Deutscher Bundestag Zur möglichen Ausrufung eines Staates Palästina Sachstand Wissenschaftliche Dienste WD 2 – 3000 – 116/11 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3000 – 116/11 Seite 2 Zur möglichen Ausrufung eines Staates Palästina Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 2 – 3000 – 116/11 Abschluss der Arbeit: 17. Juni 2011 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Telefon: + Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3000 – 116/11 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Bedeutung der Resolution „Uniting for Peace“ der Generalversammlung 4 3. Die Anerkennung von Staaten und das Verfahren zur Aufnahme neuer Mitglieder in die Vereinten Nationen 4 4. Mögliche Rückschlüsse aus der Anerkennung des Kosovo durch andere Staaten 5 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3000 – 116/11 Seite 4 1. Einleitung In Presseartikeln von Anfang Mai 2011 wurde berichtet, dass der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auffordern wolle , einen einseitig ausgerufenen Staat Palästina in den Grenzen von 1967 anzuerkennen, wenn bis zum Herbst 2011 keine Verhandlungen mit Israel über die Gründung eines solchen Staates aufgenommen werden könnten.1 In einem Meinungsbeitrag vom 16. Mai in der New York Times ist dies dahingehend präzisiert worden, dass zu diesem Zeitpunkt auch um Aufnahme in die Vereinten Nationen ersucht werden solle.2 Im Falle eines erwarteten Vetos durch die USA solle dann auf die sogenannte „Uniting for Peace“-Resolution aus dem Jahr 1950 zurückgegriffen werden, um einen Beschluss der Generalversammlung über die Anerkennung zu erreichen.3 2. Bedeutung der Resolution „Uniting for Peace“ der Generalversammlung Mit ihrer Resolution 377 (V) vom 3. November 1950 („Uniting for Peace“-Resolution) beansprucht die Generalversammlung die Kompetenz, in Fällen internationaler Konflikte und zur Wahrung des Weltfriedens tätig zu werden, wenn der zuvörderst hierzu aufgerufene Sicherheitsrat aufgrund eines Vetos nicht handlungsfähig ist. Zudem wird niedergelegt, unter welchen Voraussetzungen die Generalversammlung außerordentliche Dringlichkeitssitzungen abhalten kann. Von dieser Möglichkeit hat die Generalversammlung im Laufe der Zeit wiederholt Gebrauch gemacht .4 So wurde auch die Anforderung des Gutachtens des Internationalen Gerichtshofs zur Rechtmäßigkeit des Mauerbaus in den durch Israel besetzten Gebieten im Rahmen einer Dringlichkeitssitzung beschlossen. In seinem Gutachten hat der IGH diese Verfahrenspraxis gebilligt.5 3. Die Anerkennung von Staaten und das Verfahren zur Aufnahme neuer Mitglieder in die Vereinten Nationen Die Anerkennung eines Staates ist aus völkerrechtlicher Sicht ein Rechtsinstrument, mit dem der anerkennende Staat unter anderem erklärt, dass die objektiven Voraussetzungen für die Existenz 1 Monath/Nüsse, Palästinenserstaat entzweit Berlin und Paris, in: Der Tagesspiegel, v. 5.5.2011, S. 4. 2 Abbas, The Long Overdue Palestinian State, NY Times Op-Ed v. 16. Mai 2011. 3 Monath/Nüsse (Fn. 1). 4 Ausführlich zum Ganzen Binder, Uniting for Peace Resolution (1950), in Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, online edition http://www.mpepil.com. 5 IGH, Consequences of the Construction of a Wall on the Occupied Palestinian Territory (Advisory Opinion), ICJ Reports 2004, 136. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3000 – 116/11 Seite 5 des anerkannten Staates vorliegen.6 Auf diesem Wege können auch Zweifel hierüber zwischen den Beteiligten ausgeräumt werden.7 Eine Anerkennung in diesem Sinne können einzelne Organe der Vereinten Nationen nicht unmittelbar aussprechen. Eine etwaige politische Resolution, die eine Anerkennung befürwortet, hätte keine völkerrechtliche Verbindlichkeit für die Staaten. Ein Aspekt für die Beurteilung der völkerrechtlichen Lage ist allerdings die Praxis internationaler Organisationen mit Blick auf die Aufnahme neuer Mitglieder. Der Praxis der Vereinten Nationen kommt hierbei besondere Relevanz zu. Ein in die Vereinten Nationen aufgenommener Staat wäre von allen ihren Mitgliedern als Staat zu behandeln.8 Nach Art. 4 Abs. 2 der Charta der Vereinten Nationen (VN-Charta) erfolgt die Aufnahme neuer Mitglieder auf Empfehlung des Sicherheitsrats durch Beschluss der Generalversammlung. Die Empfehlung des Sicherheitsrats ist zwingende Voraussetzung für die Aufnahme eines Staates und unterliegt nach Art. 27 Abs. 3 VN-Charta dem Vetorecht der ständigen Mitglieder.9 Der Internationale Gerichtshof hat zudem den erheblichen Spielraum der Mitglieder des Sicherheitsrats bei der Anwendung der Aufnahmekriterien betont.10 Liegt eine Empfehlung des Sicherheitsrats vor, so erfordert die Aufnahme eines neuen Mitglieds einen Beschluss der Generalversammlung, welcher einer Zweidrittelmehrheit der anwesenden und abstimmenden Staaten bedarf (Art. 18 Abs. 2 VN-Charta). Vor diesem Hintergrund ist eine Übertragung der „Uniting for Peace“-Resolution auf das Aufnahmeverfahren nicht möglich. Unabhängig von der Durchführung eines Aufnahmeverfahrens könnten sich die Organe der Vereinten Nationen allerdings zur Ausrufung eines Staates Palästina politisch äußern. Insoweit wäre denkbar, dass beispielsweise auf die verfahrensrechtlichen Elemente der „Uniting for Peace“-Resolution zurückgegriffen wird, um eine außergewöhnliche Vollversammlung einzuberufen. 4. Mögliche Rückschlüsse aus der Anerkennung des Kosovo durch andere Staaten Die Anfang 2008 einseitig ausgerufene Republik Kosovo ist bisher nicht Mitglied der Vereinten Nationen. Auch dürfte eine Aufnahme der Republik Kosovo in die Vereinten Nationen bis auf Weiteres an der hierfür erforderlichen Empfehlung des Sicherheitsrates scheitern, da Russland 6 Die Anerkennung ist nach ganz überwiegender Ansicht aber nicht notwendig für die Existenz eines Staates. Zu den völkerrechtlichen Anforderungen an die Staatseigenschaft und den Auswirkungen einer Anerkennung durch andere Staaten siehe , Zum künftigen Status des Kosovo, Wissenschaftliche Dienste, Ausarbeitung vom 28.11.2007, WD 2 – 3000 – 168/07, S. 7 ff. 7 Delbrück, in: Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/1, 2. Auflage 1989, § 19, S. 186. 8 Delbrück (Anm. 6), S. 186. 9 Ginther, in Simma (Hrsg.), The Charter of the United Nations, 2. Auflage 2002, Art. 4 Rn. 30 f., siehe auch IGH, Competence of the General Assembly for the Admission of a State (Advisory Opinion), ICJ Reports (1950), 8-10. 10 IGH, Conditions of Admission of a State (Advisory Opinion), ICJ Reports (1948) 56. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3000 – 116/11 Seite 6 die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo bisher nicht anerkennt.11 Gleichermaßen dürfte auch im Falle einer möglicherweise erfolgenden einseitigen Ausrufung eines palästinensischen Staates dessen Aufnahme in die Vereinten Nationen mit Blick auf das zu erwartende Veto der USA an der dafür erforderlichen Empfehlung des Sicherheitsrates scheitern. Da weder eine Pflicht zur Anerkennung eines Staates noch ein Recht auf Anerkennung als Staat bestehen ,12 die Entscheidung über die Anerkennung vielmehr im freien Ermessen der Staaten liegt, dürften sich aus der Anerkennung des Kosovo durch andere Staaten kaum Rückschlüsse im Hinblick auf eine Anerkennung eines möglicherweise einseitig ausgerufenen Staates Palästina ziehen lassen. Gegen eine Vergleichbarkeit dürften dabei insbesondere auch folgende Gesichtspunkte sprechen :13 Anders als die palästinensischen Autonomiegebiete stand das Kosovo gemäß Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates unter einer Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen und dürfte sich schon deshalb nicht als Präzedenzfall für andere Situationen eignen. Die Hoheitsgewalt der palästinensischen Autonomie-Behörde lässt sich dagegen auf das Interimsabkommen über das Westjordanland und den Gazastreifen (sog. Oslo II-Abkommen) und damit einen völkerrechtlichen Vertrag zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (Palestine Liberation Organisation, PLO) zurückführen, der Verhandlungen zur Lösung der Statusfrage vorsieht und beide Seiten verpflichtet, bis zu deren Abschluss keine Schritte zu unternehmen, die den Status des Westjordanlandes und des Gazastreifens verändern.14 Auch lässt sich die Menschenrechtslage in der Vergangenheit in den palästinensischen Gebieten nicht mit der Menschenrechtslage in Kosovo vergleichen. So fanden in Kosovo schwerste Menschenrechtsverletzungen statt, die im Jahre 1998 in gezielten ethnischen Säuberungen ganzer Ortschaften durch serbische Polizeieinheiten gipfelten.15 Schwerste Menschenrechtsverletzungen 11 Zum Gutachten des Internationalen Gerichtshofs über die Völkerrechtsmäßigkeit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo siehe , Das Gutachten des Internationalen Gerichtshofes zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, Wissenschaftliche Dienste, Aktueller Begriff 01/11 vom 11.1.2011; Schaller, Das Kosovo-Gutachten des IGH und seine Implikationen für die Vereinten Nationen, in: Halbach/Richter/Schaller (Hrsg.), Kosovo – Sonderfall mit Präzedenzwirkung? Völkerrechtliche und politische Entwicklungen nach dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs, SWP-Studie S 13, Mai 2011, S. 7 ff. 12 Zum Gutachten des Internationalen Gerichtshofs über die Völkerrechtsmäßigkeit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo siehe Arndt/Menne, Das Gutachten des Internationalen Gerichtshofes zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, Wissenschaftliche Dienste, Aktueller Begriff 01/11 vom 11.1.2011; Schaller, Das Kosovo-Gutachten des IGH und seine Implikationen für die Vereinten Nationen, in: Halbach/Richter/Schaller (Hrsg.), Kosovo – Sonderfall mit Präzedenzwirkung? Völkerrechtliche und politische Entwicklungen nach dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs, SWP-Studie S 13, Mai 2011, S. 7 ff. 13 Siehe auch Schaller, Die Unabhängigkeit des Kosovo – Ein völkerrechtlicher Präzedenzfall, in: Halbach /Richter/Schaller (Anm. 11), S. 14 ff., nach dem der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo keine völkerrechtliche Präzedenzwirkung zukommt. 14 Rubin, Israel, Occupied Territories, Rn. 21 in: Wolfrum (Hrsg.), The Max Planck Encyclopedia of Public International Law, 2008, online edition, abrufbar unter: www.mpepil.com (abgerufen am 16.6.2011). Siehe auch Art. 31 des Abkommens, abrufbar unter: http://www.knesset.gov.il/process/docs/heskemb_eng.htm (abgerufen am 16.6.2011). 15 Siehe Weber, Das Sezessionsrecht der Kosovo-Albaner und seine Durchsetzbarkeit, AvR 2005, S. 494 ff., S. 502 f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3000 – 116/11 Seite 7 wie z. B. Völkermord, Vertreibung und ethnische Säuberung sind jedoch Voraussetzung für ein Sezessionsrecht, sofern man ein solches – entgegen der Rechtsüberzeugung und Praxis der überwiegenden Mehrheit der Staaten16 – als ultima ratio in Ausnahmesituationen außerhalb des Kontextes der Entkolonialisierung überhaupt anerkennt. Mit Blick auf eine mögliche Aufnahme in die Vereinten Nationen ist schließlich zu bedenken, dass Kosovo weder das Existenzrecht Serbiens angezweifelt noch das serbische Kernland mit Waffen bedroht oder angegriffen hat. Mitglied der Vereinten Nationen können jedoch gem. Art. 4 Abs. 1 nur friedliebende Staaten werden, welche die Verpflichtungen aus der VN-Charta übernehmen und nach dem Urteil der Vereinten Nationen auch fähig und willens sind, diese Verpflichtungen zu erfüllen. 16 Dazu siehe Schaller (Anm. 13), S. 15 f.; Schubert/Unger, Sezessionsrecht, Staatswerdung und Anerkennung von Staaten, Wissenschaftliche Dienste, Aktueller Begriff 47/07 vom 17.9.2008.