Zur Anwendbarkeit völkerrechtlicher Menschenrechtsverträge und humanitären Völkerrechts bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr - INFO-BRIEF - © 2008 Deutscher Bundestag WD 2 – 3010-118/08 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser/in: Zur Anwendbarkeit völkerrechtlicher Menschenrechtsverträge und humanitären Völkerrechts bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr INFO-BRIEF WD 2 – 3010-118/08 – redaktionell überarbeitete Fassung Abschluss der Arbeit: 30. September 2008 Fachbereich WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Telefon: + Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W. - Zusammenfassung - Die Anwendbarkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) auf Auslandseinsätze der Bundeswehr hängt davon ab, ob deutsche Soldaten bei ihren Einsätzen Hoheitsgewalt im Sinne des Art. 1 EMRK ausüben. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) und der ganz überwiegenden Literatur gelangt die EMRK im Fall einer Besetzung und in Fällen, in denen ein Staat auf dem Gebiet eines anderen Staates mit dessen Zustimmung alle oder einige Gewalt übernimmt, zur Anwendung. Allerdings steht auch dieser gesicherte Anwendungsbereich der EMRK auf extraterritoriales Handeln unter dem Vorbehalt der Bedeutung der Aussage der Großen Kammer des EGMR, die Konvention sei nicht dafür gedacht, weltweite Anwendung zu finden, sondern sei grundsätzlich nur innerhalb eines bestimmten „espace juridique“ anwendbar. Über die Frage, ob diese Aussage den Anwendungsbereich der EMRK regional auf das Gebiet aller Vertragsstaaten begrenzt mit der Folge, dass damit extraterritoriales Handeln außerhalb dieses Gebietes unter keinen Umständen in den Anwendungsbereich der EMRK fiele, herrscht Uneinigkeit. Die extraterritoriale Geltung des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) ist umstritten. Während der Ausschuss für Menschenrechte als Vertragsorgan des IPBPR, der Internationale Gerichtshof (IGH) sowie ein Teil der Staatenpraxis zum IPBPR eine solche Anwendung befürworten, lehnt ein anderer Teil der Staatenpraxis sowie Stimmen in der Literatur die extraterritoriale Anwendbarkeit des Paktes ab. Zentrale Voraussetzung für die Anwendung des humanitären Völkerrechts auf Auslandseinsätze der Bundeswehr ist, dass ein solcher Einsatz im Rahmen eines bewaffneten Konfliktes erfolgt. Zwar kann der Umfang der Bindung unterschiedlich sein, je nach dem, ob es sich um einen internationalen oder einen nicht-internationalen Konflikt handelt . Grundvoraussetzung ist aber das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts. Neuere Entwicklungen im Völkerrecht zeigen, dass ein solcher bewaffneter Konflikt nicht bei jeglicher Teilnahme an bewaffneten Auseinandersetzungen vorliegt. Notwendig ist vielmehr, dass es sich um einen „protracted conflict“ handelt. Dieser Begriff bezeichnet eine bestimmte Intensität eines Konfliktes, auf die Dauer kommt es weniger an. Nach herrschender Meinung sind die Menschenrechte neben dem humanitären Völkerrecht anwendbar. Zu Fragen der Zurechnung menschenrechtsrelevanter Handlungen, die im Rahmen von Friedens- und Stabilisierungsmissionen vorgenommen werden, hat vor allem der EGMR in jüngerer Zeit intensiv Stellung genommen. Er hat sich ausführlich mit der Frage der Zurechnung menschenrechtsrelevanten Verhaltens bei einem durch den Si- cherheitsrat der Vereinten Nationen mandatierten Friedenseinsatz auseinandergesetzt. Voraussetzung für eine Zurechnung zu den VN scheint zu sein, dass der Sicherheitsrat nach Kapitel VII der VN-Charta eigene Befugnisse an die Mitgliedstaaten delegiert hat, aber die „ultimate authority and control“ oder „effective overall control“ über den Einsatz behalten hat. Kann eine solche Kontrolle durch den Sicherheitsrat bejaht werden, hat dies zur Folge, dass ein fragliches Verhalten truppenstellender Staaten grundsätzlich den Vereinten Nationen zugerechnet wird. Dies hat zur Konsequenz, dass das Verhalten durch den EGMR mangels Zuständigkeit überhaupt nicht mehr am Maßstab der EMRK überprüft wird. Die Entscheidung des EGMR im Fall Behrami und Saramati weicht inhaltlich sowohl von der Praxis der VN-Organe wie auch von den Vorschlägen der International Law Commission (ILC), der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen , ab. Im Gegensatz zum EGMR hat der Ausschuss für Menschenrechte als Vertragsorgan des IPBPR die Auffassung vertreten, die Vertragsstaaten des IPBPR müssten dessen Garantien nicht nur auf ihrem Staatsgebiet beachten, sondern auch im Rahmen ihrer Teilnahme an friedenserhaltenden Einsätzen oder NATO-Militäreinsätzen. Daraus lässt sich schließen, dass Handlungen deutscher Soldaten in einem solchen Rahmen am Maßstab der menschenrechtlichen Verbürgungen des IPBPR gemessen werden können. Abkürzungsverzeichnis AdV Archiv des Völkerrechts AJIL American journal of international law BGBl. Bundesgesetzblatt BVerfG Bundesverfassungsgericht CIC South Commander in Chief of Allied Forces Southern Europe COMKFOR Commander of KFOR Doc. Document ECHR (European) Convention on Human Rights and Fundamental Freedoms EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EHRLR European Human Rights Law Review EJIL European journal of international law EMRK (Europäische) Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten EUFOR European Union Force EWHC England and Wales High Court Fn. Fußnote FS Festschrift GG Grundgesetz GYIL German Yearbook of International Law GYIL German yearbook of international law HRLR Columbia Human Rights Law Review HuV Humanitäres Völkerrecht ICJ International Criminal Court ICTY International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia IGH Internationaler Gerichtshof ILC International Law Commission IPBPR Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte IRRC Independet Regulatory Review Commission ISAF International Security Assistance Force IStGH Internationaler Strafgerichtshof JAT Jugoslovenski Airlines KFOR Kosovo Force KritV Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft MNB Multinational Brigade MRM Menschenrechtsmagazin NAC North Atlantic Council, NATO NATO North Atlantic Treaty Organization NZWehrr Neue Zeitschrift für Wehrrecht OEF Operation Enduring Freedom PIC Peace Implementation Council SACEUR Supreme Allied Commander Europe SFOR Stabilization Force SHAPE Supreme Headquarters Allied Powers Europe TCN Troop Contributing Nation Tulane J. of Int’l Tulane Journal of International and Comparative Law & Comp. Law UBWV Unterrichtsblätter: Zeitschrift für Ausbildung, Fortbildung und Verwaltungspraxis der Bundeswehr UK United Kingdom UN United Nations UNIFIL United Nations Interim Force in Lebanon UNMIK United Nations Mission in Kosovo UNSC United Nations Security Council VN Vereinte Nationen YIHL Yearbook of international humanitarian law ZaöRV Zeitschrift für ausländische öffentliches Recht und Völkerrecht ZEuS Zeitschrift für Europarechtliche Studien ZP I Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I) ZP II Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll II) ZSR Zeitschrift für Schweizerisches Recht Inhalt 1. Einleitung 8 2. Geltung internationaler Menschenrechtsverträge bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr 10 2.1. Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) 11 2.1.1. Bindung der Bundesrepublik Deutschland an die EMRK und deren Zusatzprotokolle 11 2.1.2. Anwendbarkeit der EMRK-Bestimmungen 11 2.1.2.1. Ansicht der Rechtsprechungsorgane der EMRK 12 2.1.2.2. Auffassungen in der völkerrechtlichen Literatur 16 2.1.2.3. Auffassungen nationaler Gerichte 19 2.1.2.4. Fazit zur extraterritorialen Geltung der EMRK 20 2.1.3. Derogation oder Modifizierung der EMRK-Bestimmungen 21 2.2. Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) 23 2.2.1. Bindung der Bundesrepublik Deutschland an den IPBPR und seine Fakultativprotokolle 23 2.2.2. Anwendbarkeit der IPBPR-Bestimmungen 23 2.2.2.1. Ansicht des Ausschusses für Menschenrechte unter dem Pakt 24 2.2.2.2. Position der Vertragsstaaten 25 2.2.2.3. Auffassungen in der völkerrechtlichen Literatur 26 2.2.2.4. Auffassung des Internationalen Gerichtshofes 27 2.2.2.5. Fazit 28 2.2.3. Derogation oder Modifizierung der IPBPR-Bestimmungen 28 3. Anwendbarkeit des Humanitären Völkerrechts 28 3.1.1. Überblick über die Voraussetzungen der Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts 29 3.1.2. Krieg und Besatzung 31 3.1.3. Bewaffneter Konflikt 32 3.1.4. Internationaler bewaffneter Konflikt 34 3.1.5. Nicht-internationaler bewaffneter Konflikt 34 3.1.6. Internationalisierter bewaffneter Konflikt 35 3.2. Fallbeispiel: Bundeswehreinsätze in Afghanistan in der völkerrechtlichen Literatur 37 3.2.1. Tatsächliche Entwicklung bis zur Etablierung von ISAF und OEF 37 3.2.2. Einordnung in der völkerrechtlichen Literatur 38 3.2.3. Fazit 40 3.3. Verhältnis zwischen den Menschenrechten und dem humanitären Völkerrecht 40 3.3.1. Alternative Geltung der Rechtsbereiche 41 3.3.2. Parallele Geltung der Rechtsbereiche 42 3.4. Fazit 45 4. Zurechnung von Handlungen im Rahmen von VN oder NATO 45 4.1. Die EGMR-Leitentscheidung: Behrami und Saramati 46 4.1.1. Sachverhalte 46 4.1.2. Entscheidungsgründe 47 4.1.2.1. Mandate von UNMIK und KFOR 48 4.1.2.2. Zurechnung 48 4.1.2.2.1. Delegation von Befugnissen durch den Sicherheitsrat nach Kapitel VII VN-Charta 48 4.1.2.2.2. Zurechnung des Verhaltens von UNMIK und KFOR an die VN? 49 4.1.2.2.3. Haftung der EMRK-Staaten trotz Zurechnung an die VN? 52 4.2. Weitere Entscheidungen des EGMR 54 4.2.1. Kasumaj v. Greece und Gajic v. Germany 54 4.2.2. Berić et al. v. Bosnia and Herzegovina 55 4.3. Einordnung der Zurechnungskriterien des EGMR im Lichte der VN Praxis 58 4.3.1. VN-Praxis in der Frage der Zurechnung 58 4.3.2. Artikelentwürfe der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen zur Verantwortlichkeit internationaler Organisationen 59 4.4. Bewertung der Behrami und Saramati-Rechtsprechung in der völkerrechtlichen Literatur 62 4.5. Praxis anderer Spruchkörper zur Zurechnung menschenrechtsrelevanter Handlungen im Rahmen von Auslandseinsätzen 65 4.5.1. Ausschuss für Menschenrechte des IPBPR 65 4.5.2. House of Lords 67 4.6. Fazit 69 5. Literaturverzeichnis 71 - 8 - 1. Einleitung Deutsche Streitkräfte werden seit Mitte der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts zunehmend im Ausland eingesetzt. Derzeit sind rund 6.900 Soldaten im Ausland eingesetzt. All diese Bundeswehrkontingente sind Teil multinationaler Operationen im Rahmen von VN, NATO oder ad-hoc-Bündnissen mehrerer Staaten. Die derzeit wichtigsten internationalen Militäreinsätze mit deutscher Beteiligung sind ISAF (International Security Assistance Force, Afghanistan, rund 3.700 Soldaten), KFOR (Kosovo Force, Kosovo, rund 2.200 Soldaten), UNIFIL (United Nations Interim Force in Lebanon, Libanon, rund 500 Soldaten), OEF (Operation Enduring Freedom, Horn von Afrika, rund 300 Soldaten) und EUFOR (European Union Force, Bosnien-Herzegowina, rund 100 Soldaten ). Die Rechtswissenschaft hat die zunehmende Auslandsverwendung der Bundeswehr von Anfang an intensiv begleitet. Die diesbezügliche Fachdebatte widmete sich zunächst der Frage nach der rechtlichen Zulässigkeit von Auslandseinsätzen. Parallel dazu verlief die Diskussion über Notwendigkeit und Umfang einer Beteiligung des Deutschen Bundestages an der Entscheidung über Auslandseinsätze der Bundeswehr. Die im Rahmen dieser Debatte aufgeworfenen rechtlichen Streitfragen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr können mittlerweile als weitgehend durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) als verbindlich entschieden angesehen werden. Nach dessen Auffassung enthält Art. 24 Abs. 2 GG eine verfassungsrechtliche Grundlage für die Übernahme von mit „der Zugehörigkeit zu einem […] System [gegenseitiger kollektiver Sicherheit] typischerweise verbundenen Aufgaben“. Dazu rechnet das BVerfG auch „eine Verwendung der Bundeswehr zu Einsätzen, die im Rahmen und nach den Regeln dieses Systems stattfinden“1. Unter den Begriff des „Systems der gegenseitigen kollektiven Sicherheit“ fallen nach Ansicht des BVerfG nicht nur die VN, sondern auch die NATO. Zur Frage der Beteiligung des Deutschen Bundestages hat das BVerfG entschieden , dass ein Einsatz „bewaffneter Streitkräfte grundsätzlich der vorherigen konstitutiven Zustimmung des Bundestages“2 bedarf, „wenn deutsche Soldaten in bewaffnete Unternehmungen einbezogen sind“3. In jüngster Zeit hat sich die juristische Fachdebatte über Auslandseinsätze der Bundeswehr auf andere Fragestellungen verlagert. Zunehmend wird dabei nach den materiellen Vorgaben, also dem Bestand inhaltlicher Regelungen für solche Einsätze gefragt. Es geht mithin darum, was die Bundeswehr oder ein einzelner Soldat im Auslandseinsatz 1 BVerfGE 90, 286 (345 ff.). 2 BVerfGE 90, 286 (381 ff.). 3 BVerfG, 2 BvE 1/03 vom 07.05.2008, Absatz Nr. 74 ff., im Internet abrufbar unter: (Stand 15.09.2008). - 9 - konkret darf und welche rechtlichen Vorgaben für konkrete Handlungen bestehen. Diese Frage hat verfassungsrechtliche Aspekte4, denen im Folgenden jedoch nicht weiter nachgegangen werden soll. Sie umfasst daneben auch völkerrechtliche Problemkreise. Von diesen sollen im Folgenden die Geltung völkerrechtlicher Menschenrechtsabkommen sowie die Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts erörtert werden. In einem dritten abschließenden Teil wird der Frage nachgegangen, wem militärische Handlungen der Bundeswehr im Rahmen multilateraler Einsätze der VN oder der NATO zugerechnet werden können. Es geht also darum, wer in einem solchen Fall – in rechtlicher Hinsicht – gehandelt hat. Gegenstand der folgenden Ausarbeitung ist zunächst die Frage, in welchem Umfang internationale Normen zum Schutz der Menschenrechte für das Handeln deutscher Streitkräfte im Ausland gelten.5 Die Diskussion darüber ist im Wesentlichen durch die Bankovic-Entscheidung6 des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) aus dem Jahr 2001 geprägt, welche daher im Mittelpunkt der Ausführungen steht. Die menschenrechtlichen Fragen stellen sich vor dem Hintergrund der veränderten Aufgaben der Bundeswehr in zugespitzter Form. Denn diese Einsätze führen zunehmend zu einem Durchgriff auf einzelne Menschen, und diese Durchgriffe erfolgen im Rahmen von internationalen Friedens- und Stabilisierungsmissionen. So hat die Bundeswehr im Rahmen der NATO-geführten Stabilization Force (SFOR) in Bosnien-Herzegowina friedenssichernde Aufgaben übernommen, die sie im Rahmen von EUFOR fortführt. Dasselbe gilt für die Beteiligung an KFOR im Kosovo. In Afghanistan wird die Bundeswehr im Rahmen von ISAF mit dem Ziel eingesetzt, die örtlichen Sicherheitskräfte bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit im Lande zu unterstützen. Die zur Erfüllung dieser Aufgaben erforderlichen Maßnahmen wie etwa die Durchführung von Personenkontrollen oder Festnahmen verdächtiger Personen erscheinen auf den ersten Blick eher polizeilicher als militärischer Natur. Es ist wohl dieser Umstand, welcher in den letzten Jahren die Frage nach den menschenrechtlichen Bindungen internationaler Friedensmissionen immer mehr in den Vordergrund treten ließ. Die neuartigen Aufgaben der Bundeswehr im Rahmen von Friedens- und Stabilisierungsmissionen , die häufig polizeiähnlichen Charakter haben, werfen aber auch eine zweite Frage auf, die im Folgenden behandelt werden soll, nämlich die nach der Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts, also aller Regeln über den Gebrauch von 4 Vgl. etwa zur verfassungsrechtlichen Debatte über die Zulässigkeit der Pirateriebekämpfung in den Gewässern am Horn von Afrika durch die Bundesmarine Arndt, Bekämpfung von Piraterie, passim. 5 Zur Grundrechtsgeltung bei Auslandseinsätzen siehe Wiefelspütz, UBWV 2007, S. 321 ff. Zur Anwendung des Gesetzesvorbehaltes bei Auslandseinsätzen siehe Voss, in: ZRP 40 (2007), S. 78 ff. 6 Vlastimir und Borka Bankovic u.a. gegen Belgien und 16 andere NATO-Staaten, Entscheidung vom 12.12.2001, in: EuGRZ 2002, S. 133 ff. - 10 - Gewalt in bewaffneten Konflikten.7 Zentral für dessen Anwendbarkeit ist daher das Vorliegen eines bewaffneten Konfliktes. Ob ein solcher indes auch bei reinen Stabilisierungs - und Sicherungsmissionen vorliegt, ist Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung . Da Auslandseinsätze deutscher Streitkräfte in der Regel in enger Zusammenarbeit mit anderen Mitgliedstaaten der NATO und/oder der Vereinten Nationen stattfinden, behandelt die Ausarbeitung schließlich auch die Frage, ob ein menschenrechtsrelevantes Verhalten deutscher Streitkräfte im Rahmen eines solchen Einsatzes der Bundesrepublik Deutschland oder der NATO und/oder den Vereinten Nationen zuzurechnen ist. 2. Geltung internationaler Menschenrechtsverträge bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr Die Geltung internationaler Normen zum Schutz der Menschenrechte für das Handeln der Bundeswehr im Ausland setzt zunächst voraus, dass die Bundesrepublik Deutschland vertraglich oder völkergewohnheitsrechtlich8 zur Beachtung dieser Normen verpflichtet ist. Im Folgenden werden von den Menschenrechtsverträgen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)9 und der Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR)10 näher behandelt.11 Weitere Voraussetzung für die Geltung dieser Menschenrechtsverträge bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr ist, dass die deutsche Staatsgewalt auch beim Handeln im Ausland zur Beachtung dieser Normen verpflichtet ist und diese nicht suspendiert sind. Auf die Frage, unter welchen Voraussetzungen menschenrechtsrelevantes Handeln der Bundeswehr im Auslandseinsatz der Bundesrepublik Deutschland zugerechnet werden kann, wird im letzten Teil der Ausarbeitung eingegangen. 7 Hobe/Kimminich, Völkerrecht, S. 498. 8 Siehe zu den Menschenrechten im Völkergewohnheitsrecht Klein, Menschenrechtsschutz, passim; sowie Künzli, S. 48 ff. auch mit Beispielen. Klein, in: MRM 9 (2004), S. 5, 12 f. nennt das Folterverbot sowie das Verbot rassischer Diskriminierung und völliger Rechtschutzverweigerung als Beispiele . 9 Vom 04.11.1950, BGBl. 2002 II, S. 1054. 10 Vom 19.12. 1966, BGBl. 1973 II, S. 1534. 11 Daneben könnten die folgenden Menschenrechtsverträge eine Rolle spielen: der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19.12.1966, BGBl. 1973 II, S. 1570 (siehe zu dessen extraterritorialer Geltung: Internationaler Gerichtshof (IGH), Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, Advisory Opinion [Mauergutachten] vom 09.07.2004, ICJ Reports 2004, S. 136, Abs. 112; sowie kritischer Dennis, in: AJIL 99 (2005), S. 119, 127 f.); das Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20.11.1989, BGBl. 1992 II, S. 122 (siehe zu diesem Dennis, in: AJIL 99 (2005), S.119, 129); das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (VN- Antifolterkonvention) vom 10.12.1984, BGBl. 1990 II, S. 246; sowie das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 18.12.1979, BGBl. 1985 II, S. 648. - 11 - 2.1. Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) Die EMRK wurde unter der Ägide des Europarates ausgehandelt und trat am 3. September 1953 in Kraft. In materieller und verfahrenstechnischer Hinsicht wird sie durch nunmehr insgesamt vierzehn Zusatzprotokolle ergänzt, von denen zwölf bereits in Kraft getreten sind.12 Die Einhaltung der EMRK und ihrer Zusatzprotokolle wird durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg überwacht. 2.1.1. Bindung der Bundesrepublik Deutschland an die EMRK und deren Zusatzprotokolle Die Bundesrepublik Deutschland hat die EMRK am 5. Dezember 1952 ratifiziert. Die Zusatzprotokolle, die in Kraft sind, gelten mit Ausnahme des siebten sowie des zwölften Zusatzprotokolls auch für die Bundesrepublik Deutschland. Damit ist Deutschland an die Bestimmungen der EMRK vertraglich gebunden und der Rechtsprechung des EGMR unterworfen. 2.1.2. Anwendbarkeit der EMRK-Bestimmungen Des Weiteren müssten die Bestimmungen der EMRK und ihrer Zusatzprotokolle auch für das Handeln deutscher Staatsgewalt im Ausland gelten. Relevante Bestimmungen finden sich unter anderem in Art. 2 (Recht auf Leben), Art. 3 (Verbot der Folter und unmenschlicher Behandlung), Art. 5 (Recht auf Freiheit) und Art. 6 (Recht auf ein faires Verfahren) EMRK. Art. 1 EMRK stellt im Hinblick auf den Anwendungsbereich der Konvention fest: „Die Hohen Vertragsparteien sichern allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt I bestimmten Rechte und Freiheiten zu.“ Grundsätzlich unproblematisch erfasst der Anwendungsbereich der EMRK das Handeln deutscher Staatsgewalt auf deutschem Staatsgebiet. Handelt deutsche Staatsgewalt dagegen im Ausland, das heißt extraterritorial, so ist umstritten, ob, in welchen Fällen und bei welchen konkreten Maßnahmen auch dieses Handeln an Personen gerichtet ist, die der deutschen „Hoheitsgewalt“ (englisch: „jurisdiction“) unterstehen mit der Folge, dass der Anwendungsbereich der EMRK eröffnet ist. Der Streit dreht sich damit um die Frage , was unter „jurisdiction“ im Sinne von Art. 1 EMRK zu verstehen ist. 12 Siehe zu den Zusatzprotokollen zur EMRK die Liste der Verträge unter der Ägide des Europarates, abrufbar unter: http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/ListeTraites.asp?CM=8&CL=ENG (Stand: 15.09.2008). - 12 - 2.1.2.1. Ansicht der Rechtsprechungsorgane der EMRK Die Rechtsprechungsorgane der EMRK13 haben der extraterritorialen Geltung der EMRK wiederholt Beachtung geschenkt.14 So stellte der Gerichtshof im Jahre 1995 im Fall Loizidou, der sich auf die Besetzung Nordzyperns durch die Türkei bezog, fest: „In this respect the court recalls that, although Article 1 sets limits on the reach of the Convention, the concept of ‘jurisdiction’ under this provision is not restricted to the national territory of the High Contracting Parties. […] Bearing in mind the object and purpose of the Convention, the responsibility of a Contracting Party may also arise where as a consequence of military action – whether lawful or unlawful – it exercises effective control of an area outside its national territory.”15 Entscheidend ist nach dieser Entscheidung für die Anwendbarkeit der EMRK also die Ausübung effektiver Kontrolle, die das Gericht im vorliegenden Fall bejahte. Im Jahre 2001 hingegen verneinte die Große Kammer des Gerichtshofes in der sog. Bankovic-Entscheidung die Anwendbarkeit der Konvention in einem Fall, in dem Angehörige der Opfer eines NATO-Bombenangriffes auf eine Rundfunkstation in Belgrad eine Verletzung der EMRK gerügt hatten.16 Der Gerichtshof schloss sich damit im Ergebnis den Vertretern der beklagten Vertragsstaaten17 an, die argumentiert hatten, die verstorbenen Personen hätten der Herrschaftsgewalt der beklagten Staaten zu dem in Rede stehenden Zeitpunkt nicht unterstanden. Zur Herrschaftsgewalt hatten die Vertreter der beklagten Staaten weiter angeführt: „Die Wahrnehmung der staatlichen „Herrschaftsgewalt“ würde demnach die Geltendmachung oder Ausübung einer gegenwärtigen oder beabsichtigten Rechtsautorität gegenüber Personen bedeuten, die bezüglich dieses Staates eine bestimmte Form der Zugehörigkeit aufweisen würden oder seiner Kontrolle 13 Diese waren zunächst die im Jahre 1954 errichtete Europäische Kommission für Menschenrechte und der 1954 errichtete EGMR. Mit dem 11. Zusatzprotokoll vom 11.05.1994, das am 01.11.1998 in Kraft trat, wurde der EGMR das einzige Rechtsprechungsorgan der EMRK. 14 Einen Überblick über die Rechtsprechung verschaffen: Bothe, in: FS Tomuschat, S. 63, 70 ff.; Heintze, HuV-I. 18 (2005), S. 177, 179 ff.; Lawson, in: Coomans/Kamminga (Hrsg.), S. 83, 90 ff.; Lorenz, S. 8 ff; Rensmann, in: Weingärtner (Hrsg.), S. 49, 54 ff.; Ress, in: ZEuS 6 (2003), S. 73, 75 f., 80 ff.; Schäfer, S. 22 ff.; Schmidt-Radefeldt, in: Fleck (Hrsg.), S. 101, 107 ff. 15 Loizidou gegen die Türkei, Preliminary objections, Antragsnr. 15318/89, Urteil vom 23.03.1995, Abs. 62, abrufbar unter: http://cmiskp.echr.coe.int/tkp197/search.asp?skin=hudoc-en (Stand: 15.09.2008). 16 Bankovic (Fn. 6), Abs. 61 (in einer Übersetzung des Bundesministeriums der Justiz, überarbeitet von der EuGRZ). 17 Diese waren Belgien, die Tschechische Republik, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Griechenland , Ungarn, Island, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Polen, Portugal, Spanien, die Türkei und das Vereinigte Königreich. - 13 - unterstellt worden seien. Sie erachten ebenfalls, dass der Begriff „Herrschaftsgewalt “ allgemein eine Form von strukturierter Beziehung beinhalte, die gewöhnlich über einen gewissen Zeitraum Bestand habe.“18 Der Gerichtshof kam mittels einer Auslegung von Art. 1 EMRK nach Art. 31 der Wiener Vertragsrechtskonvention zu dem Ergebnis: „Der Gerichtshof ist deshalb der Ansicht, dass Artikel 1 der Konvention derart zu verstehen ist, dass er diese übliche und grundsätzlich territoriale Auffassung von Herrschaftsgewalt verkörpert, wobei andere Grundlagen von Herrschaftsgewalt eher Ausnahmeerscheinungen sind und einer besonderen Rechtfertigung angesichts der Umstände des Einzelfalls bedürfen.“19 „Zusammenfassend geht aus seiner Rechtsprechung [des EGMR] hervor, dass der Gerichtshof nur ausnahmsweise die Ausübung extraterritorialer Herrschaftsgewalt durch einen Vertragsstaat anerkannt hat. Bisher ist das nur dann der Fall gewesen, wenn ein beklagter Staat im Wege einer tatsächlichen Kontrolle , ausgeübt über ein außerhalb seiner Grenzen befindliches Gebiet und über dessen Bewohner aufgrund einer militärischen Besetzung oder nach Zustimmung , Aufforderung oder Einwilligung der Regierung dieses Gebiets, […] alle oder einige Gewalten übernimmt, die gewöhnlich in die Prärogativen dieser Regierungen fallen.“20 „Der Gerichtshof merkt im übrigen an, dass andere Fälle der extraterritorialen Ausübung von Herrschaftsgewalt eines Staates im Ausland vorgenommene Handlungen betreffen, die von diplomatischen oder konsularischen Vertretern oder an Bord von Flugzeugen oder Schiffen vorgenommen werden, die in diesem Staat eingetragen sind oder unter seiner Flagge verkehren.“21 Mit der Bankovic-Entscheidung hat der EGMR seine ursprüngliche Auslegung des Begriffes „jurisdiction“ für Fälle mit Auslandsbezug konkretisiert und ergänzt. Die bereits in der Vergangenheit herangezogene „tatsächliche Kontrolle“ (effective control) wird durch die Bankovic-Entscheidung qualitativ fortentwickelt: Die tatsächliche Kontrolle muss über „die Bewohner“ des fremden Gebietes ausgeübt werden und „alle oder einige Gewalten“ umfassen, „die gewöhnlich in die Prärogativen“ der ausländischen Regierung fallen. Ergänzt wird die Auslegung des Tatbestandsmerkmals „jurisdiction“ durch die Begrenzung der derart qualifizierten tatsächlichen Kontrolle auf bestimmte Situatio- 18 Bankovic (Fn. 6), Abs. 36. 19 Bankovic (Fn. 6), Abs. 61. 20 Bankovic (Fn. 6), Abs. 71. 21 Bankovic (Fn. 6), Abs. 73. - 14 - nen. Der EGMR nennt ausdrücklich die „militärische Besetzung“ oder Fälle der „Zustimmung , Aufforderung oder Einwilligung der Regierung“ des fremden Gebiets. In der Literatur ist diese Begrenzung als Anknüpfung an völkerrechtlich geregelte Fälle der Ausübung extraterritorialer Hoheitsgewalt angesehen worden.22 In der Zypern/Türkei-Entscheidung, die ebenfalls das türkisch besetzte Nordzypern zum Gegenstand hatte, begründete der EGMR sein Ergebnis, nach der Besetzung Nordzyperns durch die Türkei die Geltung der EMRK auf Handlungen der Türkei auf zypriotischem Gebiet zu erstrecken, auch mit der Notwendigkeit, „a regrettable vacuum in the system of human-rights protection“23 zu verhindern. Die Beschwerdeführer im Bankovic -Verfahren hatten auf diese Ausführungen Bezug genommen und ausgeführt, auch in ihrem Fall sei eine Auslegung des Art. 1 EMRK geboten, die solche bedauerlichen Lücken im System der EMRK vermeidet. Diesem Argument ist der EGMR mit folgender Begründung entgegengetreten: „In short, the Convention is a multi-lateral treaty operating, subject to Article 56 of the Convention, in an essentially regional context and notably in the legal space (espace juridique) of the Contracting States. […] The Convention was not designed to be applied throughout the world, even in respect of the conduct of Contracting States. Accordingly, the desirability of avoiding a gap or vacuum in human rights’ protection has so far been relied on by the Court in favour of establishing jurisdiction only when the territory in question was one that, but for the specific circumstances, would normally be covered by the Convention .“24 Die Bedeutung der Heranziehung des Staatsgebiets der EMRK-Vertragsstaaten als eines sog. „espace juridique“ bleibt indes unklar. Einige Autoren haben diese Passage der Bankovic-Entscheidung so verstanden, dass der EGMR damit eine zusätzliche Voraussetzung für die Anwendbarkeit der EMRK neben der soeben dargestellten tatsächlichen Kontrolle aufgestellt habe.25 Danach wäre eine extraterritoriale Geltung der EMRK von 22 Rensman, in: Weingärtner (Hrsg.), S. 49, 58. 23 Zypern/Türkei, Antragsnr. 25781/94, Entscheidung vom 10.05.2001, Abs. 78. 24 Bankovic (Fn. 6), Abs. 80, hier nicht in der deutschen Übersetzung wiedergegeben, sondern in der authentischen englischen Fassung, da die deutsche Übersetzung den Sinngehalt dieses Abschnitts sprachlich nicht korrekt wiedergibt. 25 Loucaides, in: E.H.R.L.R. 11 (2006), S. 391, 398 f., welcher an der in dieser Weise verstandenen Erklärung Kritik übt. Vgl. auch die Äußerung des damaligen britischen Verteidigungsministers Adam Ingram in der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage: „[T]he European Convention on Human Rights is intended to apply in a regional context in the legal space of the Contratcting States. It was not designed to be applied throughout the world and was not intended to cover the activities of a signatory in a country which is not signatory to the Convention. The ECHR can have no application to the activities of the UK in Iraq because the citizens of Iraq had no rights under the ECHR prior to the military action by the Coalition Forces“, zitiert nach Wilde, in E.H.R.L.R. 10 [2005], S. 115, 116. - 15 - vornherein auf das Gebiet der Vertragsstaaten begrenzt. Da Jugoslawien nicht zu den EMRK-Vertragsstaaten gehörte, würde der Hinweis auf den „espace juridique“ ein zusätzliches Argument gegen die Anwendbarkeit der EMRK darstellen. Andere gehen hingegen davon aus, dass der EGMR mit dem Begriff des „espace juridique“ lediglich sicherstellen wollte, dass die Konventionsgarantien innerhalb dieses Raumes stets Geltung beanspruchten.26 Das Bestreben, Lücken im System des Menschenrechtsschutzes zu verhindern, könne mithin aus sich heraus dann zu einer Ausweitung des Anwendungsbereichs der EMRK führen, wenn das betreffende Territorium bereits zuvor in den Anwendungsbereich der Konvention gefallen sei, wie dies in Nordzypern nach der Besetzung durch die Türkei der Fall gewesen sei. Dieser Gedanke konnte in der Bankovic- Entscheidung indes nicht zum Tragen kommen, weil Jugoslawien zum Zeitpunkt der Bombardierung nicht dem Kreis der Konventionsstaaten angehörte. Eine dritte Auffassung geht schließlich davon aus, dass die Ausführungen des EGMR zum „espace juridiqe “ nicht überbewertet werden sollten, weil es sich dabei um ein obiter dictum27 gehandelt habe, und es in ähnlich gelagerten nachfolgenden Entscheidungen außer Acht gelassen oder anders bewertet worden sei.28 Die Große Kammer des Gerichtshofes kam auf Grundlage der dargestellten Argumentation zu dem Ergebnis, dass es im Falle des beschwerdegegenständlichen Luftangriffes an einer Hoheitsbeziehung zwischen den Opfern des Luftangriffes und den NATO-Staaten gefehlt habe, welche die Anwendbarkeit der EMRK hätte begründen können.29 In der im Jahre 2004 verkündeten Kammer-Entscheidung im Fall Issa ging es um eine türkische Militäraktion in den kurdischen Gebieten im Nordirak. Die Beantwortung der Frage, ob die Türkei „jurisdiction“ ausübte und der Anwendungsbereich der Konvention damit eröffnet sei, machte die Kammer davon abhängig, ob die Opfer unter der Kontrolle und Gewalt („control and authority“) der türkischen Streitkräfte standen.30 Voraussetzung dafür sei entweder eine „effective overall control“ der türkischen Streitkräfte über das fragliche Gebiet oder der Nachweis, dass die Truppen zum fraglichen Zeitpunkt 26 Rensmann, in: Weingärtner (Hrsg.), S. 49, 59. 27 Als obiter dictum (wörtlich übersetzt: nebenbei gesagt) werden solche Ausführungen eines Gerichts verstanden, die nicht zu den tragenden Gründen der Entscheidung gerechnet werden. 28 Bothe, in: FS Tomuschat, S. 63, 71, mit Verweis auf die Issa-Entscheidung des EGMR (siehe sogleich Fn. 30); Wilde, in E.H.R.L.R. 10 [2005], S. 115, 121, auch mit Verweis auf die Öcalan- Entscheidung, in welcher der EGMR die Verhaftung Abdullah Öcalans durch türkische Behörden in einem türkischen Flugzeug auf dem internationalen Teil des Flughafens in Nairobi (Kenia) als Ausübung türkischer Hoheitsgewalt einstufte (Öcalan gegen die Türkei, Antragsnr. 46221/99, Urteil vom 12.05.2005, Abs. 91, abrufbar unter: http://cmiskp.echr.coe.int/tkp197/search.asp?skin=hudocen (Stand 30.09.2008)). 29 Bankovic (Fn. 6), Abs. 82. 30 Issa u.a. gegen die Türkei, Antragsnr. 31821/96, Urteil vom 16.11.2004, Abs. 55, abrufbar unter: http://cmiskp.echr.coe.int/tkp197/search.asp?skin=hudoc-en (Stand: 15.09.2008). Siehe zu dem Urteil auch Rensmann, in: Weingärtner (Hrsg.), S. 49, 60 f. - 16 - Operationen in der Gegend durchführten, in der es zu den gerügten Tötungen kam. Da sich jedoch beides nicht nachweisen ließ, wies die Kammer die Beschwerde zurück.31 Im Fall Behrami und Saramati ging der EGMR davon aus, dass die Bundesrepublik Jugoslawien nach dem Rückzug jugoslawischer Truppen aus dem Kosovo und der Entsendung einer internationalen „Zivilpräsenz“ (UNMIK, United Nations Mission in Kosovo ) sowie einer internationalen „Sicherheitspräsenz“ (KFOR, Kosovo Force) entsprechend der Resolution 1244 des VN-Sicherheitsrates in den Kosovo dort keine „Kontrolle “ im Sinne der Zypern/Türkei-Entscheidung32 mehr innehatte. Ausgehend davon, dass die Resolution 1244 die komplette militärische Kontrolle des Kosovo auf die KFOR übertragen und die UNMIK für dieses Gebiet mit der Ausübung der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Rechtspflege betraute habe, kam der EGMR unter ausdrücklicher Bezugnahme auf seine Bankovic-Entscheidung zu dem Schluss, dass „Kosovo was […] under the effective control of the international presences which exercised the public powers normally exercised by the Government of the FRY [Abkürzung für Federal Republic of Yugoslavia, Anm. d. Verf.] (Banković and Others, cited above, at § 71).”33 2.1.2.2. Auffassungen in der völkerrechtlichen Literatur Die herrschende Meinung in der Literatur vertrat vor der Bankovic-Entscheidung im Jahre 2001 den Ansatz, dass „jurisdiction“ im Sinne von Art. 1 EMRK dann ausgeübt werde und der Anwendungsbereich der EMRK damit eröffnet sei, wenn das Handeln im Ausland dem Konventionsstaat nach den Regeln der Staatenverantwortlichkeit34 zuzurechnen sei.35 Durch die Bankovic-Entscheidung des EGMR entbrannte in der Literatur erneut die Diskussion um die extraterritoriale Anwendung der Konvention.36 Ein Teil der Literatur stimmt dem aus der Bankovic-Entscheidung entnommenen engeren Verständnis des Anwendungsbereiches der Konvention zu.37 Der Begriff der „Hoheitsgewalt “ in Art. 1 EMRK sei vorrangig territorial zu verstehen. Ausnahmsweise 31 Issa (Fn. 30), Abs. 74, 76 ff. 32 Gemeint ist die Entscheidung Issa (Fn. 30), Abs. 69. 33 EGMR, Entscheidung vom 02.05.2007, Behrami and Behrami v. France and Saramati v. France, Germany and Norway (Nr. 71412/01 und 78166/01), Abs. 70, im Folgenden zitiert als Behrami /Saramati (abrufbar unter http://cmiskp.echr.coe.int/tkp197/search.asp?skin=hudoc-en, Stand: 15.09.2008). 34 Siehe zur Staatenverantwortlichkeit allgemein insbesondere den ILC-Entwurf zur Verantwortlichkeit der Staaten für völkerrechtswidrige Handlungen vom 12.12.2001, Anlage zur Resolution der VN-Generalversammlung Nr. 56/83 vom 12.12.2001; sowie Ipsen, in: Ipsen, S. 635 ff. 35 Vgl. Lorenz, S. 62. So z.B. Künzli, S. 116 f. 36 Vgl. Lorenz, S. 62 ff. 37 Vgl. Lorenz, S. 64 f., 69. - 17 - fände die Konvention auch auf extraterritoriales Handeln Anwendung – so, wenn Streitkräfte die tatsächliche Kontrolle über ein extraterritoriales Gebiet als Folge einer militärischen Besetzung oder mit Zustimmung der betroffenen Regierung ausübten38 oder wenn schwerwiegende internationale Straftaten vorlägen.39 Nach der Ansicht von Ress kann nach der Bankovic-Entscheidung nicht mehr vertreten werden, dass „jurisdiction “ im Sinne von Art. 1 EMRK automatisch aus der Existenz zurechenbaren Staatshandelns folge. Vielmehr müsse ein qualifiziertes Konzept der „jurisdiction“ zur Anwendung kommen, wie es der Gerichtshof in der Bankovic-Entscheidung entwickelt habe.40 Weingärtner führt im Zusammenhang mit der Bankovic-Entscheidung an, dass Art. 56 Abs. 1 EMRK für eine enge Auslegung des territorialen Geltungsbereiches der Konvention spreche, da die Bestimmung überflüssig wäre, wenn der Konvention ein globales Anwendungsverständnis zugrunde läge.41 Einige Stimmen in der Literatur schließen sich der Bankovic-Entscheidung zwar auch grundsätzlich an, erkennen jedoch einige zusätzliche rechtfertigungsbedürftige Ausnahmen an. Als weitere Ausnahmen, die in der Bankovic-Entscheidung nicht genannt sind, werden der Freiheitsentzug und die Ingewahrsamnahme aufgeführt. So begründet nach Bothe – neben dem Fall der effektiven Kontrolle über ein Gebiet im Rahmen einer Besetzung – insbesondere auch ein Freiheitsentzug für sich allein genommen eine effektive Kontrolle.42 Nach Ansicht von Krieger bezeichnet „jurisdiction“ die von einer gewissen Dauerhaftigkeit und Organisation gekennzeichnete regelmäßige Ausübung von Hoheitsgewalt. Eine solche übe die Bundeswehr im Rahmen von ISAF in Afghanistan nicht aus; vielmehr unterstütze die Bundeswehr lediglich den afghanischen Staat bei der Herstellung von Sicherheit. Damit sei der Anwendungsbereich der EMRK für deutsches Handeln in Afghanistan im Rahmen von ISAF grundsätzlich nicht eröffnet.43 Allerdings unterstünden – so Krieger – Taliban- und Al Quaida-Kämpfer, die von der Bundeswehr gefangen genommen werden, der deutschen Hoheitsgewalt und damit dem Schutz der EMRK. Die Ingewahrsamnahme von Kriegsgefangenen stelle einen völkervertraglich und völkergewohnheitsrechtlich anerkannten Fall dar, in dem Personen der regelmäßigen Herrschaftsgewalt eines Staates unterliegen.44 Die Bankovic-Entscheidung ist jedoch auch auf Kritik in der Literatur gestoßen. So kritisierte Heintze die seiner Ansicht nach restriktive Bankovic-Entscheidung als politisch 38 So Röben, in: Grote/Marauhn, Kap. 5, Rn. 91. 39 So Meyer-Ladewig, Art. 1, Rn. 5. 40 Siehe Ress, in: ZEuS 6 (2003), S. 73, 86. 41 Siehe Weingärtner, in: Weiß (Hrsg.), S. 9, 10. 42 Siehe Bothe, in: FS Tomuschat, S. 63, 73. 43 Siehe Krieger, in: ZaöRV 62 (2002), S. 669, 670 ff., 677. 44 Siehe Krieger, in: ZaöRV 62 (2002), S. 669, 688. - 18 - verständlich, juristisch aber problematisch. Zur Frage der Anwendbarkeit der EMRK auf britisches Handeln im Irak führt er aus, der EGMR habe dieser vorgebeugt, indem er in Bankovic auf den regionalen Charakter der EMRK hingewiesen habe.45 Auch Rensmann ist der Ansicht, die Bankovic-Entscheidung lasse die Anwendbarkeit der EMRK auf Auslandseinsätze der Streitkräfte zweifelhaft erscheinen.46 Die mit der Entscheidung erfolgte Einschränkung des Anwendungsbereiches der EMRK stelle einen radikalen Bruch mit der überkommenden Judikatur dar und führe im Ergebnis dazu, dass die völkerrechtswidrige Anmaßung von Hoheitsgewalt durch die Befreiung des Konventionsstaates aus seiner menschenrechtlichen Bindung prämiert werde.47 Ein anderer Teil der Literatur verbindet seine Kritik an der Bankovic-Entscheidung mit der Befürwortung einer erweiterten Anwendung der Konvention auf extraterritoriales Handeln.48 EGMR-Richter Loucaides kritisiert die in der Bankovic-Entscheidung vorgenommene Auslegung des Art. 1 EMRK und kommt seinerseits zu dem Ergebnis, dass die Ausübung von Staatsgewalt, de facto oder de jure, entscheidend sei.49 Seiner Ansicht nach weicht der Gerichtshof in der Bankovic-Entscheidung von seinen Auffassungen in den zuvor entschiedenen Fällen ab; auch sei die Entscheidung schwer mit einigen nachfolgenden Entscheidungen in Einklang zu bringen.50 Schäfer stellt die These auf, dass die Ausübung von Hoheitsgewalt und damit die Anwendbarkeit der EMRK grundsätzlich auch bei Kampfeinsätzen im Ausland vorliegen könne, ohne dass eine gefestigte Gebietskontrolle existiere.51 Seiner Ansicht nach muss zwischen negativen und positiven Verpflichtungen aus der EMRK unterschieden werden . Hinsichtlich der negativen Verpflichtungen, das heißt der Verpflichtung, nicht aktiv in Konventionsrechte einzugreifen, sollte die EMRK auf alle Fälle eines Eingriffes durch physische Gewalt zur Anwendung gelangen. Die positiven Verpflichtungen aus der EMRK hingegen fänden nur in dem Maße Anwendung, in dem eine effektive Gebietskontrolle vorliege. Mit Zunahme der ausgeübten Gebietskontrolle nähmen – so Schäfer – auch die positiven Verpflichtungen aus den Menschenrechten graduell zu.52 Lawson vertritt einen ähnlichen situationsspezifischen Ansatz. Seiner Ansicht nach ist die Konvention in den Fällen anwendbar, in denen das extraterritoriale Handeln des 45 Siehe Heintze, in: HuV-I. 18 (2005), S. 177, 181 f. 46 Siehe Rensmann, in: Weingärtner (Hrsg.), S. 49, 50. 47 Siehe Rensmann, in: Weingärtner (Hrsg.), S. 49, 64 f. 48 Vgl. Lorenz, S. 63 ff. und Ress, in: ZEuS 6 (2003), S. 73, 82. 49 Siehe Loucaides, in: EHRLR 11 (2006), S. 391 ff., 399. 50 Siehe Loucaides, in: EHRLR 11 (2006), S. 391, 401. 51 Siehe Schäfer, in: Weiß (Hrsg.), S. 5, 5 f. 52 Siehe Schäfer, S. 31 f. - 19 - Staates mittels eines „direct and immediate link“ mit dem gerügten Eingriff in die Konventionsrechte verbunden ist.53 Nach Ansicht von Schmidt-Radefeldt ist für die extraterritoriale Anwendung der EMRK entscheidend, dass der Beschwerdeführer der Hoheitsgewalt eines Konventionsstaates im Sinne eines Subordinationsverhältnisses unterworfen ist.54 Seiner Ansicht nach fallen die extraterritorialen polizeiähnlichen Zugriffe auf Terroristen(verstecke) in Afghanistan in den Anwendungsbereich der EMRK. Der Autor zieht insofern eine Parallele zu der EGMR-Rechtsprechung, in der die Konvention in Fällen Anwendung fand, in denen Personen von den Sicherheitskräften eines Konventionsstaates in Zusammenarbeit mit ausländischen Behörden festgenommen und in ihren Heimatstaat verbracht worden waren .55 An anderer Stelle differenziert Schmidt-Radefeldt zwischen Festnahmen und Inhaftierungen einerseits, die mittels eines direkten Kontaktes ein Subordinationsverhältnis begründen, und gezielten Erschießungen andererseits, die nur ausnahmsweise in den Anwendungsbereich der Konvention fallen sollen. Schließlich unterscheidet er finales Staatshandeln gegen Individuen (wie z.B. Festnahmen) und Kampfhandlungen gegen einen ausländischen Staat als solchen, bei denen es zu Tötungen von Zivilisten kommt. In letzterem Fall sei die EMRK nicht anwendbar.56 Nach Lorenz ist zwar die Zuständigkeitsklausel (Art. 1 EMRK) im Sinne von Staatenverantwortlichkeit weit auszulegen. Somit sei der Anwendungsbereich der Konvention auch bei faktischen Eingriffen durch die deutsche Hoheitsgewalt in die Rechte von Ausländern im Ausland grundsätzlich eröffnet. Diesen weiten Anwendungsbereich schränkt Lorenz jedoch sodann ein. Es komme – so Lorenz – in diesem Fall eine regionale Beschränkung auf das Gebiet aller Vertragsstaaten zum Tragen, wie sie in der Bankovic- Entscheidung entwickelt worden sei.57 2.1.2.3. Auffassungen nationaler Gerichte Eine Auseinandersetzung mit der Bankovic-Rechtsprechung des EGMR erfolgte durch britische Gerichte, die sich in den Jahren 2004 bis 2007 mit Entschädigungsforderungen von Irakern beschäftigten. In einem Fall war der Angehörige eines Klägers in einem britischen Militärgefängnis gestorben, in den fünf anderen Fällen trugen die Kläger vor, ihre Angehörigen seien von britischen Truppen erschossen worden. Der Divisional 53 Siehe Lawson, in: Coomans/Kamminga (Hrsg.), S. 83, 103 ff., unter Hinweis auf die anderslautende Rechtsprechung des EGMR, S. 120. 54 Siehe Schmidt-Radefeldt, in: Pradetto (Hrsg.), S. 165, 177; vgl. auch ders., in: Fleck (Hrsg.), S. 101, 109. 55 Siehe Schmidt-Radefeldt, in: Pradetto (Hrsg.), S. 165, 177; vgl. auch ders., in: Fleck (Hrsg.), S. 101, 110. 56 Siehe Schmidt-Radefeldt, in: Fleck (Hrsg.), S. 101, 110 f. 57 Siehe Lorenz, S. 115 ff., 118 ff. - 20 - Court hatte sich mit der Frage zu beschäftigen, inwieweit die EMRK im vorliegenden Fall zur Anwendung gelange und kam zu dem Ergebnis, dass dies nur im Hinblick auf den im Gefängnis verstorbenen Iraker der Fall sei.58 Das House of Lords wies die Berufung (appeal) der Kläger sowie die Gegenberufung (cross-appeal) des Secretary of State for Defence zurück; der Fall des in Haft gestorbenen Irakers wurde zurückverwiesen.59 2.1.2.4. Fazit zur extraterritorialen Geltung der EMRK Die Frage, ob die EMRK nach Art. 1 EMRK auf Handlungen der deutschen Staatsgewalt im Rahmen von Auslandseinsätzen der Bundeswehr anwendbar ist, ist bislang – soweit ersichtlich – unmittelbar nur von Krieger und Schmidt-Radefeldt beantwortet und nur im Hinblick auf Festnahmen übereinstimmend bejaht worden. Aus den allgemeinen Aussagen von Teilen der Literatur lässt sich schlussfolgern, dass diese die Anwendbarkeit der EMRK im Falle von Festnahmen durch deutsche Truppen im Auslandseinsatz ebenfalls unterstützen. Darunter finden sich auch Aussagen, welche eine weitergehende Anwendbarkeit der EMRK auf Handeln deutscher Streitkräfte im Ausland befürworten könnten, z.B. im Falle schwerwiegender internationaler Straftaten oder im Hinblick auf ein Verhalten, das aktiv in Konventionsrechte eingreift. Nach der Rechtsprechung des EGMR und der ganz überwiegenden Literatur gelangt die EMRK im Fall einer Besetzung und in Fällen, in denen ein Staat auf dem Gebiet eines anderen Staates mit dessen Zustimmung alle oder einige Gewalt übernimmt, zur Anwendung . Inwiefern die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen einzelner Auslandseinsätze – bspw. in Afghanistan – mit Zustimmung der örtlichen Regierung „einige Gewalt“ ausübt, hängt von den tatsächlichen Umständen vor Ort ab. Krieger verneint diese Frage für Afghanistan, da Deutschland eine ausschließlich unterstützende Funktion und keine eigene vorrangige Verantwortlichkeit habe.60 Allerdings steht auch dieser gesicherte Anwendungsbereich der EMRK auf extraterritoriales Handeln unter dem Vorbehalt der Bedeutung der Aussage der Großen Kammer des EGMR im Fall Bankovic , die Konvention sei nicht dafür gedacht, weltweite Anwendung zu finden, sondern sei grundsätzlich nur regional anwendbar.61 Über die Frage, ob diese Aussage per se den Anwendungsbereich der EMRK regional auf das Gebiet aller Vertragsstaaten begrenzt 58 High Court of Justice, Queen’s Bench Division, Divisional Court, Urteil vom 14.12.2004, [2004] EWHC 2911 (Admin), Abs. 287 f.; siehe auch Court of Appeal, Urteil vom 21.12.2005, [2005] EWCA Civ 1609. Siehe dazu auch: Rensmann, in: Weingärtner (Hrsg.), S. 49, 61 ff. 59 House of Lords, Lords of Appeal, Al-Skeini and others v. Secretary of State for Defence, Urteil vom 13.06.2007, [2007] UKHL 26. 60 Siehe Krieger, in: ZaöRV 62 (2002), S. 669, 677. Im Jahre 2005 wurde Deutschland zwar die Koordinierungsverantwortung im Nordbereich Afghanistans zugewiesen, allerdings ohne dass neben der Ausweitung eine weitere Änderung des Mandates des VN-Sicherheitsrates erfolgte. 61 Siehe zu dieser Aussage bereits oben S. 12 f. und S. 16 ff. - 21 - mit der Folge, dass damit extraterritoriales Handeln außerhalb dieses Gebietes unter keinen Umständen in den Anwendungsbereich der EMRK fiele, herrscht Uneinigkeit. 2.1.3. Derogation oder Modifizierung der EMRK-Bestimmungen Können die Bestimmungen der EMRK – jedenfalls unter bestimmten Umständen – grundsätzlich Anwendung auf deutsches Handeln im Ausland finden, so stellt sich im Anschluss die Frage, inwiefern dennoch die Pflicht zur Beachtung einzelner Normen im Einzelfall derogiert, das heißt teilweise außer Kraft gesetzt, oder auch nur modifiziert ist. Die Konvention selbst sieht eine Derogation in Art. 15 EMRK vor. Dieser lautet: „(1) Wird das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht, so kann jede Hohe Vertragspartei Maßnahmen treffen, die von den in dieser Konvention vorgesehenen Verpflichtungen abweichen, jedoch nur, soweit es die Lage unbedingt erfordert und wenn die Maßnahmen nicht im Widerspruch zu den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei stehen. (2) Aufgrund des Absatzes 1 darf von Artikel 2 nur bei Todesfällen infolge rechtmäßiger Kriegshandlungen und von Artikel 3, Artikel 4 Absatz 1 und Artikel 7 in keinem Fall abgewichen werden. (3) Jede Hohe Vertragspartei, die dieses Recht auf Abweichung ausübt, unterrichtet den Generalsekretär des Europarats umfassend über die getroffenen Maßnahmen und deren Gründe. Sie unterrichtet den Generalsekretär des Europarats auch über den Zeitpunkt, zu dem diese Maßnahmen außer Kraft getreten sind und die Konvention wieder volle Anwendung findet.“ Eine Unterrichtung nach Art. 15 Abs. 3 EMRK seitens der Bundesrepublik Deutschland liegt nicht vor.62 Möglicherweise schließt eine fehlende Notifikation die Berufung auf die Statthaftigkeit der Derogation jedoch nicht aus.63 Ob „das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht“ wird im Sinne von Art. 15 Abs. 1 EMRK und damit die materiell-rechtliche Voraussetzung einer Derogation gegeben ist, erscheint allerdings zweifelhaft.64 Im Übrigen wäre Deutschland auch im Falle 62 Siehe dazu die Liste der Erklärungen zur EMRK auf der Internetseite des Europarates, abrufbar unter: http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/ListeDeclarations.asp?NT=005&CM=8&DF= 8/30/2007&CL=GER&VL=1 (Stand: 15.09.2008). 63 So Schmahl, in: Fleck (Hrsg.), S. 125, 143. 64 Siehe zu diesen materiell-rechtlichen Anforderungen: Schmahl, in: Fleck (Hrsg.), S. 125, 126 ff.; Seibert-Fohr, in: Walter (Hrsg.), S. 125, 154 ff.; Oeter, in: AdV 40 (2002), S. 422, 435 ff. - 22 - einer erfolgten Derogation an die notstandsfesten Rechte65 gebunden und dürfte sich nur insoweit auf eine Derogation berufen, als die Lage dies unbedingt erfordert. Nach der Ansicht von Weingärtner könnte sich eine Freistellung der unter einem VN- Mandat tätigen Truppen von menschenrechtlichen Verpflichtungen auch daraus ableiten lassen, dass die Erfüllung des Mandates Vorrang vor anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen genießt. Art. 103 VN-Charta in Verbindung mit Art. 25 VN-Charta führe bei Vorliegen eines Widerspruches zwischen dem in der Sicherheitsratsresolution nach Kapitel VII enthaltenen VN-Mandat und menschenrechtlichen Verpflichtungen zu einem Vorrang des VN-Mandates.66 Seibert-Fohr macht hingegen darauf aufmerksam, dass Sicherheitsratsresolutionen nicht in einer Weise interpretiert werden sollten, die sie in Widerspruch zu Menschenrechtsverträgen treten lässt, wenn sie keine explizite Außerkraftsetzung enthalten.67 In der Praxis finden sich zudem in den zugrundeliegenden VN-Resolutionen meist Bekräftigungen oder gar Verpflichtungen auf die Menschenrechte . So ermächtigt die dem ISAF-Mandat ursprünglich zugrundeliegende Sicherheitsratsresolution 1386 vom 20. Dezember 2001 die Mitgliedstaaten zwar, alle notwendigen Maßnahmen zur Erfüllung ihres Mandates zu ergreifen, hebt jedoch in der Präambel die Bindung an die Menschenrechte in Bezug auf die afghanischen Truppen gerade hervor. In der Resolution 1244 vom 10. Juni 1999, welche die rechtliche Basis der KFOR-Mission darstellt, wird die Unterstützung der zivilen Verwaltung ausdrücklich als Aufgabe von KFOR benannt. Zu den Aufgaben der zivilen Verwaltung gehören nach der Resolution auch der Schutz und die Verbreitung der Menschenrechte. Unter diesen Umständen erscheint die Annahme, der Sicherheitsrat habe die Staaten, die sich an ISAF und KFOR beteiligen, für die Mission von der Beachtung der Menschenrechte freigestellt, eher fernliegend. Schließlich könnte der Umfang der Geltung der einzelnen Bestimmungen im jeweiligen Fall Modifikationen erfahren, sobald sie auf Sachverhalte mit Terrorismusbezug zur Anwendung gelangen. Insbesondere könnten die Schrankenregelungen der nicht absolut gewährten Rechte in einem solchen Fall einer großzügigeren Anwendung zugänglich sein. So haben die Rechtsprechungsorgane der EMRK wiederholt den besonderen Erfordernissen der Terrorismusbekämpfung Rechnung getragen und infolgedessen das Vorliegen einer Konventionsverletzung nur unter engeren Voraussetzungen angenommen .68 Insbesondere im Hinblick auf das Recht der persönlichen Freiheit (Art. 5 EMRK) macht die Rechtsprechung Abstriche von den geltenden Standards. So wurde 65 Zu diesen siehe: Schmahl, in: Fleck (Hrsg.), S. 125, 131 ff. 66 Siehe Weingärtner, in: Weiß (Hrsg.), S. 9, 11 im Zusammenhang mit dem KFOR-Mandat. 67 Siehe Seibert-Fohr, in: Walter (Hrsg.), S. 125, 159 f. mit Bezug auf die SC Res. 1368 und 1373 aus dem Jahre 2001. 68 Vgl. Arnold, in: ZaöRV 66 (2006), S. 297, 316 f. - 23 - z.B. das Vorliegen eines Tatverdachts unter erleichterten Umständen bejaht oder eine etwas längere Polizeihaft ohne richterliche Vorführung hingenommen.69 Diese modifizierten Standards könnten auch auf Maßnahmen deutscher Streitkräfte im Rahmen von Auslandseinsätzen Anwendung finden, soweit ein Bezug zur Terrorismusbekämpfung oder eine vergleichbare Situation vorliegt. 2.2. Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) Der IPBPR entstand unter dem Dach der Vereinten Nationen und trat am 23. März 1976 in Kraft. Derzeit zählt er 160 Vertragsstaaten.70 Er enthält überwiegend die klassischen Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat, wie das Recht auf Leben (Art. 6), das Verbot der Folter (Art. 7), das Recht auf Freiheit (Art. 9) und das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 14). Teil IV des IPBPR errichtet ein Staatenberichtsverfahren über die erzielten Fortschritte bei der Verwirklichung der im Pakt anerkannten Rechte; diese Berichte werden dem VN-Generalsekretär übermittelt, welcher sie an den durch den Pakt errichteten Ausschuss für Menschenrechte weiterleitet. Schließlich etablieren Art. 41 ff. IPBPR ein Staatenbeschwerdeverfahren und das Erste Fakultativprotokoll zum IPBPR71 ein Individualbeschwerdeverfahren. Das Zweite Fakultativprotokoll zu dem IPBPR72 dient der Abschaffung der Todesstrafe. 2.2.1. Bindung der Bundesrepublik Deutschland an den IPBPR und seine Fakultativprotokolle Der IPBPR trat am 23. März 1976 auch für die Bundesrepublik Deutschland als Vertragspartei in Kraft. Diese hat sich am 27. Dezember 2001 für eine unbefristete Zeit dem Staatenbeschwerdeverfahren nach Art. 41 ff. IPBPR unterworfen. Ebenso hat sie das Individualbeschwerdeverfahren des Ersten Fakultativprotokolls – versehen mit einem Vorbehalt – sowie das Zweite Fakultativprotokoll ratifiziert.73 2.2.2. Anwendbarkeit der IPBPR-Bestimmungen Ob die Bestimmungen des IPBPR für das Handeln deutscher Streitkräfte im Ausland gelten, hängt vom Anwendungsbereich des Paktes ab. Dieser wird in Art. 2 Abs. 1 IPBPR wie folgt festgelegt: 69 Vgl. Schmidt-Radefeldt, in: Fleck (Hrsg.), S. 101, 111 ff., insbesondere S. 118 ff. mit weiteren Beispielen . Siehe auch Oeter, in: AdV 40 (2002), S. 422, 434 ff. Siehe zu der Rechtsprechung des EGMR bei antiterroristischen Maßnahmen auch Klugmann. 70 Der aktuelle Ratifikationsstand ist abrufbar unter: http://untreaty.un.org/ENGLISH/bible/ englishinternetbible/partI/chapterIV/treaty6.asp (Stand: 17.9.2008). 71 Vom 19.12.1966, BGBl. 1992 II, S. 1247, in Kraft getreten am 23.03.1976, für die Bundesrepublik Deutschland am 25.11.1993. 72 Vom 15.12.1989, BGBl. 1992 II, S. 391, in Kraft getreten am 18.11.1992 auch für die Bundesrepublik Deutschland. 73 BGBl. 1994 II, S. 311 und BGBl. 1993 II, S. 880. - 24 - „Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, die in diesem Pakt anerkannten Rechte zu achten und sie allen in seinem Gebiet befindlichen und seiner Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen […] zu gewährleisten.“ Wie diese Bestimmung insbesondere in Bezug auf extraterritoriales Handeln zu verstehen ist, ist umstritten. 2.2.2.1. Ansicht des Ausschusses für Menschenrechte unter dem Pakt Der Ausschuss für Menschenrechte, der in Teil IV des IPBPR errichtet wurde,74 hat sich im Zuge der ihm zugewiesenen Überwachung der Umsetzung des Paktes wiederholt in seinen allgemeinen Bemerkungen (General Comments), Auffassungen (Views) und abschließenden Berichten (Concluding Remarks) zur Anwendbarkeit des Paktes in Fällen mit extraterritorialen Bezügen geäußert.75 Diese Äußerungen haben keine gerichtlichen Entscheidungen vergleichbare Rechtskraft, können aber als sog. authentische und damit maßgebliche Interpretation der jeweiligen Vertragsvorschriften angesehen werden .76 So hat der Ausschuss die Anwendbarkeit der IPBPR-Bestimmungen im Fall López Burgos v. Uruguay im Jahre 1981 angenommen, welcher die Entführung eines uruguayischen Staatsangehörigen im Ausland durch uruguayische Einheiten zum Gegenstand hatte.77 Für den Fall der von Israel besetzten palästinensischen Gebiete hat der Ausschuss ebenfalls bestätigt, dass Israel in Bezug auf diese Gebiete an den IPBPR gebunden sei.78 Der Ausschuss für Menschenrechte veröffentlichte im Jahre 2004 einen General Comment ,79 in dem er seine Auffassung hinsichtlich der allgemeinen rechtlichen Verpflichtungen der Vertragsstaaten aus Art. 2 IPBPR darlegte. Absatz 10 des General Comment lautet: „States Parties are required by article 2, paragraph 1, to respect and to ensure the Covenant rights to all persons who may be within their territory and to all persons who are subject to their jurisdiction. This means that a State party must respect and ensure the rights laid down in the Covenant to anyone within the 74 Der Ausschuss für Menschenrechte ist als Vertragsorgan des IPBPR von der früheren VN- Menschenrechtskommission, sowie von deren Nachfolger dem VN-Menschenrechtsrat zu unterscheiden . 75 Vgl. dazu allgemein Dennis, in: AJIL 99 (2005), S. 119, 122 f.; Lorenz, S. 36 ff.; McGoldrick, in: Coomans/Kamminga (Hrsg.), S. 41, 49 ff.; Schmidt-Radefeldt, in: Fleck (Hrsg.), S. 101, 105 f. 76 Siehe zur Bedeutung der Äußerungen des Ausschusses für Menschenrechte als „authentische Interpretation “ Lorenz, S. 35. 77 López Burgos v. Uruguay, Communication No. 52/1979, UN Doc. CCPR/C/13/D/52/1979 (1981). 78 Concluding Observations of the Human Rights Committee: Israel, 05.08.2003, UN Doc. CCPR/CO/78/ISR, Rz. 11. Vgl. auch Bothe, in: FS Tomuschat, S. 63, 72; Lorenz, S. 43 f. 79 Ausschuss für Menschenrechte, General Comment Nr. 31, Nature of the General Legal Obligation Imposed on State Parties to the Covenant, 26.05.2004, UN Doc. CCPR/C/21/Rev.1/Add.13. - 25 - power or effective control of that State Party, even if not situated within the territory of that State Party. […] [T]he enjoyment of Covenant rights is not limited to citizens of States Parties but must also be available to all individuals, regardless of nationality or statelessness […], who may find themselves in the territory or subject to the jurisdiction of the State Party. This principle also applies to those within the power or effective control of the forces of a State Party acting outside its territory […].” In den Concluding Observations des Ausschusses für Menschenrechte zu dem Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahr 2003 unter Art. 40 IPBPR kommt die Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass die Bundesrepublik Deutschland bislang noch keine Position zur Anwendbarkeit des Paktes auf solche Situationen eingenommen hat, in denen deutsche Truppen im Ausland operieren.80 2.2.2.2. Position der Vertragsstaaten Die Bundesrepublik Deutschland erklärte ihre Position auf die obige Aufforderung des Ausschusses für Menschenrechte in den Concluding Observations wie folgt: „Wherever its police or armed forces are deployed abroad, in particular when participating in peace missions, Germany ensures to all persons that they will be granted the rights recognized in the Covenant, insofar as they are subject to its jurisdiction. Germany’s international duties and obligations, in particular those assumed in fulfilment of obligations stemming from the Charter of the United Nations, remain unaffected. The training it gives its security forces for international missions includes tailor-made instruction in the provisions of the Covenant.”81 Andere Vertragsstaaten vertreten unterschiedliche Standpunkte im Hinblick auf die extraterritoriale Anwendung des Paktes: So erkannte Polen die grundsätzliche extraterrito- 80 Concluding Observations of the Human Rights Committee: Germany, 04.05.2004 (UN Doc. CCPR/CO/80/DEU), Abs. 11. 81 Comments by the Government of Germany to the concluding observations of the Human Rights Committee, 11.04.2005, UN Doc. CCPR/CO/80/DEU/Add.1. Weitere Informationen zu dieser Erklärung finden sich bei Weingärtner, in: Weiß (Hrsg.), S. 9, 12. - 26 - riale Anwendbarkeit des IPBPR an; Großbritannien, die Niederlande82 und die USA83 lehnten diese dagegen ausdrücklich ab.84 2.2.2.3. Auffassungen in der völkerrechtlichen Literatur Die Diskussion in der Literatur dreht sich zum einen um die Frage, ob das personale und das territoriale Kriterium kumulativ oder alternativ vorliegen müssen, das heißt, ob eine Person nur dann den Schutz des Paktes genießt, wenn sie sich auf dessen Territorium befindet (territoriales Kriterium) und gleichzeitig der staatlichen Herrschaftsgewalt unterliegt (personales Kriterium) oder ob dies auch dann der Fall ist, wenn sie sich entweder auf dem Gebiet des Staates befindet oder der Herrschaftsgewalt des Staates anderweitig , also auch außerhalb des Staatsgebietes unterworfen ist. Zum anderen ist umstritten , in welchen Fällen eine Person der staatlichen Herrschaftsgewalt unterliegt („subject to its jurisdiction“). Während Literatur, Rechtsprechung und der Ausschuss für Menschenrechte übereinstimmend der Ansicht sind, dass eine Person im Falle einer kriegerischen Besetzung der staatlichen Herrschaftsgewalt des Besatzungsstaates unterliegt ,85 wird darüber diskutiert, ob auch einzelne extraterritoriale Maßnahmen, wie Festnahmen oder (Todes-)Schüsse bei Kampfeinsätzen, eine staatliche Herrschaftsgewalt begründen. In letzterem Aspekt gleicht die Diskussion derjenigen, welche in Bezug auf die EMRK geführt wird. Insoweit kann größtenteils auf die obige Darstellung verwiesen werden.86 Was die erstgenannte Frage angeht, so befürwortet Dennis eine kumulative Anwendung des territorialen und personalen Kriteriums. Das heißt, eine Person genießt nur dann den Schutz des Paktes, wenn sie sich auf dem Territorium des Staates befindet und gleichzeitig der Herrschaftsgewalt dieses Staates unterliegt. Damit verneint Dennis eine extraterritoriale Anwendbarkeit des IPBPR. Ihm zufolge findet der Pakt somit auf deutsches Handeln im Ausland gleich welcher Art keine Anwendung. Er begründet die kumulative Heranziehung beider Kriterien mit der gewöhnlichen Bedeutung des Wortlautes von Art. 2 Abs. 1 IPBPR und stellt heraus, dass die Position des Ausschusses für Menschen- 82 Replies of the Government of the Netherlands to the concerns expressed by the Human Rights Committee, 29.04.2003, UN Doc. CCPR/CO/72/NET/Add.1, Abs. 19 in Bezug auf Screbrenica. 83 Consideration of reports submitted by States Parties under article 40 of the covenant, Third periodic report, USA, 28.11.2005, UN Doc. CCPR/C/USA/3, Abs. 130 und Annex I mit ausführlicher Begründung der amerikanischen Position. 84 Vgl. Weingärtner, in: Weiß (Hrsg.), S. 9, 12; Dennis, in: AJIL 99 (2005), S. 119, 125; Schäfer, S. 23 f. 85 Anders jedoch die Ansicht einiger Vertragsstaaten, siehe oben Teil 2.2.2.2 Siehe in Bezug auf die EMRK Teil 2.1.2. 86 Siehe oben Teil 2.1.2.2. - 27 - rechte in seinem General Comment Nr. 31 im Widerspruch zur Staatenpraxis und der ursprünglichen Absicht der vertragsschließenden Parteien stehe.87 Nach Schäfer ist Art. 2 Abs. 1 IPBPR dagegen dahingehend auszulegen, dass der Anwendungsbereich des Paktes bereits eröffnet ist, wenn die Person nur der Hoheitsgewalt des Vertragsstaates unterliegt und sich nicht auch auf seinem Gebiet befindet. „Jurisdiction “ werde – so Schäfer – im Falle einer kriegerischen Besetzung sowie dann ausgeübt, wenn ein Staat mittels physischer Gewalt aktiv in Rechte eingreife.88 Nowak ist der Ansicht, dass eine Auslegung, welche dem Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 IPBPR über Gebühr Beachtung schenkt, oft zu absurden Ergebnisses führen würde. Deshalb habe eine systematische und teleologische Interpretation unter Berücksichtigung des geschichtlichen Hintergrundes der Norm zu erfolgen. Letzterer lege zwar offen , dass durch die Formulierung den Staaten gerade keine Pflicht zum Schutz solcher Personen auferlegt werden sollte, die lediglich seiner „jurisdictional authority“ unterstehen , sich aber nicht auf dem Staatsgebiet aufhielten. Es widerspreche aber – so Nowak – Ziel und Zweck des Paktes, wenn Staaten den IPBPR-Verpflichtungen nicht unterlägen, soweit sie durch Maßnahmen im Ausland in die Rechte von Personen eingreifen, die ihrer „sovereign authority“ unterstehen.89 2.2.2.4. Auffassung des Internationalen Gerichtshofes Der Internationale Gerichtshof (IGH) äußerte sich in seinem Gutachten über die rechtlichen Konsequenzen der Errichtung einer Sperranlage in den besetzten palästinensischen Gebieten aus dem Jahre 2004 auch zur Frage der extraterritorialen Anwendbarkeit des Paktes. Im Rahmen einer Auslegung von Art. 2 Abs. 1 IPBPR stellte er fest, dass der Wortlaut dieser Bestimmung sowohl eine kumulative als auch eine alternative Lesart des territorialen und personalen Kriteriums zuließe. Nach Ziel und Zweck des Vertrages erscheine es – so der IGH – jedoch nur natürlich („natural“), dass die Vertragsstaaten auch im Falle extraterritorialen Handelns an den Pakt gebunden seien. Dieses Ergebnis werde sowohl von einer konstanten Praxis des Ausschusses für Menschenrechte als auch durch die vorbereitenden Arbeiten (travaux préparatoires) des Paktes gestützt. Infolgedessen sei der IPBPR auch auf Maßnahmen eines Staates, die sich als Ausübung seiner „jurisdiction“ darstellen, jedoch außerhalb seines Territoriums erfolgen, anwendbar .90 87 So Dennis, in: AJIL 99 (2005), S. 119, 122, 127. 88 Siehe Schäfer, S. 20, 22 ff. Siehe auch schon zu den Ausführungen Schäfers, oben S. 19 f. Diese gelten auch in Bezug zum IPBPR. 89 Siehe Nowak, Art. 2, Rn. 27 ff. 90 IGH, Mauergutachten (Fn. 53), Abs. 107 ff., 111. - 28 - 2.2.2.5. Fazit Die extraterritoriale Geltung des IPBPR ist umstritten. Während der Ausschuss für Menschenrechte, der IGH, sowie ein Teil der Staatenpraxis eine solche Anwendung befürworten, lehnen ein anderer Teil der Staatenpraxis sowie Stimmen in der Literatur die extraterritoriale Anwendbarkeit des Paktes ab. 2.2.3. Derogation oder Modifizierung der IPBPR-Bestimmungen Im Falle eines Notstandes sieht Art. 4 Abs. 1 IPBPR die Außerkraftsetzung einiger IPBPR-Bestimmungen vor. Diese Bestimmung lautet: „Im Falle eines öffentlichen Notstandes, der das Leben der Nation bedroht und der amtlich verkündet ist, können die Vertragsstaaten Maßnahmen ergreifen, die ihre Verpflichtungen aus diesem Pakt in dem Umfang, den die Lage unbedingt erfordert, außer Kraft setzen, vorausgesetzt, dass diese Maßnahmen ihren sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht zuwiderlaufen und keine Diskriminierung allein wegen der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion oder der sozialen Herkunft enthalten.“ Art. 4 Abs. 2 IPBPR zählt die notstandsfesten Rechte auf; Abs. 3 enthält eine Mitteilungspflicht . Im Hinblick auf die Derogation der IPBPR-Verpflichtungen durch ein Mandat des Sicherheitsrates unter Kapitel VII sowie eine im Einzelfall möglicherweise vorzunehmende Berücksichtigung der besonderen Umstände der Terrorismusbekämpfung bei der Bestimmung des Umfanges der jeweiligen Verpflichtung kann auf obige Ausführungen verwiesen werden.91 3. Anwendbarkeit des Humanitären Völkerrechts Das humanitäre Völkerrecht regelt das ius in bello und damit die Gesamtheit der Völkerrechtsregeln , die während eines bewaffneten Konfliktes für die im Konfliktgebiet befindlichen Personen und die völkerrechtliche Beurteilung der Kampfhandlungen gelten .92 Es gilt unbeeinflusst von der Frage des ius ad bellum, das heißt der Frage nach der Rechtmäßigkeit des Krieges vor dem Hintergrund des völkerrechtlichen Gewaltverbotes .93 Die wesentlichen Kodifikationen des ius in bello erfolgten im sogenannten Haager Recht, insbesondere im IV. Haager Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche 91 Siehe oben Teil 2.1.3. 92 Siehe Hobe/Kimminich, Völkerrecht, S. 498. Ausführlich zum Begriff des humanitären Völkerrechts , Gasser, S. 22 f. 93 Siehe Gasser, S. 25 f.; Hobe/Kimminich, Völkerrecht, S. 495; Klein, in: MRM 9 (2004), S. 5, 7. - 29 - des Landkrieges mit der Haager Landkriegsordnung als Anlage,94 und im sogenannten Genfer Recht. Das Haager Recht regelt im Wesentlichen, aber nicht ausschließlich die Mittel und Methoden der Kriegsführung. Das Genfer Recht regelt den Schutz der Wehrlosen 95 und besteht im Wesentlichen aus den vier Genfer Konventionen von 194996 sowie den zwei Zusatzprotokollen aus dem Jahre 1977 (ZP I und ZP II).97 Es gliedert sich im Groben in die Bestimmungen, die den internationalen bewaffneten Konflikt betreffen , und solche, die den nicht-internationalen bewaffneten Konflikt betreffen. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich vertraglich zur Beachtung der Haager Landkriegsordnung sowie der vier Genfer Konventionen mit ihren zwei Zusatzprotokollen verpflichtet .98 3.1.1. Überblick über die Voraussetzungen der Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts Der „klassische“ Anwendungsbereich des humanitären Völkerrechts ist der Krieg oder der internationale bewaffnete Konflikt. Die in den vier Genfer Konventionen enthaltenen Bestimmungen des humanitären Völkerrechts finden nach deren gleichlautenden Art. 2 Abs. 1 „in allen Fällen eines erklärten Krieges oder eines anderen bewaffneten Konflikts, der zwischen zwei oder mehreren der Hohen Vertragsparteien entsteht,“ Anwendung . Im gemeinsamen Art. 2 Abs. 2 dieser Konventionen wird hinzugefügt, dass die Abkommen auch in allen Fällen vollständiger oder teilweiser Besetzung des Gebietes einer Hohen Vertragspartei Anwendung finden. Das erste Zusatzprotokoll (ZP I) zu den Genfer Konventionen findet nach seinem Art. 1 Abs. 3 in denselben Situationen Anwendung wie die Genfer Konventionen. In einem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt kommt das humanitäre Völkerrecht dagegen nicht vollständig zur Anwendung. Die vier Genfer Konventionen bieten nach deren gemeinsamem Art. 3 in nicht-staatlichen Konflikten lediglich einen rudimentären Mindeststandard beim Schutz der Wehrlosen; die übrigen Regelungen der vier Genfer 94 Abkommen, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs vom 18.10.1907, RGBl. 1910, S. 107. 95 Vgl. Hess, S. 2 f. 96 I. Genfer Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der Streitkräfte im Felde vom 12.08.1949, BGBl. 1954 II, S. 783; II. Genfer Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der Streitkräfte zur See vom 12.08.1949, BGBl. 1954 II, S. 813; III. Genfer Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen vom 12.08.1949, BGBl. 1954 II, S. 838; IV. Genfer Abkommen zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12.08.1949, BGBl. 1954 II, S. 917, ber. 1956 II, S. 1586. 97 Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I) vom 08.06.1977, BGBl. 1990 II, S. 1551; Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll II) vom 08.06.1977, BGBl. 1990 II, S. 1637. 98 Siehe zum Ratifikationsstand: http://www.icrc.org/ihl.nsf/Pays?ReadForm (Stand: 15.09.2008). Die USA haben die zwei Zusatzprotokolle zwar unterzeichnet, aber nicht ratifiziert. - 30 - Konventionen sind nicht anwendbar. Das erste Zusatzprotokoll gilt grundsätzlich ebenfalls nur für internationale bewaffnete Konflikte. Art. 1 Abs. 4 ZP I erweitert aber diesen Anwendungsbereich in bedeutender Weise, indem er „bewaffnete Konflikte, in denen Völker gegen Kolonialherrschaft und fremde Besetzung sowie gegen rassistische Regime in Ausübung ihres Rechts auf Selbstbestimmung kämpfen […]“ internationalen bewaffneten Konflikten gleichstellt. Mit dieser Regelung werden mithin bestimmte Typen interner, also nicht-internationaler Konflikte in den gesamten Regelungsbereich des Ersten Zusatzprotokolls einbezogen. Ergänzt wird der Schutz des gemeinsamen Art. 3 und des Art. 1 Abs. 4 ZP I schließlich durch das Zweite Zusatzprotokoll (ZP II), welches spezifisch auf alle nicht-internationalen bewaffneten Konflikte Anwendung findet, „die im Hoheitsgebiet einer Hohen Vertragspartei zwischen deren Streitkräften und abtrünnigen Streitkräften oder anderen organisierten bewaffneten Gruppen stattfinden, die unter einer verantwortlichen Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebiets der Hohen Vertragspartei ausüben, dass sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchzuführen und dieses Protokoll anzuwenden vermögen“ (Art. 1 Abs. 1 ZP II). Art. 1 Abs. 2 ZP II fügt hinzu: „Dieses Protokoll findet nicht auf Fälle innerer Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen Anwendung, die nicht als bewaffnete Konflikte gelten.“ Damit dürften Fälle der Aufrechterhaltung oder der Wiederherstellung der Sicherheit und staatlicher Ordnung durch rein polizeiliche Mittel gemeint und daher vom Anwendungsbereich des ZP II ausgenommen sein. Schließlich spielt neben der vertraglichen Pflicht zur Achtung des Haager und des Genfer Rechts auch die völkergewohnheitsrechtliche Geltung einzelner Bestimmungen des humanitären Völkerrechts eine große Rolle.99 So beanspruchen der gemeinsame Art. 3 der vier Genfer Konventionen und die wesentlichen Bestimmungen der Genfer Konventionen betreffend den internationalen bewaffneten Konflikt auch völkergewohnheitsrechtliche Geltung.100 Umstritten ist hingegen, welche weiteren Bestimmungen, insbesondere des Zweiten Zusatzprotokolls, im Einzelnen völkergewohnheitsrechtlich im Rahmen eines nicht-internationalen bewaffneten Konfliktes gelten.101 99 So Gasser, S. 51 f. 100 Allgemeiner der IGH, Gutachten über die Legalität der Nuklearwaffen vom 08.07.1996, ICJ Reports 1996, S. 226, Abs. 82. Vgl. auch Heintschel v. Heinegg, in: AdV 41 (2003), S. 272, 275; Hess, S. 40 ff. Ipsen, in: Ipsen, S. 1217 bezeichnet die Einzelregelungen des gemeinsamen Art. 3 als allgemeine Grundsätze des Völkerrechts und untersucht auf S. 1227 die gewohnheitsrechtliche Geltung von Art. 1 Abs. 4 ZP II. Zu der Frage, ob der gemeinsame Art. 3 der Genfer Konventionen auch auf internationale bewaffnete Konflikte Anwendung findet, vgl. Künzli, S. 139 f. 101 Vgl. dazu Internationaler Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien (ICTY), Berufungskammer, Prosecutor v. Dusko Tadic, Jurisdiktions-Entscheidung vom 02.10.1995, Abs. 71 ff., abrufbar unter: http://www.un.org/icty/tadic/appeal/decision-e/51002.htm (Stand: 15.09.2008); Herdegen, S. 365 f.; Künzli, S. 144 ff. - 31 - Dieser Überblick hat gezeigt, dass zentrale Anwendungsvoraussetzung des humanitären Völkerrechts das Vorliegen eines Krieges, einer Besatzung oder eines bewaffneten Konfliktes ist. Letzterer kann internationalen, nicht-internationalen oder auch internationalisierten Chrakter haben, mit je unterschiedlichen Auswirkungen auf die Anwendbarkeit der einzelnen Regelungen des humanitären Völkerrechts. Im Folgenden werden daher diese Einzelbegriffe näher erläutert. 3.1.2. Krieg und Besatzung Der völkerrechtliche Begriff des Krieges, dessen Vorliegen zur Anwendbarkeit der vier Genfer Konventionen einschließlich des ZP I sowie der Haager Landkriegsordnung führt, wird mit Blick auf die derzeitigen Auslandseinsätze der Bundeswehr nicht relevant werden, da er stets einen Konflikt zwischen zwei oder mehr Staaten voraussetzt.102 Von Einzelfällen wie dem der NATO-Luftangriffe im Kosovo 1999 abgesehen, in denen der Begriff des Krieges möglicherweise eine Bedeutung erlangen kann, sind die Auslandseinsätze der Bundeswehr in der Regel nicht gegen einen anderen Staat gerichtet , sondern meist auf dessen Unterstützung oder Stabilisierung. Insbesondere der Begriff des „Krieges gegen den Terror“ ist rechtlich irreführend. Ziel militärischer Operationen sind in diesem Zusammenhang regelmäßig nicht-staatliche Akteure, wie etwa das Terrornetzwerk Al-Qaida.103 Eine Besatzung folgt nach herkömmlicher Auffassung einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Staaten. Dies impliziert die Definition in Art. 42 Abs. 1 Haager Landkriegsordnung, nach der ein Gebiet als besetzt gilt, „wenn es sich tatsächlich in der Gewalt des feindlichen Heeres befindet“. Art. 2 Abs. 2 der Genfer Konventionen modifizierte den Besatzungsbegriff dahingehend, dass diese nicht mehr Ergebnis einer vorangehenden kriegerischen Auseinandersetzung sein muss.104 Entscheidend für den Rechtsbegriff der „Besatzung“ ist daher, dass die Inbesitznahme und Kontrolle fremden Territoriums gegen den Willen des besetzten Staates erfolgen muss.105 Eine Besatzung läge also nur vor, wenn die Bundeswehr gegen den Willen des Staates, auf dessen Hoheitsgebiet sie tätig wird, eingesetzt wird. In der Praxis könnte dies möglicherweise bei der Beteiligung der Bundeswehr an der Operation Enduring Freedom in Afghanistan bis zum Amtsantritt der Regierung Karsai, die der OEF zustimmte, oder im Kosovo bis zur Mandatierung von KFOR, der Jugoslawien zugestimmt hat, der Fall gewesen sein. 102 Bothe, in: Vitzthum (Hrsg.), Rn. 62. 103 So weist die Literatur darauf hin, dass der Begriff des „Krieges gegen den Terrorismus“ im Hinblick auf die Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts nur rhetorische Bedeutung hat, siehe Gaitanides , in: KritV 87 (2004), S. 129, 131; Stahn, in: ZaöRV 62 (2002), S. 183, 191; Wieczorek, S. 165 ff., insbesondere S. 174 f. Vgl. auch Thürer, in: ZSR 125 (2006), S. 157, 158 ff. und Vöneky, in: Fleck (Hrsg.), S. 147, 157, Fn. 51. 104 Gasser, in: Fischer u.a. (Hrsg.), S. 141. 105 Ratner, EJIL 16 (2005), S. 695, 698. - 32 - 3.1.3. Bewaffneter Konflikt Von zentraler Bedeutung ist daher der Begriff des „bewaffneten Konfliktes“. Die Genfer Konventionen enthalten keine ausdrückliche Definition desselben. Die Begriffsbestimmung ist daher durch Auslegung in Rechtspraxis und -wissenschaft zu ermitteln. Der Kommentar des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz zu den Genfer Konventionen definiert den Begriff des (internationalen) „bewaffneten Konfliktes“ wie folgt: „Any difference arising between two States and leading to the intervention of members of the armed forces is an armed conflict within the meaning of Art. 2 [der vier Genfer Konventionen, Anm. d. Verf.] […]. It makes no difference how long the conflict lasts, or how much slaughter takes place.”106 Ähnlich wird der Begriff in der Literatur als Anwendung von Waffengewalt eines Staates gegen eines anderen verstanden.107 Die mit diesen Definitionen einhergehende Schrankenlosigkeit des Begriffes in qualitativer und zeitlicher Hinsicht ist durch die jüngere Entwicklung der Völkerrechtspraxis zunehmend in Frage gestellt worden. Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) hat eine präzisierende Definition des Begriffes „bewaffneter Konflikt“ entwickelt. In der Tadic- Entscheidung aus dem Jahr 1995 stellte der ICTY fest: „[A]n armed conflict exists whenever there is a resort to armed force between States or protracted armed violence between governmental authorities and organized armed groups or between such groups within a State.” Mit Blick darauf, dass zahlreiche gegenwärtige Einsätze der Bundeswehr im Ausland wohl nicht als internationaler bewaffneter Konflikt im Sinne der ersten Alternative dieser Definition („resort to armed force between States”) angesehen werden können, sondern eher als Beteiligung an nicht-internationalen Konflikten einzuordnen sind,108 kommt der für diese Art von Konflikten geltenden Voraussetzung „protracted armed conflict“ im hier untersuchten Zusammenhang entscheidende Bedeutung zu. In der deutschen Übersetzung des in das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH- Statut) übernommenen Merkmals „protracted armed conflict“ 109 wird auf eine zeitliche Komponente abgestellt und dieses Merkmal mit „lang anhaltender bewaffneter Kon- 106 Pictet, in: ICRC Commentary on the Geneva Conventions, Bd. IV, Genf 1958, 20, zitiert nach Greenwood, in: Fleck (Hrsg.), Handbook, Rn. 202, Abs. 3. 107 Greenwood, in: Fleck (Hrsg.), Handbook, Rn. 202. 108 Zu diesen Begriffen näher unten: 3.1.4 (Internationaler bewaffneter Konflikt) und 3.1.5 (Nichtinternationaler bewaffneter Konflikt). 109 Art. 8 Abs. 2 lit. f des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes (sog. Rom Statut). - 33 - flikt“ aus dem Englischen übertragen.110 Die weitere Rechtsprechung des ICTY zum sog. „Tadic-Test“ lässt hingegen Zweifel an der Richtigkeit dieser deutschen Übersetzung aufkommen. Zweck dieses Tests sei es, so der ICTY, (nicht-internationale) bewaffnete Konflikte von bloßem Banditentum, Unruhen, terroristischen Einzelakten oder ähnlichen Situationen zu unterscheiden.111 Auch Art. 8 Abs. 2 lit. d IStGH-Statut greift diese Abgrenzung in ähnlicher Art und Weise auf, indem er (nicht-internationale) bewaffnete Konflikte von Fällen „innerer Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten oder andere ähnliche Handlungen“ abgrenzt. Auch in der Literatur wird vielfach davon ausgegangen, dass eine Auseinandersetzung eine bestimmte Intensität erreicht haben muss, um zu einem bewaffneten Konflikt zu werden .112 In einer aktuellen Entscheidung aus dem Jahr 2008 hat der ICTY zur Bestimmung des Begriffes „protracted“ nach Auswertung seiner bisherigen Rechtsprechungspraxis folgendes festgestellt: „The criterion of protracted armed violence has therefore been interpreted in practice, including by the Tadić Trial Chamber itself, as referring more to the intensity of the armed violence than to its duration. Trial Chambers have relied on indicative factors relevant for assessing the “intensity” criterion, none of which are, in themselves, essential to establish that the criterion is satisfied. These indicative factors include the number, duration and intensity of individual confrontations; the type of weapons and other military equipment used; the number and calibre of munitions fired; the number of persons and type of forces partaking in the fighting; the number of casualties; the extent of material destruction ; and the number of civilians fleeing combat zones. The involvement of the UN Security Council may also be a reflection of the intensity of a conflict .”113 Es spricht mithin vieles dafür, dass der Begriff „protracted” weniger auf einen zeitlichen Aspekt bewaffneter Auseinandersetzung abzielt als vielmehr auf die Intensität derselben , um damit eine Abgrenzung des bewaffneten Konfliktes von den genannten bloßen inneren Unruhen oder Spannungen zu ermöglichen. Für Auslandseinsätze der Bundeswehr bedeutet dies, dass eine Anwendung des humanitären Völkerrechts nur dann in 110 So die Übersetzung des Art. 8 Abs. 2 lit. f des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes BGBl. 2000 II, S. 1394. 111 ICTY, Trial Chamber, Prosecutor v. Haradinaj et al., Urteil vom 03.04.2008, Abs. 38 m.w.N., („banditry, riots, isolated acts of terrorism, or similar situations”) abrufbar unter: http://www.un.org/icty/haradinaj/trialc/judgement/tcj080403e.pdf (Stand 15.09.2008). 112 Vgl. Künzli, S. 142 f.; Vöneky, in: Fleck (Hrsg.), S. 147, 149 f.; Gaitanides, in: KritV 87 (2004), S. 129, 133 f. Vgl. auch Greenwood, in: Fleck (Hrsg.), S. 41, der darauf abstellt, dass die Auseinandersetzung die Größenordnung eines bewaffneten Aufruhrs oder eines Bürgerkrieges erreicht. Siehe die Darstellung der herrschenden Lehre bei Hess, S. 97 ff. 113 ICTY, Trial Chamber, Prosecutor v. Haradinaj et al., Urteil vom 03.04.2008, Abs. 49. - 34 - Betracht kommt, wenn der Konflikt des jeweils fraglichen Einsatzes eine bestimmte Intensität hat. Es kommt also auf die Situation des jeweiligen Einzelfalles an. Als Indikatoren zur Beurteilung der Intensität eines Konfliktes können der Völkerrechtspraxis unter anderem die Zahl, die Dauer und die Intensität einzelner Konfrontationen, die Art der eingesetzten Waffen und der sonstigen militärischen Ausrüstung, die Zahl und das Kaliber der verschossenen Munition, die Zahl der Personen und die Art der an den Kämpfen teilnehmenden Kräfte, die Zahl der Opfer, das Ausmaß der materiellen Zerstörung und die Zahl der aus den Kampfgebieten fliehenden Zivilsten entnommen werden. Schließlich kann auch die Einbindung des UN-Sicherheitsrates Hinweischarakter für die Art des Konfliktes haben. 3.1.4. Internationaler bewaffneter Konflikt Ein internationaler bewaffneter Konflikt setzt voraus, dass ein Staat als Konfliktpartei Waffengewalt gegen den völkerrechtlich geschützten Bereich des gegnerischen Staates einsetzt und dieser Waffeneinsatz dem Staat als Völkerrechtssubjekt zurechenbar ist.114 In der Staatenpraxis wird jede durch den Einsatz militärischer Gewalt charakterisierte Konfrontation zwischen zwei oder mehreren Staaten als internationaler bewaffneter Konflikt angesehen.115 Nach Art. 1 Abs. 4 ZP I gelten jedoch ausnahmsweise auch „Befreiungskämpfe “ im Rahmen des Ersten Zusatzprotokolls als internationale bewaffnete Konflikte. 3.1.5. Nicht-internationaler bewaffneter Konflikt Wie bereits dargestellt, enthält der gemeinsame Art. 3 der Genfer Konventionen ein besonderes, gegenüber den sonstigen Regelungen der Genfer Konventionen zurückgenommenes Schutzregime für den nicht-internationalen bewaffneten Konflikt. Über die Voraussetzungen, unter denen ein nicht-internationaler bewaffneter Konflikt vorliegt, herrscht indes Uneinigkeit.116 Ursächlich hierfür ist, dass der gemeinsame Art. 3 der Genfer Konventionen keine Aussage darüber trifft, unter welchen Voraussetzungen ein nicht-internationaler bewaffneter Konflikt vorliegt. Art. 1 Abs. 1 und 2 ZP II hingegen enthält nähere und eng umrissene Voraussetzungen, unter denen das Protokoll anwendbar ist. Da das Zweite Zusatzprotokoll ebenfalls Regelungen für den nichtinternationalen Konflikt trifft, könnte auch im Rahmen des gemeinsamen Art. 3 auf die Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 1 und 2 ZP II abgestellt werden, wenn sich im Rahmen des gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen die Frage der Existenz eines nicht-internationalen bewaffneten Konfliktes stellt. Wäre dieser Rückgriff auf Art. 1 Abs. 1 und 2 ZP II geboten, so käme der Mindeststandard des Art. 3 nur zur Anwen- 114 So Ipsen, in: Ipsen, S. 1223 ff. 115 Vgl. Gasser, S. 60. 116 So Ipsen, in: Ipsen, S. 1217. - 35 - dung, wenn die nicht-staatliche Konfliktpartei gemäß Art. 1 Abs. 1 ZP II eine effektive Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebietes einer Vertragspartei ausübte und zur Anwendung des humanitären Völkerrechts in der Lage wäre117 sowie wenn es sich nicht um bloße Fälle innerer Unruhen und Spannungen handelte.118 Wäre der Anwendungsbereich des gemeinsamen Art. 3 dagegen unabhängig vom Zweiten Zusatzprotokoll zu bestimmen, so könnte ein bewaffneter Konflikt im Rahmen des gemeinsamen Art. 3 auch unter weniger strengen Voraussetzungen vorliegen.119 Die herrschende Ansicht in diesem Streit vertritt die Auffassung, dass der gemeinsame Art. 3 grundsätzlich einen gegenüber dem Zweiten Zusatzprotokoll eigenen, erweiterten Anwendungsbereich hat; sie schränkt diesen Anwendungsbereich jedoch ein, um nicht jeden innerstaatlichen Konflikt zu erfassen.120 In diesem Zusammenhang wird in der Literatur darüber diskutiert , welche Intensität und welches Ausmaß die Waffengewalt erreichen muss und welche Bedingungen die nicht-staatliche Konfliktpartei in Bezug auf Organisationsgrad und das Maß der Kontrolle über ein Territorium erfüllen muss, damit von einem nichtinternationalen bewaffneten Konflikt gesprochen werden kann. Diese Debatte betrifft das bereits oben auf S. 32 dargestellte Kriterium des protracted armed conflict. Insoweit wird auf Abschnitt 3.1.3 dieser Ausarbeitung verwiesen. 3.1.6. Internationalisierter bewaffneter Konflikt Zwischen internationalem und nicht-internationalem bewaffneten Konflikt angesiedelt ist die Kategorie des sog. internationalisierten oder gemischten Konfliktes. Darunter werden eine ganze Reihe von Konflikttypen gefasst, die sowohl internationale wie auch rein interne Elemente aufweisen und daher nicht ohne weiteres einer der beiden Kategorien zugeordnet werden können.121 117 So Herdegen, S. 364 unter Heranziehung von Art. 1 Abs. 1 ZP II. 118 So Arai-Takahashi, in: YIHL 5 (2002), S. 61, 70; Schmidt-Radefeldt, in: Pradetto (Hrsg.), S. 165, 175. 119 So Bruha, in: AdV 40 (2002), S. 383, 418; Ipsen, in: Ipsen, S. 1217 f.; Gaitanides, in: KritV 87 (2004), S. 129, 133; Greenwood, in: Fleck (Hrsg.), S. 42; Künzli, S. 142, der von einem weiteren Geltungsbereich spricht. Siehe auch Commentary des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Art. 1 ZP II, abrufbar unter: http://www.icrc.org/ihl.nsf/COM/475-760004?OpenDocument (Stand: 15.09.2008). 120 Vgl. Hess, S. 96 ff. 121 Der Begriff des internationalisierten oder gemischten Konflikts wird in der Literatur weit, aber nicht einheitlich verstanden. So fasst Fleck, in: ders. (Hrsg,), Handbook, Rn. 1201, Abs. 3, die äußere Kontrolle von Aufständischen, Befreiungskriege sowie bewaffnete Konflikte zwischen Staaten und transnationalen bewaffneten Gruppen (z. B. den Taliban) unter diesen Begriff. Bothe, in: Vitzthum (Hrsg.), Rn. 126, verwendet ihn für Konflikte, in denen „sich nationale und internationale Konfliktkomponenten mischen“, zählt aber anders als Fleck auch den Fall der Intervention eines Staat in einen internen Konflikt auf dem Gebiet eines anderen Staates entweder auf Seiten der Regierung oder der Aufständischen hinzu. Nach Stewart, in: IRRC 85 (2003) S. 313, 315 beschreibt der Begriff allgemein „internal hostilities that are rendered international“. - 36 - Das humanitäre Völkerrecht weist für diese Konflikte kein eigenes Regime anwendbarer Regeln auf, wie dies für den internationalen und den nicht-internationalen Konflikt der Fall ist. Wegen der Einordnung zwischen internationalem und nicht-internationalem Konflikt herrscht vielmehr Uneinigkeit darüber, wie internationalisierte oder gemischte Konflikte im humanitären Völkerrecht zu behandeln sind. In der Literatur finden sich zahlreiche unterschiedliche Lösungsvorschläge. Nach der in der Literatur als herrschend angesehenen Ansicht findet im Verhältnis der staatlichen Konfliktparteien zueinander das humanitäre Recht des internationalen Konfliktes Anwendung; zwischen den staatlichen Konfliktparteien und den nicht-staatlichen Konfliktparteien sowie zwischen den nicht-staatlichen Konfliktparteien untereinander soll nach dieser Auffassung hingegen das Recht des nicht-internationalen bewaffneten Konfliktes anwendbar sein.122 Auch in der Staatenpraxis gibt es Anhaltspunkte dafür, dass jedenfalls das Verhältnis zwischen einer staatlichen und einer nicht-staatlichen Konfliktpartei auch dann als nicht-internationaler Konflikt anzusehen ist, wenn der Konflikt zwischen beiden auf dem Territorium eines dritten Staates ausgetragen wird. Der US Supreme Court wertete in einer Entscheidung aus dem Jahr 2006123 den Einsatz der US-Streitkräfte gegen Al Quaida-Kämpfer in Afghanistan im Jahr 2001 als nicht-internationalen Konflikt. Nach Auffassung des Supreme Courts unterscheiden sich internationaler und nichtinternationaler Konflikt dadurch, dass ersterer stets einen Konflikt bezeichne, bei dem auf beiden Seiten Staaten stehen.124 Da Al-Qaida aber keine staatliche Konfliktpartei sei, handelte es sich bei dem Militäreinsatz gegen diese Organisation in Afghanistan trotz des internationalen Bezuges (Einsatz von US-Militär auf fremden Staatsgebiet) nach Ansicht des Supreme Courts um einen nicht-internationalen bewaffneten Konflikt mit der Folge, dass gefangenen Al-Qaida Kämpfer der Schutz des Gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen zukomme.125 122 So bezeichnet Hess, S. 285 diese Ansicht, die sogenannte „Komponententheorie“, als allein geltendes Recht. Vgl. auch Hess, S. 150 ff. zu den weiteren Ansichten, die in der Literatur vertreten werden . Siehe zur herrschenden Meinung auch Gasser, S. 64 f.; Künzli, S. 133 ff. und Frostad, S. 54 ff. Wohl auch Bothe, in: Vitzthum (Hrsg.), Rn. 126. Frostad schlägt dabei vor, den gesamten Konflikt – de lege ferenda – den Regeln des internationalen bewaffneten Konfliktes zu unterstellen. Nach Oeter , in: AdV 40 (2002), S. 422, 439 ist es dagegen sinnvoller, im Verhältnis von intervenierender Drittmacht und nicht-staatlichen Akteuren die Regeln des internationalen bewaffneten Konfliktes und im Verhältnis der internen Konfliktparteien das Recht des nicht-internationalen bewaffneten Konfliktes anzuwenden. Wieczorek, S. 182 wiederum schlägt vor, die Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts des internationalen bewaffneten Konfliktes davon abhängig zu machen, dass die nicht-staatliche Konfliktpartei eine Erklärung abgibt, ihrerseits die Bestimmungen der Genfer Abkommen einzuhalten. Die Abgabe einer solchen Erklärung von Seiten Al Quaidas erscheine jedoch – so Wieczorek – abwegig. 123 Hamdan v Rumsfeld, Entscheidung vom 29.06.2006, im Internet abrufbar unter: http://www.supremecourtus.gov/opinions/05pdf/05-184.pdf (Stand: 15.09. 2008). 124 Id. S. 67. 125 Id. S. 65-68. - 37 - 3.2. Fallbeispiel: Bundeswehreinsätze in Afghanistan in der völkerrechtlichen Literatur Zur abschließenden Illustrierung des bisher allgemein zum Anwendungsbereich des humanitären Völkerrechts Gesagten soll im Folgenden die rechtswissenschaftliche Debatte über den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr skizziert werden. 3.2.1. Tatsächliche Entwicklung bis zur Etablierung von ISAF und OEF Im nach Abzug der sowjetischen Streitkräfte Ende der 80er Jahre ausgebrochenen Bürgerkrieg verfeindeter politischer Gruppen in Afghanistan konnten sich seit Mitte der 90er Jahre die sog. Taliban – eine traditionalistische, von radikalen Mullahs geführte, politische Gruppe – als dominierende Kraft weitgehend durchsetzen. Seit 1997 hatten die Taliban die politische Kontrolle über weite Teile des afghanischen Staatsgebietes erlangt. Unter dem Schutz der Taliban etablierten sich in der zweiten Hälfte der 90er Jahre terroristische Gruppen in Ausbildungslagern auf afghanischem Staatsgebiet, welche dem von Osama bin Laden geführten Netzwerk Al-Qaida zugerechnet werden. Als Reaktion auf die Terror-Anschläge vom 11. 9. 2001 in den USA, welche der VN- Sicherheitsrat in Resolution 1373 (2001) als Bedrohung für den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit qualifizierte, beschloss der NATO-Rat am 12. 9. 2001, dass diese Terroranschläge – sobald nachgewiesen würde, dass sie von außen auf die USA gerichtet waren – als Angriffe auf alle Bündnispartner gemäß Art. 5 des NATO- Vertrages anzusehen seien. Der Nachweis wurde kurz danach als erbracht angesehen. Damit stellte der NATO-Rat auf den sog. Bündnisfall ab, in dessen Folge Art. 5 NATO- Vertrag alle Vertragsparteien verpflichtete, die für erforderlich erachteten Maßnahmen zu treffen, um dem angegriffenen Staat im Rahmen der kollektiven oder individuellen Selbstverteidigung Beistand zu leisten. Am 7. 10. 2001 starteten britische und US-amerikanische Truppen die Operation Enduring Freedom (OEF) mit Luftangriffen auf Einrichtungen der Taliban und des Netzwerkes Al-Qaida. Dem Einsatz deutscher Soldaten im Rahmen von OEF hat der Deutsche Bundestag am 16.11.2001 zugestimmt, und dieses Mandat ist seitdem fünf Mal verlängert worden. Zugleich verstärkte die sog. Nordallianz – ein Bündnis verschiedener politischer Gruppen Afghanistans – ihre militärischen Angriffe auf die Taliban . Ab 17. 10. 2001 kamen auch amerikanische Bodentruppen in Afghanistan zum Einsatz. Der Nordallianz gelang es schnell, weite Teile des afghanischen Territoriums unter ihre Kontrolle zu bringen. Mazar-i-Sharif eroberte sie am 9. 11. 2001. Am 13. 11. 2001 rückten Einheiten der Nordallianz in Kabul ein und übernahmen dort die Herrschaftsgewalt , wenig später waren die Taliban aus allen afghanischen Städten vertrieben . Ende Dezember 2001 wurde die neue afghanische Interims-Regierung unter Hamid Karsai vereidigt. Kurz zuvor hatte der VN-Sicherheitsrat die Errichtung der Internatio- - 38 - nal Security Assistance Force (ISAF) für Afghanistan autorisiert, um den Wiederaufbau der afghanischen Staatsstrukturen zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag stimmte der Beteiligung deutscher Soldaten an ISAF erstmals am 22. 12. 2001 zu. Das Mandat wurde bislang sieben Mal verlängert. Seitdem operieren ISAF und OEF in Afghanistan. Bis September 2008 waren deutsche Soldaten in abnehmender Stärke immer wieder an Operationen im Rahmen von OEF beteiligt. An ISAF waren deutsche Soldaten durchgängig beteiligt. 3.2.2. Einordnung in der völkerrechtlichen Literatur In der Literatur kommt Arai-Takahashi zu dem Schluss, die Kämpfe zwischen den Taliban - und Al Quaida-Angehörigen gegen die an der OEF-Mission teilnehmenden Staaten können im Jahre 2003 als nicht-internationaler bewaffneter Konflikt klassifiziert werden .126 Nach Thürer liegt im Jahre 2006 in gewissen Teilen Afghanistans ein nichtinternationaler bewaffneter Konflikt vor, der zwischen der von den alliierten Staaten unterstützten afghanischen Regierung und verschiedenen bewaffneten Gruppen, unter anderem den Taliban und Al Quaida, ausgetragen werde.127 Schmidt-Radefeldt äußert dagegen Zweifel daran, ob ein bewaffneter Konflikt im Jahre 2005 in Afghanistan existiert. Er ist der Ansicht, dass es sich aufgrund der lückenhaften Informationslage nicht mit letzter Sicherheit sagen lasse, ob der Kampf gegen den Terrorismus in Afghanistan das Ausmaß eines bewaffneten Konfliktes angenommen habe. Die Intensitätsschwelle zum bewaffneten Konflikt wäre – so Schmidt-Radefeldt – erreicht , wenn die terroristische Bedrohung Dimensionen eines bewaffneten Angriffes annehme, der über sporadische Attentate und Anschläge hinausgehe. Die terroristischen Gewaltakte müssten Bestandteil eines umfassenden und zentral gesteuerten Planes sein. Seiner Ansicht nach wiesen allenfalls die in der paschtunischen Bevölkerung verwurzelten Taliban- und Hekmatyar-Milizen rechtliche Elemente einer Guerillapartei auf, auf die der Anwendungsbereich des humanitären Völkerrechts im nicht-internationalen bewaffneten Konflikt zugeschnitten sei. Des Weiteren müssten auch die antiterroristischen Maßnahmen der Regierung oder deren ausländischer Helfer in kriegsähnlicher Form erfolgen. Gezielte, punktuelle Zugriffe auf Terroristenlager, sogenannte „snatch operations “, die eher polizeilichen als militärischen Charakters seien, blieben unterhalb der Anwendungsschwelle des humanitären Völkerrechts, solange sie nicht auf nennenswerte militärische Gegenwehr stießen.128 126 Siehe Arai-Takahashi, in: YIHL 5 (2002), S. 61, 70, siehe auch S. 72 ff. zu ISAF. 127 Siehe Thürer, in: ZSR 125 (2006), S. 157, 163. 128 Schmidt-Radefeldt, in: Pradetto (Hrsg.), S. 165, S. 174 ff., vgl. auch Gaitanides, in: KritV 87 (2004), S. 129, 133 und Oeter, in: AdV 40 (2002), S. 422, 451. Die Frage, ob ein nicht-internationaler be- - 39 - Auch Wieczorek vertritt die Ansicht, dass die Schwelle zum bewaffneten Konflikt nicht überschritten sei, wenn die afghanische Regierung mit Unterstützung durch militärische Einheiten der verbündeten Staaten mit polizeilichen Mitteln Al Quaida-Kämpfer aufspüre , um sie strafrechtlich zu verfolgen. Erst wenn die Verfolgung in erhöhtem Maße mit militärischen Mitteln erfolge, werde die Schwelle zum bewaffneten Konflikt überschritten .129 Nach Bruha müssten die Auseinandersetzungen einen „kollektiven Charakter“ aufweisen , um einen nicht-internationalen bewaffneten Konflikt im Sinne des gemeinsamen Art. 3 darzustellen. Auseinandersetzungen mit terroristischen Gruppierungen erfüllten diese Voraussetzung nicht.130 Geht man dennoch davon aus, dass die Schwelle zu einem bewaffneten Konflikt in Afghanistan nach wie vor überschritten ist, stellt sich die Anschlussfrage, ob dieser internationalen Charakter hat. Dagegen spricht, dass der Einsatz von ausländischem Militär sich seit der Übernahme der Regierungsgewalt durch die Karsai-Regierung nicht (mehr) gegen den afghanischen Staat richtet, sondern vielmehr mit dessen Einverständnis ausgeübt wird.131 Infolgedessen dürfte davon auszugehen sein, dass der Einsatz von Waffengewalt im Rahmen von ISAF nicht dazu führt, dass ein internationaler bewaffneter Konflikt vorliegt. Auch der Einsatz militärischer Gewalt im Rahmen der OEF-Mission begründet keinen internationalen bewaffneten Konflikt, soweit er mit Zustimmung der afghanischen Regierung erfolgt. Eine solche Zustimmung der afghanischen Regierung dürfte vorliegen.132 Ob der Kampf der Taliban-Anhänger gegen die afghanische (Übergangs -)Regierung und ihre Verbündeten als ein „Befreiungskampf“ des afghanischen Volkes gegen eine fremde Besatzung verstanden werden kann,133 erscheint ebenfalls zweifelhaft, da die frühere Übergangsregierung Karsai als rechtmäßige Vertretung des afghanischen Volkes anerkannt134 und seit der Wahl im Jahre 2005 auch demokratisch legitimiert ist. Unter diesen Voraussetzungen dürfte davon auszugehen sein, dass jedenwaffneter Konflikt vorliegt, wenn die Zugriffe auf nennenswerte militärische Gegenwehr stoßen, lassen die Autoren offen. 129 Wieczorek, S. 188 f. 130 Bruha, in: AdV 40 (2002), S. 383, 418 unter Hinweis auf eine in der Zukunft möglicherweise geänderte Auslegung, die es erlauben würde, das humanitäre Völkerrecht auf diese neue Konfliktsituation zur Anwendung zu bringen. 131 Siehe dazu die Erklärung der NATO und Afghanistans vom 06.09.2006, abrufbar unter: http://www.hq.nato.int/docu/basictxt/b060906e.htm (Stand: 15.09.2008). 132 Siehe dazu die Abschlusserklärung der Internationalen Afghanistan-Konferenz 2004 in Berlin, Operativer Teil Nr. 1: Afghanistan habe OEF gewünscht und begrüßt (abrufbar unter: http://www.unikassel .de/fb5/frieden/regionen/Afghanistan/berlin-erklaerung.html (Stand: 15.09.2008)); sowie Schmidt-Radefeldt, in: Pradetto (Hrsg.), S. 165, 174; Thürer, in: ZSR 125 (2006), S. 157, 163; Vöneky , in: Fleck (Hrsg.), Handbuch, S. 147, 157. 133 Diskutiert von Arai-Takahashi, in: YIHL 5 (2002), S. 61, 71 f. Ablehnend Bruha, AdV 40 (2002), S. 383, 412. 134 So Arai-Takahashi, in: YIHL 5 (2002), S. 61, 72; siehe auch Wieczorek, S. 188. - 40 - falls das humanitäre Völkerrecht des internationalen bewaffneten Konfliktes derzeit weder auf die ISAF- noch auf die OEF-Mission Anwendung findet.135 Die Frage, ob ein (nicht-internationaler) bewaffneter Konflikt derzeit in Afghanistan vorliegt, stellt sich verschärft im Hinblick auf die erhöhten Anwendungsvoraussetzungen des Zweiten Zusatzprotokolls (Art. 1 ZP II).136 Insbesondere erscheint es zweifelhaft , ob die Taliban- und Al Quaida-Anhänger eine solche Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebietes einer Vertragspartei ausüben, dass sie das Zweite Zusatzprotokoll anzuwenden vermögen. 3.2.3. Fazit Nach herrschender Ansicht dürfte davon auszugehen sein, dass in Afghanistan derzeit kein internationaler bewaffneter Konflikt ausgetragen wird. Ob dagegen ein nichtinternationaler bewaffneter Konflikt gegeben ist, hängt von den tatsächlichen Umständen vor Ort ab und kann daher nicht abschließend beurteilt werden. Es dürfte davon auszugehen sein, dass derzeit kein „Befreiungskampf“ stattfindet. Soweit es sich in Afghanistan um einen internationalisierten bewaffneten Konflikt handelte, dürfte dies nach ganz überwiegender Ansicht in der Literatur jedoch nicht dazu führen, dass das humanitäre Völkerrecht des internationalen bewaffneten Konfliktes in Bezug auf das Handeln deutscher Streitkräfte im Kampf gegen Taliban- und Al Quaida-Kämpfer zur Anwendung gelangt. 3.3. Verhältnis zwischen den Menschenrechten und dem humanitären Völkerrecht Soweit für das Handeln deutscher Streitkräfte im Ausland menschenrechtliche Bestimmungen (insbesondere die EMRK und der IPBPR) gelten und zugleich die Voraussetzungen für die Anwendung des humanitären Völkerrechts (insbesondere des gemeinsamen Art. 3 der vier Genfer Konventionen) erfüllt sind, stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis diese beiden Rechtsregime zueinander stehen und welchen Einfluss sie wechselseitig aufeinander ausüben. Beide Rechtsgebiete weisen grundsätzliche Gemeinsamkeiten , aber auch wichtige strukturelle Unterschiede auf.137 Gemeinsam ist beiden das grundsätzliche Regelungsziel des Schutzes von Individuen. Der Unterschied zwischen beiden liegt zum einen in der unterschiedlichen Qualität des Schutzes.138 Fer- 135 So im Ergebnis auch Arai-Takahashi, in: YIHL 5 (2002), S. 61, 69 ff., 74; Schmidt-Radefeldt, in: Pradetto (Hrsg.), S. 165, 174 ff.; Thürer, in: ZSR 125 (2006), S. 157, 163. 136 Siehe zu dessen Voraussetzungen bereits oben Teile 3.1.3 und 3.1.5. 137 Prägnnant hierzu Bothe, in: HuV-I. .21 (2008), S. 4 f. 138 Vgl. die Beispiele bei Bothe, in: HuV-I 21 (2008)., S. 4, 7 f., zum Eigentumsschutz, der im humanitären Völkerrecht wohl strenger, aber auch weniger flexibel ausgestaltet ist als in der EMRK, und zum Schutz vor Verhaftungen, der in der EMRK detaillierter geregelt ist als in der Genfer Konvention . - 41 - ner wird der grundsätzliche Anwendungsbereich der beiden Rechtsregime unterschieden .139 Die Menschenrechte werden als vorrangig auf die Regelung von Rechtsverhältnisse in Friedenszeiten ausgerichtet angesehen, während das humanitäre Völkerrecht als Rechtsordnung zur Ordnung des Ausnahmezustandes eines bewaffneten Konfliktes aufgefasst wird. Eine weitere Unterscheidung betrifft schließlich die aus menschenrechtlichen Verbürgungen und humanitärem Völkerrecht jeweils Berechtigten und Verpflichteten .140 Das humanitäre Völkerrecht wird überwiegend noch als zwischenstaatliches Recht begriffen, dessen wechselseitige Beachtung die kriegführenden Staaten lediglich einander schulden. Tendenziell anders ausgestaltet ist dem Grunde nach der völkerrechtliche Menschenrechtsschutz. Zwar handelt es sich auch bei Menschenrechtsabkommen um völkerrechtliche Verträge zwischen Staaten; den Einzelnen kommt jedoch nach mittlerweile herrschender Auffassung eine eigene Rechtsstellung zu. Diese Auffassung stützt sich im Wesentlichen auf die Schaffung von Individualrechtsbehelfen, wie sie bspw. die EMRK Individuen zur Durchsetzung ihrer Rechte gegenüber den Staaten einräumt. Menschenrechtsregime wirken daher auch unmittelbar auf das Verhältnis von Staaten gegenüber Individuen ein. Dieses grundlegende Spannungsfeld zwischen gemeinsamem Schutzziel, aber unterschiedlicher Rechtsstruktur ist bei der Frage nach dem rechtlichen Verhältnis der beiden Rechtsgebiete stets im Auge zu behalten. In Literatur, Rechtsprechung und Staatenpraxis herrscht in der Beurteilung dieses Verhältnisses Uneinigkeit. Dabei stehen sich im Wesentlichen zwei Grundpositionen gegenüber. 3.3.1. Alternative Geltung der Rechtsbereiche In Teilen des Schrifttums, aber auch von einigen Staaten wird vertreten, dass Menschenrechtsverträge mit Vorliegen eines bewaffneten Konfliktes ipso facto beendet oder suspendiert seien. Dies würde dazu führen, dass lediglich eine alternative, nicht jedoch eine kumulative Geltung der beiden Rechtsregime in Betracht käme. In einem bewaffneten Konflikt gälten folglich keine menschenrechtlichen Garantien (Geltungsvorrang des humanitären Völkerrechts).141 Diese Auffassung stützt sich darauf, dass die beiden Rechtsbereiche unterschiedliche Regelungsgehalte aufweisen: Während die Menschenrechte primär das Verhältnis der Staaten zu ihren Staatsangehörigen bzw. Einwohnern 139 Greenwood, in: Fleck (Hrsg,), Handbook, Rn. 254. 140 Bothe, in: HuV-I. 21 (2008), S. 5. 141 So insbesondere Meyrowitz, in: Revue du droit public 88 (1972), S. 1059, 1104 f.; ähnlich Dennis, in: AJIL 99 (2005), S. 119, 132 ff. Vgl. auch die Darstellung bei Lorenz, S. 200 ff.; Künzli, S. 105 f.; Schäfer, S. 10 ff. - 42 - in Friedenszeiten regelten, sei das humanitäre Völkerrecht auf den Schutz der feindlichen Staatsangehörigen in Zeiten des bewaffneten Konfliktes ausgerichtet.142 Diese Ansicht scheint sich auch in Äußerungen der USA und Israels wiederzufinden.143 So beriefen sich die USA gegenüber der Inter-Amerikanischen Kommission für Menschenrechte im Zusammenhang mit der Inhaftierung von Terrorverdächtigen in Guantanamo Bay darauf, dass das internationale Menschenrechtsregime nicht anwendbar sei auf Kampfhandlungen oder die Gefangennahme und Internierung feindlicher Kämpfer, die durch die spezielleren Bestimmungen des bewaffneten Konfliktes geregelt würden .144 Israel begründete seine Position, der IPBPR finde im Gazastreifen und in der West Bank keine Anwendung, gegenüber dem Ausschuss für Menschenrechte wie folgt: „Israel has consistently maintained that the Covenant does not apply to areas that are not subject to its sovereign territory and jurisdiction. This position is based on the wellestablished distinction between human rights and humanitarian law under international law.”145 3.3.2. Parallele Geltung der Rechtsbereiche Die ganz überwiegende Ansicht in der Literatur, der Ausschuss für Menschenrechte, der IGH und die Mehrzahl der Staaten gehen hingegen davon aus, dass das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte parallel anwendbar seien.146 Als Begründung wird aufgeführt, viele Menschenrechtsverträge träfen in ihren Notstandsklauseln Regelungen für den Fall eines bewaffneten Konfliktes. Diese wären entbehrlich, wenn der Vertrag in einer solchen Situation ohnehin nicht gälte.147 Diese Auffassung kann ferner darauf gestützt werden, dass einzelne Bestimmungen des humanitären Völkerrechts selbst ausdrücklich auf die Fortgeltung menschenrechtlicher Regeln hinweisen – so Art. 72 ZP I und Absatz 2 der Präambel ZP II. Der IGH geht in seiner Rechtsprechungs- und Gut- 142 Siehe Meyrowitz, in: Revue du droit public 88 (1972), S. 1059, 1104 f. Vgl. Kimminich, S. 32 f. zu der Ansicht von Meyrowitz sowie Schäfer, S. 11. 143 Vgl. Lorenz, S. 211 f. 144 „[I]nternational human rights law is not applicable to the conduct of hostilities or the capture and detention of enemy combatants, which are governed by the more specific laws of armed conflict.”, zitiert bei Stahn, in: ZaöRV 62 (2002), S. 183, 207. 145 Siehe Israels zweiter Bericht vom 04.12.2001, UN Doc. CCPR/C/ISR/2001/2, Abs. 8. 146 Vgl. Ausschuss für Menschenrechte, General Comment Nr. 31 (Fn. 116), Abs. 11. Nach Bothe, in: FS Tomuschat, S. 63, 67 dürfte an der grundsätzlich parallelen Anwendbarkeit kein Zweifel bestehen . Siehe auch Gasser, in: GYIL 45 (2002), S. 149, 161 f.; ders., S. 28 ff.; Gillard, in: Coomans /Kamminga (Hrsg.), S. 25, 35; Heintze, in: IRRC 86 (2004), S. 789, 795; Herdegen, S. 368 f.; Klein, in: MRM 9 (2004), S. 5, 14 f.; Kimminich, S. 29 ff.; Krieger, in: ZaöRV 62 (2002), S. 669, 691 unter Hinweis auf die Staatenpraxis und Akte des Sicherheitsrates und der Generalversammlung der Vereinten Nationen; Künzli, S. 100 ff.; Lorenz, S. 203 ff.; Rensmann, in: Weingärtner (Hrsg.), S. 49, 51; Röben, in: Grote/Marauhn, Kap. 5, Rn. 91; Schäfer, in: Weiß (Hrsg.), S. 5 spricht von einer fast allgemeinen Rechtsauffassung; Stahn, in: ZaöRV 62 (2002), S. 183, 206. 147 So Klein, in: MRM 9 (2004), S. 5, 14; Schäfer, S. 13 f.; vgl. auch Lorenz, S. 203 f. zu weiteren Argumenten . - 43 - achtenpraxis grundsätzlich von einer parallelen Geltung der Menschenrechtsverträge und des humanitären Völkerrechts aus. Er hat die Parallelität in seinem Gutachten betreffend die rechtlichen Konsequenzen der Errichtung einer Sperranlage in den besetzten palästinensischen Gebieten aus dem Jahre 2004 folgendermaßen ausgedrückt: „More generally, the Court considers that the protection offered by human rights conventions does not cease in case of armed conflict, save through the effect of provisions for derogation of the kind to be found in Article 4 of the International Covenant on Civil and Political Rights. As regards the relationship between international humanitarian law and human rights law, there are thus three possible situations: some rights may be exclusively matters of international humanitarian law; others may be exclusively matters of human rights law; yet others may be matters of both these branches of international law. In order to answer the question put to it, the Court will have to take into consideration both these branches of international law, namely human rights law and, as lex specialis [Anm. d. Verf.: Kursive Auszeichnung im Original], international humanitarian law.”148 Mit dem Postulat der parallelen Geltung von humanitärem Völkerrecht und Menschenrechten durch die herrschende Meinung und die überwiegende Völkerrechtspraxis „fangen die eigentlichen juristischen Probleme [allerdings erst] an“149. Bereits in der soeben zitierten Entscheidung des IGH wird das Grundproblem der parallelen Geltung deutlich. Der Gerichtshof geht davon aus, dass das humanitäre Völkerrecht als lex specialis der Menschenrechte anzusehen sei. Herkömmlicherweise führt die Klassifizierung einer bestimmten Rechtsmasse als lex specialis dazu, dass sie, wenn beide einschlägig sind, vorrangig vor der lex generalis – also dem allgemeineren Gesetz – anzuwenden ist.150 Im konkreten Fall der Errichtung einer Sperranlage in den besetzten palästinensischen Gebieten hat der IGH indes beide Rechtsregime nebeneinander angewandt und kam zu dem Ergebnis, dass Israel mit der Errichtung der Sperranlagen sowohl gegen Regelungen der Genfer Konventionen als auch des IPBPR verstoßen habe.151 Das Verhältnis der beiden Rechtsbereiche zueinander ist auch in der Literatur umstritten .152 Die herrschende Meinung geht von einem Komplementaritätsverhältnis aus, in 148 IGH, Mauergutachten (Fn. 53), Abs. 106. Vgl. auch IGH, Gutachten zu Nuklearwaffen (Fn. 143), Abs. 25. 149 Bothe, in: HuV-I. 21 (2008), S. 4, 7. 150 Orakhelashvili, in: EJIL 19 (2008), S. 161, 162, der ein solches generelles Verständnis des Verhältnisses von humanitärem Völkerrecht und Menschenrechten aber als nicht zutreffend ansieht. 151 IGH, Mauergutachten (Fn. 11), Abs. 123-137. 152 Siehe zu diesem Streit allgemein Künzli, S. 105 ff.; Schäfer, S. 35 ff. - 44 - welchem sich die Regime grundsätzlich unabhängig voneinander gegenüberstehen.153 Sachverhalten, die jeweils nur von einem der Rechtsbereiche erfasst und einer Regelung zugeführt werden, stehen Fälle gegenüber, in denen sowohl das humanitäre Völkerrecht als auch menschenrechtliche Bestimmungen einen bestimmten Sachverhalt regeln und diesbezüglich zu eigenen, unter Umständen widersprüchlichen Anordnungen kommen .154 Die Lösung dieses möglichen Konfliktes zwischen Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht ist nicht abschließend geklärt.155 Im Folgenden können deshalb nur Grundsätze für eine mögliche Auflösung solcher Konfliktsituationen genannt werden. So kann eine Konfliktsituation durch Auslegung behoben werden. Menschenrechtliche Bestimmungen sind im Lichte des humanitären Völkerrechts auszulegen und umgekehrt die Regelungen des humanitären Völkerrechts im Lichte der Menschenrechte.156 Beispielsweise kann einerseits bei der Auslegung des Begriffes der Willkür in Art. 9 IPBPR, welcher nur willkürliche Inhaftierungen verbietet, auf Art. 42 IV. Genfer Konvention abgestellt werden; Inhaftierungen, die nach den Regeln des anwendbaren humanitären Völkerrechts erlaubt sind, wären dann nicht willkürlich.157 Andererseits kann beispielsweise die Definition der Folter aus der VN-Antifolterkonvention zur Inhaltsbestimmung des gleichen Begriffs im humanitären Völkerrecht herangezogen werden.158 Des Weiteren können Rechte, von denen in menschenrechtlichen Instrumenten eine Derogation zulässigerweise erfolgt ist, dennoch zur Anwendung kommen, soweit das humanitäre Völkerrecht diesbezüglich Regelungen trifft. Die parallelen Gewährleistungen des humanitären Völkerrechts wirken in diesen Fällen wie eine Art Auffangordnung .159 In anderen Fällen ist das humanitäre Völkerrecht gegenüber menschenrechtlichen Bestimmungen als lex specialis vorrangig anwendbar. Wann dies der Fall ist, ist jeweils im Einzelfall zu bestimmen, wobei die Regelungsdichte im jeweiligen Rechtsbereich als 153 So Arnold, ZaöRV 66 (2006), S. 297, 302; Gasser, S. 28, 31 f.; Gillard, in: Coomans/Kamminga (Hrsg.), S. 25, 35; Schäfer, S. 39 f. 154 Zu den möglichen Konfliktsituationen siehe Schäfer, S. 43 ff. 155 So auch Schäfer, S. 51. 156 Siehe Schäfer, in: Weiß (Hrsg.), S. 5, 6 f.; Bothe, in: FS Tomuschat, S. 63, 77 ff. Vgl. auch Orakhelashvili , in: EJIL, 19 (2008), S. 161, der die gegenseitige Beeinflussung ausführlich am Schutz vor willkürlicher Tötung (S. 168 ff.), dem Folterverbotes (S. 174 ff.), dem Schutz vor willkürlicher Inhaftierung (S. 176 f.) und anhand der Bestimmung prozessualer Absicherungen illustriert. 157 Zu diesem Beispiel siehe Bothe, in: FS Tomuschat, S. 63, 84. 158 Zu diesem Beispiel und weiteren siehe Bothe, in: FS Tomuschat, S. 63, 77 ff.; Gillard, in: Coomans /Kamminga (Hrsg.), S. 25, 36; Heintze, in: IRRC 86 (2004), S. 789, 795 ff.; Lorenz, S. 214 ff.; Schäfer, in: Weiß (Hrsg.), S. 5, 7; ders., S. 46 ff. 159 So Schmidt-Radefeldt, in: Fleck (Hrsg.), S. 101, 102 f.; Oeter, in: AdV 40 (2002), S. 422, 448 f.; siehe auch Schäfer, S. 50. - 45 - entscheidendes Kriterium angesehen wird.160 Die Regeln des humanitären Völkerrechts, die im internationalen bewaffneten Konflikt anwendbar sind, seien – so Stimmen in der Literatur – daher grundsätzlich vorrangig gegenüber menschenrechtlichen Bestimmungen anzuwenden, da sie umfassende Regelungen gerade für diese Situation enthielten. Die Regeln des humanitären Völkerrechts für den nicht-internationalen bewaffneten Konflikt hingegen seien nicht vorrangig anzuwenden, da sie allenfalls rudimentäre Schutzgewährleistungen aufstellten.161 3.4. Fazit Festzuhalten bleibt, dass nach herrschender Meinung die Menschenrechte neben dem humanitären Völkerrecht grundsätzlich anwendbar bleiben. 4. Zurechnung von Handlungen im Rahmen von VN oder NATO Der Einsatz der Bundeswehr im Ausland erfolgt in der Praxis stets im Verbund mit anderen Staaten oder im Rahmen internationaler Organisationen wie der NATO oder der Vereinten Nationen. Dieser Umstand wirft die abschließend zu erörternde Frage auf, welchem Völkerrechtssubjekt die Verletzung einer menschenrechtlichen Vorgabe oder einer Bestimmung des humanitären Völkerrechts zugerechnet werden muss, wenn diese Verletzung im Rahmen eines Einsatzes der Bundeswehr erfolgt. Diese Einordnung ist von praktischer Bedeutung, weil nur die Bundesrepublik Deutschland Vertragspartei der EMRK, des IPBPR und der Genfer Konventionen ist, die internationalen Organisationen NATO und Vereinte Nationen hingegen nicht. Für ein Verhalten deutscher Soldaten, welches den genannten Menschenrechtsverträgen oder den Genfer Konventionen entgegenläuft und welches der NATO oder den Vereinten Nationen zuzurechnen wäre, ergäbe sich hieraus möglicherweise die Konsequenz, dass ein solches Verhalten von den Vertragsorganen der Menschenrechtsabkommen und/oder vor den innerstaatlichen Gerichten mangels Zuständigkeit nicht mehr überprüft werden könnte. In der Praxis hat sich die Frage der Zurechnung in der jüngeren Vergangenheit vor allem in Bezug auf die Menschenrechte der EMRK und des IPBPR gestellt. Wegen der rechtlichen Bindungswirkung der Entscheidungen des EGMR kommt diesen für die rechtspolitische Praxis sicherlich die größte Bedeutung zu. Die EMRK in der Rechtsprechung des EGMR steht daher im Vordergrund der folgenden Ausführungen. Im 160 Siehe Schäfer, 50 f. Vgl. auch Krieger, in: ZaöRV 62 (2002), S. 669, 695, die auf den Regelungszweck und den sachlichen Zusammenhang abstellt. 161 So Gasser, S. 29 f.; Oeter, in: AdV 40 (2002), S. 422, 449 f. Siehe auch Schmidt-Radefeldt, in: Fleck (Hrsg.), S. 101, 103. Ähnlich Bothe, in: FS Tomuschat, S. 63, 89 unter Bezugnahme auf den Kriegsgefangenenstatus. - 46 - Bereich der EMRK ist die Frage, ob ein menschenrechtsrelevantes Verhalten im Rahmen eines Auslandseinsatzes einem Mitgliedstaat der Konvention oder einer internationalen Organisation wie den Vereinten Nationen oder der NATO zuzurechnen ist, anhand der jüngst ergangenen Entscheidung des EGMR in den Rechtssachen Behrami und Saramati162 und weiteren Nachfolgeentscheidungen zu beurteilen. Diese Rechtsprechung wird sodann in die Praxis der VN und die Arbeit der International Law Commission eingeordnet. Dem folgt eine Zusammenstellung der – überwiegend kritischen – Reaktionen der völkerrechtlichen Literatur auf die Behrami und Saramati- Rechtsprechung. Abschließend sollen die Spruchpraxis des Ausschusses für Menschenrechte des IPBPR und eine Entscheidung des britischen House of Lords zur EMRK betrachtet werden. 4.1. Die EGMR-Leitentscheidung: Behrami und Saramati Der Gerichtshof war in Behrami und Saramati mit zwei verschiedenen Sachverhalten im Zusammenhang mit der Präsenz der „United Nations Mission in Kosovo“ (UNMIK) und der „Kosovo Force“ (KFOR) im Kosovo befasst. Er hatte damit – soweit ersichtlich – erstmals die Gelegenheit, sich mit Fragen der Zurechnung des Verhaltens von Streitkräften der EMRK-Mitgliedstaaten im Rahmen eines multinationalen Militäreinsatzes auseinanderzusetzen. Im Ergebnis wies der Gerichtshof beide Beschwerden als unzulässig zurück, da er das fragliche Verhalten jeweils den Vereinten Nationen und nicht den beklagten Mitgliedstaaten zurechnete. 4.1.1. Sachverhalte In der ersten zu entscheidenden Rechtssache, dem Fall Behrami, waren die Beschwerdeführer der Vater eines Jungen, der im Jahr 2000 in der Gegend um Mitrovica/Kosovo beim Spielen mit einer nicht explodierten Streubombe tödlich verunglückt war, sowie dessen Bruder, der bei dem gleichen Vorfall schwer verletzt wurde.163 Die Beschwerde richtete sich gegen Frankreich, dem die Beschwerdeführer einen Verstoß gegen Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) mit der Begründung vorwarfen, dass die in dem Gebiet anwesenden französischen KFOR-Truppen es unterlassen hätten, die nicht explodierten Streubomben zu markieren und/oder zu entschärfen.164 Der Fall Saramati betraf eine Inhaftierung durch KFOR-Einheiten. Der Beschwerdeführer Saramati war in den Jahren 2000/2001 auf Anordnung des KFOR-Kommandeurs für mehrere Monate inhaftiert worden. Zur Rechtfertigung verwies die KFOR auf die Resolution 1244 (1999) des VN-Sicherheitsrates, welche die völkerrechtliche Grundlage für die Präsenz der UNMIK und der KFOR im Kosovo darstellt.165 Diese – so die KFOR – 162 Behrami/Saramati (Fn. 33). 163 Vgl. Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 5 ff. 164 Vgl. Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 61. 165 Sicherheitsratsresolution 1244 (1999) vom 10.06.1999. - 47 - habe die KFOR zu der Inhaftierung ermächtigt, denn sie sei notwendig gewesen, um ein sicheres Umfeld aufrechtzuerhalten und KFOR-Truppen zu beschützen. Das Amt des KFOR-Kommandeurs wurde im betroffenen Zeitraum zunächst von einem norwegischen und später von einem französischen General ausgeübt.166 Die Beschwerde richtete sich daher gegen Norwegen und Frankreich.167 Der Beschwerdeführer machte die Verletzung seiner Rechte aus Art. 5 (Recht auf Freiheit und Sicherheit), Art. 6 Abs. 1 (Recht auf ein faires Verfahren) und Art. 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) geltend .168 4.1.2. Entscheidungsgründe Der Gerichtshof stellte zu Beginn seiner Ausführungen klar, dass das Kosovo zum fraglichen Zeitpunkt unter der effektiven Kontrolle der dort anwesenden „internationalen Präsenzen“ (KFOR und UNMIK) gestanden habe, welche die öffentliche Gewalt („public powers“) ausgeübt hätten, die üblicherweise durch die damalige Bundesrepublik Jugoslawien ausgeübt worden wäre.169 Fraglich sei daher weniger, ob die beklagten Staaten im Kosovo extraterritoriale Hoheitsgewalt („jurisdiction“) ausgeübt hätten,170 als vielmehr, ob der Gerichtshof zuständig („competent“) sei, den Beitrag der Vertragsstaaten zu den internationalen Präsenzen im Kosovo am Maßstab der Konvention zu überprüfen.171 Im Zentrum der Entscheidung der beiden Fälle stand daher die Frage, ob die beklagten Staaten passiv legitimiert seien. Die Passivlegitimation fehlt etwa dann, wenn die Beschwerde gegen einen Staat oder ein anderes Rechtssubjekt (z.B. eine internationale Organisation) gerichtet ist, der bzw. das nicht Vertragspartei der EMRK ist,172 oder wenn die gerügte Handlung oder Unterlassung dem beklagten Staat nicht zurechenbar ist (sog. Unvereinbarkeit ratione personae).173 Um festzustellen, ob die Beschwerde in Behrami und Saramati mit der Konvention vereinbar ist, ging der Gerichtshof in drei Schritten vor: Die Untersuchung der Mandate von UNMIK und KFOR, die Frage der Zurechnung dieser Mandate zu den Vereinten Nationen und schließlich die Prüfung, ob die beklagten Staaten eine parallele menschenrechtliche Verantwortung treffen könnte, auch wenn das Handeln ihrer Soldaten den VN zuzurechnen ist. 166 Vgl. Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 8 ff. 167 Die Beschwerde richtete sich ursprünglich außerdem gegen die Bundesrepublik Deutschland, da der Beschwerdeführer der Auffassung war, es sei auch ein deutscher KFOR-Offizier involviert gewesen. Nachdem er diesen Nachweis aber nicht führen konnte, nahm er die Beschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland zurück, vgl. Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 64 f 168 Vgl. Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 62. 169 Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 70. 170 Diese Frage stand in der Rechtssache Bankovic (Fn. 6), im Vordergrund. 171 Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 71. 172 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 13, Rn. 42. 173 Grabenwarter, (Fn. 172) § 13, Rn. 42. - 48 - 4.1.2.1. Mandate von UNMIK und KFOR Im ersten Schritt untersuchte der EGMR, welche Entität – UNMIK oder KFOR – das Mandat zur Inhaftierung von Personen (Saramati) bzw. zur Räumung von Minen (Behrami ) besaß. Der Gerichtshof kam dabei zu dem Schluss, dass das KFOR-Mandat den Erlass von Haftbefehlen umfasste.174 Hinsichtlich des Mandats zur Räumung von Minen befand er hingegen, dass diese Tätigkeit primär in den Verantwortungsbereich der UNMIK fiele und die KFOR insoweit nur eine unterstützende Funktion ausübe.175 4.1.2.2. Zurechnung In einem zweiten Schritt prüfte der Gerichtshof, ob die Verhaftung Saramatis durch die KFOR einerseits und das Unterlassen der Minenräumung durch die UNMIK andererseits den Vereinten Nationen zugerechnet werden könne. Dabei wies er darauf hin, dass er insoweit untersucht habe, ob der Einsatz von KFOR und UNMIK im Rahmen des Kapitels VII der Charta der Vereinten Nationen (VN-Charta) stattgefunden habe, und dass er den Begriff der Zurechnung („attribution“) in der gleichen Weise verwendet habe wie die Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen (International Law Commission – ILC) in Art. 3 ihrer Artikelentwürfe zur Verantwortlichkeit internationaler Organisationen (Draft Articles on the Responsibility of International Organisations ).176 Bei der konkreten Zurechnungsprüfung ging der EGMR zweistufig vor. Er prüfte zunächst, ob Kapitel VII einen Rahmen für die Delegation von Befugnissen durch den VN-Sicherheitsrat bilde. Die zweite, ausführlichere Frage war, inwieweit die Delegation von Befugnissen hinreichend bestimmt war, um das Verhalten von UNMIK und KFOR den VN zuzurechnen. 4.1.2.2.1. Delegation von Befugnissen durch den Sicherheitsrat nach Kapitel VII VN- Charta Den Rahmen des Kapitels VII VN-Charta sah der EGMR als gegeben an, da die relevante Sicherheitsratsresolution 1244 (1999) sich ausdrücklich hierauf berufen habe. Weiter führte er aus, dass die Resolution die Mitgliedstaaten sowie maßgebliche internationale Organisationen autorisiert habe, die internationale Sicherheitspräsenz im Kosovo einzurichten, und dass die internationale Sicherheitspräsenz unter einem einheitlichen Kommando und einer einheitlichen Kontrolle eingesetzt werden sollte. Der Sicherheitsrat habe insofern die Befugnis, eine internationale Sicherheitspräsenz zu errichten , sowie die Durchführung dieser militärischen Operation an die Mitgliedstaaten so- 174 Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 124. 175 Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 125 ff. 176 Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 121. Siehe dazu International Law Commission, Responsibility of International Organizations - Titles and texts of the draft articles 1, 2 and 3 adopted by the Drafting Committee, 04.06.2003 (UN Doc. A/CN.4/L.632). Für den Wortlaut und weitere Erläuterungen hierzu siehe unten Teil 4.3.2. - 49 - wie hierzu bereite Organisationen delegiert. Die Kontingente, aus denen sich die Sicherheitspräsenz zusammensetzte, hätten daher auf der Grundlage einer Befehlsgewalt gehandelt, die von den Vereinten Nationen delegiert worden sei und nicht von der Organisation selbst ausgeübt werde.177 Zum Begriff des Delegierens erläuterte der EGMR, dass die Resolution 1244 (1999) zwar den Begriff „autorisieren“ verwende. Dieser Begriff und der Begriff des Delegierens würden aber in der Resolution synonym („interchangeably“) verwendet. In seiner Entscheidung beziehe sich der Begriff des Delegierens dagegen auf die Ermächtigung einer anderen Entität durch den Sicherheitsrat zur Durchführung einer Aufgabe des Sicherheitsrates . Der Begriff des Autorisierens beziehe sich demgegenüber auf den Fall, dass eine andere Entität zur Durchführung einer Aufgabe ermächtigt werde, die der Sicherheitsrat selbst nicht durchführen könne.178 4.1.2.2.2. Zurechnung des Verhaltens von UNMIK und KFOR an die VN? Sodann widmete sich der Gerichtshof ausführlich der Frage, ob die Inhaftierung Saramatis auf Befehl des KFOR-Kommandeurs den Vereinten Nationen oder der KFOR zuzurechnen ist. Wesentliche Voraussetzung für eine Zurechnung an die Vereinten Nationen sei – so der EGMR –, dass die Befugnisse („powers“), die der Sicherheitsrat an die KFOR delegiert habe, hinreichend begrenzt seien.179 Die Schlüsselfrage laute daher, ob der Sicherheitsrat die letzte Weisungsbefugnis und Kontrolle („ultimate authority and control“) behalten habe, so dass lediglich die Durchführung der Operation delegiert worden sei.180 Der Gerichtshof bejahte die Delegierung von Sicherheitsbefugnissen durch Resolution 1244 (1999) und nannte dafür folgende fünf Gründe: 1. Kapitel VII erlaube es dem Sicherheitsrat, Befugnisse an die Mitgliedstaaten und relevante Internationale Organisationen zu delegieren. 2. Die relevante Befugnis sei eine delegierbare Befugnis. 3. Die Delegierung dieser Befugnis sei ausdrücklich in der Resolution selbst vorgesehen . 4. Die Resolution lege das Mandat mit angemessener Genauigkeit fest, indem sie die zu erreichenden Ziele, die zugewiesenen Rollen und Verantwortlichkeiten sowie 177 Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 129. Im Original heißt es “[…], that Resolution authorised “Member States and relevant international organisations” to establish the international security presence in Kosovo as set out in point 4 of Annex 2 […]. Point 4 of Annex 2 added that the security presence would have “substantial [NATO] participation” and had to be deployed under “unified command and control”. The UNSC was thereby delegating to willing organisations and members states […] the power to establish an international security presence as well as its operational command. Troops in that force would operate therefore on the basis of UN delegated, and not direct, command.” 178 Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 43. 179 Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 132. 180 Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 133. - 50 - die einzusetzenden Mittel darlege. Die Resolution habe der Delegierung von Befugnissen damit hinreichend festgelegte Grenzen gesetzt. 5. Die Führung der Militärpräsenz sei nach der Resolution verpflichtet, dem Sicherheitsrat Bericht zu erstatten, damit der Sicherheitsrat seine letzte Weisungsbefugnis und Kontrolle („overall authority and control“) ausüben könne.181 Diese Kriterien sah der EGMR im Falle von KFOR als erfüllt an: Der Sicherheitsrat habe die letzte Weisungsbefugnis und Kontrolle („ultimate authority and control”) über die Sicherheitsmission behalten und zum einen an die NATO die Befugnis delegiert, die KFOR einzurichten, sowie zum anderen der NATO die Durchführung der KFOR unter ihrem Kommando übertragen.182 Der EGMR unterscheidet hier also zwischen der letzten Weisungsbefugnis und Kontrolle („ultimate authority and control”), die beim Sicherheitsrat verblieben sei, und der Durchführung der Operation unter dem Kommando der NATO („operational command“).183 Argumente der Beschwerdeführer, die sich gegen diese Annahme eines einheitlichen NATO-Kommandos und damit gegen eine Zurechnung des KFOR-Verhaltens zur NATO richteten, wies der Gerichtshof zurück. Die Beschwerdeführer hatten insoweit argumentiert, die truppenstellenden Staaten hätten jedenfalls über die vom Gerichtshof zu beurteilenden Sachverhalte in einer solchen Weise die Kontrolle ausgeübt, dass die fraglichen Handlungen vom internationalen Mandat losgelöst gewesen seien.184 Der Gerichtshof räumte zwar ein, dass die truppenstellenden Staaten eine gewisse Befehlsgewalt („some authority“) über ihre Truppen behielten. Die NATO habe deshalb kein ausschließliches operatives Kommando („command of operational matters“) gehabt. Die entscheidende Frage sei jedoch, ob dieses Kommando trotz der Beteiligung der truppenstellenden Staaten an den fraglichen Handlungen „effektiv“ sei.185 Hinsichtlich des Begriffs „effektiv“ bezog sich der Gerichtshof wiederum ausdrücklich auf die Arbeiten der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen zur Verantwortlichkeit in- 181 Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 134. 182 Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 135 f. Dort heißt es wörtlich: „Accordingly, UNSC Resolution 1244 gave rise to the following chain of command in the present cases. The UNSC was to retain ultimate authority and control over the security mission and it delegated to NATO (in consultation with non-NATO member states) the power to establish, as well as the operational command of, the international presence, KFOR. NATO fulfilled its command mission via a chain of command (from the NAC, to SHAPE, to SACEUR, to CIC South) to COMKFOR, the commander of KFOR. While the MNBs were commanded by an officer from a lead TCN, the latter was under the direct command of COMKFOR. MNB action was to be taken according to an operational plan devised by NATO and operated by COMKFOR in the name of KFOR. […] This delegation model demonstrates that, contrary to the applicants' argument at paragraph 77 above, direct operational command from the UNSC is not a requirement of Chapter VII collective security missions.“ 183 Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 139. 184 Vgl. Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 137. 185 Vgl. Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 138. - 51 - ternationaler Organisationen und verwies auf die Kommentierung186 der Völkerrechtskommission zu Art. 5187 der Artikelentwürfe zur Verantwortlichkeit internationaler Organisationen .188 In der Sache führte der Gerichtshof sodann aus, er sei nicht davon überzeugt , dass die Beteiligung der truppenstellenden Staaten an dem fraglichen Verhalten mit der Effektivität des „operational command“ der NATO unvereinbar („incompatible “) sei. Anzeichen oder Beweise für Befehle seitens der truppenstellenden Staaten, welche die vorliegende Inhaftierung beträfen, seien nicht ersichtlich. Ebensowenig sei ein Grund für die Annahme gegeben, dass die Effektivität der operativen Kontrolle („operational control“) der NATO durch die strukturelle Beteiligung der truppenstellenden Staaten untergraben werde.189 Auch durch den Einwand, dass einzelne Ansprüche möglicherweise unterschiedlich behandelt werden könnten, je nach dem von welchem truppenstellenden Staat ein fragliches Verhalten ausgehe, wies der EGMR zurück. Insoweit stellte der Gerichtshof zwar fest, dass die Entscheidung, ob im Einzelfall die Immunität aufzuheben ist, beim nationalen Kommandeur liege, die truppenstellenden Staaten zumindest in disziplinarischen und strafrechtlichen Fragen die ausschließliche Zuständigkeit besäßen, einige Staaten ihre eigenen Beschwerdestellen eingerichtet hätten und zumindest ein Staat die Zuständigkeit seiner Zivilgerichte bejaht habe190. Allerdings sei nicht dargelegt, wie dies für sich genommen die Effektivität und die Einheit der Befehlsgewalt der NATO in operationellen Angelegenheiten beeinträchtigen könnte .191 Nach alledem kam der Gerichtshof im zweiten Schritt seiner Prüfung hinsichtlich der KFOR zu dem Ergebnis, dass dem Sicherheitsrat die letzte Weisungsbefugnis und Kontrolle („ultimate authority and control“) verblieben war, während die NATO die effektive Befehlsgewalt über relevante operationelle Angelegenheiten behalten habe. Unter diesen Umständen habe die KFOR rechtmäßig delegierte Befugnisse des Sicherheitsrates nach Kapitel VII ausgeübt, so dass das fragliche Verhalten grundsätzlich den Vereinten Nationen zurechenbar sei.192 186 Report of the International Law Commission, 56th Session, 2004 (UN Doc. A/59/10), Kap. V, Abs. 72. 187 International Law Commission, Responsibility of International Organizations - Titles and texts of the draft articles 4, 5, 6 and 7 adopted by the Drafting Committee, 27.05.2004 (UN Doc. A/CN.4/L.648). Für den Wortlaut siehe unten Teil 4.3.2. 188 Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 138 mit Verweis auf Abs. 32. 189 Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 139. 190 Hier bezieht sich der Gerichtshof auf die Entscheidung des Londoner High Court of Justice vom 07.04.2004, Bici v. Ministry of Defence ([2004] EWHC 786 (QB)). In diesem Fall hatten zwei Kosovo -Albaner, die am 02.07.1999 von britischen Soldaten in vermeintlicher Notwehr beschossen worden waren und dadurch Verletzungen erlitten hatten, erfolgreich Schadensersatz nach britischem Deliktsrecht („tort“) eingeklagt. 191 Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 139. 192 Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 140 f.: „[…] the Court finds that the UNSC retained ultimate authority and control and that effective command of the relevant operational matters was retained by - 52 - Anders als die KFOR sah der Gerichtshof die UNMIK als subsidiäres Organ der Vereinten Nationen an. Die Einordnung des Unterlassens der Minenräumung durch die UNMIK im Fall Behrami bereitete dem EGMR deshalb im Übrigen keine besonderen Schwierigkeiten. Als subsidiäres Organ des Sicherheitsrates sei die UNMIK diesem gegenüber unmittelbar und voll verantwortlich. Ihr Unterlassen sei daher grundsätzlich den Vereinten Nationen zuzurechnen.193 4.1.2.2.3. Haftung der EMRK-Staaten trotz Zurechnung an die VN? Im dritten Schritt seiner Prüfung kam der Gerichtshof schließlich auf die Frage zu sprechen , ob trotz der festgestellten Zurechnung zu den VN auch eine Haftung der EMRK- Staaten für ihr Handeln oder Unterlassen im Rahmen von KFOR und UNMIK bestehen könne. Hierzu stellte der Gerichtshof klar, dass die Vereinten Nationen eine eigene, von ihren Mitgliedstaaten zu unterscheidende Rechtspersönlichkeit besäßen und nicht Vertragspartei der EMRK seien.194 In einem Einschub rekapitulierte der Gerichtshof sodann sein Urteil in der Rechtssache Bosphorus v. Ireland.195 In diesem Fall hatte Irland in Ausführung einer Sicherheitsratsresolution und einer darauf beruhenden EG- Verordnung, die Wirtschaftssanktionen gegen das damalige Jugoslawien betrafen, einen Passagierjet, der im Eigentum der Yugoslav Airlines (JAT) stand, zum gegebenen Zeitpunkt jedoch von einer türkischen Fluggesellschaft gemietet und betrieben worden war, auf dem Flughafen in Dublin beschlagnahmt.196 Die türkische Gesellschaft hatte daraufhin eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK (Recht auf Eigentum) geltend gemacht.197 In seinem Bosphorus-Urteil habe der Gerichtshof – so der EGMR in Behrami und Saramati – ausgeführt, den Vertragsstaaten der EMRK sei es nach der Konvention zwar nicht verboten, einer internationalen Organisation beizutreten , um auf bestimmten Gebieten miteinander zu kooperieren. Die Mitgliedstaaten blieben jedoch nach Art. 1 EMRK für alle Handlungen und Unterlassungen ihrer Organe verantwortlich und zwar unabhängig davon, ob das fragliche Verhalten notwendig gewesen sei, um internationalen Verpflichtungen nachzukommen. Allerdings bestehe eine Vermutung dafür, dass Handlungen der Mitgliedstaaten in Ausführung von Verpflichtungen , die aus der Mitgliedschaft in einer internationalen Organisation folgten, NATO. […] In such circumstances, the Court observes that KFOR was exercising lawfully delegated Chapter VII powers of the UNSC so that the impugned action was, in principle, “attributable” to the UN [...]. 193 Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 142 f. 194 Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 144. 195 EGMR, Urteil vom 30.06.2005, Bosphorus Hava Yollari Turizm Ve Ticaret Anonim Şirketi v. Ireland (Nr. 45036/98), im Folgenden zitiert als Bosphorus. 196 Vgl. Bosphorus (Fn. 195), Abs. 11 ff. 197 Vgl. Bosphorus (Fn. 195), Abs. 107. - 53 - im Einklang mit der EMRK stünden, wenn innerhalb der fraglichen Organisation ein Menschenrechtsschutz gewährleistet sei, der der EMRK zumindest ebenbürtig sei.198 Die Argumentation der Beschwerdeführer, der materielle und prozessuale Menschenrechtsschutz , der von der KFOR zur Verfügung gestellt würde, sei jedenfalls dem Schutz durch die EMRK nicht im Sinne des Bosphorus-Urteils ebenbürtig, wies der EGMR zurück.199 Der Fall Behrami und Saramati unterscheide sich wesentlich vom Fall Bosphorus. In letzterem Fall sei die fragliche Handlung (die Beschlagnahme des Flugzeuges) aufgrund der Entscheidung eines irischen Ministers, auf irischem Boden und durch irische Behörden ausgeführt worden. Es hätten daher keinerlei Zweifel daran bestanden, dass der Gerichtshof die Zuständigkeit ratione personae für die Überprüfung der fraglichen Maßnahme besessen habe.200 In den vorliegenden Fällen könnten die angefochtenen Handlungen und Unterlassungen der KFOR und der UNMIK hingegen nicht den beklagten Staaten zugerechnet werden. Darüber hinaus seien sie auch nicht auf dem Gebiet dieser Staaten oder aufgrund einer Entscheidung ihrer Behörden vorgenommen worden. Schließlich wies der EGMR darauf hin, dass es sich im Fall Behrami und Saramati um Maßnahmen nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen gehandelt habe. Operationen aufgrund von Sicherheitsratsresolutionen nach Kapitel VII seien für die Aufgabe der Vereinten Nationen, den internationalen Frieden und die Sicherheit zu gewährleisten , grundlegend. Ihre Effektivität hänge jedoch von der Bereitschaft der Mitgliedstaaten ab, sie zu unterstützen. Hieraus folgerte der EGMR, die Konvention könne nicht dergestalt ausgelegt werden, dass Handlungen und Unterlassungen der Vertragsstaaten, die durch eine Sicherheitsratsresolution gedeckt seien und im Vorfeld oder im Zuge von Friedensmissionen vorgenommen würden, der Überprüfung durch den EGMR unterworfen seien. Eine solche Vorgehensweise würde nicht nur eine Einmischung in eine Kernaufgabe der Vereinten Nationen bedeuten, sondern auch die effektive Durchführung derartiger Operationen beeinträchtigen. Zudem würde dies bedeuten, der Durchführung einer Sicherheitsratsresolution Bedingungen aufzuerlegen, die im Text der Resolution selbst nicht vorgesehen seien.201 198 Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 145. 199 Vgl. Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 150. 200 Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 151. 201 Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 149 „the Convention cannot be interpreted in a manner which would subject the acts and omissions of Contracting Parties which are covered by UNSC Resolutions and occur prior to or in the course of such missions, to the scrutiny of the Court. To do so would be to interfere with the fulfilment of the UN's key mission in this field including, as argued by certain parties, with the effective conduct of its operations. It would also be tantamount to imposing conditions on the implementation of a UNSC Resolution which were not provided for in the text of the Resolution itself.“ - 54 - Die vorliegenden Fälle unterschieden sich daher nach Ansicht des EGMR sowohl hinsichtlich der Verantwortlichkeit der beklagten Staaten als auch bezüglich der Zuständigkeit des Gerichtshofes ratione personae eindeutig vom Bosphorus-Fall.202 Nach alledem kam der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Beschwerde unvereinbar mit der Konvention ratione personae203 sei und erklärte sie damit für unzulässig.204 Auf weitere Zulässigkeitserwägungen – wie etwa die örtliche Anwendbarkeit der Konvention – ging der Gerichtshof nicht mehr ein.205 4.2. Weitere Entscheidungen des EGMR Auf die Entscheidung in Behrami und Saramati folgten bis August 2007 noch zwei weitere Entscheidungen des EGMR im Zusammenhang mit der Präsenz der KFOR im Kosovo sowie eine Entscheidung im Zusammenhang mit dem Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegovina, in denen der EGMR seine in Behrami und Saramati entwickelten Grundsätze anwendete. 4.2.1. Kasumaj v. Greece und Gajic v. Germany In Kasumaj v. Greece206 ging es um die Beschwerde eines Kosovo-Albaners, der vortrug , griechische KFOR-Soldaten hätten im Jahr 1999 ihr Hauptquartier auf ihm gehörenden landwirtschaftlichen Grundstücken errichtet, ohne ihm dafür eine Entschädigung zu gewähren.207 Es seien daher sowohl Art. 1 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK (Recht auf Eigentum), als auch Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf Zugang zu einem Gericht ) und Art. 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) verletzt.208 In einem weiteren Fall, Gajic v. Germany209, machte der Beschwerdeführer – ein Serbe, der bis zu seiner Flucht im Juni 1999 in Prizren/Kosovo gelebt hatte – geltend, eine ihm gehörende Wohnung in Prizren sei zwischen 1999 und 2004 vom deutschen KFOR-Kontingent genutzt worden, ohne dass er hierfür eine Miete erhalten hätte.210 Er warf der Bundesrepublik Deutsch- 202 Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 151: „In the present cases, the impugned acts and omissions of KFOR and UNMIK cannot be attributed to the respondent States and, moreover, did not take place on the territory of those States or by virtue of a decision of their authorities. The present cases are therefore clearly distinguishable from the Bosphorus case in terms both of the responsibility of the respondent States under Article 1 and of the Court's competence ratione personae.“ 203 Siehe zum Begriff Teil 4.1.2. 204 Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 152. 205 Vgl. Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 153. 206 EGMR, Entscheidung vom 05.07.2007, Kasumaj v. Greece (Nr. 6974/05), im Folgenden zitiert als Kasumaj, 207 Kasumaj (Fn. 206), S. 2. 208 Kasumaj (Fn. 206). 209 EGMR, Entscheidung vom 28.08.2007, Gajic v. Germany (Nr. 31446/92), im Folgenden zitiert als Gajic. 210 Gajic (Fn. 209), S. 3. - 55 - land daher Verletzungen von Art. 1 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK (Recht auf Eigentum) und von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) vor. Sein Antrag auf Zahlung einer Miete war vom deutschen Bundesamt für Wehrverwaltung abschlägig beschieden worden, da es den Nachweis des Eigentums des Beschwerdeführers nicht als erbracht ansah. Neben der Auffassung, die Beschwerde sei unvereinbar mit der Konvention ratione personae und loci,211 trug die Bundesrepublik Deutschland vor, die Beschwerde sei schon deswegen unzulässig, weil der Beschwerdeführer es versäumt habe, den innerstaatlichen Rechtsweg zu erschöpfen, denn das Verwaltungsverfahren schwebe noch und dem Beschwerdeführer stünde im Falle eines abschlägigen Bescheides der Verwaltungsrechtsweg offen.212 Der Gerichtshof wies beide Beschwerden – mit leicht unterschiedlicher Begründung – als unzulässig zurück. In Kasumaj v. Greece beschränkte er sich darauf, auf seine Entscheidung in Behrami und Saramati zu verweisen und erklärte die Beschwerde für unvereinbar mit der Konvention ratione personae.213 In Gajic v. Germany dagegen erinnerte er daran, dass nach seiner Entscheidung in Behrami und Saramati hinsichtlich des Verhaltens der KFOR in erster Linie problematisch sei, ob er die Kompetenz zur Überprüfung der Beiträge der Vertragstaaten zur internationalen Sicherheitspräsenz besitze und wiederholte, dass das Verhalten der KFOR grundsätzlich den Vereinten Nationen zuzurechnen und er unzuständig ratione personae sei, die Handlungen der Mitgliedstaaten im Namen der Vereinten Nationen zu überprüfen.214 Ob diese Erwägungen auch seine Entscheidung in Gajic v. Germany trügen, ließ der Gerichtshof allerdings offen. Vielmehr erklärte er die Beschwerde – dem Hilfsargument Deutschlands folgend – mangels Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges für unzulässig: Selbst wenn man annähme, die Beschlagnahmung der Wohnung könne die Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland begründen, so habe der Beschwerdeführer gegenüber den innerstaatlichen Verwaltungsbehörden eine Ersatzforderung geltend gemacht und könne sich – soweit dieses Vorgehen erfolglos sein sollte – an die Verwaltungsgerichte wenden.215 4.2.2. Berić et al. v. Bosnia and Herzegovina In einer Entscheidung vom 16. Oktober 2007 im Fall Berić et al. v. Bosnia and Herzegovina hat der EGMR über die Zurechenbarkeit von Handlungen des Hohen Repräsen- 211 Zu diesen Begriffen siehe Teil 4.1.2. 212 Gajic (Fn. 209), S. 5. 213 Kasumaj (Fn. 206), S. 3. 214 Gajic (Fn. 209), S. 5 f. 215 Gajic (Fn. 209), S. 6: „[…] even assuming that the requisition of the apartment in question might engage the responsibility of the respondent State, the Court notes that the applicant lodged a request for compensation with the domestic administrative authorities and may, should that be unsuccessful, avail himself of the administrative courts. Thus, the applicant’s complaint is in any event premature and should therefore be declared inadmissible […].” - 56 - tanten für Bosnien und Herzegowina entschieden.216 Die Beschwerdeführer waren im Jahr 2004 durch den Hohen Repräsentanten wegen ihrer mangelnden Kooperation mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) ihrer öffentlichen und politischen Ämter enthoben worden, welche sie bis dahin in der „Republika Srpska“ ausgeübt hatten.217 Sie legten daraufhin Beschwerde gegen Bosnien und Herzegowina ein und machten Verletzungen von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), Art. 11 EMRK (Versammlungsfreiheit) und Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) geltend.218 Der EGMR wies die Beschwerde wegen Unvereinbarkeit mit der Konvention ratione personae als unzulässig zurück.219 Die Einrichtung des Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina geht auf Annex 10 des am 14. Dezember 1994 unterzeichneten Friedensabkommens von Dayton220 zurück.221 Der Hohe Repräsentant besitzt hiernach umfangreiche hoheitliche Befugnisse zur Durchsetzung des Friedensabkommens.222 Für die Nominierung des Hohen Repräsentanten ist das durch die Londoner Friedensimplementierungskonferenz vom 8.-9. Dezember 1995 eingerichtete sog. „Steering Board“ des ebenfalls durch diese Konferenz geschaffenen „Peace Implementation Council“ (PIC)223 zuständig.224 Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erklärte sich in der Folge mit der Ernennung einverstanden .225 In Sicherheitsratsresolution 1031 vom 15. Dezember 1995 zum Friedensabkommen von Dayton heißt es unter anderem: „Der Sicherheitsrat, […] 216 EGMR, Entscheidung vom 16.10.2007, Berić et al. v. Bosnia and Herzegovina (Nr. 36357/04 u.a.), im Folgenden zitiert als Berić. 217 Vgl. Berić (Fn. 216), Abs. 2. 218 Vgl. Berić (Fn. 216), Abs. 20. 219 Vgl. Berić (Fn. 216), Abs. 30. 220 General Framework Agreement: Annex 10 – Agreement on Civilian Implementation, 14.12.1995, abrufbar unter: http://www.ohr.int/dpa/default.asp?content_id=366 (Stand 15.09.2008). 221 Siehe dazu Badzio, in: Epping/Heintze (Hrsg.), S. 45, 47 ff. 222 Siehe dazu Badzio, in: Epping/Heintze (Hrsg.), S. 45, 49 ff. 223 Der PIC besteht aus 55 Staaten, deren gemeinsames Interesse die Durchsetzung des Friedensabkommens ist. Dem „Steering Board“ gehören Kanada, Frankreich, Deutschland, Italien, Japan, Russland, Großbritannien, die Vereinigten Staaten von Amerika, die Präsidentschaft der Europäischen Union, die Europäische Kommission und die Organisation der Islamischen Konferenz an, vgl. Conclusions of the Peace Implementation Conference Held at Lancaster House London, 08.12.1995, Ziff. 21 (abrufbar unter : http://www.ohr.int/pic/default.asp?content_id=5168, Stand 15.09.2008). 224 Vgl. z.B. Political Declaration from Ministerial Meeting of the Steering Board of the Peace Implementation Council vom 30.05.1997, Ziff. 88 ff. (abrufbar unter: http://www.ohr.int/pic/default.asp?content_id=5180, Stand: 15.09.2008); siehe auch Badzio, in: Epping /Heintze (Hrsg.), S. 45, 48. 225 Vgl. z.B. Sicherheitsratsresolution 1112 (1997) vom 12.06.1997, Abs. 1. - 57 - tätigwerdend nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen, […] 26. unterstützt die auf Ersuchen der Parteien erfolgte Bestellung eines Hohen Beauftragten, der im Einklang mit Anhang 10 des Friedensübereinkommens über die zivilen Aspekte der Umsetzung die Durchführung des Friedensübereinkommens überwachen und die beteiligten zivilen Organisationen und Stellen mobilisieren, ihnen gegebenenfalls Anleitung erteilen sowie ihre Tätigkeit koordinieren wird, und erklärt sich mit der Bestellung von Carl Bildt zum Hohen Beauftragten einverstanden; 27. bestätigt, dass der Hohe Beauftragte die letzte Instanz an Ort und Stelle für die Auslegung von Anhang 10 des Friedensübereinkommens über die zivilen Aspekte der Umsetzung ist; […]“226 Der EGMR geht in seiner Entscheidung im Fall Berić davon aus, der Sicherheitsrat habe die Einrichtung des Hohen Repräsentanten durch den PIC als einer informellen Gruppe von Staaten als Zwangsmaßnahme nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen durch Resolution 1031 autorisiert.227 Unter Verweis auf Art. 5 der Artikelentwürfe zur Verantwortlichkeit internationaler Organisationen228 führt der EGMR sodann – ähnlich wie in Behrami und Saramati – aus, die Schlüsselfrage laute, ob der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bei der Delegierung seiner Befugnisse durch Resolution 1031 die „effective overall control“ behalten habe,229 was er aus den folgenden Gründen bejahte: 1. Die Resolution selbst habe die Delegierung ausdrücklich vorgesehen („it was neither presumed nor implicit, but prior and explicit in the Resolution itself“). Es sei zwar richtig, dass das Friedensabkommen und die Beschlüsse der Londoner Friedensimplementierungskonferenz Resolution vorangegangen seien, jedoch seien sie mit Zustimmung der Vereinten Nationen vervollständigt worden („completed with UN approval“). 2. Die Resolution (im Zusammenhang gelesen mit dem Friedensabkommen und den Beschlüssen der Londoner Friedensimplementierungskonferenz, auf die sie sich ausdrücklich beziehe) habe der Delegierung von Befugnissen hinreichend definierte 226 Übersetzung des Deutschen Übersetzungsdienstes der Vereinten Nationen, Jahresband 1995 (UN Doc. (S/INF/51), S. 23 ff. (abrufbar unter: : http://www.un.org/depts/german/sr/sr_95/srb95-all.pdf, Stand: 15.09.2008) Im englischen Original heißt es: „The Security Council, […] Acting Chapter VII of the Charter of the United Nations. […] 26. Endorses the establishment of a High Representative, following the request of the parties, who, in accordance with Annex 10 on the civilian implementation of the Peace Agreement, will monitor the implementation of the Peace Agreement and mobilize and, as appropriate, give guidance to, and coordinate the activities of, the civilian organizations and agencies involved, and agrees the designation of Mr. Carl Bildt as High Representative; 27. Confirms that the High Representative is the final authority in theatre regarding interpretation of Annex 10 on the civilian implementation of the Peace Agreement; […]“ 227 Vgl. Berić (Fn. 216), Abs. 26. 228 Siehe dazu Teil 4.3.2. 229 Vgl. Berić (Fn. 216), Abs. 27. - 58 - Grenzen gesetzt („put sufficiently defined limits on the delegation“). Zudem hätten die der ursprünglichen Resolution nachfolgenden Resolutionen des Sicherheitsrates die Beschlüsse der späteren Friedensimplementierungskonferenzen gutgeheißen („endorsed“). 3. Der Hohe Repräsentant sei durch die Resolution verpflichtet, dem Sicherheitsrat Bericht zu erstatten, damit dieser seine „overall control“ ausüben könne.230 Die Handlungen des Hohen Repräsentanten seien daher grundsätzlich den Vereinten Nationen zuzurechnen.231 Ob Bosnien und Herzegowina trotzdem für die angefochtenen Akte verantwortlich gemacht werden könne, verneint der Gerichtshof knapp unter Hinweis auf seine Argumentation in Behrami und Saramati.232 4.3. Einordnung der Zurechnungskriterien des EGMR im Lichte der VN Praxis Die Frage der Zurechnung staatlicher Handlungen im Rahmen von VN- Friedensmissionen an die VN hat auch die VN selbst bereits beschäftigt. 4.3.1. VN-Praxis in der Frage der Zurechnung Innerhalb der VN gab es bereits vor der Entscheidung Behrami und Saramati vereinzelt Stellungnahmen zur Frage der Zurechnung des Verhaltens von Friedenstruppen unter VN-Mandat. So findet sich in einem unveröffentlichten Schreiben des Rechtsberaters des Direktors der VN-Kodifizierungskommission aus dem Jahre 2004 der Hinweis, Akte von Peace-keeping-Truppen als Unterorgane der VN („subsidiary organs“) seien grundsätzlich den VN zuzurechnen.233 Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen im einzelnen von einer Zurechnung an die VN auszugehen ist, hat im Jahr 1996 der damalige VN-Generalsekretär Boutros-Ghali in einem Bericht an die Generalversammlung wie folgt Stellung genommen: “17. The international responsibility of the United Nations for combat-related activities of United Nations forces is premised on the assumption that the operation in question is under the exclusive command and control of the United Nations . Where a Chapter VII-authorized operation is conducted under national command and control, international responsibility for the activities of the force is vested in the State or States conducting the operation. The determination of responsibility becomes particularly difficult, however, in cases where a State or States provide the United Nations with forces in support of a United Nations 230 Vgl. Berić (Fn. 216), Abs. 28. 231 Vgl. Berić (Fn. 216), Abs. 28. 232 Vgl. Berić (Fn. 216), Abs. 29 (Es werden hier die Abs. 146–149 der Behrami/Saramati- Entscheidung wörtlich wiedergegeben). 233 “As a subsidiary organ of the United Nations, an act of a peacekeeping force is, in principle, imputable to the Organization […]”, zitiert nach Report of the International Law Commission, Official Records of the General Assembly, Fifty-ninth Session, 2004, Suppl. 10 (A/59/10), S. 112. - 59 - operation but not necessarily as an integral part thereof, and where operational command and control is unified or coordinated. […] 18. In joint operations, international responsibility for the conduct of the troops lies where operational command and control is vested according to the arrangements establishing the modalities of cooperation between the State or States providing the troops and the United Nations.”234 Diese Aussagen deuten darauf hin, dass in den VN ein von den Kriterien des EGMR teilweise abweichendes Verständnis über die Zurechnung von Handlungen von VNmandatierten Friedenstruppen bestand. Anders als der EGMR gehen diese Stellungnahmen davon aus, dass Handlungen den VN nur zuzurechnen sind, wenn die VN (also nicht die truppenstellenden Staaten oder Organisationen) „exclusive command and control “ innehaben. In anderen „joint operations“ hänge die Frage der Zurechenbarkeit dagegen von der Frage ab, wem „operational command and control“ übertragen sei. Während der EGMR im Fall Behrami und Saramati mit Blick auf UNMIK von einer Zurechnung an die VN ausging, weil UNMIK ein „subsidiary organ“ derselben sei, legte er mit Blick auf die Handlungen truppenstellender Staaten im Rahmen der KFOR einen gänzlich anderen Maßstab an. In diesem Fall stellte der EGMR darauf ab, dass die VN „ultimate authority and control“ innegehabt hätten und ließ diese Art der Befehlsgewalt für eine Zurechnung an die VN ausreichen. Dagegen scheinen die VN selbst – jedenfalls zur Zeit der Veröffentlichung der hier dargestellten Berichte – die Auffassung vertreten zu haben, die VN müssten konkrete „command and control“ über die betreffenden Truppen haben, um sich deren Handlungen zurechnen lassen zu müssen. Wie dargestellt , ging der EGMR zwar ausdrücklich davon aus, „effective command of the relevant operational matters“ sei im Falle von KFOR bei der NATO verblieben,235 dennoch rechnete er die Handlungen der truppenstellenden Staaten nicht der NATO zu, sondern den VN. 4.3.2. Artikelentwürfe der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen zur Verantwortlichkeit internationaler Organisationen Auch die Arbeiten der Völkerrechtskommission der VN (ILC) weisen für die Frage der Zurechnung staatlichen Handelns an eine internationale Organisation in eine andere Richtung, als die vom EGMR gewählte. Dabei ist freilich stets zu beachten dass die ILC eine Einrichtung der VN-Generalversammlung ist, derer sich letztere zu Erfüllung ihrer in Art. 13 Abs. 1 a) VN-Charta niedergelegten Aufgabe bedient, „die fortschreitende Entwicklung des Völkerrechts sowie seine Kodifizierung zu begünstigen“.236 Die Arbei- 234 Report of the Secretary General, General Assembly, Fifty-first Session, 1996 (A/51/389), S. 6. 235 Behrami/Saramati (Fn. 33), Abs. 140 f. 236 Näher zur ILC und ihren Grundlagen: Fleischhauer, in: Simma (Hrsg.), Charter, Art. 13, Rn. 12–27. - 60 - ten der ILC haben daher für sich genommen keine Rechtsverbindlichkeit, spiegeln aber häufig Regeln des Völkergewohnheitsrechts wider.237 Die ILC erarbeitet seit dem Jahr 2002 sogenannte Artikelentwürfe zur Verantwortlichkeit internationaler Organisationen („Draft Articles on Responsibility of International Organizations“).238 Sie schließt damit an ihre Arbeiten zur Staatenverantwortlichkeit an, die im Jahr 2001 mit den Draft Articles on State Responsibility abgeschlossen wurden ,239 aber die Frage der Verantwortlichkeit internationaler Organisationen offenließen .240 Die erarbeiteten Artikelentwürfe enthalten unter anderem Regelungen über die Voraussetzungen der Zurechnung eines völkerrechtswidrigen Verhaltens an eine internationale Organisation. Trotz fehlender Rechtsverbindlichkeit der Entwürfe der ILC hat der EGMR sich in seinen Entscheidungen in Behrami und Saramati und Berić ausdrücklich auf die Artikelentwürfe, welche die Zurechenbarkeit betreffen, bezogen.241 Sie dürften daher – unabhängig von der Frage, ob sie entsprechende völkergewohnheitsrechtliche Regelungen darstellen – für die Beurteilung der Frage, ob ein menschenrechtsrelevantes Verhalten einer internationalen Organisation zurechenbar ist, zu berücksichtigen sein. Nach Art. 3 der Artikelentwürfe hat jede völkerrechtswidrige Handlung einer internationalen Organisation die völkerrechtliche Verantwortlichkeit der internationalen Organisation zur Folge. Eine völkerrechtswidrige Handlung einer internationalen Organisation liegt vor, wenn ein Tun oder Unterlassen zum einen der internationalen Organisation nach dem Völkerrecht zurechenbar ist und zum anderen eine Verletzung einer völkerrechtlichen Pflicht dieser internationalen Organisation darstellt.242 Gem. Art. 5 der Arti- 237 Vgl. Ipsen, in: Ipsen, S. 618. 238 Siehe dazu insbesondere Report of the International Law Commission, 54th session, 2002 (UN Doc. A/57/10), Kap. VIII; Report of the International Law Commission, 55th session, 2003 (UN Doc. A/58/10), Kap. IV; Report of the International Law Commission, 56th session, 2004 (UN Doc. A/59/10), Kap. V; Report of the International Law Commission, 57th session, 2005 (UN Doc. A/60/10), Kap. VI; First report on responsibility of international organizations by Mr. Giorgio Gaja, Special Rapporteur vom 26.03.2003 (UN Doc. A/CN.4/532); Second report on responsibility of international organizations by Mr. Giorgio Gaja, Special Rapporteur vom 02.04.2004 (UN Doc. A/CN.4/541); Third report on responsibility of international organizations by Mr. Giorgio Gaja, Special Rapporteur vom 13.05.2005 (UN Doc. A/CN.4/553); Fourth report on responsibility of international organizations by Mr. Giorgio Gaja, Special Rapporteur vom 28.02.2006 (UN Doc. A/CN.4/564). 239 Siehe Report of the International Law Commission, 53rd session, 2001 (UN Doc. A/56/10), Kap. IV. 240 Vgl. Art. 57 der Draft Articles on State Responsibility. 241 Vgl. Fn. 176 und Fn. 229 und den jeweils dazugehörigen Text. 242 Im englischen Original heißt es: „1. Every internationally wrongful act of an international organization entails the international responsibility of the international organization. 2. There is an internationally wrongful act of an international organization when conduct consisting of an action or omission : (a) Is attributable to the international organization under international law; and (b) Constitutes a breach of an international obligation of that international organization.“, vgl. International Law Commission, Responsibility of International Organizations - Titles and texts of the draft articles 1, 2 and 3 adopted by the Drafting Committee, 04.06.2003 (UN Doc. A/CN.4/L.632). - 61 - kelentwürfe ist das Verhalten eines Organs eines Staates oder eines Organs oder Vertreters einer internationalen Organisation, das oder der einer anderen internationalen Organisation zur Verfügung gestellt wird, nach dem Völkerrecht als eine Handlung der letzteren internationalen Organisation anzusehen, wenn diese Organisation über dieses Verhalten effektive Kontrolle ausübt.243 In der Kommentierung der Völkerrechtskommission zu Art. 5 der Artikelentwürfe heißt es u.a., das Kriterium für die Zurechnung eines Verhaltens an einen Staat oder an eine internationale Organisation sei gem. Art. 5 die tatsächliche Kontrolle über das spezifische Verhalten des Organs oder des Vertreters, der einer internationalen Organisation zur Verfügung gestellt ist.244 Die Zurechnung eines Verhaltens an den truppenstellenden Staat sei mit der Beibehaltung von bestimmten Befugnissen über sein nationales Kontingent verbunden und hänge damit von der Kontrolle ab, die der Staat im Einzelfall ausübe. Wenn ein Staat einer internationalen Organisation ein Organ oder einen Vertreter zur Verfügung gestellt habe, sei die entscheidende Frage hinsichtlich der Zurechnung, wer über das fragliche Verhalten („the conduct in question“) die effektive Kontrolle ausübe.245 Ferner nahm die Völkerrechtskommission in ihrer Kommentierung auch auf den oben genannten Bericht des VN- Generalsekretärs zur Zurechnung bei Friedenstruppen der Vereinten Nationen Bezug. Nach Auffassung der ILC sei es zwar verständlich, dass die Vereinten Nationen im Interesse der Effektivität militärischer Einsätze die ausschließliche Befehlsgewalt über Peace-Keeping-Truppen beanspruchten. Die Frage der Zurechnung sollte jedoch – so die Ansicht der Völkerrechtskommission – auch hier anhand eines tatsächlichen Kriteriums („factual criterion“) behandelt werden.246 Der EGMR hat in seiner Behrami und Saramati-Rechtsprechung zwar auf das von der ILC vertretene Kriterium der „effective control“ abgestellt. Er tat dies indes in anderem 243 Im englischen Original heißt es: „The conduct of an organ of a State or an organ or agent of an international organization that is placed at the disposal of another international organization shall be considered under international law an act of the latter organization if the organization exercises effective control over that conduct.“, vgl. International Law Commission, Responsibility of International Organizations - Titles and texts of the draft articles 4, 5, 6 and 7 adopted by the Drafting Committee, 27.05.2004 (UN Doc. A/CN.4/L.648). 244 Im englischen Original heißt es: „The criterion for attribution of conduct either to the contributing State or organization or to the receiving organization is based according to article 5 on the factual control that is exercised over the specific conduct taken by the organ or agent placed at the receiving organization’s disposal.[…]“, vgl. Report of the International Law Commission, 56th Session, 2004 (UN Doc. A/59/10), Kap. V, Abs. 72 , UAbs. (3). 245 Ebenda (Fn. 244), UAbs. 6 f.: „[…] Attribution of conduct to the contributing State is clearly linked with the retention of some powers by that State over its national contingent and thus on the control that the State possesses in the relevant respect. (7) As has been held by several scholars, when an organ or agent is placed at the disposal of an international organization, the decisive question in relation to attribution of a given conduct appears to be who has effective control over the conduct in question. […]“ 246 Ebenda (Fn. 244), UAbs. (8): „[…] While it is understandable that, for the sake of efficiency of military operations, the United Nations insists on claiming exclusive command and control over peacekeeping forces, attribution of conduct should also in this regard be based on a factual criterion .“ - 62 - Zusammenhang als die ILC-Vorschläge. Er zog es nicht zur Zurechnung an die VN einerseits oder die NATO/KFOR und die truppenstellenden Staaten andererseits heran, sondern nutzte es zur Abgrenzung zwischen NATO/KFOR und den truppenstellenden Staaten. Zur Beantwortung der Frage, ob die VN verantwortlich seien, stellte er hingegen , wie schon dargelegt, auf die „ultimate authority and control“ ab, welche er bei den VN sah. 4.4. Bewertung der Behrami und Saramati-Rechtsprechung in der völkerrechtlichen Literatur Die völkerrechtliche Literatur hatte sich schon vor der Entscheidung des EGMR in der Rechtssache Behrami und Saramati mit der Frage der Zurechnung von staatlichem Handeln an internationale Organisationen beschäftigt. Dabei war der wohl überwiegende Teil der Auffassung, es komme darauf an, wer „operational command“ innehabe; wobei teilweise auch auf die „real and exclusive operational control“ abgestellt wurde.247 So vertrat etwa Schmalenbach die Auffassung, den VN sei das Handeln von Peacekeeping -Truppen zuzurechnen, da diese während des Einsatzes unter dem operativen Kommando der VN stünden.248 Es gab indes auch zu diesem Zeitpunkt – der späteren Argumenation des EGMR in Behrami und Saramati sehr ähnlich – vereinzelt Stimmen, welche der Zuschreibung von „operational command“ keine Bedeutung für die Frage der Verantwortlichkeit beimaßen, sondern stattdessen auf die Ausübung von „overall authority and control“ abstellten.249 Die Besprechung der Entscheidung der Fälle Behrami und Saramati in der Literatur kritisiert die Begründung des EGMR in mehreren Punkten. Zustimmend wird in der Besprechungsliteratur lediglich die Differenzierung von UNMIK und KFOR aufgenommen.250 Die vom EGMR konstatierte Zurechnung der von UNMIK unterlassenen Minenräumung an die VN findet in der Literatur breite Zustimmung , da die Auffassung des EGMR, die UNMIK sei organisatorisch ein Hilfsorgan der VN, als zutreffend angesehen wird.251 Die Zurechnung der Verhaftung Saramatis durch KFOR-Soldaten an die VN wird allerdings überwiegend als unzutreffend abgelehnt. Die einzelnen Argumente, mit welchen diese Auffassung unterlegt wird, unterscheiden sich dabei. 247 So die Einschätzung von Larsen, in: EJIL 19 (2008), S. 509, 513, mit weiteren Nachweisen zum Meinungsstand vor der Entscheidung Behrami und Saramati. 248 Schmalenbach, S. 249. 249 Sarooshi, S. 34. 250 Hafner, in: Festschrift Bothe, S. 109 f. 251 Larsen, in: EJIL 19 (2008), S. 509, 520; Sari, in: HRLR 8 (2008), S. 152, 163 f.; Hafner, in: Festschrift Bothe, S. 110 - 63 - Ganz grundsätzlich wird kritisiert, dass der vom EGMR gewählte Ansatz, die Frage der Zurechnung in den Mittelpunkt der Überlegungen zu stellen, nicht sachgerecht sei. Art. 1 EMRK gehe vielmehr von einer Einstandspflicht der Vertragsstaaten aus, wenn ein „jurisdictional link“ zwischen ihnen und dem Beschwerdeführer bestehe.252 Im Ergebnis verneint jedoch auch diese Ansicht eine Verantwortlichkeit der betroffenen Vertragsstaaten mit der Begründung, dass ein solcher „link“ im entschiedenen Fall nicht vorgelegen habe. Denn die Angehörigen der betreffenden Staaten hätten sowohl im Rahmen von UNMIK als auch von KFOR nicht nationale Hoheitsgewalt ausgeübt, sondern in einer internationalen Eigenschaft (international capacity) gehandelt. In der Literatur ist auch die vom EGMR in der Entscheidung Behrami und Saramati begründete Zurechnung überwiegend kritisch aufgenommen worden. Kritisiert wird, dass das Kriterium der „ultimate authority and control“ nicht hinreichend begründet werde, es fehle eine Auseinandersetzung mit den hierzu bereits entwickelten Auffassungen in der Literatur, auch jenen, welche die Auffassung des Gerichtshofes zu stützen geeignet seien.253 Das vom Gerichtshof herangezogene Kriterium sei ungeeignet zur Prüfung der Zurechnung, denn es sei entwickelt worden, um die Zulässigkeit der Delegation von Befugnissen nach Kapitel VII VN-Charta zu beurteilen. Zulässigkeit der Delegation und Zurechnung von Verhalten seien aber unterschiedliche Fragen.254 Ferner wird die vom EGMR vorgenommene Gleichsetzung des in der Resolution verwendeten Begriffes der „Autorisierung“ („authorize“) mit dem der Delegierung abgelehnt. Es handle sich dabei um unterschiedliche Konzepte. Im Fall der Resolution 1244 des Sicherheitsrates liege, wie sich aus dem Wortlaut ergebe, keine Delegation von eigenen Befugnissen des Sicherheitsrates vor, sondern eine Autorisierung eigener Handlungen der NATO und der truppenstellenden Staaten. Dies folge daraus, dass diese nicht verpflichtet seien, die dort genannten Funktionen zu übernehmen.255 Nach Auffassung zahlreicher Kommentatoren behandelt der Gerichtshof das Kriterium der „effective control“ nicht sachgerecht. Zum einen wird darauf verwiesen, der EGMR hätte, wie die ILC,256 statt auf „ultimate authority and control“ auf „effective control“ abstellen257 oder jedenfalls danach fragen müssen, ob die angenommene rechtliche „ultimate authority and control“ auch tatsächlich bestand.258 Unter Zugrundelegung dieses Maßstabes könne das Verhalten der KFOR-Soldaten jedoch nicht den VN zugerechnet 252 Sari, in: HRLR 8 (2008), S. 152, 159 ff. 253 Larsen, in: EJIL 19 (2008), S. 509, 521. 254 Sari, in: HRLR 8 (2008), S. 152, 164. 255 Hafner, in: Festschrift Bothe, S. 112 ff. 256 Vgl. unten, Teil 4.3.2. 257 Sari, in: HRLR 8 (2008), S. 152, 164 f. 258 Hafner, in: Festschrift Bothe, S. 114 f. - 64 - werden.259 Ferner wird kritisiert, der Gerichtshof sei ohne Erklärung und daher in nicht nachvollziehbarer Weise von seiner Rechtsprechung im Loizidou und Issa Fall abgewichen , in dem es um die Zurechnung von EMRK-Verletzungen im von der Türkei besetzten Nordzypern ging. In dieser Entscheidung hatte der EGMR auf die von der Türkei ausgeübte „effective overall control“ abgestellt und die Verletzungshandlungen ihr zugerechnet.260 Es stelle sich daher die Frage, worin die Unterschiede zwischen einer Besetzung durch einen Staat und einer VN-mandatierten Friedensmission bestehe.261 Auch die in sechs Schritten erfolgende konkrete Prüfung der Frage, ob den VN für die Handlungen von KFOR „ultimate authority and control“ zukomme, wird als unzureichend bewertet. Im Ergebnis bestehe der einzige Kontrollmechanismus der VN in der Berichtspflicht der KFOR, was als zu schwach angesehen wird.262 Dem Gerichtshof wird in der Sache auch vorgeworfen, mit zweierlei Maßstäben zu arbeiten . Für die Bestimmung der Verantwortlichkeit im Verhältnis von VN und NATO stelle er auf die von ihm eingeführte Voraussetzung der „ultimate authority and control“ ab. In seiner Prüfung der Frage, ob die Handlungen von KFOR angesichts der den truppenstellenden Staaten verbliebenen partiellen Befehlsgewalt der NATO oder den betreffenden Staaten zuzurechnen sind, ziehe er indes den Maßstab der „effective control“ heran. Dies sei widersprüchlich.263 Ebenfalls kritisch gesehen wird die vom Gerichtshof abgelehnte Verantwortlichkeit der truppenstellenden Staaten neben den VN. Das Völkerrecht schließe eine derartige multiple Zurechnung nicht aus. Aus einer Zurechnung an die VN leite sich daher keinesfalls automatisch ein Ausschluss der Zurechung auch an die beteiligten Staaten ab.264 In diesem Zusammenhang wird aber auch eingeräumt, dass die Kommandostrukturen von KFOR nicht hinreichend bekannt seien, um eine abschließende Bewertung abgeben zu können.265 Des Weiteren wird kritisiert, dass der EGMR mit seiner Entscheidung in Behrami und Saramati letztlich seine Rechtsprechung in der Bosphorus-Entscheidung unterminiere, aus der sich ergebe, dass völkerrechtliche Verpflichtungen eines Staates nichts an seiner menschenrechtlichen Haftung nach Art. 1 EMRK änderten. Im Rahmen der Vorgaben der Entscheidung Behrami und Saramati erscheine es allerdings möglich, dass die EMRK-Staaten militärische Befehlsgewalt auf eine internationale Organisation 259 Sari, in: HRLR 8 (2008), S. 152, 165; Hafner, in: Festschrift Bothe, S. 116 f. 260 Siehe oben, S. 12 und 15. 261 Larsen, in: EJIL 19 (2008), S. 509, 522. 262 Larsen, in: EJIL 19 (2008), S. 509, 523. Sari, in: HRLR 8 (2008), S. 152, 165. 263 Larsen, in: EJIL 19 (2008), S. 509, 523 f. 264 Larsen, in: EJIL 19 (2008), S. 509, 524 f.; Sari, in: HRLR 8 (2008), S. 152, 159, 167 f. 265 Larsen, in: EJIL 19 (2008), S. 509, 524 f - 65 - übertragen und dadurch eine Verantwortlichkeit für EMRK-Verletzungen vermeiden könnten.266 Auch die Ausführungen des EGMR, wonach Handlungen der EMRK-Vertragsstaaten, welche von einer VN-Resolution abgedeckt seien, nicht einer Prüfung am Maßstab der EMRK zugänglich sein dürften, weil ansonsten die Effektivität der Durchführung von VN-Missionen beeinträchtigt werden könnte,267 ist in der Literatur auf Kritik gestoßen. Es stelle sich die Frage, ob der EGMR damit eine absolute Suspendierung der EMRK für VN-mandatierte Handlungen beabsichtige und wie dann etwa Fälle zu behandeln seien, in denen Soldaten truppenstellender Staaten einen Gefangenen auf grausame Weise töten.268 Des Weiteren werden diese Ausführungen als überwiegend politischen Überlegungen geschuldet angesehen. Ein solches Vorgehen, wonach der Zweck die Mittel heilige, sei indes keine Grundlage für eine juristische Begründung.269 4.5. Praxis anderer Spruchkörper zur Zurechnung menschenrechtsrelevanter Handlungen im Rahmen von Auslandseinsätzen Abschließend soll noch ein Blick auf die Praxis anderer Spruchkörper zur Frage der Zurechung vermeintlicher Menschenrechtsverletzungen durch Soldaten im Auslandseinsatz geworfen werden. In der jüngeren Vergangenheit haben sich insbesondere der Ausschuss für Menschenrechte des IPBPR und das britische House of Lords mit diesem Problemkreis befasst. 4.5.1. Ausschuss für Menschenrechte des IPBPR Der Ausschuss für Menschenrechte, der als Vertragsorgan des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) fungiert, hat zu Fragen der Staatenverantwortlichkeit für Menschenrechtsverletzungen bei Friedensmissionen Stellung genommen . Er kann allerdings – selbst im Falle von Individualbeschwerden nach dem 1. Fakultativprotokoll zum IPBPR – keine für die Vertragsstaaten verbindlichen Anordnungen treffen, sondern ist auf Maßnahmen mit empfehlendem Charakter beschränkt. Dennoch spielt seine Spruchpraxis für die Auslegung des IPBPR in der Praxis eine wichtige Rolle. 266 Sari, in: HRLR 8 (2008), S. 152, 167 f.; Hafner, in: Festschrift Bothe, S. 118.; vgl. auch Watson, in: Tulane J. of Int’l & Comp. Law 16 (2008), S. 575 589. 267 Vgl. zu dieser Diskussion schon oben S. 22. 268 Larsen, in: EJIL 19 (2008), S. 509, 529, unter Verweis auf einen vor britischen Gerichten verhandelten Fall der Misshandlung und Tötung eines Gefangenen durch britische Truppen im Irak, näher dazu oben, Teil 2.1.2.3. Nicht ausgeschlossen wäre freilich die individuelle Strafbarkeit einzelner Soldaten nach deutschem Strafrecht, da dies keine Frage der Zurechenbarkeit nach der EMRK ist, sondern das deutsche Recht betrifft. Grundsätzlich unterfallen Handlungen deutscher Soldaten auch im Ausland dem deutschen Strafrecht. 269 Hafner, in: Festschrift Bothe, S. 120. - 66 - In dem Individualbeschwerdeverfahren Kurbogaj v. Spain270 ging es um Hausdurchsuchungen durch eine spanische Polizeieinheit der UNMIK im Kosovo. Die Beschwerdeführer warfen Spanien Verletzungen von Art. 2 Abs. 3 a) IPBPR (Recht auf wirksame Beschwerde) sowie von Art. 17 (Schutz von Familie, Privatleben und Wohnung) vor.271 Der Ausschuss äußerte sich in seiner Entscheidung nicht zu der Frage, ob die Beschwerdeführer der Herrschaftsgewalt („jurisdiction“)272 Spaniens unterstanden hätten, sondern wies die Beschwerde schon deswegen als unzulässig zurück, weil die Beschwerdeführer es versäumt hätten, den innerstaatlichen Rechtsweg zu erschöpfen.273 Zwar hat sich der Ausschuss damit einer ausdrücklichen Aussage über die Zurechnung des fraglichen Verhaltens enthalten. Allerdings dürfte der Umstand, dass er den Beschwerdeführern vorhielt, es unterlassen zu haben, den Rechtsweg in Spanien zu beschreiten , wohl dahingehend zu deuten sein, dass der Ausschuss jedenfalls nicht von einer ausschließlichen Zurechnung des Verhaltens spanischer UNMIK-Polizisten an die Vereinten Nationen ausgegangen sein kann.274 Dies stünde im Einklang mit seinen Äußerungen zum Geltungsbereich des Paktes an anderer Stelle. So beschränkt sich der Ausschuss in seinem General Comment 31 nicht auf die Ausführung, dass die Vertragsstaaten die im Pakt niedergelegten Rechte aller Personen in ihrer Gewalt oder unter ihrer effektiven Kontrolle achten und gewährleisten müssten, auch wenn sie sich nicht auf dem Staatsgebiet der jeweiligen Vertragspartei befänden. Er stellt zudem klar, dass dieses Prinzip auch auf diejenigen Personen Anwendung finde, die sich in der Gewalt oder unter der effektiven Kontrolle der Streitkräfte einer Vertragspartei befänden, die außerhalb des Staatsgebietes der Vertragspartei agierten, wie etwa Streitkräfte, die nationale Kontingente bei internationalen Friedenseinsätzen bildeten, und zwar unabhängig von den Umständen, unter denen solche Gewalt oder effektive Kontrolle erlangt worden sei.275 270 Human Rights Committee, Entscheidung vom 11.08.2006, Communication No. 1374/2005, Azem Kurbogaj and Ghevdet Kurbogaj v. Spain (UN Doc. CCPR/C/87/D/1374/2005). 271 Azem Kurbogaj and Ghevdet Kurbogaj v. Spain (Fn. 270), Abs. 3.1 und 3.8. 272 Nach Art. 2 Abs. 1 IPBPR verpflichtet sich jeder Vertragsstaat, die im Pakt anerkannten Rechte zu achten und sie allen in seinem Gebiet befindlichen und seiner Herrschaftsgewalt („jurisdiction) unterstehenden Personen zu gewährleisten. Zur Frage der extraterritorialen Anwendbarkeit des Paktes siehe Schubert/Jötten, S. 24 ff. 273 Azem Kurbogaj and Ghevdet Kurbogaj v. Spain (Fn. 270), Abs. 6.3: „[…] Without pronouncing itself on the question of jurisdiction in the particular circumstances of the case, the Committee notes that the authors did not address themselves at any point to any penal or administrative authorities in Spain. […]“. Das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung ergibt sich aus Art. 5 Abs. 2 b) des 1. Fakultativprotokolls . 274 Genau dies hatte aber Spanien in seiner Stellungnahme unter anderem vorgetragen, siehe Azem Kurbogaj and Ghevdet Kurbogaj v. Spain (Fn. 270), Abs. 4.1. 275 Human Rights Committee, General Comment No. 31, Nature of the General Legal Obligation Imposed on States Parties to the Covenant, 26.05.2004 (UN Doc. CCPR/C/21/Rev.1/Add.13), Abs. 10: „This principle applies to those within the power or effective control of the forces of a State Party acting outside its territory, regardless of the circumstances in which such power or effective control - 67 - Ähnlich ausdrücklich betonte der Ausschuss die Bindungswirkung des Paktes bei multinationalen Militäreinsätzen in seiner Würdigung des Staatenberichtes Belgiens aus dem Jahr 2003. Dort legte er hinsichtlich des Umfangs der Verpflichtung aus Art. 2 Abs. 1 IPBPR (Geltungsbereich des Paktes) dar, Belgien müsse die Menschenrechtsgarantien des Paktes nicht nur innerhalb seines Staatsgebietes respektieren, sondern auch dann, wenn es Hoheitsgewalt im Ausland ausübe, wie etwa im Falle von friedenserhaltenden Einsätzen oder NATO-Militäreinsätzen. Die an solchen Einsätzen teilnehmenden Soldaten müssten entsprechend trainiert werden.276 Gegenüber der Bundesrepublik Deutschland hat der Menschenrechtsausschuss schließlich – wie bereits dargestellt – seine Sorge darüber zum Ausdruck gebracht, dass sie in ihrem Staatenbericht aus dem Jahr 2003 keine Stellung zur Anwendbarkeit des Paktes auf solche Situationen bezogen hätte, in denen deutsche Truppen oder Polizeikräfte im Ausland, insbesondere im Rahmen von Friedensmissionen, operiert hätten.277 4.5.2. House of Lords Das britische House of Lords hat sich in seinem Urteil im Fall Al-Jedda v. Secretary of State for Defence vom 12. Dezember 2007278 ausführlich mit der Entscheidung des EGMR in Behrami und Saramati auseinandergesetzt. Der Kläger, der sowohl die britische als auch die irakische Staatsbürgerschaft besitzt, wurde im Jahr 2004 in Basra/Irak verhaftet und wurde seitdem aus Sicherheitsgründen („imperative reasons of security“) ohne Verurteilung durch ein Gericht in britischen Hafteinrichtungen im Irak festgehalten. Er wandte sich vor den britischen Gerichten gegen seine Inhaftierung und machte eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) geltend.279 In den Vorinstanzen stand noch die Frage im Mittelpunkt, ob eine Sicherheitsratsresolution, welche eine multinationale Truppe erwas obtained, such as forces constituting a national contingent of a State Party assigned to an international peace-keeping or peace-enforcement operation.“ 276 Concluding Observations of the Human Rights Committee: Belgium, 12.08.2004 (UN Doc. CCPR/CO/81/BEL), Abs. 6: „The State party should respect the safeguards established by the Covenant , not only in its territory but also when it exercises its jurisdiction abroad, as for example in the case of peacekeeping missions or NATO military missions, and should train the members of such missions appropriately.“ 277 Hierzu sowie zur Antwort der Bundesrepublik Deutschland siehe oben Teile 2.2.2.1 a.E. und 2.2.2.2. 278 Opinion of the Lords of Appeal for Judgment in the Cause R (on the application of Al-Jedda) (FC) (Appelant) v. Secretary of State for Defence (Respondent) vom 12.12.2007 (abrufbar unter: http://www.publications.parliament.uk/pa/ld200708/ldjudgmt/jd071212/jedda-1.htm, Stand: 15.09.2008). Im Folgenden zitiert als Al-Jedda. 279 Vgl. Al-Jedda, Abs. 1 (Lord Bingham of Cornhill). Eine ausführlichere Darstellung des Sachverhaltes lässt sich den Feststellungen der Vorinstanzen entnehmen, vgl. High Court of Justice, Urteil vom 12.08.2005 ([2005] EWHC 1809 (Admin)), Abs. 2 ff. (abrufbar unter: http://www.bailii.org/ew/cases/EWHC/Admin/2005/1809.html, (Stand: 15.09.2008); Court of Appeal, Urteil vom 29.03.2006 ([2006] EWCA Civ 327), Abs. 3 ff. (abrufbar unter: http://www.bailii.org/ew/cases/EWCA/Civ/2006/327.html, Stand: 15.09.2008). - 68 - mächtigt, „unter einer gemeinsamen Führung alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen , um zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Stabilität im Irak beizutragen,“280 in der Lage sei, das Recht auf Freiheit und Sicherheit nach Art. 5 EMRK einzuschränken. Vor dem House of Lords berief sich der britische Verteidigungsminister allerdings zusätzlich auf die Entscheidung des EGMR in Behrami und Saramati und machte geltend, das Verhalten der britischen Truppen im Irak sei nach der Rechtsprechung des EGMR nicht Großbritannien zuzurechnen, sondern den Vereinten Nationen.281 Die Richter wiesen diese Argumentation mit einer Mehrheit von vier zu eins zurück. Dieser Auffassung lagen im Wesentlichen zwei Begründungsstränge zugrunde. Zum einen stellte die Mehrheit der Lordrichter der Sache nach auf die Frage ab, ob die VN „effective control“ über die Handlungen der britischen Truppen ausgeübt hätten und verneinten diese: „22. […] Were UK forces placed at the disposal of the UN? Did the UN exercise effective control over the conduct of UK forces? Is the specific conduct of the UK forces in detaining the appellant to be attributed to the UN rather than the UK? Did the UN have effective command and control over the conduct of UK forces when they detained the appellant? Were the UK forces part of a UN peacekeeping force in Iraq? In my opinion the answer to all these questions is in the negative.”282 Zum zweiten war nach Ansicht der Mehrheit der Richter die Stellung der britischen Truppen im Irak im Jahr 2004 mit der Situation der KFOR-Truppen im Kosovo auch nicht vergleichbar: “24. The analogy with the situation in Kosovo breaks down, in my opinion, at almost every point. The international security and civil presences in Kosovo were established at the express behest of the UN and operated under its auspices , with UNMIK a subsidiary organ of the UN. The multinational force in Iraq was not established at the behest of the UN, was not mandated to operate under UN auspices and was not a subsidiary organ of the UN. There was no delegation of UN power in Iraq. It is quite true that duties to report were imposed in Iraq as in Kosovo. But the UN’s proper concern for the protection of human rights and observance of humanitarian law called for no less, and it is one thing to receive reports, another to exercise effective command and control. It does not seem to me significant that in each case the UN reserved power to revoke 280 Sicherheitsratsresolution 1511 (2003), Abs. 13. 281 Vgl. Al-Jedda, Abs. 3 (Lord Bingham of Cornhill). 282 Al-Jedda, Abs. 22 (Lord Bingham of Cornhill), ihm zustimmend Baroness Hale, Abs. 124 und Lord Carswell, Abs. 131. - 69 - its authority, since it could clearly do so whether or not it reserved power to do so.”283 Lord Rodger of Earlsferry hingegen vertrat die Auffassung, der EGMR würde auch hinsichtlich der britischen Truppen im Irak zu dem Ergebnis gelangen, dass ihr Verhalten den Vereinten Nationen und nicht Großbritannien zuzurechnen wäre.284 Die Richter setzten sich also mit der inhaltlichen Frage auseinander, ob eine Verletzung des Rechts aus Art. 5 Abs. 1 EMRK vorlag. Dabei kamen sie zu dem Ergebnis, eine Ermächtigung durch den VN-Sicherheitsrat der Vereinten Nationen könne eine ansonsten nach Art. 5 Abs. 1 EMRK unzulässige Freiheitsentziehung rechtfertigen.285 4.6. Fazit Der EGMR hat sich in seiner Entscheidung in Behrami und Saramati ausführlich mit der Frage der Zurechnung menschenrechtsrelevanten Verhaltens bei einem durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mandatierten Friedenseinsatz auseinandergesetzt. Sofern eine Ermächtigung durch den Sicherheitsrat vorliegt, prüft der EGMR, ob das fragliche Verhalten den Vereinten Nationen zugerechnet werden könne. Voraussetzung hierfür scheint zu sein, dass der Sicherheitsrat nach Kapitel VII der VN-Charta eigene Befugnisse an die Mitgliedstaaten delegiert hat, aber die „ultimate authority and control “286 oder „effective overall control“287 über den Einsatz behalten hat. Entscheidend für die Annahme, dass eine solche Kontrolle des Sicherheitsrates vorliegt, dürfte insbesondere sein, dass durch die entsprechende Resolution die Befugnisse ausdrücklich delegiert werden, dass die Delegierung hinreichend begrenzt ist und dass gegenüber dem Sicherheitsrat eine Berichtspflicht besteht, die es ihm ermöglicht, seine Kontrolle auszuüben . Kann eine effektive Kontrolle durch den Sicherheitsrat bejaht werden, hat dies zur Folge, dass ein fragliches Verhalten grundsätzlich den Vereinten Nationen zugerechnet wird. Dies hat zur Konsequenz, dass das Verhalten durch den EGMR mangels Zuständigkeit nicht mehr am Maßstab der EMRK überprüft wird. Zu der Frage, nach welchen Maßstäben über die Zurechnung eines menschenrechtsrelevanten Verhaltens im Zusammenhang mit einem multinationalen Militäreinsatz zu entscheiden wäre, bei dem eine Beteiligung der Vereinten Nationen nicht herleitbar ist, hat sich der EGMR – soweit ersichtlich – bisher nicht geäußert. 283 Vgl. Al-Jedda, Abs. 24 (Lord Bingham of Cornhill), ihm zustimmend Baroness Hale, Abs. 124 und Lord Carswell, Abs. 131. 284 Vgl. Al-Jedda, Abs. 111 (Lord Rodger of Earlsferry). 285 Vgl. Al-Jedda, Abs. 39 (Lord Bingham of Cornhill). 286 So die Terminologie in Behrami/Saramati (Fn. 33), oben Teil 4.1.2.2.1. 287 So die Terminologie in Berić (Fn. 216), oben S. 57. - 70 - Die Entscheidung des EGMR weicht inhaltlich sowohl von Praxis der VN-Organe wie auch den Vorschlägen der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen (ILC) ab. Im Gegensatz zum EGMR hat der Menschenrechtssausschuss zum IPBPR die Auffassung vertreten, die Vertragsstaaten des IPBPR müssten dessen Garantien nicht nur auf ihrem Staatsgebiet beachten, sondern auch im Rahmen ihrer Teilnahme an friedenserhaltenden Einsätzen oder NATO-Militäreinsätzen. Daraus lässt sich schließen, dass Handlungen deutscher Soldaten in einem solchen Rahmen am Maßstab der menschenrechtlichen Verbürgungen des IPBPR gemessen werden können. - 71 - 5. 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