.30 Die Globalisierung selbst ist keiner der klassischen Push- oder Pull- Faktoren von Migration, aber sie fügt dem Ganzen ein Set von Faktoren hinzu, nämlich die Netzwerk -Faktoren, welche die Migration vereinfachen. Diese beinhalten freien Informationsfluss, 28 Die Zeit, Abwanderung aus Ostdeutschland fast gestoppt, 25. September 2015, http://www.zeit.de/wirtschaft /2015-09/umzug-ostdeutschland-westdeutschland-abwanderung-ausgeglichen (zuletzt abgerufen am 12. November 2015). 29 Viele andere Quellen würden hingegen die erste Globalisierung deutlich früher, nämlich ins 17. Jahrhundert, verlegen. Zu dieser Zeit blühte der internationale Handel auf, parallel entwickelten sich internationale Finanzarchitekturen . Selbst negative Globalisierungseffekte – z.B. der Konkurs europäischer Handelsunternehmen aufgrund von Ereignissen wie Missernten in weit entfernten Weltregionen – lassen sich in dieser Zeit beobachten. 30 World Bank, Globalization, Growth, and Poverty, S. 24 ff., World Bank Research Report, Januar 2002, http://www-wds.worldbank.org/external/default/WDSContent- Server/WDSP/IB/2002/02/16/000094946_0202020411335/Rendered/PDF/multi0page.pdf (zuletzt abgerufen am 12. November 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Seite 11 verbesserte weltweite Kommunikation, schnellere und günstigere Reisen, die Möglichkeit, als Privatperson unkomplizierter auch kleinere Geldbeträge zu überweisen.31 Innerhalb des EU-Binnenmarktes ist dieser Konnex auch rechtlich und politisch Konsens – wenn Waren, Kapital und Dienstleistungen innerhalb der EU ohne Grenzen, Zölle und andere Barrieren fließen, ist es folgerichtig, dass dies auch für Arbeitnehmer und Arbeitgeber gelten soll. Im globalen Maßstab wird dieser Logik aber kaum gefolgt: während die meisten Staaten in den letzten Jahrzehnten Handelshemmnisse abgebaut haben und die internationalen Kapitalströme liberalisierten, widersetzen sie sich einer ähnlichen Liberalisierung von internationaler Migration.32 An dieser, schon 2002 von der Weltbank getroffenen Feststellung33 hat sich bis heute kaum etwas geändert, wenn man von bestimmten Freihandelszonen wie der EU absieht. Hier ist allerdings wieder eine Differenzierung zwischen Migration und Flucht notwendig. Die meisten Flüchtlinge weltweit flüchten, wie bereits festgestellt, entweder innerhalb ihres Heimatlandes oder in einen Nachbarstaat. Die Flucht über mehrere Grenzen hinweg ist eine Möglichkeit , die eben gerade nicht den Ärmsten der Armen offensteht, sondern denen, die über entsprechende Mittel verfügen. Dasselbe gilt für –reguläre sowie irreguläre- Migration, und zwar in noch höherem Maße. Tatsächlich ist die Zahl der Menschen aus Industriestaaten, die in Ländern des globalen Südens leben, geringfügig höher als umgekehrt (82,3 Millionen im Gegensatz zu 81,9 Millionen).34 5. Bekämpfung der Ursachen irregulärer Migration Die folgenden Abschnitte dieses Sachstandes widmen sich in erster Linie den verschiedenen Möglichkeiten, die Ursachen für Flucht und irreguläre Migration zu bekämpfen, sowie den hierbei möglichen Problemen. 5.1. Fluchtursachen bekämpfen und Elend in Flüchtlingslagern lindern Im Falle von Flucht vor Krieg und Verfolgung ist grundsätzlich klar, dass Frieden, Rechtstaat und Achtung der Menschenrechte in den Herkunftsländern die besten Chancen dafür bieten, dass Menschen sich nicht gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen. 31 The Levin Institute, State University of New York, Migration and Globalization, S. 2, http://www.globalization 101.org/uploads/File/Migration/migration.pdf (zuletzt abgerufen am 12. November 2015). 32 Das gleiche gilt für arbeits- und sozialrechtliche Standards. 33 World Bank, S. 76 ff., (Anm. 30). 34 Manuel Manrique Gil, The role migration plays in spurring development should be more widely recognized, Forschungsdienst des Europäischen Parlamentes, 26. August 2015, https://europa.eu/eyd2015/en/eu-europeanparliament /posts/role-migration-plays-spurring-development-should-be-more-widely (zuletzt abgerufen am 29. Oktober 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Seite 12 Da diese Ziele von außen oft nur schwer zu erreichen und die zugrundeliegenden Konflikte zu vielfältig sind, kann hier kein allgemein gültiges „Rezept“ gegeben werden. Allerdings ist es möglich, die Situation von Flüchtlingen generell zu verbessern, so dass sie sich z.B. nicht gezwungen sehen, „weiter als nötig“ zu flüchten. Die meisten Flüchtlinge weltweit beabsichtigen keineswegs, in Europa oder anderen wohlhabenden Regionen Schutz zu suchen. Wie oben erwähnt, befinden sich die derzeit weitaus meisten syrischen Flüchtlinge nicht in Europa, sondern in Flüchtlingslagern im Libanon, Jordanien und der Türkei. Die Situation in diesen Lagern ist jedoch so unbefriedigend und insbesondere durch Unterfinanzierung der Trägerorganisationen so prekär, dass sich viele der in den Lagern wohnenden Menschen zur Weiterreise nach Europa entscheiden, wenn sie nicht gar zurück nach Syrien gehen.35 Hier können die Geberländer, deren Beiträge das VN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) oder das VN-Welternährungsprogramm (WFP) finanzieren, schnell und mit verhältnismäßig hohen Erfolgsaussichten Abhilfe schaffen. Entsprechend haben sich unter anderem die G7-Staaten sowie weitere Industrieländer dazu bereiterklärt, 1,3 Milliarden Dollar (Anteil Deutschlands: 100 Millionen Dollar) für die Flüchtlingshilfe der VN zur Verfügung zu stellen.36 Alleine dem WFP fehlten bislang 237 Millionen Dollar.37 Die EU hat 1 Milliarde versprochen, doch ist die Finanzierung hiervon auch mehrere Wochen nach Abgabe dieses Versprechens zu über 50 Prozent ungeklärt.38 5.2. Entwicklungspolitik als langfristige Strategie zur Bekämpfung der Ursachen von Flucht und irregulärer Migration 5.2.1. Grundsätzliches Entwicklungspolitik verfolgt grundsätzlich das Ziel einer nachhaltigen Reduzierung von Armut, Elend und Konflikten sowie der Erhöhung des Wohlstandes und den Aufbau tragfähiger, leistungsfähiger staatlicher und wirtschaftlicher Strukturen. Damit zielt sie direkt auf die Reduzierung möglicher Ursachen für Flucht und Migration ab. 35 Alexandra Endres, „Ich sterbe lieber schnell in Syrien, als hier zu verhungern", Interview mit Rasmus Egendal, stellvertretender Direktor des Welternährungsprogramms der VN (WFP), Die Zeit am 30. September 2015, http://www.zeit.de/wirtschaft/2015-09/fluechtlinge-syrien-wfp-rasmus-egendal-nachbarlaender (zuletzt abgerufen am 29. Oktober 2015). Die Lager für syrische Kriegsflüchtlinge im Nahen Osten sind derzeit so unterfinanziert , dass die Nahrung rationiert werden muss und 360.000 Menschen gar keine Lebensmittelkarten mehr erhalten . 36 Die Welt, G7-Staaten stocken Flüchtlingshilfe auf, 30. September 2015, http://www.welt.de/newsticker /dpa_nt/infoline_nt/brennpunkte_nt/article147029170/G7-Staaten-stocken-Fluechtlingshilfe-auf.html (zuletzt abgerufen am 11. November2015). 37 Endres, aaO. 38 Alexandra Endres, Der Hunger bleibt, Zeit am 21. Oktober 2015, http://www.zeit.de/wirtschaft/2015-10/un-gipfel -fluechtlingshilfe-new-york (zuletzt abgerufen am 11. November 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Seite 13 Inwieweit Entwicklungspolitik ihre Ziele tatsächlich erreichen kann, ist eine Frage, die seit jeher Gegenstand schwieriger Debatten ist und die bis heute nicht eindeutig beantwortet werden kann. Zu komplex sind die Zusammenhänge und zu unterschiedlich die einzelnen Herausforderungen vor Ort, um hier klare Antworten zu finden. Dass positive Entwicklungen aber durchaus möglich sind, zeigen z.B. die Erfolge bei der Erreichung der Millennium-Entwicklungsziele (Millennium Development Goals, MDG) der VN. Tatsächlich ist es in vielen Entwicklungsstaaten gelungen, allen oder einigen dieser Ziele sehr nahe zu kommen: so wurde die Zahl der Menschen, die hungern , erfolgreich reduziert, der Zugang zu Wasser verbessert, die Kinder- und Müttersterblichkeit verringert, die Zahl der Kinder, die zur Schule gehen, gesteigert.39 Prinzipiell kann Entwicklungspolitik also nicht als wirkungslos bezeichnet werden, und somit bietet sie sich auch als Mittel zur nachhaltigen Bekämpfung der Ursachen von Flucht an. Hierbei darf aber nicht vergessen werden, dass Flucht ihre Ursache sehr häufig in Konflikten hat. Zwar kann Entwicklungspolitik auch Friedenspolitik sein, Außen- und Sicherheitspolitik spielen hier aber ebenfalls eine gewichtige und unter Umständen deutlich schwerwiegendere Rolle. An den Beispielen Libyen und Syrien zeigt sich, dass relativ gut entwickelte Länder, denen es in vieler Hinsicht deutlich besser ging als z.B. einigen Staaten des subsaharischen Afrika, dennoch durch einen Bürgerkrieg zu Hauptherkunftsländern von Flüchtlingen und Migranten werden können. Dasselbe ließ sich auch in den 1990er Jahren beim ehemaligen Jugoslawien beobachten. Ein hoher Entwicklungsstand alleine ist kein Garant für anhaltenden Frieden. Dies begrenzt folgerichtig auch das Potenzial von Entwicklungspolitik, Fluchtursachen dauerhaft zu bekämpfen. Überdies gibt es deutliche Anzeichen dafür, dass eine positive Entwicklung Migration zunächst fördert.40 Wie schon angemerkt, ist Migration mitnichten ein Phänomen, das sich auf die Ärmsten der Armen beschränkt. Im Gegenteil: sie ist eine Möglichkeit, die eher den relativ gebildeteren, relativ einkommensstärkeren Menschen eines Landes offensteht, d.h. denjenigen, die die in Abschnitt 4.3 beschriebenen Netzwerkfaktoren der Globalisierung zu nutzen verstehen. Dies wiederum kann ein Problem für die Herkunftsländer werden – der sogenannte brain drain, d.h. die Abwanderung gerade jener Menschen, deren Fähigkeiten der Entwicklung ihres Landes förderlich wären. Dieses Problem wird allerdings oft überzeichnet. Ein Beispiel: Tatsächlich ist theoretisch die Abwanderung einer Ärztin, also einer gutqualifizierten Fachkraft (deren Studium eventuell noch aus staatlichen Mitteln finanziert wurde) aus volkswirtschaftlicher Sicht für ihr Heimatland ein Problem. Wenn diese Ärztin aber in ihrem Herkunftsland gar keine ihrer Qualifikation entsprechende Stelle innehatte, relativiert sich der volkswirtschaftliche Schaden durch ihre Auswanderung wieder. Gerade in Entwicklungsländern sind Situationen, in denen Menschen mangels Arbeitsplätzen ihre erworbenen Fähigkeiten gar nicht anwenden können, recht häufig. Die Empirie deutet stark darauf hin, dass die sogenannte mobility transition theory stichhaltig ist. Ihr zufolge steigt die Emigration eines Landes mit steigender Entwicklung zunächst an, bis das 39 Achilleas Galatsidas und Finbarr Sheehy, What have the millennium development goals achieved?, The Guardian vom 6. Juli 2015, http://www.theguardian.com/global-development/datablog/2015/jul/06/what-millenniumdevelopment -goals-achieved-mdgs (zuletzt abgerufen am 12. November 2015). 40 Manrique Gil (Anm. 34). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Seite 14 Land den Status eines upper middle income country (etwa USD 7.000 - 8.000 per capita) erreicht. Ab diesem Zeitpunkt sinkt die Zahl der Emigranten wieder.41 Umgekehrt kann Migration wiederum förderlich für die Entwicklung sein: so betrug etwa die Höhe der Überweisungen (engl.: remittances) von Migranten in ihre Herkunftsländer im Jahre 2014 435 Milliarden USD – das ist deutlich mehr als sämtliche Entwicklungshilfe.42 Dabei handelt es sich um Geld, dass dort direkt an Familien geht, also anders als viele staatliche Entwicklungshilfen nicht von z.B. korrupten Eliten abgeschöpft oder in ineffizienter Weise verschwendet wird, bevor es der Bevölkerung zu Gute kommt.43 Die remittances sind so wichtig, dass die beim EU-Afrika-Gipfel in Valletta (11. – 12.November 2015) erhobene Forderung der Europäer, afrikanische Staaten mögen sich stärker darum bemühen, Migration von Afrikanern zu verhindern, von afrikanischer Seite öffentlich mit Skepsis bedacht wurden.44 Nebenbei: Legt man das Konzept des human development zugrunde, so wird die alleinige Fokussierung auf die volkswirtschaftliche Betrachtung der Entwicklungspolitik ohnehin Makulatur. Diesem Ansatz zufolge kommt es weniger auf die Entwicklung von Staaten, als vielmehr auf die des Individuums an.45 Ein Mensch, der seine Heimat verlässt, weil er in einem anderen Land seine Fähigkeit freier entfalten und gewinnbringender einsetzen kann, entwickelt sich selbst und erzielt für sich einen individuellen Vorteil. 5.2.2. Kohärenz und Finanzierung der Entwicklungspolitik aus politischer Sicht Die Bundesregierung verfolgt die Absicht, die Entwicklungspolitik Deutschlands kohärenter zu gestalten, d.h., sie mit der Politik der anderen Ressorts besser abzustimmen.46 Ziel ist, die Entwicklungszusammenarbeit zu stärken, indem sie nicht z.B. durch die Außen- und Außenhandelspolitik der Bundesrepublik konterkariert wird. Dies könnte z.B. der Fall sein, wenn durch die Lieferung deutscher Rüstungsgüter in ein Entwicklungsland dort ein Machtgleichgewicht gestört 41 Manrique Gil (Anm. 34). 42 Manrique Gil (Anm. 34). 43 Wobei selbstverständlich eine effiziente Verwendung der Gelder durch den Empfänger auch hier nicht zwingend gegeben ist. Dennoch ist unbestritten, dass der Transfer dieser Mittel für einige Entwicklungsländer ein sehr bedeutender volkswirtschaftlicher Faktor darstellt. So machen die remittances zehn Prozent des BIP der Philippinen, 26 Prozent des BIP von Moldawien und sogar 41 Prozent des BIP von Tadschikistan aus (Weltbank , Personal remittances, received (% of GDP), http://data.worldbank.org/indicator/BX.TRF.PWKR.DT.GD.ZS (zuletzt abgerufen am 10. November 2015). 44 Daniel Brössler und Thomas Kirchner, 1,8 Milliarden Euro für weniger Flüchtlinge, SZ am 12. November 2015, http://www.sueddeutsche.de/politik/eu-afrika-gipfel-milliarden-euro-fuer-weniger-fluechtlinge-1.2732439 (zuletzt abgerufen am 12. November 2015). 45 United Nations Development Programme, Human Development Reports – What is Human Development?, 2015, http://hdr.undp.org/en/content/what-human-development (zuletzt abgerufen am 12. November 2015). 46 Die Informationen dieses Abschnittes entstammen Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), Politikkohärenz: Bessere Abstimmung für nachhaltige Entwicklung, 2015, https://www.bmz.de/de/was_wir_machen/ziele/politikkohaerenz/index.html (zuletzt abgerufen am 12. November 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Seite 15 wird, was wiederum die Anstrengungen deutscher Entwicklungspolitik zunichtemachte. Bei jedem Handeln mit Außenwirkung (auf Entwicklungsländer) soll die Perspektive der Entwicklungsförderung miteinbezogen werden. Die Verpflichtung zur Politikkohärenz geht dabei auf entsprechende Beschlüsse von EU und OECD zurück. Im Vertrag von Lissabon ist das Kohärenzgebot im Interesse der Entwicklung im festgelegt: „Bei der Durchführung politischer Maßnahmen, die sich auf die Entwicklungsländer auswirken können, trägt die Union den Zielen der Entwicklungszusammenarbeit Rechnung." Das gilt vor allem für die europäische Politik in den Bereichen Handel, Finanzen, Sicherheit, Klima, Migration und Ernährungssicherung.47 Das europäische Parlament hat 2011 einen ständigen Berichterstatter für Politikkohärenz für Entwicklung (PCD) ernannt.48 Seit 2007 legt die EU-Kommission alle zwei Jahre einen PCD-Bericht vor, mit dem die Fortschritte dokumentiert werden. Auch die Mitgliedsstaaten müssen in ihren zweijährigen EU-Rechenschaftsberichten entsprechende Auskünfte erteilen. Allerdings gibt es bislang keine international festgelegten Methoden, Standards oder Indikatoren, um die Wirksamkeit von PCD einheitlich zu messen und zu beurteilen.49 Inwieweit die Verpflichtungen von EU und OECD auch eine internationale Kohärenz nationaler Politiken, also des Handels einzelner Staaten, beinhaltet, geht aus den entsprechenden Beschlüssen nicht eindeutig hervor. Näheres zu den juristischen und institutionellen Hintergründen der europäischen Entwicklungspolitik und ihres Verhältnisses zu der Entwicklungspolitik der Mitgliedsstaaten siehe Abschnitt 8 und 9. Inwieweit eine solche allein von der EU (oder OECD) verwaltete und gesteuerte Entwicklungspolitik dieselbe effizienter und effektiver machen könnte, kann hier nicht beantwortet werden. Auch dies ist nicht zuletzt eine politische Frage. Auf rein praktischer Ebene ist sie ebenso schwer beantwortbar: Schon ex post ist die Evaluierung von Entwicklungsmaßnahmen nicht einfach und oft uneindeutig. Ex-ante-Aussagen über die Effektivität potentieller, supranational gesteuerter oder auch international koordinierter Entwicklungspolitik Europas wären schnell spekulativ. Ähnlich ist es mit Aussagen zur Finanzierung von Entwicklungszusammenarbeit. Selbstverständlich ist eine solide Finanzierung für politische Projekte aller Art unabdingbar. Letzten Endes kommt es aber auf den effizienten Einsatz der Mittel an. Dieser – und gegebenenfalls die Definition von „effizient“ in Hinblick auf die angestrebten Ziele – ist aber wiederum nur politisch auszuhandeln . Das gilt auch für die Frage, inwieweit die Empfängerländer bei der Aushandlung der Ausgaben und deren Verwendung miteinbezogen werden sollen. Die VN haben auf ihrer Entwicklungskonferenz in Addis Abeba 2015 hierbei ein Verhältnis auf Augenhöhe zwischen Geberund Empfängerländern gefordert. Einige Akteure, z.B. Brot für die Welt, plädieren in Hinblick auf 47 BMZ (Anm. 46). 48 BMZ (Anm. 46). 49 BMZ (Anm. 46). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Seite 16 die Entwicklungsfinanzierung ebenfalls für globale Lösungen: notwendig sei „ein politischer Prozess zur Entwicklung eines normbasierten kohärenten „Gesamtkonzepts weltwirtschaftlicher Regelwerke “, das alle wesentlichen Organe und Institutionen, die die Regeln der globalen Finanzmärkte bestimmen, einschließt.“50 5.2.3. Reform der EU-Handelspolitik und Freihandel als möglicher Beitrag zur Entwicklung insbesondere afrikanischer Staaten ? Die EU-Subventionen für den Export von Agrarprodukten sollen mittelfristig abgeschafft werden. Faktisch werden sie aber ohnehin seit Jahren kaum noch gezahlt.51 Dennoch wird dies nicht zwingend eine Verbesserung der Lage der dortigen Bauern bzw. Nahrungsmittelproduzenten bedeuten .52 Denn obwohl der Export von EU-Agrarprodukten nicht subventioniert wird, wird deren Produktion im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) durch zahlreiche offene und verdeckte Subventionen deutlich verbilligt. Dies macht europäische Agrarprodukte, die sonst auf dem Weltmarkt teuer wären, günstig und führt dazu, dass die EU einer der größten Agrarexporteure der Welt ist. Dies hat Auswirkungen auf die Agrarproduktion in Entwicklungsländern. Ein großes Problem ist z.B. der Export sehr großer Mengen billigen, in Europa nicht verkäuflichen Fleisches. Die Ausfuhr in die afrikanischen Länder wird von der EU nicht subventioniert, aber sie ist, da das Fleisch von europäischen Verbrauchern, die z.B. lieber Hühnerbrust, aber kaum Keulenfleisch und kaum Innereien konsumieren, nicht nachgefragt wird, immer noch günstiger als die Vernichtung oder der Verkauf an die Tierfutterindustrie. Dementsprechend wird das Fleisch in Afrika zu Dumpingpreisen angeboten. Es handelt sich hierbei nicht um eine agraroder handelspolitische, sondern um eine rein privatwirtschaftliche Entscheidung. Dass die Preise für einheimisches Hühnerfleisch in den afrikanischen Ländern immer noch höher sind als die für europäisches, hatte z.B. in Ghana zur Folge, dass die dortige Hühnerzucht fast völlig eingestellt werden musste.53 Sofern sich die Konsumgewohnheiten der Europäer hier nicht änderten, wären nur drei Lösungen denkbar: entweder den Export zu verbieten – was EU-rechtlich enorme Schwierigkeiten bereiten würde – oder dass die betreffenden Entwicklungsländer den Import verböten. Auch das ist jedoch aufgrund diverser Handelsabkommen rechtlich kaum durchsetzbar. Als dritte Möglichkeit böte sich die Abschaffung sämtlicher Landwirtschaftssubventionen in der EU an, um die Preise für die Produktion anzuheben und die Preise für europäische Agrarprodukte auf dem Weltmarkt 50 Brot für die Welt, Zukunft der Entwicklungsfinanzierung: Die Chance von Addis Abeba, Januar 2015, http://www.brot-fuer-die-welt.de/fileadmin/mediapool/2_Downloads/Fachinformationen/Aktuell/Aktuell _48_Zukunft_der_Entwicklungsfinanzierung.pdf (zuletzt abgerufen am 12. November 2015). 51 Helle Jeppesen, Kein EU-Geld für Agrarexporte nach Afrika, Deutsche Welle am 20. Januar 2014, http://www.dw.com/de/kein-eu-geld-f%C3%BCr-agrarexporte-nach-afrika/a-17370908 (zuletzt abgerufen am 12. November 2015). 52 Helle Jeppensen (Anm. 51). 53 Stefan Maas und Alexander Göbel, Ungleiche Geschäftsbeziehungen, Deutschlandfunk am 5. August 2015, http://www.deutschlandfunk.de/agrarexporte-in-schwache-maerkte-ungleiche.724.de.html?dram:article _id=327412 (zuletzt abgerufen am 12. November 2015) Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Seite 17 deutlich zu verteuern. Wegen der wirtschaftlichen Folgen für europäische Bauern und Handelsunternehmen wäre diese Lösung politisch kaum durchsetzbar. Zudem verbindet die EU mit ihrem Angebot an Entwicklungsstaaten, die Agrarexportsubventionen zu streichen, die Forderung nach Freihandelsabkommen. So verhandelte die EU z.B. seit mehreren Jahren mit der Ostafrikanischen Gemeinschaft (East African Community, EAC54) ein solches Abkommen (das Economic Partnership Agreement, EPA).55 Dabei besteht die EU auf die Liberalisierung und Öffnung der afrikanischen Märkte. Bis zu 82,6 Prozent des Marktes sollen geöffnet werden, dies entspricht einem jährlichen Verlust von 100 Millionen Euro durch den Wegfall der Importzölle. Dies würde die oben dargestellte Problematik der für die einheimische Landwirtschaft schädlichen Dumpingpreise für europäische Produkte deutlich verschärfen.56 Als Kenias Regierung sich zunächst weigerte, das EPA zu unterzeichnen, erhöhte die EU kurzfristig die Importzölle für kenianische Produkte von 8,5 auf über 30 Prozent für die wichtigsten kenianischen Agrarexportprodukte, was Nairobi dazu veranlasste, das Abkommen zu unterzeichnen. Inwieweit das EPA der ostafrikanischen Wirtschaft nutzen wird, ist noch offen. Die EU strebt derweil weitere EPA mit anderen AKP-Staaten57 an. Zwar erhärtet die Empirie die Theorie, dass freier Handel sich günstig auf den Wohlstand von Nationen und damit auch auf die Lebensbedingungen auswirkt, hinsichtlich der Gründe für Migration und insbesondere Flucht spielen aber auch noch eine Reihe anderer, insbesondere politischer, Faktoren eine Rolle. Allein durch eine verbesserte und gerechtere Handelspolitik werden sich Konflikte, Korruption und das Versagen staatlicher Institutionen nicht beseitigen lassen. 6. Juristische Grundlagen der europäischen Entwicklungspolitik Die folgenden Abschnitte befassen sich mit Fragen juristischer Natur zur europäischen Entwicklungszusammenarbeit . In diesem Zusammenhang wird ein Überblick über die Instrumente der Entwicklungspolitik der Europäischen Union (EU) gegeben und überprüft, inwiefern diese darauf ausgerichtet sind, den Ursachen von Fluchtentscheidungen entgegenzuwirken. Anschließend er- 54 Deren Mitglieder sind Kenia, Ruanda, Burundi, Tansania sowie Uganda. 55 Alle Angaben dieses Abschnittes von Jochen Zierhut, Erpressung durch die EU?, Deutschlandfunk am 8. Juni 2015, nachzulesen unter https://www.tagesschau.de/ausland/epa-afrika-101.html (zuletzt abgerufen am 28. Oktober 2015).Detailinformationen zum EPA mit der EAC unter: Europäische Kommission, East African Community Trade Picture, http://ec.europa.eu/trade/policy/countries-and-regions/regions/eac/ (zuletzt abgerufen am 12. November 2015). 56 Maas und Göbel (Anm. 53). 57 AKP: Afrika, Karibik, Pazifik. Derzeit laufen Verhandlungen für ein EPA mit verschiedenen Staaten von Ostund Südafrika (East and Southern Africa, ESA, im Einzelnen: Dschibuti, Eritrea, Äthiopien, Sudan, Malawi, Sambia, Simbabwe, den Komoren, Mauritius, Madagaskar und den Seychellen), mit Staaten Zentralafrikas (Kameroon , Zentralafrikanische Republik, Tschad, Kongo, Demokratische Republik Kongo, Äquatorialguinea, Gabun und São Tomé und Principe). Es besteht bereits ein EPA mit westafrikanischen Staaten (Economic Community of West African States, ECOWAS). Die Verhandlungen mit der Entwicklungsgemeinschaft des Südlichen Afrika (SADC) sind abgeschlossen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Seite 18 folgt ein Überblick über das Verhältnis der europäischen Entwicklungspolitik zu den Maßnahmen der Mitgliedstaaten in diesem Bereich, bevor abschließend auf das Verhältnis von europäischer Entwicklungspolitik zu Maßnahmen im Rahmen der GASP eingegangen wird. 7. Entwicklungspolitik auf Ebene der Union 7.1. Standardinstrumente Die Zusammenarbeit der Europäischen Union mit Drittländern und die humanitäre Hilfe ist in den Art. 208 bis 214 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) geregelt. Ein wichtiges Instrument der Entwicklungszusammenarbeit sind gemäß Art. 209 Abs. 2 AEUV die völkerrechtlichen Abkommen der EU, wie bspw. die verschiedenen Kooperationsabkommen der EU mit Staaten Asiens und Lateinamerikas. Weitere Maßnahmen der EU im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit sind nach Art. 209 Abs. 1 AEUV Mehrjahresprogramme für die Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern und thematische Programme, welche als Sekundärrechtsakte von Rat und Parlament gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen werden. Die Mehrjahresprogramme für die Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern wurden zuletzt in verschiedene Instrumente aufgeteilt. Zu den wichtigen Instrumenten im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit, die im mehrjährigen Finanzhaushaltsplan 2014-2020 enthaltenen sind, zählen58: Das Instrument für Heranführungshilfe (IPA II)59 Das Europäische Nachbarschaftsinstrument (ENI)60 Das Finanzierungsinstrument für die Entwicklungszusammenarbeit (DCI)61 58 Überblick bei: Benedek, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 47. Ergänzungslieferung 2012, Art. 209 AEUV, Rn. 3 ff. 59 Verordnung (EU) NR. 231/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2014 zur Schaffung eines Instruments für Heranführungshilfe (IPA II), ABl. 2014, L 77/11, http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32014R0231&from=DE (zuletzt abgerufen am 10. November 2015). 60 Verordnung (EU) NR. 232/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2014 zur Schaffung eines Europäischen Nachbarschaftsinstruments, ABl. 2014, L 77/27, http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32014R0232&from=DE (zuletzt abgerufen am 10. November 2015). 61 Verordnung (EU) NR. 233/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2014 zur Schaffung eines Finanzierungsinstruments für die Entwicklungszusammenarbeit für den Zeitraum 2014-2020, ABl. 2014, L 77/44, http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32014R0233&from=DE (zuletzt abgerufen am 10. November 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Seite 19 Das Partnerschaftsinstrument (PI)62 Das Stabilitätsinstrument (ICSP)63 Das Europäische Instrument für Demokratie und Menschenrechte (EIDHR)64 Diese als Sekundärrecht entwickelten Instrumente im Bereich der Außenhilfe haben verschiedene Ziele. Die IPA-II-Verordnung (EU) Nr. 231/2014 soll nach Art. 1 EU-Mitgliedskandidaten bei der Annahme und Umsetzung von Reformen unterstützen. Ziel der ENI-Verordnung (EU) Nr. 232/2014 ist eine privilegierte Partnerschaft der EU mit Nachbarstaaten, die darauf beruht, dass sich beide Seiten zu Demokratie und Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und verantwortungsvoller Staatsführung sowie zu den Grundsätzen der Marktwirtschaft und der nachhaltigen und breitenwirksamen Entwicklung bekennen und diese fördern. Art. 2 Abs. 1 lit. a der DCI-Verordnung (EU) Nr. 233/2014 benennt als das wichtigste Ziel die Verringerung und langfristig die Beseitigung der Armut. Die PI-Verordnung (EU) Nr. 234/2014 dient hingegen dazu, Kooperationspartnerschaften und Politikdialoge auf Bereiche und Themen außerhalb der Entwicklungszusammenarbeit auszuweiten. Die ICSP-Verordnung (EU) Nr. 230/2014 hat nach Art. 1 Abs. 1 die Schaffung eines Instruments, das zu Stabilität und Frieden beiträgt, zum Gegenstand. Nach Art. 1 EIDHR-Verordnung (EU) Nr. 235/2014 leistet die EU mit diesem Instrument Hilfe für die Entwicklung und Konsolidierung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit sowie der Achtung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten. Keines der Instrumente benennt explizit die Bekämpfung von Fluchtursachen als sein Hauptziel. Im Rahmen des Finanzierungsinstruments für die Entwicklungszusammenarbeit findet dieser Aspekt allerdings Erwähnung. So wird in Anhang 1 der DCI-Verordnung (EU) Nr. 233/2014 als ein Maßnahmenbereich im Nahen und Mittleren Osten die Migrationssteuerung und Unterstützung für Flüchtlinge und Vertriebene „vor dem Hintergrund des Zusammenhangs zwischen Entwicklung und Migration“ benannt. Die Durchführung dieser Instrumente beruht auf mehrjährigen Strategiepapieren, welche durch jährliche Aktionsprogramme umgesetzt werden. Auf der Grundlage der Aktionsprogramme werden dann konkrete Projektvereinbarungen beschlossen.65 Unter diesen Durchführungsakten finden sich Projekte, welche den Ursachen von Fluchtentscheidungen entgegenwirken (sollen) bzw. sich mit der Thematik befassen. Das sog. multi-annual indicative programme 2014-2017 der DCI- 62 Verordnung (EU) Nr. 234/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2014 zur Schaffung eines Partnerschaftsinstruments für die Zusammenarbeit mit Drittstaaten, ABl. 2014, L 77/77, http://eur-lex.europa .eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32014R0234&from=DE (zuletzt abgerufen am 10. November 2015). 63 Verordnung (EU) NR. 230/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2014 zur Schaffung eines Instruments, das zu Stabilität und Frieden beiträgt, Abl. 2014, L 77/1, http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32014R0230&from=DE (zuletzt abgerufen am 10. November 2015). 64 Verordnung (EU) Nr. 235/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2014 zur Schaffung eines Finanzierungsinstruments für weltweite Demokratie und Menschenrechte, ABl. 2014, L 77/85, http://eurlex .europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32014R0235&from=DE (zuletzt abgerufen am 10. November 2015). 65 Bartelt, in: Schwarze, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 209 AEUV, Rn. 8. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Seite 20 Verordnung enthält bspw. den Themenschwerpunkt „migration and asylum”.66 Der Aktionsplan EU-Libanon, welcher der Umsetzung der ENI-Verordnung dient, benennt die Zusammenarbeit bei der Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon als ein Vorhaben.67 Und das Sahel Aktionsprogramm68, welches u. a. durch das ICSP- Instrument finanziert wird, ist auf vier Punkte fokussiert (Radikalisierungsverhinderung, Jugend, Migration und die Bekämpfung des grenzübergreifenden organisierten Verbrechens), die – so die Kommission – alle mit Fluchtursachen zusammenhängen.69 Es gibt noch viele weitere Projekte, wie z.B. den Rabat Prozess70, die vorliegend nicht alle aufgezählt werden können. Von den reinen EU-Instrumenten ist der Europäische Entwicklungsfonds (EEF) zu unterscheiden, der insbesondere der Finanzausstattung des AKP-EU-Partnerschaftsabkommen von Cotonou71 dient. Der EEF wird nicht von der EU, sondern von den Mitgliedstaaten finanziert.72 Die Beziehung der Union und der Mitgliedstaaten zu den AKP-Staaten (Gruppe der afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten) ist grundlegend durch das völkerrechtliche AKP-EU-Partnerschaftsabkommen von Cotonou geregelt. Die völkerrechtliche Vertragsgrundlage, die finanzielle Einflussnahme der Mitgliedstaaten durch den EEF und die Tatsache, dass Beschlüsse vom AKP- EU-Ministerrat gefasst werden und nicht als europäisches Sekundärrecht ergehen, führen zu einer stärkeren Einflussnahme der Mitgliedstaaten in diesem Bereich.73 7.2. Kurzfristige Maßnahmen Neben den langfristig konzipierten Instrumenten gibt es auch kurzfristige Maßnahmen der Union im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit. Im Hinblick auf die Bewältigung der Flüchtlings- 66 Multiannual indicative programme for the thematic programme “Global public goods and challenges” for the period 2014-2020, https://ec.europa.eu/europeaid/sites/devco/files/mip-gpgc-2014-2017-annex_en.pdf (zuletzt abgerufen am 10. November 2015). 67 ENP Aktionsplan EU-Libanon, http://eeas.europa.eu/enp/pdf/pdf/lebanon_enp_ap_final_de.pdf (zuletzt abgerufen am 10. November 2015). 68 Rat, Council conclusions on the Sahel Regional Action Plan 2015-2020 Annex, Ratsdokumentennummer. 7823/15. 69 Kommission, Fact Sheet – The European Union's cooperation with Africa on migration, 22. April 2015, http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-15-4832_en.htm (zuletzt abgerufen am 10. November 2015). 70 http://www.processusderabat.net/web/ (zuletzt abgerufen am 10. November 2015). 71 Partnerschaftsabkommen zwischen den Mitgliedern der Gruppe der Staaten in Afrika, im Karibischen Raum und im Pazifischen Ozean einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits , unterzeichnet in Cotonou am 23. Juni 2000, ABl. 2000, L 317/3, http://eur-lex.europa.eu/resource .html?uri=cellar:eebc0bbc-f137-4565-952d-3e1ce81ee890.0003.04/DOC_2&format=PDF (zuletzt abgerufen am 10. November 2015). 72 Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 208 AEUV, Rn. 35. 73 Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 208 AEUV, Rn. 22. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Seite 21 krise hat die Kommission in einer Mitteilung vom 23. September 2015 über derartige Maßnahmen informiert.74 Bei diesen kurzfristigen Maßnahmen handelt es sich, ausweislich der Mitteilung , um bereits vorhandene Instrumente der EU bzw. Mittel daraus, die nunmehr gezielt zur Stabilisierung der derzeitigen Lage eingesetzt werden sollen. Zu diesen kurzfristigen Maßnahmen gehören: Einrichtung eines Notfall-Treuhandfonds zur Unterstützung der Stabilität und zur Bekämpfung der Ursachen von irregulärer Migration und Binnenvertreibung in Afrika Unterstützung des Madad-Fonds, eines regionalen Treuhandfonds der EU als Reaktion auf die Syrien-Krise75 Erhöhung der Mittel für die Nahrungsmittelhilfe im Rahmen des Welternährungsprogramms und Bereitstellung zusätzlicher EU-Mittel für humanitäre Hilfe Im Rahmen der oben dargestellten Instrumente der Union kann durch kurzfristige Maßnahmen die Bekämpfung von Fluchtursachen unterstützt werden, auch wenn dieser Aspekt nicht das Hauptziel bei der Konzeption der Instrumente war. So wird das Europäische Nachbarschaftsinstrument (ENI) genutzt, um u. a. mittelfristige Bedürfnisse der syrischen Bevölkerung wie den Zugang zu Infrastruktur und die Grundversorgung sicherzustellen. In Bezug auf die Situation in der Türkei und im Irak wird mithilfe der Instrumente IPA und DCI agiert.76 7.3. Gipfeltreffen zum Thema Migration in Valetta Am 11. und 12. November findet in Valetta ein internationales Gipfeltreffen zur Erörterung von Migrationsfragen zwischen EU-Mitgliedstaaten und afrikanischen sowie anderen wichtigen betroffenen Ländern statt. Ergebnis des Treffens soll neben einer politischen Erklärung auch ein neuer Aktionsplan sein.77 Die fünf Hauptthemen des Valetta-Gipfels sind die Bekämpfung der eigentlichen Fluchtursachen durch verstärkte Bemühungen um Frieden, Stabilität und wirtschaftliche Entwicklung, die bessere Förderung und Organisation legaler Migrationswege, mehr Schutz für Migranten und Asylbewerber, die effektivere Bekämpfung der Ausbeutung und Schleusung 74 Mitteilung an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und den Rat, Bewältigung der Flüchtlingskrise: operative, haushaltspolitische und rechtliche Sofortmaßnahmen im Rahmen der Europäischen Migrationsagenda , KOM(2015) 490 final, http://ec.europa.eu/dgs/home-affairs/what-we-do/policies/european-agenda-migration /proposal-implementation-package/docs/communication_on_managing_the_refugee_crisis_de.pdf (zuletzt abgerufen am 10. November 2015). 75 Anhang VI der Mitteilung an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und den Rat, Bewältigung der Flüchtlingskrise: operative, haushaltspolitische und rechtliche Sofortmaßnahmen im Rahmen der Europäischen Migrationsagenda, KOM(2015) 490 final, http://ec.europa.eu/dgs/home-affairs/what-we-do/policies/europeanagenda -migration/proposal-implementation-package/docs/communication_on_managing_the_refugee_crisis_annex _6_de.pdf (zuletzt abgerufen am 10. November 2015). 76 Kommission, Fact Sheet - The European Union's cooperation with Africa on migration, 22. April 2015, http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-15-4832_en.htm (zuletzt abgerufen am 10. November 2015). 77 Rat, Valletta Summit Action Plan – Working Draft Three, Ratsdokumentennummer 12560/2/15 REV 2. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Seite 22 von Migranten und die Verbesserung der Zusammenarbeit bei der Rückführung und Rückübernahme .78 Auch dieser geplante Aktionsplan soll durch Entwicklungshilfe den Ursachen von Fluchtentscheidungen entgegen wirken. 7.4. Konnexität von finanzieller Unterstützung und Bekämpfung von Fluchtursachen In ihrer Mitteilung vom 23. September 2015 zur Bewältigung der Flüchtlingskrise betonte die Kommission den Zusammenhang zwischen finanzieller Unterstützung und Fluchtursachen. So argumentierte sie: „Vorrang jedoch muss die Aufstockung der unzureichenden Mittel für die Krise in Syrien haben. Diese fehlenden Mittel sind zum Teil die unmittelbare Ursache für den verstärkten Zustrom von Flüchtlingen im östlichen Mittelmeerraum, wobei die Krise zum Teil aber auch auf eine gewisse „Gebermüdigkeit“ zurückzuführen ist. Wenn wir ernsthaft dafür sorgen wollen, dass die meisten Flüchtlinge ihrer Heimat so nahe wie möglich bleiben können, müssen wir unsere Mittel erhöhen.“79 Ähnliche Ausführungen finden sich in der Mitteilung der Kommission vom 13. Mai 2015 zur europäischen Migrationsagenda. Auch dort betont die Kommission die Notwendigkeit einer langfristigen Bekämpfung der tieferen Ursachen von Migration und Flucht sowie die Erforderlichkeit einer Linderung von Krisenfolgen vor Ort.80 8. Verhältnis zwischen unionsrechtlicher und mitgliedstaatlicher Entwicklungspolitik Nach Art. 4 Abs. 4 AEUV ist die Union dafür zuständig, in den Bereichen Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe Maßnahmen zu treffen und eine gemeinsame Politik zu verfolgen , ohne dass die Ausübung dieser Zuständigkeit die Mitgliedstaaten hindert, ihre Zuständigkeit auszuüben. Im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit besitzen die Union und die Mitgliedstaaten mithin eine gleichwertige Kompetenz mit der Pflicht zur wechselseitigen Ergänzung .81 Die Union und die Mitgliedstaaten können parallel tätig werden. Gemäß Art. 210 AEUV koordinieren die Union und die Mitgliedstaaten ihre Politik auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit und stimmen ihre Hilfsprogramme aufeinander ab, damit ihre Maßnahmen einander besser ergänzen und wirksamer sind. Sie können gemeinsame Maßnahmen ergreifen. Erforderlichenfalls tragen die Mitgliedstaaten zur Durchführung der Hilfsprogramme der Union bei. Art. 210 Abs. 1 AEUV gibt damit Grenzen für die Mitgliedstaaten im Be- 78 Rat, Valletta Summit Action Plan – Working Draft Three, Ratsdokumentennummer 12560/2/15 REV 2. 79 Mitteilung an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und den Rat, Bewältigung der Flüchtlingskrise: operative, haushaltspolitische und rechtliche Sofortmaßnahmen im Rahmen der Europäischen Migrationsagenda , KOM(2015) 490 final. 80 Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Die Europäische Migrationsagenda, KOM(2015) 240 final, http://ec.europa .eu/dgs/home-affairs/what-we-do/policies/european-agenda-migration/background-information/docs/communication _on_the_european_agenda_on_migration_de.pdf (zuletzt abgerufen am 10. November 2015). 81 Bartelt, in: Schwarze, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 208 AEUV, Rn. 19. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Seite 23 reich der Entwicklungspolitik vor, um eine Kohärenz mit den Maßnahmen der Union zu erreichen . Eine solche Pflicht der Mitgliedstaaten zur Koordination mit der EU auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit lässt sich zudem aus dem Gebot der Unionstreue ableiten.82 Die Koordination zwischen der Union und den Mitgliedstaaten wurde in dem Positionspapier „Europäischer Konsens“ maßgeblich geregelt.83 Entscheidend ist die Koordination vor allem im operativen Bereich. 84 In der Praxis erfolgt sie ausweislich der Leitlinien des Rates zur Verstärkung der operativen Koordinierung durch Treffen zwischen den Vertretern der Mitgliedstaaten und der Union, Informationsaustausch, gemeinsame Studien, Analysen, Evaluierungen und Programme sowie ggf. einer Anpassung von Programmen an die Maßnahmen der anderen Geberseite .85 Auch im Positionspapier „Europäischer Konsens“ werden diese Punkte als wichtige Koordinationsmaßnahmen aufgeführt. Die dort benannten Koordinationsmaßnahmen umfassen eine gemeinsame mehrjährige Programmplanung, gemeinsame Durchführungsmechanismen einschließlich gemeinsamer Analysen und gemeinsame geberübergreifende Missionen sowie Kofinanzierungsvereinbarungen .86 Trotz dieser Ansätze wird die Parallelität zwischen der Entwicklungszusammenarbeit der Union und der Entwicklungszusammenarbeit der Mitgliedstaaten von einigen Stimmen als ineffizient kritisiert.87 Die Kommission selbst resümierte 2011 in ihrer Mitteilung zur EU-Entwicklungspolitik : „Trotz der in der jüngeren Vergangenheit unternommenen erheblichen Anstrengungen zur Koordinierung und Harmonisierung der Gebermaßnahmen ist weiterhin eine Fragmentierung der Hilfe festzustellen, die mitunter sogar zunimmt. Die EU muss, wie im Vertrag von Lissabon vorgesehen , eine aktivere Führungsrolle einnehmen und Vorschläge zur Steigerung der Wirksamkeit der europäischen Entwicklungshilfe vorlegen. Durch eine gemeinsame Programmierung der von 82 Bartelt, in: Schwarze, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 208 AEUV, Rn. 19. 83 Gemeinsame Erklärung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments und der Kommission zur Entwicklungspolitik der Europäischen Union, „Der Europäische Konsens“, Abl. 2006, C 46/01, http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:42006X0224(01)&from=DE (zuletzt abgerufen am 10. November 2015). 84 Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 210 AEUV, Rn. 3. 85 Rat, Leitlinien für die Verstärkung der operativen Koordinierung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit, ABl. 1998, C 97/1, http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:31998Y0331(01)&from=DE (zuletzt abgerufen am 10. November 2015). 86 Gemeinsame Erklärung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments und der Kommission zur Entwicklungspolitik der Europäischen Union, „Der Europäische Konsens“, Abl. 2006, C 46/01. 87 Benedek, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 47. Ergänzungslieferung 2012, Art. 208 AEUV, Rn. 33. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Seite 24 der EU und den Mitgliedstaaten bereitgestellten Hilfe könnte der Fragmentierung begegnet und dafür gesorgt werden, dass die Wirkung im Verhältnis zu den eingesetzten Mitteln steigt.“88 9. Verhältnis zwischen Entwicklungspolitik und GASP Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) ist von dem Bereich der Entwicklungspolitik zu trennen. Dies ist bereits deshalb geboten, da in der GASP und GSVP (letztere ist nach Art. 42 Abs. 1 EUV integraler Bestandteil der GASP) besondere Entscheidungsverfahren gelten, die nach Art. 40 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) von den anderen auswärtigen Politikbereichen abzugrenzen sind.89 Der Europäische Rat bestimmt gemäß Art. 26 EUV die strategischen Interessen der Union im Rahmen der GASP und legt die Ziele und allgemeinen Leitlinien durch Beschlüsse fest. Die Ausgestaltung und Durchführung dieser Vorgaben erfolgt gemäß Art. 26 Abs. 2 EUV durch den Rat. Durch die besondere Bedeutung des Europäischen Rates und des Rates im Bereich der GASP und das in Art. 24 Abs. 1 und Art. 31 Abs. 1 EUV verankerte Einstimmigkeitsprinzip haben die Mitgliedstaaten in Angelegenheiten, die in den Bereich der GASP fallen, ihre Souveränität gesichert .90 9.1. Institutionelle Konflikte Die Kommission darf gemäß Art. 40 EUV im Rahmen der Entwicklungspolitik keine Maßnahmen ergreifen, welche Zielsetzungen der GASP verfolgen. Umgekehrt darf die Durchführung von GASP-Maßnahmen nach Art. 40 EUV nicht die Befugnisse der Union in anderen Politikbereichen berühren.91 Die Abgrenzung von Maßnahmen ist in einigen Fällen schwierig, da die Ziele der GASP und der Entwicklungspolitik sich z.T. überschneiden. So wurde z.B. die Reform des Justizwesens in Afghanistan auf das Stabilitätsinstrument der Entwicklungspolitik gestützt, die EU- Polizeimission in Afghanistan hingegen auf eine Gemeinsame Aktion im Bereich der GASP.92 Die Abgrenzungsprobleme zwischen Maßnahmen im Rahmen der GASP und Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit haben bereits zu Nichtigkeitsklagen vor dem EuGH geführt. In der Rechtssache C-658/11 machte das Europäische Parlament geltend, „der Rat sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass der angefochtene Beschluss eine Übereinkunft, die „ausschließlich“ die GASP 88 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Für eine EU-Entwicklungspolitik mit größerer Wirkung: Agenda für den Wandel, KOM(2011) 637 final, http://www.europarl.europa.eu/meetdocs /2009_2014/documents/acp/dv/communication_/communication_de.pdf (zuletzt abgerufen am 10. November 2015). 89 Bartelt, in: Schwarze, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 209 AEUV, Rn. 4. 90 Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 24 EUV, Rn. 7; Terhechte, in: Schwarze, EU-Kommentar , 3. Aufl. 2012, Art. 24 EUV, Rn. 10. 91 Marquardt/Gaedtke, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 40 EUV, Rn. 6. 92 S. dazu: Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 209 AEUV, Rn. 2. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Seite 25 betreffe, im Sinne von Art. 218 Abs. 6 Unterabs. 2 erster Halbsatz AEUV sei und daher ohne Beteiligung des Parlaments erlassen werden könne.“93 In der Rechtssache C-91/05 klagte die Kommission gegen einen Beschluss des Rates, mit dem eine gemeinsame Aktion im Rahmen der GASP umgesetzt werden sollte. Der EuGH erklärte den Beschluss damals aufgrund von Art. 47 EUV a.F. für nichtig, da dieser als GASP-Maßnahme erlassen worden war, obwohl er inhaltlich auch unter die Politik der Entwicklungszusammenarbeit fiel.94 9.2. Kohärenz der unterschiedlichen Maßnahmen Neben den institutionellen Konflikten zwischen Rat, Kommission und Parlament hinsichtlich der Zuständigkeit für Maßnahmen, die sowohl in den Bereich des GASP als auch der Entwicklungszusammenarbeit fallen, kann das Nebeneinander von GASP und Entwicklungspolitik zu einem weiteren Problem führen. Der Erlass von Maßnahmen aus thematisch ähnlichen Bereichen durch unterschiedliche Organe nach verschiedenen Entscheidungsverfahren beinhaltet die Gefahr widersprüchlicher Ansätze und einer Fragmentierung von Projekten.95 Art. 21 Abs. 3 S. 2 EUV gibt vor, dass die Union auf die Kohärenz zwischen den einzelnen Bereichen ihres auswärtigen Handelns achtet. Der Rat und die Kommission, die vom Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik unterstützt werden, sollen diese Kohärenz sicherstellen und zu diesem Zweck zusammenarbeiten. Der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik sorgt nach Art. 18 Abs. 4 S. 2 EUV für die Kohärenz des auswärtigen Handelns der Union. Seine Position wurde durch den Vertrag von Lissabon in dem Bestreben geschaffen, verschiedene Funktionen im Bereich der auswärtigen Beziehungen der Union zusammenzulegen und dadurch mehr Kohärenz zu ermöglichen.96 Dies erfolgt zum Beispiel durch die Überführung bestimmter Verwaltungseinheiten und Aufgabenbereiche des Rates und der Kommission, die mit Entwicklungszusammenarbeit befasst sind, in den Europäischen Auswärtigen Dienst, der den Hohen Vertreter unterstützt.97 In der Mitteilung der Kommission zur EU-Entwicklungspolitik aus 2011 heißt es bezüglich der Kohärenz zwischen den EU-Politiken: „Die EU muss ihre kohärente Herangehensweise in Bezug auf Sicherheit und Armut stärken und dabei wenn nötig die Rechtsgrundlagen und Verfahren anpassen . Die EU-Initiativen für die Entwicklungs- sowie die Außen- und Sicherheitspolitik sollten 93 EuGH, Urt. v. 24.6.2014, Rs. C-658/11 – Parlament/Rat, Rn. 23. 94 EuGH, Urt. v. 20.5.2008, Rs. C-91/05 – Kommission/Rat, Rn. 76 f. und 108 f. 95 Marquardt/Gaedtke, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 21 EUV, Rn. 9 f. 96 Marquardt/Gaedtke, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 18 EUV, Rn. 13 f. 97 Beschluss des Rates vom 26. Juli 2010 über die Organisation und die Arbeitsweise des Europäischen Auswärtigen Dienstes, 2010/427/EU, ABl. 2010, L 201/30, http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32010D0427&from=DE (zuletzt abgerufen am 10. November 2015) ausführlich: Kaltenborn/Holzhauer, Der Europäische Auswärtige Dienst und die neuen Kompetenzzuordnungen im Rahmen der europäischen Entwicklungszusammenarbeit, EuR 2012, S. 100 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 150/15, PE 6 - 3000 - 125/15 Seite 26 miteinander verknüpft werden, um einen kohärenteren Ansatz in Bezug auf Frieden, Staatsaufbau , Armutsbekämpfung und die Beseitigung von Konfliktursachen zu erreichen. Die EU bemüht sich darum, den Übergang von humanitärer und Krisenhilfe zu langfristiger Entwicklungszusammenarbeit reibungslos zu gestalten.“98 Diese Vorgabe findet sich auch im europäischen Sekundärrecht wieder. Um eine effektive Entwicklungspolitik sicherzustellen, gibt z.B. Art. 2 Abs. 2 ICSP- Verordnung (EU) Nr. 230/2014 vor, dass die aufgrund der Verordnung angenommenen Maßnahmen die GASP-Maßnahmen ergänzen können und kohärent mit diesen sein müssen. Praktisch soll die Kohärenz durch eine politische Koordinierung von Rat und Kommission gewährleistet werden.99 So steht bspw. im Einsatzbericht der Kommission zum Stabilitätsinstrument für das Jahr 2013, dass der Rat durch regelmäßige Vermerke der Kommission an das Politische und Sicherheitspolitische Komitee über die Planung neuer Krisenreaktionsmaßnahmen und über die Durchführung der laufenden Maßnahmen unterrichtet wurde.100 - Ende der Bearbeitung - 98 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Für eine EU-Entwicklungspolitik mit größerer Wirkung: Agenda für den Wandel, KOM(2011) 637 final, http://www.europarl.europa.eu/meetdocs /2009_2014/documents/acp/dv/communication_/communication_de.pdf (zuletzt abgerufen am 10. November 2015). 99 Hoffmeister, Das Verhältnis zwischen Entwicklungszusammenarbeit und Gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik am Beispiel des EG-Stabilitätsinstruments, EuR 2008, Beiheft 2, S. 55 (74). 100 Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Jahresbericht 2013 über das Instrument für Stabilität, KOM(2014) 717 final, http://ec.europa.eu/transparency/regdoc/rep/1/2014/DE/1-2014-717-DE-F1-1.Pdf (zuletzt abgerufen am 10. November 2015).