© 2019 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 - 116/19 Völkerrechtliche Aspekte der türkischen Militäroperation „Friedensquelle“ in Nordsyrien Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 116/19 Seite 2 Völkerrechtliche Aspekte der türkischen Militäroperation „Friedensquelle“ in Nordsyrien Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 116/19 Abschluss der Arbeit: 17. Oktober 2019 (zugleich letzter Zugriff auf Internetquellen) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 116/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 4 2. Selbstverteidigung 6 2.1. Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure 7 2.2. Bewaffneter Angriff und terroristische Bedrohungslage 8 3. Adana-Abkommen 10 4. Errichtung einer türkischen „Sicherheitszone“ in Nordsyrien 11 5. Völkerrechtliche Konsequenzen 12 6. Konsequenzen mit Blick auf den NATO-Bündnisfall 13 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 116/19 Seite 4 1. Einführung Die Militäroffensive „Friedensquelle“ in Nordsyrien, die von der Türkei – wie im Vorfeld angekündigt – am 9. Oktober 2019 nach Abzug der amerikanischen Truppen gestartet wurde,1 weist hinsichtlich ihrer völkerrechtlichen Implikationen Ähnlichkeiten mit der Operation „Olivenzweig “ vom Januar 2018 in der nordsyrischen Region Afrin auf.2 In beiden Fällen geht es um die Reichweite des als Rechtfertigung für den Militäreinsatz geltend gemachten Selbstverteidigungsrechts nach Art. 51 VN-Charta. Rechtlich dreht es sich um die Frage, ob bereits eine latente, nicht näher spezifizierte terroristische Bedrohungslage durch nicht-staatliche Akteure (kurdische Milizen) eine Selbstverteidigungssituation zugunsten der Türkei begründet (vgl. dazu 2.). Zum anderen steht die völkerrechtliche Zulässigkeit der Errichtung einer türkischen „Sicherheitszone“ in Nordsyrien als eine notwendige und angemessene Reaktion auf die vorgebliche Bedrohung der Türkei in Frage (dazu 4.). Bereits anlässlich der Operation „Olivenzweig“ sind Zweifel geäußert worden, ob der Bekämpfung der Kurden in Nordsyrien durch die Türkei eine völkerrechtlich hinreichende Selbstverteidigungslage – also insbesondere eine aktuelle Bedrohung durch die Kurdenmiliz YPG – zugrunde liegt und ob die Einrichtung einer „Pufferzone“ als angemessene Reaktion darauf zu werten ist.3 1 SPIEGEL online vom 10. Oktober 2019, „Türkei startet Bodenoffensive in Nordsyrien“, https://www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-angriff-tuerkische-truppen-ueberqueren-grenze-mindestens-15- tote-a-1290789.html. ZEIT online vom 8. Oktober 2019, „Türkische Offensive in Syrien: Das wird ein Ethnozid", https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-10/tuerkei-syrien-offensive-militaer-afrin/komplettansicht. „Türkei meldet Eroberung in Nordsyrien“, DW vom 12. Oktober 2019, https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkeimeldet -eroberung-in-nordsyrien/a-50806988. 2 Zur Operation „Olivenzweig“ und zur Präsenz der Türkei in Nordsyrien vgl. u.a. Gutachten der Wiss.-Dienste: WD 2 - 3000 - 014/18 vom 31. Januar 2018, „Hintergründe zum bewaffneten Konflikt zwischen der Türkei und der kurdischen YPG in Nordsyrien“, https://www.bundestag.de/resource/blob/547178/23589edfdf984cb8c3c4c7d87a477da5/wd-2-014-18-pdfdata .pdf. WD 2 - 3000 - 023/18 vom 7. März 2018, „Völkerrechtliche Bewertung der „Operation Olivenzweig“ der Türkei gegen die kurdische YPG in Nordsyrien“, https://www.bundestag.de/resource/blob/546854/07106ad6d7fc869307c6c7495eda3923/wd-2-023-18-pdfdata .pdf. WD 2 - 3000 - 183/18 vom 21. Dezember 2018, „Zur völkerrechtlichen Einordnung der türkischen Militärpräsenz in Nordsyrien“, https://www.bundestag.de/resource/blob/585604/b77977d691aea7746510ae7b9ab6ffcc/wd-2-183-18-pdfdata .pdf. WD 2 - 3000 - 008/18 vom 2. Februar 2018, „Der türkische Militäreinsatz in Nordsyrien: Völker- und rüstungsexportrechtliche Aspekte“, https://urbis.europarl.europa.eu/urbis/sites/default/files/generated/document/ol/wd-2-008-18-pdf-data.pdf. 3 So etwa Anne Peters, „Offensive gegen Kurden: Verstößt die Türkei gegen das Völkerrecht?“, in: FAZ vom 23. Januar 2018, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/syrien-verstoesst-die-tuerkei-gegen-dasvoelkerrecht -15412253.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 116/19 Seite 5 Anders als bei der Operation „Olivenzweig“ im Jahre 2018 beruft sich die Türkei zur Rechtfertigung ihres militärischen Vorgehens („Operation Friedensquelle“) in Nordsyrien auch auf das Adana-Abkommen mit Syrien aus dem Jahre 1998 (dazu 3.). Die Operation „Friedensquelle“ ist in den Medien überwiegend als völkerrechtswidrig verurteilt worden.4 Die Staatengemeinschaft, darunter nicht zuletzt die USA, hat den Einsatz in sicherheitspolitischer , humanitärer und militärischer Hinsicht massiv kritisiert, blieb aber hinsichtlich einer völkerrechtlichen Verurteilung des türkischen Vorgehens doch eher verhalten.5 Die Zurückhaltung der Staatengemeinschaft in dieser Hinsicht erscheint insoweit bedauerlich, als die völkerrechtliche Konturierung des auch gewohnheitsrechtlich geltenden Selbstverteidigungsrechts ja nicht allein durch den IGH oder den VN-Sicherheitsrat, sondern in erster Linie auch durch eine dezidierte Rechtsauffassung (opinio iuris) der Staatengemeinschaft erfolgt.6 Deutschland hat in rechtlicher Hinsicht zumindest „Zweifel an der völkerrechtlichen Legitimation“ des türkischen Vorgehens geäußert.7 Die im VN-Sicherheitsrat vertretenen EU-Mitgliedstaaten beantragten Sondersitzungen, um über das türkische Vorgehen in Nordsyrien zu beraten.8 4 ZEIT online vom 11. Oktober 2019, „Die Türkei hat das Völkerrecht nicht auf ihrer Seite“, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-10/nordsyrien-offensive-tuerkei-konflikt-krieg-voelkerrechtswidrig/. Wiener Zeitung vom 10. Oktober 2019, „Die Türkei bricht mit ihrem Syrien-Einsatz Völkerrecht“, https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/welt/2033254-Die-Tuerkei-bricht-mit-ihrem-Syrien-Einsatz- Voelkerrecht.html. Welt online vom 16. Oktober 2019, „Verstößt Erdogan gegen das Völkerrecht?“, https://www.welt.de/politik/ausland/article201990480/Tuerkische-Offensive-Verstoesst-Erdogan-gegen-das- Voelkerrecht.html. 5 Zu einer expliziten rechtlichen Verurteilung der türkischen Militäroffensive hat sich aus dem Kreis der NATO- Staaten – soweit ersichtlich – allein Griechenland durchgerungen, https://www.mfa.gr/en/currentaffairs /statements-speeches/ministry-of-foreign-affairs-announcement-on-turkeys-military-operations-insyria .html. 6 Kritisch insoweit auch Kreß, Claus, “A Collective Failure to Prevent Turkey’s Operation ‘Peace Spring’ and NATO’s Silence on International Law”, EJIL: Talk!, Blog of the European Journal of International Law, 14. Oktober 2019, http://www.ejiltalk.org/a-collective-failure-to-prevent-turkeys-operation-peace-spring-and-natossilence -on-international-law/. Ein restriktives Verständnis des Selbstverteidigungsrechts ergibt sich etwa aus der 2016 veröffentlichten „Plea Against the Abusive Invocation of Self-Defence as a Response to Terrorism“, https://www.mpil.de/files/pdf4/Aplea -against-the-abusive-invocation-of-self-defence.pdf; vgl. dazu den Beitrag von Olivier Corten, “A Plea Against the Abusive Invocation of Self-Defence as a Response to Terrorism”, EJIL: Talk !, Blog of the European Journal of International Law, 14. Juli 2016, https://www.ejiltalk.org/a-plea-against-the-abusive-invocation-ofself -defence-as-a-response-to-terrorism/. 7 Vgl. Deutschlandfunk vom 14. Oktober 2019, https://www.deutschlandfunk.de/auswaertiges-amt-zweifel-anlegitimation -der-tuerkischen.2932.de.html?drn:news_id=1059281. 8 DW vom 10. Oktober 2019, „EU-Staaten im UN-Sicherheitsrat fordern Ende der türkischen Militäraktion“, https://www.dw.com/de/eu-staaten-im-un-sicherheitsrat-fordern-ende-der-t%C3%BCrkischenmilit %C3%A4raktion/a-50786689. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 116/19 Seite 6 In den Sitzungen des VN-Sicherheitsrats vom 11. und 16. Oktober 2019 wurde jedoch keine Resolution verabschiedet, welche die türkische Militäroperation in Nordsyrien explizit verurteilt .9 Weder 2018 (Operation „Olivenzweig“) noch 2019 (Operation „Friedensquelle“) lag bzw. liegt eine Zustimmung der syrischen Zentralregierung zum türkischen Vormarsch gegen die Kurden in Nordsyrien vor. Anders als 2018 suchen die kurdischen Milizen derzeit jedoch notgedrungen den politischen und militärischen Schulterschluss zum syrischen Assad-Regime.10 Mit der Verlegung staatlicher syrischer Truppen in den kurdisch kontrollierten Norden11 und einem Aufeinandertreffen von türkischen mit syrischen Truppen – was Russland durch den Einsatz eigener Patrouillen im Kurdengebiet zu verhindern sucht12 – gerät der Konflikt zwischen der Türkei und den Kurdenmilizen völkerrechtlich zu einem internationalen bewaffneten Konflikt zwischen der Türkei und Syrien.13 Ob ein solcher Konflikt den NATO-Bündnisfall auszulösen vermag, soll abschließend untersucht werden (dazu 6.). 2. Selbstverteidigung In der förmlichen Erklärung der Türkei vom 9. Oktober 2019 an den VN-Sicherheitsrat14 beruft sich die Türkei auf das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 VN-Charta:15 9 Deutschlandfunk vom 16. Oktober 2019, „UNO-Sicherheitsrat besorgt über Lage im Nordosten Syriens“, https://www.deutschlandfunk.de/syrien-uno-sicherheitsrat-besorgt-ueber-lage-imnordosten .2932.de.html?drn:news_id=1060036 10 Tagesschau online vom 14. Oktober 2019, „Kämpfe in Nordsyrien: Kurden suchen Hilfe bei Assad“, https://www.tagesschau.de/ausland/syrien-tuerkei-151.html. 11 DW online vom 14. Oktober 2019, „Syrische Truppen stehen vor türkischer Grenze“, https://www.dw.com/de/syrische-truppen-stehen-vor-t%C3%BCrkischer-grenze/a-50822828. Welt online vom 16. Oktober 2019, „Tote bei Gefechten zwischen Assad-Truppen und Türkei“, https://www.welt.de/politik/ausland/article201978618/Krieg-in-Syrien-Tote-bei-Gefechten-zwischen-Assad- Truppen-und-Tuerkei.html. 12 FAZ vom 16. Oktober 2019, S. 1, „Moskau: Werden Zusammenstoß zwischen Türkei und Syrien verhindern“. 13 Vgl. DW online vom 15. Oktober 2019, „Türkei-Offensive: Wer kämpft gegen wen in Nordsyrien?“, https://www.dw.com/de/wer-k%C3%A4mpft-gegen-wen-in-nordsyrien/a-50826684. 14 Letter dated 9 October 2019 from the Permanent Representative of Turkey to the United Nations addressed to the President of the Security Council, https://undocs.org/S/2019/804. 15 Art. 51 VN-Charta lautet: „Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 116/19 Seite 7 „Turkey initiated Operation Peace Spring on 9 October 2019, in line with the right of self-defense as outlined in Article 51 of the Charter of the United Nations, to counter the imminent terrorist threat, to ensure Turkey’s border security, to neutralize terrorists starting from along the border regions adjacent to Turkish territory and to liberate Syrians from the tyranny of PKK’s Syrian branch, PKK/PYD/YPG, as well as Deash. Turkey’s national security has been under the direct and imminent threat of terrorist organizations operating in the east of the Euphrates in Syria, among which Deash and PKK/PYD/YPG are at the forefront (…). In particular, PKK/PYD/YPG units close to Turkish borders in the north-east of Syria, continue to be a source of direct and imminent threat as they opened harassment fire on Turkish border posts, by also using snipers and advanced weaponry such as anti-tank guided missiles (…).” 2.1. Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure Völkerrechtlich vehement diskutiert wird die Frage, ob und inwieweit sich das Selbstverteidigungsrecht aus Art. 51 VN-Charta gewohnheitsrechtlich auch für die Abwehr von Angriffen durch nicht-staatliche Akteure bzw. Terrororganisationen geöffnet hat.16 Einigkeit besteht mittlerweile wohl darüber, dass das Selbstverteidigungsrecht gegen nicht-staatliche Akteure jedenfalls in den Fällen zulässig ist, in denen diese (wie etwa die YPG-Milizen in den kurdischen Autonomiegebieten) eine territorial verfestigte Hoheitsgewalt ausüben. So hat unlängst auch das BVerfG in seinem Beschluss zum deutschen Tornado-Einsatz gegen den sogenannten „IS“ in Syrien ausgeführt:17 „Der Wortlaut des Art. 51 VN-Charta sperrt sich grundsätzlich nicht gegen die Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure als Urheber eines bewaffneten Angriffs. Auch ein vollständiges Verbot nachteiliger Auswirkungen von Selbstverteidigungshandlungen auf andere Rechtsträger, wie etwa Staaten, von deren Gebiet aus territorial verfestigte nichtstaatliche Akteure agieren, ergibt sich aus dem Wortlaut nicht. Die von der Antragstellerin gerügte weite Auslegung des Art. 51 VN-Charta widerspricht auch nicht dem Sinn und Zweck der Norm, die letztlich die fortbestehende Möglichkeit der VN-Mitgliedstaaten verbrieft, sich trotz ihrer Verpflichtung zur umfassenden Achtung des Gewaltverbots gegen Angriffe, gleich von wem sie ausgehen, verteidigen zu können (statt vieler Dau, Die völkerrechtliche Zulässigkeit von Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure, 2018, S. 64 f.; 16 Vgl. dazu u.a. International Law Association, Sydney Conference (2018), Final Report on the Use of Force, B.2.c., http://www.ila-hq.org/images/ILA/DraftReports/DraftReport_UseOfForce.pdf. Finke, Jasper, Selbstverteidigungsrecht gegen nichtstaatliche Akteure, Archiv des Völkerrechts 2017, S. 1-42. Stein/Buttlar, Völkerrecht, München, 14. Aufl. 2017, § 52 Rdnr. 841 ff. Starski, Paulina, Right to Self-Defense, Attribution and the Non-State Actor, ZaöRV 2015, S. 455-501, http://www.zaoerv.de/75_2015/75_2015_3_a_455_502.pdf. Randelzhofer/Nolte, in: Simma/Khan/Nolte/Paulus (Hrsg.), The Charter of the United Nations, A Commentary, Vol. II, Oxford 2012, Art. 51 Rdnr. 41. Zweifellos ist das staatenzentrierte Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 VN-Charta seit den Attentaten von 11. September 2001 auch im Kontext nicht-staatlicher terroristischer Bedrohungen virulent geworden und u.a. durch die Resolutionen 1368 und 1373 (2001) des VN-Sicherheitsrates weiterentwickelt worden. 17 BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 17. September 2019 - 2 BvE 2/16, Rdnr. 50, https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Downloads/DE/2019/09/es20190917_2bve000216.pdf?_ _blob=publicationFile&v=1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 116/19 Seite 8 Finke, AVR 2017, S. 1; Moir, in: Weller, The Oxford Handbook of the Use of Force in International Law, 2015, S. 720 ; Thiele, Auslandseinsätze der Bundeswehr zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus, 2011, S. 166 ff.; Lowe, International Law, 2007, S. 278; Bruha, AVR 2002, S. 383 ). Dass derartige Bedrohungen in der Vergangenheit hauptsächlich von zwischenstaatlichen Konflikten ausgingen, beschreibt nur die historischen Gegebenheiten, erzwingt aber nicht die Beschränkung des Selbstverteidigungsrechts auf Angriffe staatlicher Akteure. Es erscheint daher zumindest vertretbar, Angriffe nichtstaatlicher Akteure als in den Sinn und Zweck des Selbstverteidigungsrechts, eine effektive Verteidigung bis zum Tätigwerden des Sicherheitsrats zu ermöglichen , einbezogen anzusehen.“ Somit lässt sich festhalten, dass Selbstverteidigungshandlungen gegen nicht-staatliche Akteure wie die kurdischen YPG-Milizen völkerrechtlich grundsätzlich zulässig sind. 2.2. Bewaffneter Angriff und terroristische Bedrohungslage Ein Staat, welcher sich auf das Selbstverteidigungsrecht beruft, muss – ungeachtet eines gewissen sicherheitspolitischen Einschätzungsspielraums – bestimmte Tatsachen vortragen und ggf. beweisen, welche den Tatbestand des Selbstverteidigungsrechts begründen.18 Dazu gehört, dass ein bewaffneter Angriff gegenwärtig stattfindet, noch andauert oder unmittelbar bevorsteht. An die dem Staat obliegende substantiierte Darlegung sind, um Missbrauch vorzubeugen, umso höhere Anforderungen zu stellen, als es sich nicht um ein „klassisches“ zwischenstaatliches Angriffsszenario handelt, sondern um eine (potentielle) grenzüberschreitende terroristische Bedrohungslage . Dieser Darlegungs- und Beweispflicht hinsichtlich einer akuten Selbstverteidigungslage ist die Türkei (bislang) jedoch nicht hinreichend nachgekommen.19 Ähnlich wie vor der Operation „Olivenzweig“ im Jahre 2018 ist auch im Vorfeld der Operation „Friedensquelle“ in den Medien nichts über singuläre grenzüberschreitende Vorfälle, welche die Intensitätsschwelle zu einem „bewaffneten Angriff“ im Sinne des Art. 51 VN-Charta erreichen – bloße „Grenzscharmützel“, sogenannte „measures short of war“, reichen dazu nicht aus – berichtet geworden. 18 IGH, Urteil vom 19.12.2005 - Armed Activities on the Territory of the Congo (Democratic Republic of the Congo vs. Uganda), para. 146, https://www.icj-cij.org/en/case/116. Ebenso Schwarz, Alexander, „Regelbasierte Weltordnung unter Beschuss: Die Invasion der Türkei in Nordsyrien verstößt gegen Völkerrecht“, VerfBlog 11. Oktober 2019, https://verfassungsblog.de/regelbasierte-weltordnungunter -beschuss/. 19 So auch Kreß, Claus, “A Collective Failure to Prevent Turkey’s Operation ‘Peace Spring’ and NATO’s Silence on International Law”, EJIL: Talk!, Blog of the European Journal of International Law, 14. Oktober 2019, http://www.ejiltalk.org/a-collective-failure-to-prevent-turkeys-operation-peace-spring-and-natos-silence-oninternational -law/. Schwarz, Alexander, „Regelbasierte Weltordnung unter Beschuss: Die Invasion der Türkei in Nordsyrien verstößt gegen Völkerrecht“, VerfBlog 11. Oktober 2019, https://verfassungsblog.de/regelbasierte-weltordnungunter -beschuss/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 116/19 Seite 9 Auch dass ein solcher Angriff (nach den restriktiven völkerrechtlichen Vorgaben für eine „präventiven Verteidigung“20) „unmittelbar bevorstünde“, lässt sich nicht erkennen und ist von der Türkei so auch nicht vorgetragen worden. Schließlich finden sich in dem Schreiben der Türkei vom 9. Oktober 2019 keinerlei Hinweise darauf, dass sich die Türkei auf die (völkerrechtlich freilich nicht unumstrittene21) „unable-andunwilling -Doktrin“ beruft – also darauf, dass Syrien einen nicht-staatlichen Akteur auf dessen Territorium (also die kurdischen Milizen in Nordsyrien) nicht davon abhalten würde bzw. könne, in großem Maße grenzüberschreitende Angriffe gegen die Türkei auszuführen. Der Begriff „bewaffneter Angriff“ (armed attack), der gemäß Art. 51 VN-Charta das Selbstverteidigungsrecht auszulösen vermag, taucht in dem Schreiben der Türkei vom 9. Oktober an den VN- Sicherheitsrat bezeichnenderweise gar nicht auf. Wie schon anlässlich der Operation „Olivenzweig “ im Januar 201822 beruft sich die Türkei einmal mehr auf eine bloß latente, wenn auch andauernde Bedrohung durch terroristische Organisationen – das Schreiben vom 9. Oktober 2019 spricht von „breeding ground for various terrorist organizations“ bzw. Von „direct and imminent threat of terrorist organizations“ – zu denen die Türkei auch die kurdischen Milizen der YPG zählt. Zwar wird in der Völkerrechtswissenschaft die Frage diskutiert, ob sich auch einzelne punktuelle Übergriffe und Grenzverletzungen, die für sich betrachtet die Schwelle zu Art. 51 VN-Charta noch nicht erreichen, zu einer „Angriffsserie“ kumulieren können23 („Nadelstichtaktik “, accumulation of events-Doktrin). Doch zeigt sich die Staatenpraxis hinsichtlich der Frage eines „kumulierten Angriffs“ im Rahmen des Art. 51 VN-Charta doch eher zurückhaltend und weitgehend uneinheitlich. Eine klare gewohnheitsrechtliche Geltung dieser „Rechtsfigur“ lässt 20 Vgl. dazu Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München: Beck, 7. Aufl. 2018, § 56 Rdnr. 15 ff. 21 Insoweit kritisch Jon Heller, The “Unwilling or Unable” Standard for Self-Defense, http://opiniojuris.org/2011/09/17/the-unwilling-or-unable-standard-for-self-defense-against-non-state-actors/. Craig, Martin, “Challenging and Refining the ´Unwilling or Unable` Doctrine”, in: Vanderbilt Journal of Transnational Law 2019, S. 387-461, https://www.vanderbilt.edu/jotl/wp-content/uploads/sites/78/7.20Martin20.pdf. Bethlehem, Daniel L., “Self-defense against an imminent or actual armed attack by non-state actors”, in: American Journal of International Law (AJIL) Vol. 106 (2012), No. 4, S. 770-777. 22 Vgl. Dok. S/2018/53, “Identical Letters dated 20 January 2018 from the Chargé d’affaires of the Permanent Mission of Turkey to the United Nations” vom 22.1.2018, https://undocs.org/en/S/2018/53. 23 Vgl. Stein/v. Buttlar/Kotzur, Völkerrecht, München: Vahlen, 14. Aufl. 2017, § 52 Rdnr. 841 ff. Randelzhofer/Nolte, in: Simma/Khan/Nolte/Paulus (Hrsg.), The Charter of the United Nations. A Commentary, Vol. II, Oxford 2012, Art. 51 Rdnr. 41. Gutachten WD 2 - 3000 - 023/18 vom 7. März 2018, „Völkerrechtliche Bewertung der „Operation Olivenzweig“ der Türkei gegen die kurdische YPG in Nordsyrien“, S. 10. Zu dieser Frage vgl. auch IGH, Urteil vom 19.12.2005 - Armed Activities on the Territory of the Congo (Democratic Republic of the Congo vs. Uganda), para. 146. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 116/19 Seite 10 sich jedenfalls nicht ohne weiteres ausmachen.24 Die Türkei geht in ihrem Schreiben an den Sicherheitsrat vom 9. Oktober offenbar nicht davon aus, dass die behaupteten terroristischen Aktionen (snipers, der Schmuggel von Explosivwaffen in die Türkei u.a.m.), welche als „harassment fire on Turkish border posts“ bezeichnet werden, zusammen genommen einen „bewaffneten Angriff“ darstellen. Eine „Bedrohung“ (imminent threat), auf welche die Türkei abstellt, begründet aber noch keinen „Angriff“. Ebenso wenig existiert ein generelles unbeschränktes „Dauerselbstverteidigungsrecht.“25 Im Ergebnis lässt sich selbst bei großzügiger Auslegung des Selbstverteidigungsrechts eine akute Selbstverteidigungslage im Sinne des Art. 51 VN-Charta zugunsten der Türkei nicht erkennen. 3. Adana-Abkommen Anders als bei der Operation „Olivenzweig“ im Jahre 2018 beruft sich die Türkei zur Rechtfertigung ihrer Militäroffensive „Friedensquelle“ auf das Adana-Abkommen vom 20. Oktober 1998.26 In dem Schreiben der Türkei vom 9. Oktober 2019 an den VN-Sicherheitsrat heißt es: “Besides, the Adana agreement signed on 20 October 1998 by the Republic of Turkey and the Syrian Arab Republic constitutes a contractual basis for my country to fight all kinds of terrorism emanating from Syrian territory in its hideouts and in an effective and timely manner.” Das Abkommen von Adana vom 20. Oktober 1998 zwischen der Türkischen Republik und der Arabischen Republik Syrien regelt die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Terrorismus. Der Vertrag wurde unter dem Eindruck der Terrorbedrohung der Türkei durch die PKK Ende der 1990er Jahre verabschiedet und offenbar im Dezember 2010 nochmals in einigen Punkten ergänzt .27 Das Abkommen verpflichtet die Unterzeichner zu enger Kooperation im Kampf gegen 24 So Schwarz, Alexander, „Schwerpunktbereichsklausur: Frieden für Afrin? Völkerrechtliche Probleme unilateraler Gewalt“, in: Zeitschrift für das Juristische Studium, 5/2018, S. 434-442 (438), http://www.zjsonline .com/dat/artikel/2018_5_1244.pdf. 25 Zur Diskussion um einen “ongoing armed attack“, der wegen der drohenden Konturenlosigkeit des Selbstverteidigungsrechts und der potentiellen Missbrauchsgefahr ausgesprochen umstritten ist, vgl. Stein/ v. Buttlar / Kotzur, Völkerrecht, München: Vahlen, 14. Aufl. 2017, Rdnr. 848. 26 Das Adana-Abkommen ist in türkischer Sprache abgedruckt in der Hürriyet vom 21. Oktober 1998 sowie online unter: https://www2.tbmm.gov.tr/d23/1/1-1009.pdf. Eine nicht-amtliche englische Übersetzung der „Minutes of the Agreement Signed by Turkey and Syria in Adana - 20 October 1998” findet sich auf der Homepage des türkischen Außenministeriums, http://www.mafhoum.com/press/50P2.htm. 27 Zu den geschichtlichen Hintergründen und sicherheitspolitischen Implikationen des Adana-Abkommens vgl. Zeynep Oktav Alantar, “The October 1998 Crisis: The Change of Heart of Turkish Foreign Policy towards Syria?”, in: CEMOTI (Cahiers d´étude sur la Méditerranée orientale et le monde turco-iranien) N° 31, 2001, S. 141-162 (145 ff.), https://www.persee.fr/doc/cemot_0764-9878_2001_num_31_1_1575. Mahmut Bali Aykan, “The Turkish-Syrian Crisis of October 1998: A Turkish View”, in: Middle East Policy Journal 1999, Vol. VI, No. 4, https://www.mepc.org/journal/turkish-syrian-crisis-october-1998-turkish-view. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 116/19 Seite 11 den Terrorismus und sieht dazu die Ernennung von Sonderbeauftragten sowie hochrangige Kontakte zwischen den Militärs beider Staaten vor. Syrien verpflichtet sich, keine PKK-Aktivitäten auf seinem Territorium zu dulden.28 Nichts in dem Adana-Abkommen deutet jedoch darauf hin, dass die Unterzeichnerstaaten in territoriale Souveränitätsabtretungen, weiträumigen „Sicherheitszonen“ oder faktischen Besetzungen der jeweils anderen Seite vertraglich eingewilligt hätten. Ein Recht zur unilateralen „Invasion“ ergibt sich aus dem Adana-Abkommen nicht.29 Dies bestätigt nicht zuletzt die vehemente syrische Reaktion auf den türkischen Vormarsch.30 Das Adana-Abkommen schafft, wie der ehemaliger Leiter der Nachrichtenabteilung im Generalstab der Türkei İsmail Hakkı Pekin gegenüber dem Internetportal der Deutschen Welle Qantara.de erklärt hat,31 die Grundlage für eine Zusammenarbeit, aber nicht für (türkische) Alleingänge auf fremdem Territorium. 4. Errichtung einer türkischen „Sicherheitszone“ in Nordsyrien Mangels Vorliegen einer Selbstverteidigungslage lässt sich in der Errichtung einer türkischen „Sicherheitszone“ in Nordsyrien auch keine völkerrechtlich zulässige Selbstverteidigungshandlung sehen. Selbst für den (hypothetischen) Fall, dass eine Selbstverteidigungslage bestünde, lassen Kommentierungen in den Völkerrechtsblogs keinen Zweifel an der Unangemessenheit der türkischen Militäroperation.32 Zwar sind Verteidigungshandlungen eines Staates rechtlich nicht darauf beschränkt, gegnerische Streitkräfte von dem eigenen Territorium zurückzudrängen; erlaubt sind vielmehr auch ein Vorrücken auf gegnerisches Territorium sowie der massive Einsatz militärischer Gewalt.33 28 “Syria, on the basis of the principle of reciprocity, will not permit any activity which emanates from its territory aimed at jeopardizing the security and stability of Turkey. Syria will not allow the supply of weapons, logistic material, financial support to and propaganda activities of the PKK on its territory.” 29 So auch Kreß, Claus, “A Collective Failure to Prevent Turkey’s Operation ‘Peace Spring’ and NATO’s Silence on International Law”, EJIL: Talk!, Blog of the European Journal of International Law, 14. Oktober 2019, http://www.ejiltalk.org/a-collective-failure-to-prevent-turkeys-operation-peace-spring-and-natos-silence-oninternational -law/. Ähnlich im Ergebnis die Einschätzung einer Analyse der Rosa Luxemburg Stiftung vom April 2019, „Syrien: Türkische Invasion oder Abkommen mit Damaskus?“, https://www.rosalux.de/publikation/id/40359/syrien-tuerkische-invasion-oder-abkommen-mit-damaskus/. 30 Die syrische Regierung habe das Vorgehen der Türkei als „ungeheuerliche Aggression“ gegen die Souveränität und territoriale Integrität Syriens zurückgewiesen. Die Pläne der „Besatzer Türkei“ seien „eine schamlose Verletzung des Völkerrechts und der UN-Charta“, hieß es im Außenministerium in Damaskus. 31 Vgl. Quantara.de vom 8. Februar 2019, „Der Syrienkonflikt aus geopolitischer Sicht: Erdoğan ins Boot holen“, https://de.qantara.de/inhalt/der-syrienkonflikt-aus-geopolitischer-sicht-erdoğan-ins-boot-holen. 32 So Schwarz, Alexander, „Regelbasierte Weltordnung unter Beschuss: Die Invasion der Türkei in Nordsyrien verstößt gegen Völkerrecht“, VerfBlog 11. Oktober 2019, https://verfassungsblog.de/regelbasierte-weltordnungunter -beschuss/. 33 Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München: Beck, 7. Aufl. 2018, § 56 Rdnr. 33. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 116/19 Seite 12 Eine nachfolgende Besetzung und Errichtung einer bis zu 30 Kilometer tiefen „Sicherheitszone“ – die angesichts sechsstelliger Flüchtlingszahlen34 praktisch eine Art „Bevölkerungsverschiebung “ (quasi eine „ethnische Flurbereinigung“) in den nordsyrischen Kurdengebieten nach sich zieht bzw. diese zwecks Ansiedlung syrischer Flüchtlinge in den besetzten Gebieten nachgerade intendiert35 – geht jedoch über das zur Abwehr etwaiger Angriffe erforderliche Maß hinaus. Besatzungsrechtlich sind jegliche Formen der Umsiedlung geschützter Personen in besetzten Gebieten untersagt (vgl. Art. 49 der 4. Genfer Konvention von 1949).36 Vereinzelt ist ein gewisses Verständnis für die türkischen Sicherheitsinteressen an seiner Südgrenze geäußert worden, insbesondere mit Blick auf die Flüchtlingssituation vor Ort.37 Dieser Situation trägt auch das Schreiben der Türkei vom 9. Oktober 2019 an den VN-Sicherheitsrat Rechnung.38 Doch bleiben militärische Schritte, welche die territoriale Integrität Syriens verletzen , in jedem Falle unverhältnismäßig. 5. Völkerrechtliche Konsequenzen Mangels erkennbarer Rechtfertigung stellt die türkische Offensive im Ergebnis offensichtlich einen Verstoß gegen das Gewaltverbot aus Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta dar. Nachdem die Vertragsstaaten des Römischen Statuts im Dezember 2017 die Jurisdiktion des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) in Bezug auf das Aggressionsverbrechen (crime of aggression) ausgedehnt haben,39 kann der IStGH nun gemäß Art. 15ter des Römischen Statuts auch über die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit von staatlichen Führungsorganen in Bezug auf das Verbrechen der Aggression entscheiden. Der Völkerstrafrechtler Claus Kreß sieht daher die rechtliche Möglichkeit zu Vorermittlungen gegen den türkischen Präsidenten Erdoğan wegen der 34 Vgl. DW vom 15. Oktober 2019, „Flüchtlingswelle in Nordsyrien wird immer größer“ (nach UN-Angaben wurden bereits mindestens 190.000 Menschen vertrieben), https://www.dw.com/de/fl%C3%BCchtlingswelle-innordsyrien -wird-immer-gr%C3%B6%C3%9Fer/a-50845282. 35 Welt online vom 20. Juni 2018, „Erdogan ordnet den Bevölkerungsaustausch an“, https://www.welt.de/politik/ausland/article177864174/Nordsyrien-Erdogan-ordnet-den- Bevoelkerungsaustausch-an.html. 36 Näher Gasser, Hans-Peter / Melzer, Nils, Humanitäres Völkerrecht, Zürich: Schulthess, 2. Aufl. 2012, S. 142. 37 Vgl. etwa Interview mit dem Politologen Johannes Varwick, „Türkei-Syrien-Offensive: Schwere Krise der internationalen Sicherheitspolitik“, Deutschlandfunk vom 14. Oktober 2019, https://www.deutschlandfunk.de/tuerkische-syrien-offensive-schwere-kriseder .694.de.html?dram:article_id=460948. 38 In dem Schreiben heißt es: “Turkey will carry out this operation in support of efforts to facilitate the safe and voluntary return of displaced Syrians to their homes of origin or other places of their choice in Syria in line with international law and in coordination with relevant United Nations agencies (…).” 39 Vgl. zum Prozedere Ambos, Kai, Das Verbrechen der Aggression nach Kampala, in: Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik 2010, S. 649-668 (654), https://pdfdokument.com/das-verbrechen-der-aggression-nachkampala -zeitschrift-far-_59f8d7f21723dde18187ab88.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 116/19 Seite 13 Militäroperation „Friedensquelle“, sofern der VN-Sicherheitsrat gemäß Art. 13 lit. b) des Römischen Statuts den Fall an den IStGH überweisen sollte.40 6. Konsequenzen mit Blick auf den NATO-Bündnisfall In Politik und Medien ist die Sorge vor einer Involvierung der NATO in den bewaffneten Konflikt in Nordsyrien geäußert worden.41 Dahingehende Befürchtungen lassen sich – zumindest aus völkerrechtlicher Hinsicht – weitgehend zerstreuen. Der NATO-Bündnisfall ist in Art. 5 NATO-Vertrag42 geregelt, welcher lautet: „Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten. Der Vertragstext macht deutlich, dass eine automatische militärische Beistandspflicht nicht vorgesehen ist und jeder NATO-Partner frei über seine Beistandshandlung entscheidet.43 40 Kreß, Claus, “A Collective Failure to Prevent Turkey’s Operation ‘Peace Spring’ and NATO’s Silence on International Law”, EJIL: Talk!, Blog of the European Journal of International Law, 14. Oktober 2019, http://www.ejiltalk.org/a-collective-failure-to-prevent-turkeys-operation-peace-spring-and-natos-silence-oninternational -law/. 41 Tagesschau online vom 14. Oktober 2019, „Kämpfe in Nordsyrien: Die Sorge vor dem NATO-Bündnisfall“, https://www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-syrien-nato-105.html. Welt online v. 14. Oktober 2019, „Assads Truppen rücken an – Asselborn warnt vor Nato-Bündnisfall“, https://www.welt.de/politik/ausland/article201849258/Syrien-Assad-schickt-Truppen-Asselborn-warnt-vor- Nato-Buendnisfall.html. Welt online vom 15. Oktober 2019, „Was passiert, wenn Erdogan den Nato-Bündnisfall ausruft?“, https://www.welt.de/politik/ausland/plus201901816/Syrien-Offensive-Was-passiert-wenn-Erdogan-den-Nato- Buendnisfall-ausruft.html. Mercur.de vom 16. Oktober 2019, „Türkischer Einmarsch in Syrien: Muss Deutschland im NATO-Bündnisfall selbst Krieg führen?“, https://www.merkur.de/politik/tuerkei-offensive-in-nordsyrien-bei-nato-buendnisfallmuesste -deutsche-bundeswehr-kaempfen-zr-13117168.html. 42 Nordatlantikvertrag vom 4. April 1949, Text in deutscher Übersetzung online unter: https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_17120.htm?selectedLocale=de. 43 Geiger, Rudolf, Grundgesetz und Völkerrecht, München: Beck, 6. Aufl. 2013, § 66 (S. 341 f.). Ruffert/Walter, Institutionalisiertes Völkerrecht, München: Beck, 2. Aufl. 2015, § 11 Rdnr. 496. Als Beistandshandlung würde, wie es ein Völkerrechtler einmal scherzhaft formuliert hat, theoretisch auch ein Fax mit den Worten: „Wir beten für Euch“ genügen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 116/19 Seite 14 Der NATO-Bündnisfall muss überdies von allen 29 NATO-Mitgliedern im Konsens beschlossen werden.44 Angesichts der massiven Kritik einzelner NATO-Partner an der türkischen Militäroffensive ist ein solcher Konsens eher unwahrscheinlich. In rechtlicher Hinsicht spricht Art. 5 NATO-Vertrag relativ eindeutig von einem „Angriff“ auf einen Bündnispartner als Voraussetzung für den NATO-Bündnisfall. Dabei sind Angriffs- und Verteidigungshandlung sauber zu unterscheiden: Kommt es zu einer syrischen Gegenwehr gegen das türkische Vorrücken in Nordsyrien, wäre dies aus syrischer Sicht eine völkerrechtskonforme Verteidigungshandlung gegen eine völkerrechtswidrige Aggression der Türkei. Im Zuge dieser Verteidigungshandlung dürfte Syrien die türkischen Truppen sogar bis auf türkisches Gebiet zurückdrängen und dabei im Rahmen der Verhältnismäßigkeit militärische Gewalt gegen die Türkei anwenden. Solange eine (potentielle) syrische Verteidigung notwendig und verhältnismäßig bleibt, würde sie auch nicht in eine völkerrechtswidrige Angriffshandlung „umkippen“. Solange wären dann auch die rechtlichen Voraussetzungen für eine Feststellung des NATO- Bündnisfalles nicht gegeben. Sollte die Türkei aufgrund syrischer Gegenwehr den NATO-Rat konsultieren und auf ihr kollektives Beistandsrecht pochen, ließe sich auch über die Frage eines möglichen Rechtsmissbrauchs (im Kontext eines „provozierten Bündnisfalles“) diskutieren.45 Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang zudem an Art. 1 NATO-Vertrag, welcher lautet: „Die Parteien verpflichten sich, in Übereinstimmung mit der Satzung der VN, jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu regeln, dass der internationale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden, und sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der VN nicht vereinbar sind.“ *** 44 Vgl. etwa die Erklärung der Parlamentarischen Versammlung der NATO über die Transformation der NATO vom 21. November 2002, Punkt 2.6., https://www.bundestag.de/resource/blob/189206/c13576a00e2e26d0d160123060131cd9/erkl_istan-data.pdf. 45 Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher der SPD, schließt einen NATO-Bündnisfall im Zusammenhang mit dem türkischen Einmarsch in Nordsyrien deshalb aus. In Merkur.de („Türkischer Einmarsch in Syrien: Muss Deutschland im NATO-Bündnisfall selbst Krieg führen?“, https://www.merkur.de/politik/tuerkei-offensive-innordsyrien -bei-nato-buendnisfall-muesste-deutsche-bundeswehr-kaempfen-zr-13117168.html) wird er mit den Worten zitiert: „Wenn die Türkei völkerrechtswidrig in ein Nachbarland einmarschiert und dann in Kämpfe verwickelt wird, dann ist das kein Bündnisfall.“