© 2016 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 - 147/16 Rechtsfragen zur Zollunion zwischen der EU und der Türkei Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 147/16 Seite 2 Rechtsfragen zur Zollunion zwischen der EU und der Türkei Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 147/16 Abschluss der Arbeit: 1. Dezember 2016 (auch letzter Zugriff auf die Interquellen) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 147/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 4 2. Entstehung der Zollunion 5 2.1. Assoziationsabkommen EU-Türkei 5 2.2. Wege in die Zollunion 6 2.3. Rechtscharakter des Assoziierungsrechts 6 2.4. Parlamentarische Legitimation 7 2.5. Beschlussfassung im Assoziationsrat 7 3. Vertiefung der Zollunion 8 3.1. Rechtliches Instrumentarium 8 3.2. Nationale Einfluss- und Blockademöglichkeiten 9 4. Suspendierung der Zollunion 10 5. Beendigung des Assoziierungsprozesses mit der Türkei 11 5.1. Vertragsverletzungen 11 5.2. Clausula rebus sic stantibus 13 5.3. Prozedurale Schritte 14 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 147/16 Seite 4 1. Einführung Das Verhältnis zwischen der EU und der Türkei ist nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei zunehmend angespannt. Politische Differenzen innerhalb der EU gibt es nicht nur über die Frage einer Beitrittsperspektive der Türkei, sondern auch über die von der Türkei seit längerem geforderte Vertiefung der Zollunion zwischen der EU und der Türkei. Vorschläge der EU-Kommission zur Vertiefung und Reform dieser Zollunion sollen dem Ministerrat bis Ende 2016 vorgelegt und Anfang 2017 beraten werden. Der Türkei geht es im Kern u.a. darum, von den Freihandelsabkommen zu profitieren,1 welche die EU mit Drittstaaten abgeschlossen hat (z.B. CETA) oder noch abschließen wird.2 Auf der Agenda steht eine Erweiterung der Zollunion, die bislang nur für bestimmte Waren gilt, auch auf den Dienstleistungssektor, auf das öffentliche Beschaffungswesen sowie auf Teile der Landwirtschaft. Konkrete Reformvorschläge der EU-Kommission sind aber noch nicht veröffentlicht (Stand: Ende November 2016). Auf die wirtschaftlichen Implikationen einer Erweiterung bzw. Nichterweiterung der Zollunion für die Türkei und für Deutschland wird ein Gutachten von WD 5 eingehen. Vor dem Hintergrund massiver Demokratie- und Menschenrechtsverletzungen in der Türkei wird die anstehende Reform der Zollunion zum Anlass genommen, über wirtschaftspolitische „Druckmittel“ gegenüber der Regierung Erdoǧan in Form einer Blockade oder Suspendierung der Zollunion nachzudenken.3 Das vorliegende Gutachten will diese Möglichkeiten rechtlich ausloten. Dazu sollen im ersten Teil zunächst die Entstehung und die rechtlichen Rahmenbedingungen der Zollunion dargelegt werden (dazu 2.). Der zweite Teil befasst sich mit der geplanten Vertiefung/Reform der Zollunion und der Möglichkeit, eine solche Vertiefung rechtlich zu blockieren (dazu 3.). Der dritte Teil widmet sich schließlich Fragen einer möglichen Suspendierung der Zollunion (dazu 4.) sowie einer Beendigung des Assoziierungsprozesses mit der Türkei (dazu 5.). 1 So könnte etwa ein Drittstaat (z.B. Kanada) bei Exporten in die Türkei von bestimmten zollrechtlichen Regelungen aus dem EU-Freihandelsabkommens (z.B. CETA) profitieren, weil sich diese Bestimmungen via EU- Zollunion auch auf die Türkei erstrecken; umgekehrt profitiert die Türkei bei Exporten in den Drittstaat aber nicht in gleichem Maße von dem EU-Freihandelsabkommen, weil es eben kein EU-Mitglied ist. 2 Verhandelt werden derzeit Freihandels- und Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit Indien, den ASEAN- Staaten (Brunei, Kambodscha, Indonesien, Laos, Malaysia, Myanmar, Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam ), mit Russland, mit den MERCOSUR-Staaten (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela), mit Japan sowie mit den USA (TTIP). Eine Übersicht über die bereits vorläufig angewendeten Wirtschaftspartnerschaftsabkommen der EU findet sich in der Dokumentation WD 2 - 3000 - 141/16 vom 21.11.2016. 3 Vgl. dazu Riedel, A., Die Wirtschaftsbeziehungen sind der Hebel, in: Deutschlandfunk online vom 7.11.2016, http://www.deutschlandfunk.de/verhaeltnis-eu-tuerkei-die-wirtschaftsbeziehungen-sindder .720.de.html?dram:article_id=370728; „Über Zollunion Druck auf Türkei ausüben“, Focus-online v. 22.11.2016, http://www.focus.de/finanzen/news/wirtschaftsticker/eu-gruenenpolitikerin-ueber-zolluniondruck -auf-tuerkei-ausueben_id_6238146.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 147/16 Seite 5 2. Entstehung der Zollunion 2.1. Assoziationsabkommen EU-Türkei Am 12. September 1963 schlossen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und ihre Mitgliedstaaten mit der Türkei ein Abkommen zur Gründung einer Assoziation (AssAbk).4 Das AssAbk ist ein völkerrechtliches Abkommen zwischen der EU und der Türkei nach Art. 217 AEUV, das besondere Beziehungen im Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit begründet und eine eigenständige Willensbildung in hierfür vorgesehenen Institutionen ermöglicht.5 Die institutionelle Ausgestaltung verdeutlicht, dass eine Assoziierung auf eine gewisse Dauerhaftigkeit , Kontinuität und Weiterentwicklung der Beziehungen ausgerichtet ist.6 Das Abkommen mit der Türkei von 1963 wurde gem. Art. 31 AssAbk vom Bundestag ratifiziert,7 da es sich bei Assoziationsabkommen der EU regelmäßig um sog. „gemischte Verträge“ handelt.8 Zur Umsetzung und Entwicklung der Zielvorgaben des AssAbk schufen die Vertragsparteien als höchstes politisches Gremium einen EU-Türkei-Assoziationsrat (Art. 6 AssAbk)9 und verpflichteten sich, alle zur Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Abkommen notwendigen Maßnahmen zu treffen und solche zu unterlassen, die die Verwirklichung der Ziele des Abkommens gefährden könnten (Art. 7 AssAbk). 4 Abgedruckt im Amtsbl. EG, L Nr. 217 vom 29.12.1964, S. 3687 ff., verfügbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:21964A1229(01):DE:HTML. 5 Vgl. zur Definition Bungenberg, in: v.d.Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Bd. 4, Baden-Baden: Nomos, 7. Aufl. 2015, Art. 217 AEUV, Rdnr. 24. 6 Als eine Art „Rahmenabkommen“ nennt das AssAbk die Ziele der Assoziierung und legt die Leitlinien für ihre Verwirklichung fest, ohne selbst genaue Regeln dafür aufzustellen, wie diese Verwirklichung zu erreichen ist. Ziel des Abkommens ist die Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen, u.a. durch die schrittweise Errichtung einer Zollunion (Art. 5 AssAbk) und die Annäherung der jeweiligen Wirtschaftspolitik (Art. 2 Abs. 1 und 2, Art. 4 Abs. 1 Spiegelstrich 2 AssAbk). Vereinbart wurde die schrittweise Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Artikel 12), der Niederlassungsfreiheit (Artikel 13 AssAbk) und der Dienstleistungsfreiheit (Artikel 14 AssAbk), wobei sich die Vertragsparteien jeweils von den einschlägigen Artikeln des EWG-Vertrages „leiten lassen“ wollen. Die vertraglichen Regelungen über die Zollunion mit der Türkei enthalten im Vergleich mit dem Europäischen Wirtschaftsraum (Mitglieder: Norwegen, Island, Liechtenstein) weniger weitreichende Vorschriften über die Freizügigkeit von Personen und Dienstleistungen. 7 BGBl. II 1964, S. 509 f. 8 Schmalenbach, Assoziierung und Erweiterung, in: Enzyklopädie Europarecht (Gesamtherausgeber: A. Hatje), Bd. 10 (Europäische Außenbeziehungen, Hrsg.: A. v. Arnauld) Baden-Baden: Nomos 2014, §6, Rdnr. 19 und 23; Bungenberg, a.a.O. (Anm. 5), Art. 217 AEUV, Rdnr. 39 ff. 9 Vgl. zum institutionellen Gepräge eines EU-Assoziationsabkommens Bungenberg, a.a.O. (Anm. 5), Art. 217 AEUV, Rdnr. 57 ff.; Schmalenbach, a.a.O. (Anm. 8), §6, Rdnr. 19. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 147/16 Seite 6 2.2. Wege in die Zollunion Am 23. November 1970 verabschiedeten die Vertragsparteien das „Zusatzprotokoll zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation“10 In diesem Zusatzprotokoll werden die Einzelheiten und der Zeitplan für die Übergangsphase bis zur Verwirklichung der Zollunion festgeschrieben (Artikel 7 ff. ZusatzProt.). Nach dem Zusatzprotokoll sollte die Zollunion nach dem Ende der Übergangszeit im Jahre 1982 verwirklicht werden. Infolge der politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten im Verhältnis EG-Türkei ist die Errichtung einer Zollunion allerdings immer wieder behindert und verzögert worden. So wurde etwa nach der Machtübernahme durch eine Militärregierung in der Türkei im September 1980 den Assoziierungsprozess, d.h. die Weiterentwicklung zur Zollunion, für sechs Jahre ausgesetzt. Grund dafür war neben der politischen Situation vor allem auch der daraus resultierende unvollständige Abbau der Zölle und der mengenmäßigen Beschränkungen seitens der Türkei. Der durch die Suspendierung erfolgte de-facto-Stillstand hat den Beginn der Endphase der Zollunion erneut zeitlich nach hinten geschoben.11 Die Endphase der Zollunion wurde schließlich – nach langem politischen Ringen um die Zypernfrage – mit dem Beschluss Nr. 1/95 des EU-Türkei-Assoziationsrates vom 22. Dezember 1995 festgelegt.12 2.3. Rechtscharakter des Assoziierungsrechts Die Zollunion zwischen der EU und der Türkei beruht also auf einem völkerrechtlichen Vertrag – dem AssAbk von 1963 („primäres“ Assoziierungsrecht). Die Zollunion wurde durch Beschluss des Assoziationsrates von 1995 (sog. „sekundäres“ Assoziierungsrecht) ins Leben gerufen.13 Das Assoziierungsabkommen mit der Türkei, das nach Maßgabe von Art. 217 AEUV abgeschlossen 10 ABl. EG, L Nr. 293 vom 29.12.1972, BGBl. II 1972, S. 385. In diesem Zusatzprotokoll verpflichtete sich etwa die Türkei zur Angleichung ihres Zolltarifs an den gemeinsamen Zolltarif und die EWG, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen. 11 Bungenberg, a.a.O. (Anm. 5), Art. 217, Rdnr. 108. 12 ABl. EG, L Nr. 35 vom 13.02.1996, engl. Text verfügbar unter: http://www.avrupa.info.tr/fileadmin/Content/Downloads/PDF/Custom_Union_des_ENG.pdf. Der Beschluss Nr. 1/95 sieht u.a. Folgendes vor: Freier Warenverkehr, d.h. Abschaffung von Zöllen und mengenmäßigen Beschränkungen zwischen beiden Teilen der Zollunion; Angleichung des türkischen Zolltarifs an den Gemeinsamen Zolltarif der Gemeinschaften; Angleichung des Zollrechts sowie anderer türkischer Rechtsvorschriften . 13 Vgl. allgemein zur Zollunion EU-Türkei Rumpf, in: Recht der Internationalen Wirtschaft (RIW) 1997, S. 46 ff., http://online.ruw.de/suche/riw/Die-Zollunion-EU---Tuerkei-067c0308ab9f80487435952d69df0278; sowie Schmalenbach, a.a.O. (Anm. 8), §6, Rdnr. 38 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 147/16 Seite 7 wird, ist nach Auffassung des EuGH integraler Bestandteil des EU-Rechts;14 dies gilt nach herrschender Auffassung auch für das „sekundäre“ Assoziierungsrecht.15 Das sekundäre Assoziierungsrecht steht nach Auffassung des EuGH nämlich in „unmittelbarem Zusammenhang“ mit dem Abkommen und wird damit in die EU-Rechtsordnung integriert.16 Die Beschlüsse des Assoziationsrates sind rechtlich verbindlich und i.d.R. auch unmittelbar anwendbar ; sie genießen Anwendungsvorrang sowohl vor dem sekundären EU-Recht (Richtlinien und Verordnung des Rates) als auch vor dem nationalen Recht.17 2.4. Parlamentarische Legitimation Die parlamentarische Legitimation der Zollunion beruht allein auf der Ratifikation des AssAbk aus dem Jahre 1963. Die parlamentarische Zustimmung umfasst alle im AssAbk vertraglich „angelegten “ Weiterentwicklungen des Vertragsverhältnisses zwischen der EU und der Türkei und damit auch die Errichtung der Zollunion. Die parlamentarische Legitimation erstreckt sich ferner auf das sekundäre Assoziierungsrecht, also auf die Beschlüsse des Assoziationsrates, die – wie das sekundäre Europarecht – nicht gesondert parlamentarisch ratifiziert werden. 2.5. Beschlussfassung im Assoziationsrat Assoziationsgremien sind regelmäßig paritätisch besetzt, d.h. die Repräsentanten der EU treffen dort auf die Repräsentanten des Vertragspartners. In dem (EU-Türkei-)Assoziationsrat wird die Union regelmäßig durch den Hohen Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik, ferner durch den Rat sowie durch Vertreter der Kommission repräsentiert.18 Die EU-Mitgliedstaaten – als an einem gemischten Abkommen beteiligten Parteien – werden von ihren Vertretern im Rat mitrepräsentiert.19 Die Türkei als Drittland wird als Vertragspartner des AssAbk im Assoziationsrat auf Ministerebene durch den Außenminister vertreten. 14 EuGH, 30.4.1974, Rs 181/73 - Haegeman, Slg. 1974, 449, Rn 2, 6; Schmalenbach, a.a.O. (Anm. 8), §6, Rdnr. 23. 15 EuGH, Rs. 30/88, Griechenland/Kommission, Slg. 1989, 3711 Rn. 13; Mögele, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV. Kommentar, München: Beck, 2012, Art. 217 AEUV, Rdnr. 23 m.w.N. in Fn. 79; Schmalenbach, in: Calliess/ Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV. Kommentar, München: 5. Aufl. 2016, Art. 217 AEUV, Rdnr. 26. 16 EuGH, 20.9.1990, Rs C-192/89 - Sevince, Slg. 1990, I-3461, Rn 9. Den unmittelbaren Zusammenhang zum Abkommen leitet der EuGH aus der Funktion der Assoziationsratsbeschlüsse ab, die Ziele des Assoziationsabkommens zu verwirklichen (EuGH, Rs. C-277/94, Slg. 1996, I-4085, Rn. 18 - Taflan-Met). 17 Mögele, a.a.O (Anm. 15), Art. 217 AEUV, Rdnr. 23; Schmalenbach, a.a.O. (Anm. 8), §6, Rdnr. 19. 18 Schmalenbach, a.a.O. (Anm. 8), §6, Rdnr. 19. 19 Mögele, a.a.O (Anm. 15), Art. 217 AEUV, Rdnr. 23. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 147/16 Seite 8 Die Entscheidungen im Assoziationsrat werden einstimmig getroffen (Art. 23 Abs. 3 AssAbk), d.h. jede Vertragspartei – die Union und ihre Mitgliedstaaten auf der einen Seite und die Türkei als Vertragspartner auf der anderen Seite – hat die Möglichkeit eines Vetos.20 Die Union und ihre Mitgliedstaaten müssen sich also auf ihre Position im Assoziationsrat im Vorfeld einigen, was bei der Vorbereitung von rechtsverbindlichen Assoziationsratsbeschlüssen unionsintern durch Ratsbeschluss ohne Parlamentsbeteiligung erfolgt (Art. 218 Abs. 9 i.V.m. Abs. 8 AEUV). Die Mehrheitsverhältnisse im Rat richten sich nach denjenigen, die für den Erlass eines internen EU- Aktes im Rat erforderlich wären. 3. Vertiefung der Zollunion 3.1. Rechtliches Instrumentarium Die Zollunion zwischen EU und der Türkei ist in der Vergangenheit durch sekundäres Assoziierungsrecht oder durch Zusatzprotokolle zum AssAbk modifiziert und erweitert worden.21 Für eine Erweiterung bzw. Reform der Zollunion stehen damit rechtlich zwei Wege zur Verfügung: Zum einen durch Beschlüsse der Assoziierungsgremien, also durch „sekundäres“ Assoziierungsrecht . Völkerrechtlich handelt es sich dabei um die Fortentwicklung eines vertraglichen „Integrationsprogramms“, so wie es im Assoziationsabkommen völkervertraglich angelegt ist. Insoweit müssen die EU und die Türkei im Assoziationsrat einstimmig abstimmen; für die interne Abstimmung unter den EU-Mitgliedstaaten gilt das Mehrheitsprinzip (s.o. 2.5). Zum anderen ließe sich die Reform der Zollunion rechtstechnisch über die Verabschiedung eines weiteren Zusatzprotokolls zum AssAbk, also durch „primäres“ Assoziierungsrecht regeln. Insoweit handelt es sich um eine Änderung bzw. Modifikation des völkerrechtlichen Vertrages (Primärrecht). Einem Zusatzabkommen zum AssAbk müssten die Türkei, die EU und alle ihre Mitgliedstaaten gesondert zustimmen; das Zusatzabkommen bedarf zudem einer Ratifikation. Ob sich die geplante Vertiefung der Zollunion rechtlich in Form einer formellen Vertragsänderung (Zusatzprotokoll) oder im Wege des sekundären Assoziierungsrechts (also durch Vertragsfortentwicklung ) gestaltet, hängt von den konkreten Vorschlägen der EU-Kommission ab. 20 Schmalenbach, a.a.O. (Anm. 8), §6, Rdnr. 19. 21 So wurde etwa durch Beschluss Nr. 1/98 des Assoziationsrats EG-Türkei vom 25.2.1998 die gegenseitigen Präferenzregelungen für den Agrarhandel zwischen der Türkei und der Gemeinschaft schrittweise verbessert. Mit Beschluss Nr. 1/2001 des Ausschusses für Zusammenarbeit im Zollwesen EG-Türkei vom 28.3.2001 wurden die für den Warenverkehr zwischen den beiden Teilen der Zollunion und gegenüber Drittländern geltenden zollrechtlichen Durchführungsvorschriften zu Beschluss Nr. 1/95 festgelegt. Demgegenüber wurden Fragen zu Investitionsdarlehen im Protokoll Nr. 2 zum AssAbk (sog. Finanzierungsprotokoll ) geregelt. Ein Zusatzprotokoll war auch angesichts der Erweiterungsrunden der EU erforderlich. Präferenzabkommen , wie sie im Bereich Kohle und Stahl sowie Landwirtschaft abgeschlossen wurden, sind dagegen eigenständige Handelsabkommen in Form von völkerrechtlichen Verträgen, die der Ratifizierung bedürfen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 147/16 Seite 9 Mit Blick auf die vom BVerfG entwickelten Grundsätze zur Änderung bzw. zur Fortentwicklung völkerrechtlicher Verträge22 lässt sich jedoch schon jetzt folgendes festhalten: Der Weg über das sekundäre Assoziierungsrecht bietet sich an, soweit die geplante Erweiterung der Zollunion im AssAbk von 1963 bereits vertraglich angelegt ist – so wie etwa die Liberalisierung auf dem Gebiet des Dienstleistungsverkehrs. Eine substantielle „Neuausrichtung“ der Zollunion – vor allem die Schaffung neuer Assoziierungsorgane – würde dagegen eine Änderung des primären Assoziierungsrechts (also ein neues Zusatzabkommen) erforderlich machen. Dieser Weg ist deutlich aufwendiger und zeitintensiver als der Erlass von sekundärem Assoziierungsrecht durch den Assoziationsrat, da Änderungen des Primärrechts parlamentarisch ratifiziert werden müssen. 3.2. Nationale Einfluss- und Blockademöglichkeiten Vollzieht sich die Erweiterung der Zollunion im Wege des sekundären Assoziierungsrechts, so gilt das Prinzip der Einstimmigkeit im Assoziationsrat – jedoch nur im Verhältnis EU-Türkei. Die der Entscheidung im Assoziationsrat vorgeschaltete interne Abstimmung unter den EU- Mitgliedstaaten richtet sich dagegen nach den allgemeinen Regeln beim Erlass sekundären Unionsrechts (vgl. Art. 16 Abs. 3 EUV). Insoweit gilt das qualifizierte Mehrheitsprinzip (s.o. 2.5) mit der Folge, dass Deutschland allein keine Vetomöglichkeit hätte, um eine Erweiterung der Zollunion gegen den Willen der übrigen EU-Partner sowie der Türkei zu verhindern. Um eine Vertiefung der Zollunion rechtlich zu verhindern und entsprechende Vorschläge der EU-Kommission zu blockieren bedarf es zunächst der Abstimmung innerhalb der EU. Politische Voraussetzung dafür ist, dass die wirtschaftlichen Folgen dieser „Blockade“ für die EU nicht nachteiliger ausfallen als für die Türkei. Schon in den 1980er Jahren hat sich die Blockade des fortschreitenden Assoziierungsprozesses mit der Türkei offenbar als probate Reaktion auf die politische Entwicklung in der Türkei erwiesen (s.o. 2.2). (Damals war die Zollunion allerdings auch noch nicht vollständig verwirklicht). 22 Das BVerfG führt – vor dem Hintergrund der parlamentarischen Beteiligung nach Art. 59 Abs. 2 GG – in seiner Entscheidung zum Strategischen NATO-Konzept von 2001 (BVerfGE 104, 151, 195 f.) aus: „Die Zustimmung des Bundestags zu einem solchen Vertrag kann die Regierung ermächtigen, in den Organen und Institutionen des Vertrags an seiner Fortentwicklung auch ohne eine förmliche Vertragsänderung mitzuwirken [...]. Dies gilt insbesondere, wenn der Vertrag auf Integration angelegt, also auf ein verstetigtes und die Staaten einander näher rückendes praktisches Zusammenwirken ausgerichtet ist. (…) Vollzugsschritte innerhalb des Organ- und Institutionensystems eines solchen Vertrags müssen allerdings in dem dazu ergangenen Zustimmungsgesetz hinreichend bestimmbar angelegt sein. Die Ermächtigung umfasst nicht eine wesentliche Fortentwicklung, die die Zustimmung des Parlaments gegenstandslos werden ließe; wesentliche Überschreitungen oder Änderungen des im Vertrag angelegten Integrationsprogramms sind daher von dem ursprünglichen Zustimmungsgesetz nicht mehr gedeckt.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 147/16 Seite 10 4. Suspendierung der Zollunion Die Zollunion beruht – wie bereits gesehen – auf der völkervertraglichen Grundlage des AssAbk von 1963 (s.o. 2.1). Ziel des Abkommens ist es, eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien unter voller Berücksichtigung der Notwendigkeit zu fördern, dass hierbei der beschleunigte Aufbau der türkischen Wirtschaft sowie die Hebung des Beschäftigungsstandes und der Lebensbedingungen des türkischen Volkes gewährleistet werden (Art. 2 AssAbk). Vertraglich hat sich die EU gem. Art. 2 Abs. 2 AssAbk zur Errichtung einer Zollunion verpflichtet , die seit 1995 auch verwirklicht ist (s.o. 2.2). Weiter ist die EU wohl auch verpflichtet, die Zollunion zumindest auf dem status quo weiter zu praktizieren. Insoweit ist terminologisch zu unterscheiden zwischen einem „Suspendieren“ der Zollunion im Sinne eines „Nicht-mehr-Anwendens“ des geltenden Rechts (= dies wäre rechtlich unzulässig) und einem „Suspendieren“ des Assoziierungsprozesses im Sinne eines „Einfrierens“ der Zollunion auf dem status quo bei gleichzeitiger fortgesetzter Anwendung der geltenden Bestimmungen 23 (= dies wäre rechtlich zulässig, s.o. 3.2). Beschlüssen, die zu einer Vertiefung oder Reform der Zollunion führen, kann sich die EU wegen des Einstimmigkeitsprinzips im Assoziationsrat widersetzen (s.o. 3.2). Ein „Rückbau“ der Zollunion zum Nachteil der Türkei, also ein Aussetzen oder Suspendieren der derzeit geltenden Bestimmungen – mit der Folge von wirtschaftlichen Nachteilen für die Türkei – würde indes gegen die völkervertraglichen Ziele des AssAbk verstoßen. Die Türkei würde überdies im Assoziationsrat darauf achten, dass Beschlüsse mit nachteiligen wirtschaftlichen Folgen für das Land gar nicht erst gefasst werden. Das Assoziationsabkommen mit der Türkei von 1963 ist zudem auf Kontinuität, Weiterentwicklung und Dauerhaftigkeit angelegt. Es enthält infolgedessen auch keine Kündigungs- oder Beendigungsklausel . Die einseitige Aufkündigung der Vertragsbeziehungen ist gem. Art. 56 der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVRK) daher nicht möglich. Selbst ein Abbruch der diplomatischen Beziehungen zur Türkei würde die durch den Vertrag begründeten Rechtsbeziehungen – also die Zollunion – grundsätzlich unberührt lassen (Art. 63 WVRK). 23 Des sog. acquis communautaire. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 147/16 Seite 11 5. Beendigung des Assoziierungsprozesses mit der Türkei Als (theoretisch) letzte Möglichkeit ließe sich eine Beendigung des Assoziierungsprozesses mit der Türkei in Erwägung ziehen. Die Wiener Vertragsrechtskonvention sieht dazu zwei Möglichkeiten vor: Die Verletzung des Vertrages durch eine Vertragspartei (Art. 60 Abs. 1 WVRK) und den Wegfall oder Wandel der für den Vertrag konstitutiven Umstände oder Geschäftsgrundlage (sog. clausula rebus sic stantibus, Art. 62 Abs. 1 WVRK). 5.1. Vertragsverletzungen Für einen Vertragsbruch (i.S.v. Art. 60 Abs. 1 WVRK) ist eine „erhebliche Verletzung“ (material breach) erforderlich,24 d.h. die Verletzung einer für die Erreichung des Vertragszieles wesentlichen Bestimmung (Art. 60 Abs. 3 lit. b der WVRK).25 Ausgangspunkt einer möglichen Vertragsverletzung ist Art. 7 des AssAbk, wonach die Vertragsparteien „alle Maßnahmen unterlassen, welche die Verwirklichung der Ziele des Abkommens gefährden könnten“. Fraglich ist insoweit, ob die Verschlechterung der politisch-demokratischen Situation in der Türkei und die Verletzung von Demokratie- und Menschenrechtsstandards eine Verletzung des AssAbk im Sinne von Art. 60 der WVRK darstellt. Erklärtes Ziel des EU/Türkei-Assoziationsabkommens ist gem. Art. 2 nur der Aufbau der türkischen Wirtschaft, die Verstärkung der Handels und Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und der Türkei sowie die Errichtung einer Zollunion – nicht dagegen die Einhaltung von Demokratie - und Menschenrechtsstandards durch die Türkei. 24 Ipsen (Hrsg.), Völkerecht, München: Beck, 6. Aufl. 2014, §16, Rdnr. 79. 25 Art. 60 Abs. 1 WVRK lautet: Eine erhebliche Verletzung eines zweiseitigen Vertrags durch eine Vertragspartei berechtigt die andere Vertragspartei , die Vertragsverletzung als Grund für die Beendigung des Vertrags oder für seine gänzliche oder teilweise Suspendierung geltend zu machen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 147/16 Seite 12 Anders als viele der neueren Handels- oder Assoziierungsabkommen der EU26 enthält das Anfang der 1960er Jahre Assoziierungsabkommen mit der Türkei keine Demokratie- und Menschenrechtsklauseln , deren Einhaltung eine essentielle Basis für den Vertragskonsens darstellt. Allein der vorsichtige Hinweis in der Präambel des Assoziationsabkommens auf einen „späteren Beitritt der Türkei zur Europäischen Gemeinschaft“ lässt sich rechtlich kaum als eine unausgesprochene Erwartung der Vertragsparteien im Hinblick auf konkrete Menschenrechtsverpflichtungen der Türkei auslegen. Die Pflicht zur Einhaltung von Demokratie- und Menschenrechtsstandards finden daher in dem AssAbk historisch nachvollziehbar27 keinen expliziten vertraglichen Widerhall. Nach Maßgabe des AssAbk EU/Türkei von 1963 ist eine Zollunion – zugespitzt formuliert – auch mit einem autoritärem Regime rechtlich statthaft, solange dieses Regime wirtschaftlich stabil bleibt und seine wirtschaftlichen und zollrechtlichen Verpflichtungen einhält.28 Für die Annahme einer Vertragsverletzung i.S.d. Art. 60 Abs. 1 WVRK erforderlich wären folglich erhebliche Verstöße der Türkei gegen das AssAbk. Das Abkommen enthält indes wenig konkrete Verpflichtungen, sondern erschöpft sich weitgehend in prozeduralen und institutionellen Vorschriften über die Fortentwicklung eines auf die Zollunion ausgerichteten vertraglichen Integrationsprogramms. Verstöße gegen sekundäres Assoziierungsrecht – also etwa die Beschlüsse des Assoziationsrates – schlagen regelmäßig nicht auf die Primärrechtsebene durch und würden als Vertragsverletzung daher nicht ausreichen. 26 Vgl. exemplarisch das auf einen möglichen Beitritt Albaniens zur EU ausgerichtete Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Albanien andererseits (Abl. EU, L Nr. 107, S. 166 v. 28.4.2009 https://www.wko.at/Content.Node/service/aussenwirtschaft/fhp/Handelsabkommen/SAA-EU-Albanien---ABl- L-107-v-090428.pdf. Artikel 2 dieses Abkommens formuliert klar: Die Wahrung der Grundsätze der Demokratie, die Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verkündet und in der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Schlussakte von Helsinki und der Pariser Charta für ein neues Europa festgelegt wurden, und die Wahrung der Grundsätze des Völkerrechts und der Rechtsstaatlichkeit sowie der Grundsätze der Marktwirtschaft, wie sie im Dokument der Bonner KSZE-Konferenz über wirtschaftliche Zusammenarbeit zum Ausdruck kommen, sind die Grundlage der Innen- und der Außenpolitik der Vertragsparteien und wesentliche Bestandteile dieses Abkommens. 27 Auch die „Sechser-Gemeinschaft“ der EWG verstand sich vornehmlich mehr als Wirtschafts- denn als Wertegemeinschaft . Zu den Aufgaben der EWG zählten gem. Art. 2 des EWG-Vertrags vom 25. März 1957: Aufgabe der Gemeinschaft ist es, durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, eine beständige und ausgewogene Wirtschaftsausweitung, eine größere Stabilität, eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung und engere Beziehungen zwischen den Staaten zu fördern, die in dieser Gemeinschaft zusammengeschlossen sind. 28 Ob eine solche Kooperation auch politisch opportun ist, ist an dieser Stelle nicht zur beurteilen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 147/16 Seite 13 5.2. Clausula rebus sic stantibus Die Berufung auf die in Art. 62 Abs. 1 der WVRK niedergelegten clausula rebus sic stantibus (Wegfall oder Wandel der für den Vertag konstitutiven Umstände bzw. Geschäftsgrundlage) erscheint aus dem gleichen Grunde problematisch wie die Berufung auf eine Vertragsverletzung – die Einhaltung von demokratisch-rechtstaatlichen Grundsätzen in der Türkei ist nicht zur rechtlichen oder tatsächlichen „Geschäftsgrundlage“ für die Vertragsbeziehungen beider Parteien gemacht worden. Art. 62 Abs. 1 WVRK lautet: Eine grundlegende Änderung der beim Vertragsabschluss gegebenen Umstände, die von den Vertragsparteien nicht vorausgesehen wurde, kann nicht als Grund für die Beendigung des Vertrags oder den Rücktritt von ihm geltend gemacht werden, es sei denn … a) das Vorhandensein jener Umstände bildete eine wesentliche Grundlage für die Zustimmung der Vertragsparteien, durch den Vertrag gebunden zu sein, und b) die Änderung der Umstände würde das Ausmaß der auf Grund des Vertrags noch zu erfüllenden Verpflichtungen tiefgreifend umgestalten. Die Formulierung in Art. 60 WVRK macht einmal mehr deutlich, dass die clausula nach dem Willen der Vertragsschöpfer nur unter äußerst strengen Voraussetzungen zur Anwendung kommen soll, um Missbrauch auszuschließen.29 Bereits während der internationalen Verhandlungen zur Wiener Vertragsrechtskonferenz in den 1960er Jahren wurde die Frage aufgeworfen, ob auch die Änderung solcher Umstände geltend gemacht werden kann, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang zu dem jeweiligen Vertrag stehen.30 Eine Änderung der politischen Umstände (z.B. Regierungsumsturz, grundlegende Änderung der Außenpolitik) kann insbesondere für Verteidigungsbündnisse von entscheidender Bedeutung sein. In diesem Zusammenhang wurde auf der Vertragskonferenz zur WVRK über ein implizites Kündigungsrecht zu Bündnisverträgen diskutiert.31 Die International Law Commission, welche die Vorarbeiten zur Verabschiedung der Wiener Vertragsrechtskonvention geleistet hat, hat die Änderung politischer Umstände jedenfalls nicht generell aus dem Anwendungsbereich der clausula rebus sic stantibus ausgenommen. Für eine erfolgreiche Berufung auf die clausula müsste die EU darlegen, dass die aktuelle politische Situation in der Türkei eine „nicht vorhersehbare, grundlegende Änderung der beim Vertragsabschluss gegebenen Umstände“ darstellt, deren „Vorhandensein eine wesentliche Grundlage für den Vertragsabschluss bildete“ und die „Erfüllung der Vertragsverpflichtungen tiefgreifend umgestalten würde“. 29 Graf Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, Berlin: Gruyter, 7. Aufl. 2016, 1. Abschnitt, Rdnr. 130. 30 Dazu näher Widdows, K., The unilateral denunciation of treaties containing no denunciation clause, in: British Yearbook of International Law (BYIL) 1982, S. 83-114, http://bybil.oxfordjournals.org/content/53/1/83.extract. 31 Nachweise bei Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München: Beck, 6. Aufl. 2014, §16, Rdnr. 94. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 147/16 Seite 14 Auszugehen wäre dabei von der politischen Situation in der Türkei im Jahre 1963 und den vertragsleitenden Motiven der damals sechs EWG-Staaten. In diesem Zusammenhang ließe sich die politische und wirtschaftliche Stabilität der Türkei durchaus als eine unausgesprochene Voraussetzung für die erfolgreiche wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der EU annehmen. Ob freilich die Assoziierung der Türkei auch die unausgesprochene Erwartung einer Einhaltung von Demokratie- und Menschenrechtsstandards mit Blick auf einen „späteren Beitritt“ der Türkei zur EU (vgl. Präambel zum AssAbk) beinhaltet, mag aus heutiger Sicht politisch selbstverständlich erscheinen, lässt sich aber vor dem Hintergrund des Wortlautes des AssAbk und des damaligen Integrationsstandes der EWG rechtlich kaum überzeugend argumentieren. Überdies müsste die EU darlegen, dass die Türkei infolge der aktuellen politischen Situation nach dem Putschversuch ihren wirtschaftlichen Verpflichtungen aus dem AssAbk bzw. der Zollunion nicht nachkommen kann. 5.3. Prozedurale Schritte Jeder politische „Vorstoß“ Deutschlands in Richtung Beendigung / Suspendierung des AssAbk von 1963 bedürfte zunächst der Einstimmigkeit der EU-Mitgliedstaaten. Gesetz den Fall, die EU würde sich tatsächlich auf die clausula rebus sic stantibus berufen, dürfte sie das AssAbk mit der Türkei aber nicht einfach beliebig beenden, sondern wäre rechtlich gehalten, zunächst das Verfahren der WVRK zur Geltendmachung der Ungültigkeits-, Beendigungs - und Suspendierungsgründe (Art. 65 ff. WVRK) einzuleiten. Dieser Weg ist zeitintensiv und kompliziert. Legte die Türkei – wovon auszugehen wäre – Einspruch gegen die Geltendmachung der clausula durch die EU ein, so würde sich zunächst ein Verfahren zur gerichtlichen (IGH) oder schiedsgerichtlichen Streitbeilegung anschließen (Art. 66 WVRK). Mit Blick auf die materielle Rechtslage erscheinen die Erfolgsaussichten einer solchen Streitbeilegung aus Sicht der EU ausgesprochen gering. ***