© 2019 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 131/19 Blockierung des Internetzugangs im Lichte des Völkerrechts Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 131/19 Seite 2 Blockierung des Internetzugangs im Lichte des Völkerrechts Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 131/19 Abschluss der Arbeit: 25. November 2019 (zugleich letzter Zugriff auf die Internetquellen) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 131/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Regulierung des Internets 4 2. Blockierung des Internets im Lichte menschenrechtlicher Verpflichtungen 5 2.1. EMRK 5 2.2. Universelle Ebene 9 2.2.1. Universelle Verankerung des Rechts auf freien Zugang zu Informationen 9 2.2.2. Berichte des VN-Sonderberichterstatters 10 2.2.3. General Comment Nr. 34 des VN-Menschenrechtsausschusses 11 2.2.4. Resolution des VN-Menschenrechtsrates von 2016 12 3. Zugang zum Internet als digitales Menschenrecht 13 3.1. Rechtsphilosophische Diskussion 13 3.2. Rechtsentwicklungen 14 4. Resümee 15 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 131/19 Seite 4 1. Einführung: Regulierung des Internets Bei der Regulierung des Internetzugangs1 – z.B. durch Blockieren der digitalen Nutzung des World Wide Web, durch Sperren oder Filtern bestimmter Websites bzw. IP-Adressen, durch Umleitung des Internetverkehrs über Knotenpunkte im eigenen Land oder durch Schaffung eines eigenständigen „nationalen“ Internet / Intranet2 – wie es derzeit in China,3 im Iran4 oder in Russland (sog. „Runet“)5 zu beobachten ist, geht es im Kern um eine Einschränkung der klassischen bzw. digitalen Menschenrechte durch staatliche Maßnahmen.6 Das bedeutet, dass nationale Gesetze, die auf eine Blockierung bzw. Einschränkung des Internetzugangs abzielen oder diese zur Folge haben, am Maßstab der internationalen Menschenrechte – Recht auf ungehinderten Zugang zu Informationen, Meinungsäußerungsfreiheit in Chats oder Recht auf Privatleben in sozialen Medien – zu überprüfen sind (dazu 2.). 1 Die Regulierung des Internets ist seit längerem Gegenstand historischer, völkerrechtlicher bzw. politikwissenschaftlicher Untersuchungen, vgl. z.B. Ev Ehrlich, “A brief history of internet regulation”, Progressive Policy Institute (ein U.S. Think Tank), Policy Memo, März 2014, https://www.progressivepolicy.org/wpcontent /uploads/2014/03/2014.03-Ehrlich_A-Brief-History-of-Internet-Regulation.pdf. Antonio Segura-Serrano, “Internet Regulation and the Role of International Law“, in: Max Planck Yearbook of United Nations Law (Max Planck UNYB) Vol. 10 (2006), S. 191-272, https://www.mpil.de/files/pdf3/06_antoniov1.pdf. 2 Vgl. zu den technischen Fragen Florian Sprenger vom 11. März 2019, „Kann man das Internet abschalten?“, http://www.pop-zeitschrift.de/2019/03/11/kann-man-das-internet-abschalten-von-florian-sprenger11-3-2019/. WirtschaftsWoche vom 4. Januar 2018, „Wie Staaten das Internet abschalten“, https://www.wiwo.de/technologie/iran-kongo-china-wie-staaten-das-internet-abschalten/20812260.html. 3 SPIEGEL online vom 31. März 2018, „China schränkt Zugang zu freiem Internet weiter ein“, https://www.spiegel.de/netzwelt/web/china-regierung-erlaubt-nur-noch-staatlich-lizenzierte-vpn-software-a- 1200731.html. FAZ vom 6. Juli 2019, „China sperrt die F.A.Z.“, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/china-sperrtdie -f-a-z-im-internet-16270744.html. 4 Welt vom 18. November 2019, „Jetzt schaltet das Mullah-Regime fast allen Bürgern das Internet ab“, https://www.welt.de/politik/ausland/article203598632/Unruhen-im-Iran-Jetzt-schaltet-das-Mullah-Regime-fastallen -Buergern-das-Internet-ab.html. Euronews vom 18. November 2019, „Seit über 40 Std. ohne Neuigkeiten: Regierung im Iran kappt Internet“, https://de.euronews.com/2019/11/18/internet-aus-iran. 5 „Russia internet: Law introducing new controls comes into force“, BBC news vom 1. November 2019, https://www.bbc.com/news/world-europe-50259597. „Putin koppelt Russland vom Internet ab“, SPIEGEL online vom 1. November 2019, https://www.spiegel.de/politik/ausland/wladimir-putin-koppelt-russland-vom-internet-ab-umstrittenes-gesetza -1294331.html. „Internet in Russland kommt unter staatliche Kontrolle“, ZEIT online vom 1. November 2019, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-11/russland-gesetz-staatsnetz-internet. 6 Vgl. Dokumentation WD 2 - 3000 - 107/18 vom 3. August 2018, „Menschenrechte im digitalen Zeitalter“, https://www.bundestag.de/resource/blob/568306/39edaff23c4b48b1bee67944a169df27/wd-2-107-18-pdfdata .pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 131/19 Seite 5 Kriterien sind dabei vor allem die Schwere der Beeinträchtigung, der Zweck der staatlichen Regelung sowie die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs im Einzelfall. Ein spezifisches völkervertragliches oder gewohnheitsrechtliches Verbot der (nationalen) Regulierung des Internets existiert dagegen nicht.7 Internationale Nichtregierungsorganisationen wie Freedom House veröffentlichen regelmäßig Jahresberichte zum Thema „Freedom on the Net“ mit entsprechenden Übersichten, Rankings und Analysen zur Lage der Internetfreiheit bzw. Internet-Regulierung in den unterschiedlichen Staaten der Welt.8 Dies befördert die Diskussion über das Menschenrecht auf Internetzugang (dazu 3.). 2. Blockierung des Internets im Lichte menschenrechtlicher Verpflichtungen 2.1. EMRK Gesetze wie das russische „Gesetz über die Souveränität des Internet“ (Gesetz Nr. 608767-7),9 die wegen ihrer faktischen Einschränkung des Internetzugangs von internationalen Menschen- 7 Anders als die staatsfreien Räume der Hohen See oder des Weltraums hat das Internet (cyber space) bislang kaum eine spezielle völkerrechtliche Regulierung erfahren. 8 Freedom House (ed.), “Freedom on the net 2018”, https://freedomhouse.org/sites/default/files/FOTN_2018_Final%20Booklet_11_1_2018.pdf. Die Skala reicht von extremer Regulierung (China, Iran) bis hin zu weitgehender Internetfreiheit (in Island, Estland, Kanada). 9 Vgl. dazu Informationen auf der offiziellen Website der Staatsduma http://duma.gov.ru/news/44676/. Die Duma betont, dass es bei dem russischen Gesetz über das „souveräne Internet“ nicht um ein Blockieren des Internets gehe, sondern um die Schaffung einer „Reservestruktur für mehr Sicherheit vor Cyberattacken“ zwecks Sicherstellung der Verfügbarkeit von Internetressourcen für russische Benutzer. Human Rights Watch, blog vom 24. April 2019, “Joint Statement on Russia's "Sovereign Internet Bill", https://www.hrw.org/news/2019/04/24/joint-statement-russias-sovereign-internet-bill, führt zu dem Gesetz aus: “The bill (No. 608767-7) amends the laws “On Communications” and "On Information, Information Technologies and Information Protection" and states its aim as enabling the Russian Internet to operate independently from the World Wide Web in the event of an emergency or foreign threat. (…) The bill creates a system that gives the authorities the capacity to block access to parts of the Internet in Russia, potentially ranging from cutting access to particular Internet Service Providers (ISPs) through to cutting all access to the Internet throughout Russia (…). The bill states that the new measures will be activated in the event of a 'security threat'. The draft does not define security threats, and instead gives the government full discretion to decide what would constitute a security threat and what range of measures would be activated using the new system to address a threat. Further, the bill creates a national domain name system (DNS).” Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 131/19 Seite 6 rechtsorganisationen als Verletzung der Menschenrechte kritisiert werden,10 geraten mit Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950 in Konflikt.11 Artikel 10 EMRK schützt u.a. die Meinungsäußerungs- und Informationsbeschaffungsfreiheit und lautet: Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften , Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit (…) oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten (…). Obwohl das Internet bei Verabschiedung der EMRK im November 1950 noch gar nicht bekannt gewesen ist, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Fällen gegen die Türkei zu entscheiden gehabt, in denen es um einen blockierten Internet-Zugang ging.12 Bedeutsam erscheint insbesondere der Fall Cengiz u.a. gegen die Türkei,13 in dem es um eine gerichtlich angeordnete landesweite YouTube-Sperre ging. Ein türkisches Gericht in Ankara hatte am 5. Mai 2008 auf Grundlage eines türkischen Gesetzes zur Regulierung von Online-Veröffentlichungen und zur Bekämpfung von Verstößen im Internet die Sperrung des Zugangs zur Website http://www.youtube.com sowie zu anderen IP-Adressen, die den Zugang zu dieser Website ermöglichten, angeordnet. Das Strafgericht war zu der Feststellung gelangt, dass zehn auf YouTube verfügbare Videos das strafrechtliche Verbot der Beleidigung des Andenken Atatürks verletzten. Die Beschwerdeführer, in der Lehre tätige Rechtswissenschaftler türkischer Universitäten, forderten als aktive Nutzer der Website die Aufhebung der Sperre und behaupteten eine Verletzung ihres Rechts auf Empfang und Verbreitung von Informationen und Ideen aus Art. 10 EMRK. Sie führten aus, es gebe ein öffentliches Interesse am Zugang zu 10 Human Rights Watch, blog vom 24. April 2019, “Joint Statement on Russia's Sovereign Internet Bill", https://www.hrw.org/news/2019/04/24/joint-statement-russias-sovereign-internet-bill: “The bill contravenes standards on freedom of expression and privacy protected by the International Covenant on Civil and Political Rights (ICCPR) and the European Convention on Human Rights (ECHR), to which Russia is a party. Both treaties allow states to limit freedoms to protect national security but impose clear criteria for such limitations to be valid.” Reporters without Borders, blog vom 1. November 2019, “New law takes Internet censorship in Russia to a new level”, https://rsf.org/en/news/new-law-takes-internet-censorship-russia-new-level: “With these very broad, vaguely defined powers for very far-reaching, non-transparent and unmonitored government interference, the law violates the standards on freedom of expression and protection of privacy that derive from Russia's European and international human rights obligations.” 11 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, München: Beck, 6. Aufl. 2016, § 23 Rdnr. 16. 12 Vgl. eine Zusammenstellung der Fälle auf der Homepage des EGMR. „Factsheet – Access to Internet and freedom to receive and impart information and ideas” (Stand: Juni 2019), https://www.echr.coe.int/Documents/FS_Access_Internet_ENG.pdf. 13 Beschwerden Nr. 48226/10 und 14027/11, Urteil des EGMR vom 1. Dezember 2015, https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-159188%22]}. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 131/19 Seite 7 der Website, die Sperre stelle daher einen schwerwiegenden Eingriff in die Substanz ihres Rechts auf Empfang von Informationen und Ideen dar. Das Strafgericht von Ankara wies die Beschwerde zurück. Der EGMR machte in seinem Urteil von 1. Dezember 2015 zunächst deutlich, dass die Frage, ob jemand Opfer einer Zugangssperre zu einer Website sei, eine Einzelfallbeurteilung verlange. Insbesondere seien hierbei Faktoren wie die Art und Weise der Nutzung durch den Betroffenen und die Schwere der Folgen der Sperre für den Beschwerdeführer zu berücksichtigen. Außerdem sei zu berücksichtigen, welche herausragende Rolle das Internet heute für die Ausübung der Meinungs- und Informationsbeschaffungsfreiheit spiele. Die Teilnahme an Aktivitäten und Debatten zu politischen oder im öffentlichen Interesse liegenden Fragen werde wesentlich durch die Möglichkeiten des Internets bestimmt. Im konkreten Fall stellt der EGMR fest, dass die Beschwerdeführer ihre Beschwerden als aktive Nutzer von YouTube erhoben und dabei die Auswirkungen der Sperre auf ihre wissenschaftliche und berufliche Tätigkeit dargelegt hätten. Zudem verbreite YouTube nicht nur künstlerische und musikalische Werke, sondern sei eine sehr populäre Plattform für den politischen Diskurs sowie für politische und soziale Aktivitäten. Das Internet habe wegen der leichten Zugänglichkeit der Informationen und der vereinfachten Kommunikation auf Websites grundsätzlich große Bedeutung als Mittel zur Ausübung der Meinungsfreiheit. Die Website YouTube habe daran im Allgemeinen Anteil und im Besonderen werde politische Information, die von traditionellen Medien nicht übermittelt werde, oft über YouTube verbreitet, was einen Bürgerjournalismus ermögliche. Die Beschwerdeführer seien aktive Nutzer, die die Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit über die gesperrte Website verbreiteten. Die Sperre der Website habe sie daher eines bedeutenden Mittels beraubt, ihre Freiheit zum Empfang und zur Verbreitung von Informationen und Ideen auszuüben. Die Sperre sei auch ein staatlicher Eingriff in das Recht aus Art. 10 EMRK, weil die Website YouTube für die Beschwerdeführer lange Zeit nicht erreichbar gewesen sei und die Beschwerdeführer als aktive Nutzer damit an der Ausübung ihres Rechts auf Informationsfreiheit gehindert gewesen seien. Der Gerichtshof stellt sodann fest, dass die gesetzliche Grundlage für die staatliche Maßnahme die Kriterien der Zugänglichkeit und der Vorhersehbarkeit nicht erfülle. Das Gesetz berechtige nur zur Sperrung einzelner Inhalte, nicht jedoch zur pauschalen Blockade des Zugangs zu einer Internetseite aufgrund eines einzelnen Inhalts. Eine Sperrverfügung könne danach nur gegen eine bestimmte Veröffentlichung verhängt werden. Die Kriterien für die Präzision der gesetzlichen Regelung der staatlichen Befugnisse seien besonders streng zu handhaben, weil es sich um eine präventive staatliche Maßnahme handele. Daher habe es keine gesetzliche Grundlage für die pauschale Sperre des Zugangs zu YouTube durch das türkische Gericht gegeben. Die Anforderungen der gesetzlichen Grundlage für einen Eingriff in Art. 10 EMRK seien daher nicht erfüllt.14 Grabenwarter kommentiert das EGMR-Urteil wie folgt: „Das Urteil betrifft im Kern wichtige Fragen des Rechtsschutzes von Internetnutzern in Fällen der Sperrung von Internetseiten. Obwohl die Sperrverfügungen an die Provider der Internetseiten gerichtet sind, erkennt 14 Vgl. die Zusammenfassung von Grabenwarter, Christoph, „Bericht über die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Jahr 2015“, S. 36 ff., https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/Themen/Menschenrechte/Bericht_Rechtssprechung_EGMR_2 015_andere_Staaten.pdf?__blob=publicationFile&v=2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 131/19 Seite 8 der EGMR an, dass Nutzer dieser Internetseiten unter bestimmten Voraussetzungen, ohne direkte Adressaten dieser staatlichen Maßnahme zu sein, dennoch durch die Sperrung in ihren Rechten aus der Konvention verletzt sein können. Der EGMR stellt damit fest, dass unter bestimmten Umständen, die im Urteil angedeutet werden, Nutzern ein Rechtsweg gegen Sperrverfügungen offen stehen müsse, in dem sie ihre diesbezüglichen grundrechtlich gewährleisteten Rechte geltend machen können. (…) Zu beachten ist, dass der EGMR eine Verletzung von Art. 10 EMRK bereits wegen des Fehlens einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage verneint . Eine Prüfung der Voraussetzungen der Rechtfertigung des Art. 10 Abs. 2 EMRK unterbleibt. Zu Anforderungen an ein legitimes Ziel und die Verhältnismäßigkeit von Internetsperren können dem Urteil daher keine Anhaltspunkte entnommen werden.“15 Derzeit sind vor dem Straßburger EGMR weitere einschlägige Fälle anhängig.16 Im Mai 2019 hat z.B. Wikipedia Beschwerde gegen die Sperrung des Online-Lexikons in der Türkei eingelegt. Wikipedia ist seit mehr als zwei Jahren in der Türkei nicht mehr aufrufbar. Als Grund für die Sperrung gab die türkische Telekommunikationsbehörde an, auf der Website würde fälschlicherweise behauptet, die Türkei unterstütze Terrororganisationen.17 Die Wikipedia-Sperre beruht auf dem türkischen Gesetz Nr. 5651. Seit April 2015 gibt es Regelungen in der Türkei, wonach der Zugang zu Websites eingeschränkt werden kann, um die nationale Sicherheit zu wahren und um Kriminalität vorzubeugen. Inwieweit dieses Ziel die Sperrung der Wikipedia rechtfertigen kann, ist nach Auffassung des türkischen Rechtswissenschaftlers Yaman Akdeniz äußerst fraglich .18 Laut Gesetz dürfe der Premierminister nur in Notfällen zu Zensurmaßnahmen greifen; ein solcher sei aber nicht ersichtlich, vor allem nicht bei Artikeln, deren Inhalte lange bekannt sind. Eine Entscheidung des EGMR bleibt abzuwarten. Gleiches gilt – vorausgesetzt, Russland bleibt weiterhin Mitglied der EMRK19 – für eine mögliche zukünftige Entscheidung des EGMR zum russischen Internet-Gesetz, der an dieser Stelle nicht vorgegriffen werden soll. 15 Ebenda., S. 37. 16 Vgl. z.B. Beschwerde Nr. 10795/14 vom 27. Dezember 2013 – Vladimir Kharitonov gegen Russland, https://hudoc.echr.coe.int/fre#{%22itemid%22:[%22001-173648%22]}: The applicant alleges in particular that the blocking of a third party’s website located on the same IP address as his own had the disproportionate effect of blocking access to his website. 17 ZEIT online vom 23. Mai 2019, „Wikipedia reicht in Straßburg Klage gegen Sperre in der Türkei ein“, https://www.zeit.de/news/2019-05/23/wikipedia-reicht-in-strassburg-klage-gegen-sperre-in-der-tuerkei-ein- 20190523-doc-1gt70j. Hürriyet vom 24. Mai 2019, „Wikipedia verklagt Türkei vor dem EGMR“, https://www.hurriyet.de/news_wikipedia-verklagt-tand-252-rkei-vor-dem-egmr_143517302.html. 18 TAZ-Interview vom 3. Mai 2017, „Jura-Prof über Wikipedia-Sperre in Türkei: Das ist Einschüchterungstaktik“, https://taz.de/Jura-Prof-ueber-Wikipedia-Sperre-in-Tuerkei/!5406943/. 19 DW vom 16. Dezember 2015, „Russland will internationale Gerichte ignorieren“, https://www.dw.com/de/russland-will-internationale-gerichte-ignorieren/a-18921199. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 131/19 Seite 9 2.2. Universelle Ebene 2.2.1. Universelle Verankerung des Rechts auf freien Zugang zu Informationen Auf universeller Ebene bestehen vergleichbare Regelungen zum Schutz des Rechts auf freien Informationszugang im Rahmen des Internationalen Pakts für bürgerliche und politische Rechte (VN-Zivilpakt)20 sowie der Allgemeinen Menschenrechtserklärung (AllgErkl.MR).21 Letztere hat nach einhelliger Auffassung zumindest partiell völkergewohnheitsrechtliche Verbindlichkeit erlangt,22 so dass sich hieraus gewisse Verpflichtungen für Staaten ergeben, welche den VN- Zivilpakt nicht ratifiziert haben (wie z.B. China).23 Artikel 19 VN-Zivilpakt lautet: (2) (…) dieses Recht schließt die Freiheit ein, ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen Informationen und Gedankengut jeder Art in Wort, Schrift oder Druck, durch Kunstwerke oder andere Mittel eigener Wahl sich zu beschaffen , zu empfangen und weiterzugeben. (3) Die Ausübung der in Absatz 2 vorgesehenen Rechte (…) kann bestimmten, gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen unterworfen werden, die erforderlich sind (…) für den Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung (…). Art. 19 AllgErkl.MR lautet „Dieses Recht schließt die Freiheit ein, (…) über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.“ Art. 29 Abs. 2 AllgErkl.MR schränkt die Rechte wie folgt ein: „Jeder ist bei der Ausübung seiner Rechte und Freiheiten nur den Beschränkungen unterworfen, die das Gesetz ausschließlich zu dem Zweck vorsieht, (…) der öffentlichen Ordnung in einer demokratischen Gesellschaft zu genügen.“ 20 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966, BGBl. 1973 II 1553, https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF- Dateien/Pakte_Konventionen/ICCPR/iccpr_de.pdf. Russland ist sowohl dem VN-Zivilpakt als auch dem 1. Zusatzprotokoll von 1966 über die Möglichkeit der Individualbeschwerde zum Genfer VN-Menschenrechtsausschuss beigetreten. Der Iran hingegen hat den VN-Zivilpakt ratifiziert, nicht aber das 1. Zusatzprotokoll. 21 Resolution der VN-Generalversammlung A Res. 217 A (III) vom 10. Dezember 1948. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, https://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf. 22 Vgl. für viele Epping, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München: Beck, 7. Aufl. 2018, § 9 Rdnr. 11. Hobe, Stephan, Einführung in das Völkerrecht, Tübingen, 10. Aufl. 2014, S. 408. 23 Ratifikationsstand des Paktes abrufbar unter: https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-4&chapter=4&clang=_en. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 131/19 Seite 10 2.2.2. Berichte des VN-Sonderberichterstatters Der VN-Sonderberichterstatter zur Meinungsfreiheit, Frank La Rue, hat eine Konturierung und Auslegung des Menschenrechts auf ungehinderten Zugang zu Information im Kontext von Einschränkungen des Internetzugangs vorgenommen. In seinem Bericht vom 16. Mai 2011 an den VN-Menschenrechtsrat24 weist er zunächst auf die besondere Bedeutung des Internets für die Inanspruchnahme von Menschenrechten hin und präzisiert sodann die rechtlichen Grenzen und Kriterien für eine zulässige Einschränkung des Internetzugangs: 67. Unlike any other medium, the Internet enables individuals to seek, receive and impart information and ideas of all kinds instantaneously and inexpensively across national borders. By vastly expanding the capacity of individuals to enjoy their right to freedom of opinion and expression, which is an “enabler” of other human rights, the Internet boosts economic, social and political development, and contributes to the progress of humankind as a whole. 68. The Special Rapporteur emphasizes that there should be as little restriction as possible to the flow of information via the Internet, except in few, exceptional, and limited circumstances prescribed by international human rights law. He also stresses that the full guarantee of the right to freedom of expression must be the norm, and any limitation considered as an exception, and that this principle should never be reversed. 69. As with offline content, when a restriction is imposed as an exceptional measure on online content, it must pass a three-part, cumulative test: (1) it must be provided by law, which is clear and accessible to everyone (principles of predictability and transparency); (2) it must pursue one of the purposes set out in article 19, paragraph 3, of the ICCPR, namely: (i) to protect the rights or reputations of others; (ii) to protect national security or public order, or public health or morals (principle of legitimacy); and (3) it must be proven as necessary and the least restrictive means required to achieve the purported aim (principles of necessity and proportionality ). Ein pauschales „Abschotten“ des Internets, aus welchen Gründen auch immer, hält der Berichterstatter für eine Verletzung von Art. 19 VN-Zivilpakts: 78. While blocking and filtering measures deny users access to specific content on the Internet, States have also taken measures to cut off access to the Internet entirely. The Special Rapporteur considers cutting off users from Internet access, regardless of the justification provided, (…) to be disproportionate and thus a violation of article 19, paragraph 3, of the International Covenant on Civil and Political Rights. 79. The Special Rapporteur calls upon all States to ensure that Internet access is maintained at all times, including during times of political unrest. In particular, the Special Rapporteur urges States to repeal or amend existing intellectual copyright laws which permit users to be disconnected from Internet access, and to refrain from adopting such laws. 24 Report of the Special Rapporteur on the promotion and protection of the right to freedom of opinion and expression, A/HRC/17/27, 16. Mai 2011, https://www2.ohchr.org/english/bodies/hrcouncil/docs/17session/A.HRC.17.27_en.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 131/19 Seite 11 In seinem Bericht vom 10. August 2011 an die VN-Generalversammlung25 weist der VN- Sonderberichterstatter zudem auf die Notwendigkeit einer unabhängigen rechtlichen Kontrolle von staatlichen Internet-Blockierungen hin: 38. In this regard, the Special Rapporteur reiterates the recommendations made in his most recent report to the Human Rights Council that States should provide full details regarding the necessity and justification for blocking a particular website, and determination of what content should be blocked should be undertaken by a competent judicial authority or a body which is independent of any political, commercial, or other unwarranted influences to ensure that blocking is not used as a means of censorship. 2.2.3. General Comment Nr. 34 des VN-Menschenrechtsausschusses Nach Maßgabe von Art. 40 Abs. 4 VN-Zivilpakt fasst der zur Überwachung des Paktes gem. Art. 28 VN-Zivilpakt eingesetzte Menschenrechtsausschuss (Human Rights Committee) seine aus dem Staatenberichtsverfahren gewonnenen Erkenntnisse in genereller Form in sog. Allgemeinen Bemerkungen (General Comments) zusammen. Den im Konsensverfahren erlassenen Allgemeinen Bemerkungen eines internationalen Spruchkörpers kommt völkerrechtlich eine große Bedeutung zu – insbesondere als Instrument zur autoritativen Interpretation der Paktbestimmungen und zur Konturierung von Umfang und Reichweite der menschenrechtlichen Verpflichtungen der Paktstaaten. In seinem General Comment Nr. 34 führte der Menschenrechtsausschuss aus:26 43. Any restrictions on the operation of websites, blogs or any other internet-based, electronic or other such information dissemination system, including systems to support such communication, such as internet service providers or search engines, are only permissible to the extent that they are compatible with paragraph 3. Permissible restrictions generally should be content-specific; generic bans on the operation of certain sites and systems are not compatible with paragraph 3. It is also inconsistent with paragraph 3 to prohibit a site or an information dissemination system from publishing material solely on the basis that it may be critical of the government or the political social system espoused by the government. Der VN-Menschenrechtsausschuss schließt sich insoweit dem kurz zuvor fertiggestellten Bericht des VN-Sonderberichterstatters an, als er Einschränkungen des Internetzugangs engen Grenzen unterwirft und pauschale Verbote für unzulässig hält. 25 Report of the Special Rapporteur on the promotion and protection of the right to freedom of opinion and expression, A/66/290, 10. August 2011, https://www.ohchr.org/Documents/Issues/Opinion/A.66.290.pdf. 26 Human Rights Committee, General Comment No. 34 vom 12. September 2011, “Article 19: Freedoms of opinion and expression”, CCPR/C/GC/34, https://www2.ohchr.org/english/bodies/hrc/docs/gc34.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 131/19 Seite 12 2.2.4. Resolution des VN-Menschenrechtsrates von 2016 In seiner Resolution vom 27. Juni 2016 verurteilt auch der VN-Menschenrechtsrat – seit 2006 das Hauptorgan der VN im Bereich der Menschenrechte27 – Blockierungen des Internetzugangs als Menschenrechtsverletzung.28 8. Calls upon all States to address security concerns on the Internet in accordance with their international human rights obligations to ensure protection of freedom of expression, freedom of association, privacy and other human rights online, (…), in a way that ensures freedom and security on the Internet so that it can continue to be a vibrant force that generates economic, social and cultural development. 10. Condemns unequivocally measures to intentionally prevent or disrupt access to or dissemination of information online in violation of international human rights law and calls on all States to refrain from and cease such measures. Resolutionen des VN-Menschenrechtsrates sind völkerrechtlich nicht bindend und können auch nicht mit Sanktionen durchgesetzt werden. Sie etablieren indes einen weltweit überwiegend akzeptierten Standard und üben damit moralischen und rechtlichen Druck auf Regierungen aus, ihre Praxis und Gesetzgebung der Resolution entsprechend anzupassen. Staaten wie China, Russland, Saudi-Arabien und Indien stimmten daher gegen die Resolution und sperren sich dagegen, das Blockieren des Internets als Menschenrechtsverletzung zu qualifizieren. Sie geraten mit ihrer Auffassung und Staatspraxis aber zunehmend unter einen politischen aber auch rechtlichen Rechtfertigungszwang. 27 Der aus 47 Staaten (darunter auch nicht-demokratisch regierte Staaten) zusammengesetzte Menschenrechtsrat ist ein Unterorgan der VN-Generalversammlung und ersetzt die im Jahre 1946 eingesetzte Menschenrechtskommission . Der VN-Menschenrechtsrat dient gemäß seiner Gründungsresolution 60/251 als Hauptforum der VN für den Dialog und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Menschenrechte. Sein Hauptaugenmerk liegt darauf, Mitgliedstaaten dabei zu unterstützen, ihre Menschenrechtsverpflichtungen einzuhalten. Er gibt auch Empfehlungen zur Weiterentwicklung des Völkerrechts auf dem Gebiet der Menschenrechte ab. Vgl. näher zum Organ des Menschenrechtsrates Kälin, Walter / Künzli, Jörg, Universeller Menschenrechtsschutz , Basel, 3. Aufl. 2013, Rdnr. 707 ff. 28 Resolution des VN-Menschenrechtsrats “Promotion, protection and enjoyment of human rights on the Internet”, 27. Juni 2016, A/HRC/32/L.20, https://www.article19.org/data/files/Internet_Statement_Adopted.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 131/19 Seite 13 3. Zugang zum Internet als digitales Menschenrecht 3.1. Rechtsphilosophische Diskussion Über die Frage, ob der Zugang zum Internet mittlerweile ein Menschenrecht ist, wird vor dem Hintergrund der internationalen Spruchpraxis seit längerem kontrovers diskutiert.29 In der Diskussion wird einerseits auf die Schlüsselstellung des Internets bei der Informationsbeschaffung, der Wahrnehmung der Meinungsäußerungsfreiheit (Chats) oder des Rechts auf Privatleben (soziale Medien) hingewiesen, andererseits aber auch deutlich gemacht, dass Technologien wie das Internet den Rechten zur Durchsetzung verhelfe, aber selber kein Recht sei. In einem Beitrag in der New York Times heißt es: „Yet all these philosophical arguments overlook a more fundamental issue: the responsibility of technology creators themselves to support human and civil rights. The Internet has introduced an enormously accessible and egalitarian platform for creating, sharing and obtaining information on a global scale. As a result, we have new ways to allow people to exercise their human and civil rights. In this context, engineers have not only a tremendous obligation to empower users, but also an obligation to ensure the safety of users online. That means, for example, protecting users from specific harms like viruses and worms that silently invade their computer. (…) It must be done with an appreciation for the civil and human rights that deserve protection - without pretending that access itself is such a right.”30 Amnesty International zufolge liegt einer solchen Argumentation ein aus juristischer und philosophischer Perspektive äußerst eingeschränkter Begriff der Menschenrechte zugrunde. „While access to the physical town square may not be a human right in isolation, it has always been for most inseparable from the right to association and expression. 29 Maximilian Reiber, „Zugang zum Internet muss als Menschenrecht betrachtet werden“, KAS Symposium 16. November 2017, https://www.kas.de/veranstaltungsberichte/detail/-/content/zugang-zum-internet-muss-alsmenschenrecht -betrachtet-werden. Amnesty International, „Is Internet Access A Human Right?“, blog vom 10. Januar 2012, https://blog.amnestyusa.org/middle-east/is-internet-access-a-human-right/. Catherine Howell / Darrell M. West, “The internet as a human right”, Brookings Institution, 7. November 2016, https://www.brookings.edu/blog/techtank/2016/11/07/the-internet-as-a-human-right/. DW vom 21. Januar 2012, „Zugang zum Internet: ein Menschenrecht?“, https://www.dw.com/de/zugang-zuminternet -ein-menschenrecht/a-15679624. SZ vom 16. Januar 2012, „Warum Internetzugang kein Menschenrecht ist“, https://www.sueddeutsche.de/kultur/netz-debatte-warum-internet-zugang-kein-menschenrecht-ist-1.1258664. Adam Wagner, „Ist Internet-Zugang ein Menschenrecht?“, in: der Freitag (Wochenzeitung) vom 19. Januar 2012, https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/ist-internet-zugang-ein-menschenrecht. „Revisited and Revised: A Human Right to Internet Access?”, blog vom 12. Februar 2012, https://inforrm.org/2011/02/12/revisited-and-revised-a-human-right-to-internet-access/. 30 Vinton G. Cerf, „Internet access is not a human right”, New York Times vom 4. Januar 2012, https://www.nytimes.com/2012/01/05/opinion/internet-access-is-not-a-human-right.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 131/19 Seite 14 And denial of access to the town square through curfews, martial law, or emergency rules are tantamount to restriction on association and expression.“31 Die Schwierigkeit, den ungehinderten Internetzugang menschenrechtlich zu fassen, liegt vor allem daran, dass in der Diskussion neben der abwehrrechtlichen Komponente – staatliche Beschränkungen eines bereits bestehenden Internetzugangs – immer auch eine leistungsrechtliche Komponente – Anspruch auf Internetzugang als staatliche Gewährleistung – mitschwingt. Beide Komponenten lassen sich nicht immer trennscharf voneinander abgrenzen. 3.2. Rechtsentwicklungen Die Tendenz geht offensichtlich dahin, die abwehrrechtliche Komponente eines Rechts auf Internetzugang als Bestandteil der klassischen Menschenrechte (Zugang zu Informationen, Meinungsfreiheit ) völkerrechtlich einer verstärkten Rechtfertigungskontrolle zu unterwerfen, während die leistungsrechtliche Komponente – dies trifft auf die meisten wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte zu – nur zögernd eine rechtliche Absicherung (und dann zumeist als Staatsziel und nicht als grundrechtliche Verbürgung) erfährt. Allenfalls lassen sich hier Ansätze einer Rechtsentwicklung feststellen – in der menschenrechtlichen Literatur wird zuweilen der Begriff des „emerging right“ verwendet. Das NGO-Netzwerk „Dynamische Koalition für Internet-Rechte und Prinzipien“ hat dazu 2001 die sog. Charta der Menschenrechte und Prinzipien für das Internet verabschiedet,32 die in Art. 1 u.a. ein „Recht auf Zugang und Nutzung des Internets“ vorsieht. Dabei wird das Internet – ähnlich wie die staatsfreien Räume des Weltraums oder der Hohen See – als Teil des Gemeinsamen Erbes der Menschheit (Common Heritage of Mankind, CHOM)33 begriffen,34 dem der freie Zugang immanent ist. Die „Charta der Menschenrechte und Prinzipien für das Internet“ lässt sich 31 Amnesty International, „Is Internet Access A Human Right?“, blog vom 10. Januar 2012, https://blog.amnestyusa.org/middle-east/is-internet-access-a-human-right/. 32 Charta der Menschenrechte und Prinzipien für das Internet, http://internetrightsandprinciples.org/site/wpcontent /uploads/2018/10/IRPC_booklet_29May2014_German.pdf. Zu dieser Charta existieren Kommentierungen des Center for Law and Democracy (2011), http://www.lawdemocracy .org/wp-content/uploads/2011/10/Charter-Commentary.pdf. 33 Vgl. zum Konzept näher Wolfrum, Rüdiger, „Common Heritage of Mankind“, in: Max Planck Encyclopedia of International Law [MPEPIL], Stand: November 2009, https://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690- e1149?rskey=JQdF28&result=1&prd=MPIL. 34 Antonio Segura-Serrano, “Internet Regulation and the Role of International Law“, in: Max Planck Yearbook of United Nations Law (Max Planck UNYB) Vol. 10 (2006), S. 191-272 (254 ff.), https://www.mpil.de/files/pdf3/06_antoniov1.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 131/19 Seite 15 zwar nicht einmal dem völkerrechtlichen soft-law35 zuordnen; gleichwohl haben solche „Willensbekundungen“ der Zivilgesellschaft insbesondere im Bereich des Menschenrechtsschutzes immer wieder Anstöße für spätere Rechtsentwicklungen geben können. Dies gilt nicht zuletzt auch für die nationale Ebene.36 Auch die VN-Generalversammlung hat sich in ihrer Resolution vom 25. September 201537 („Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“) für das Ziel einer Verbesserung des Internetzugangs ausgesprochen: „Significantly increase access to information and communications technology and strive to provide universal and affordable access to the Internet in least developed countries by 2020.” 4. Resümee Resümierend können folgende allgemeine Schlussfolgerungen gezogen werden: Eine völkerrechtliche Bewertung der (unterschiedlich weitreichenden) Maßnahmen von Staaten und Internetprovidern, den Internetzugang einzuschränken bzw. zu blockieren, erfordert stets eine Einzelfallprüfung am Maßstab eines vielschichtigen menschenrechtlichen Rechtsrahmens. Ein genuines „Menschenrecht auf Zugang zum Internet“ lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ausmachen. Nicht zuletzt mit Blick auf die leistungsrechtliche Komponente wirft ein solches Rechtskonzept zahlreiche Fragen hinsichtlich der Bereitstellung digitaler Kapazitäten durch den Staat auf. Nicht von ungefähr werden entsprechende Forderungen auf internationaler Ebene regelmäßig nur in Gestalt von Absichtserklärungen oder Staatszielbestimmungen artikuliert. 35 Der Begriff soft law bezeichnet Übereinkünfte, Leitlinien oder Absichtserklärungen, die nicht rechtlich bindend sind. Vgl. WD 2 - 3000 - 172/18 (Kurzinformation vom 5. Dezember 2018), „Zur Bedeutung und Reichweite des Völkergewohnheitsrechts und des völkerrechtlichen „soft law“, https://www.bundestag.de/resource/blob/592240/0c50b52c24a4e80b6f4873163a400850/WD-2-172-18-pdfdata .pdf; umfassend dazu Giersch, Carsten, Das internationale Soft Law, Münster 2015. 36 Regelungen zur rechtlichen Absicherung des Internetzugangs wurden nach der Jahrtausendwende z.B. in Estland (2003) oder Finnland (2009) geschaffen, doch zumeist eher als Staatszielbestimmung denn als grundrechtlicher Gewährleistung: Der im Jahre 2001 neu eingefügte Art. 5a der griechischen Verfassung von 1975 (http://www.verfassungen.eu/griech/verf75.htm) bestimmt: „Jedermann hat das Recht auf Beteiligung an der Informationsgesellschaft. Die Erleichterung des Zugangs zu Informationen, welche am elektronischen Verkehr teilnehmen, als auch des Zugangs an deren Produktion, Austausch und Verbreitung, stellt eine Pflicht des Staates dar.“ Vgl. allgemein Nicola Lucchi, „Access to Network Services and Protection of Constitutional Rights: Recognizing the Essential Role of Internet Access for the Freedom of Expression“, Cardozo Journal of International and Comparative Law (JICL), Vol. 19, No. 3, 2011, https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1756243. 37 A/RES/70/1, 25. September 2015, “Transforming our world: the 2030 Agenda for Sustainable Development”, https://www.un.org/ga/search/view_doc.asp?symbol=A/RES/70/1&Lang=E. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 131/19 Seite 16 Eine Beschränkung des Internetzugangs kann allerdings mit klassischen etablierten Menschenrechten wie z.B. dem Recht auf ungehinderten Informationszugang aus Art. 10 EMRK bzw. Art. 19 VN-Zivilpakt / Art. 19 AllgErkl.MR kollidieren. Die Rechtsprechung des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs hat deutlich gemacht, dass Sperrungen des Internetzugangs eine Konventionsverletzung begründen können. Gesetzlich vorgesehene Einschränkungen des Internetzugangs sind aber nicht per se rechtlich unzulässig. Der VN-Sonderberichterstatter hält Beschränkungen z.B. im Kontext der Bekämpfung von Terrorismus oder Kinderpornographie für legitim. Gleichwohl müssen Beschränkungen des Internetzugangs anhand der von den internationalen Spruchkörpern entwickelten Kriterien einer unabhängigen rechtlichen Kontrolle zugänglich gemacht werden, wobei u.a. die Schwere der Beeinträchtigungen, der Zweck der staatlichen Maßnahme sowie die Zweck-Mittel-Relation (Verhältnismäßigkeit) zu berücksichtigen sind. Auf internationaler Ebene fehlt eine völkerrechtlich verbindliche Spruchpraxis zu Art. 19 VN-Zivilpakt / Art. 19 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung. Beim Thema Sperrung von Websites und Zugangsbeschränkungen lassen jedoch sowohl der VN-Sonderberichterstatter als auch der VN-Menschenrechtsausschuss in ihren Schlussfolgerungen keinen Zweifel daran, dass eine komplette Verweigerung des Zugangs regelmäßig eine Verletzung von Art. 19 des VN-Zivilpakts bedeutet. Eine dahingehende Auslegung des Art. 19 VN-Zivilpakt ist damit völkerrechtlich abgesichert und lässt sich gegen eine Blockadepraxis von Staaten wie Russland oder Iran, die den VN-Zivilpakt ratifiziert haben, rechtlich ins Feld führen. Gegenüber Staaten wie China, das dem VN-Zivilpakt nicht beigetreten sind, erscheint eine solche Argumentation vergleichsweise schwieriger. Denn selbst wenn Art. 19 AllgErkl.MR ein gewohnheitsrechtlich verfestigtes Recht auf ungehinderten Zugang zu Informationen verbürgt, scheint doch die entsprechende Auslegung dieses Menschenrechts im Kontext des Internetzugangs durch die internationalen Spruchkörper noch zu neu, als dass sie ohne weiteres schon als bestehendes Gewohnheitsrecht bezeichnet werden könnte. Die Resolution des VN-Menschenrechtsrats aus dem Jahre 2016 fordert die Staaten auf, die völkerrechtwidrigen Beschränkungen des Internetzugangs einzustellen. Auch Staaten wie Russland oder China, welche die Resolution nicht mitgetragen haben, geraten damit unter zunehmenden Rechtfertigungszwang für ein resolutionswidriges Verhalten. ***