© 2016 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 - 115/15 Zur Situation religiöser Minderheiten in Irak und Syrien Sachstand Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 115/15 Seite 2 Zur Situation religiöser Minderheiten in Irak und Syrien Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 115/15 Abschluss der Arbeit: 7. Oktober 2015 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 115/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Vorbemerkung 4 2. Quellenlage 6 3. Religiöse Minderheiten in der Republik Irak 8 3.1. Rechtlicher Rahmen 8 3.2. Konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung 8 3.3. Lage religiöser Minderheiten 8 3.3.1. Christen 10 3.3.2. Yesiden 12 4. Religiöse Minderheiten in der Arabischen Republik Syrien 13 4.1. Rechtlicher Rahmen 13 4.2. Konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung 14 4.3. Lage religiöser Minderheiten 15 4.3.1. Christen 16 4.3.2. Yesiden 18 4.3.3. Alawiten und Ismailiten 19 4.3.4. Drusen 20 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 115/15 Seite 4 1. Vorbemerkung Die Gefährdung von Angehörigen religiöser Minderheiten im Irak und Syrien ist Gegenstand dieses Gutachtens. Die Lage religiöser Minderheiten weltweit war bereits in früheren wissenschaftlichen Gutachten Gegenstand der Untersuchung.1 Die aktuelle Darlegung von Fakten kann auch als Beurteilungsgrundlage dafür dienen, inwieweit das Kriterium der staatlichen Verfolgung religiöser Minderheiten bei der Gewährung von Asyl in Deutschland mit Blick auf die Gefährdungslage in den Herkunftsländern stärker als bisher berücksichtigt werden sollte. Dieser Sachstand wurde Mitte Juli 2015 erstellt. Für die Veröffentlichung im Dossier wurde er an einigen Stellen aktualisiert . Vor dem Hintergrund einer dramatischen Entwicklung im Bürgerkriegsland Syrien und der Flucht von bislang 4,1 Millionen Menschen ins Ausland sowie 7,6 Millionen Binnenflüchtlingen 2 (Stand: September 2015) hat die Bundesregierung im Mai 2013 ein erstes humanitäres Hilfsprogramm aufgelegt, dem im Dezember 2013 und im Juli 2014 zwei weitere Programme folgten.3 Sie bilden die Grundlage für die – zunächst auf zwei Jahre befristete - Aufenthaltserlaubnis für insgesamt 20.000 syrische Flüchtlinge aus den Anrainerstaaten Syriens, dem Libanon, Jordanien, der Türkei und auch aus Ägypten. Innenminister a.D. Hans-Peter Friedrich hatte anlässlich eines ersten humanitären Aufnahmeprogramms für Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien vom 30. Mai 2013 von einem „besonderen Verfolgungsdruck “ für Christen gesprochen und geschlussfolgert, dass „deshalb eine hohe Zahl von Christen unter diesen Begriff der Schutzbedürftigkeit fallen wird“.4 Allerdings hatte das Bundesministerium des Innern in seiner Anordnung gemäß Aufenthaltsgesetz zur vorübergehenden Aufnahme von Schutzbedürftigen aus Syrien und Anrainerstaaten Syriens vom 30. Mai 2013 keine spezifischen Aufnahmegründe für Christen genannt, sondern Angehörige aller religiöser Minderheiten zu den Schutzbedürftigen gezählt, „sofern eine spezifische religionsbezogene Verfolgungssituation vorliegt“.5 Deutschland verzeichnete bis zum Frühjahr 2015 rund 90.000 Asylsuchende aus Syrien und hatte 31.000 Visa im Rahmen seiner temporären humanitären Aufnahmeprogramme (Stand: März 2015) vergeben. Für den Berichtszeitraum Januar bis August 2015 verzeichnet das Bundesamt für 1 Vgl. dazu etwa WD 1 (2013). Bestandsaufnahme zur Christenverfolgung weltweit. Position der im Bundestag vertretenen Parteien, der Deutschen Evangelischen Allianz (DEA) und des Christlichen Medienverbundes (KEP). WD1-3000-056/13. 2 United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (September 2015). Syrian Arab Republic. Abrufbar unter: http://www.unocha.org/syria, (letzter Zugriff: 7. Oktober 2015). 3 Bundesministerium des Innern (Mai 2013). Anordnung des Bundesministeriums des Innern gemäß §23, Absatz 2, Absatz 3 i.V. mit §24 Aufenthaltsgesetz zur vorübergehenden Aufnahme von Schutzbedürftigen aus Syrien und Anrainerstaaten Syriens. Abrufbar unter: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Themen /MigrationIntegration/AsylZuwanderung/aufnahmeanordnung.pdf?__blob=publicationFile, (letzter Zugriff: 2. Juli 2015). 4 Bax, Daniel (22. März 2015). Brauchen Christen mehr Schutz? In: Die tageszeitung. 5 Bundesministerium des Innern (Vgl. Fußnote 3). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 115/15 Seite 5 Migration und Flüchtlinge (BAMF) 55.587 Asylerstanträge aus Syrien bei insgesamt 231.302 Erstanträgen . Nach Information des BAMF hat sich damit die Zahl der Erstanträge im Vergleich zum Vorjahr deutlich mehr als verdoppelt. Die Zahl der Zugänge stieg um 132,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr.6 Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat in seiner Asylstatistik für das Jahr 2014 die Asylerstanträge hierzulande auch nach ihrer Religionszugehörigkeit aufgeschlüsselt. Betrachtet man die Asylerstanträge des Jahres 2014 unter dem Aspekt der Religionszugehörigkeit, dann zeigt sich, dass mit 63,3 Prozent Angehörige des Islam den größten Anteil der Erstantragsteller bilden, gefolgt von Christen mit 24,6 Prozent. Damit gehören mehr als vier Fünftel (87,9 Prozent) der Erstantragsteller einer dieser beiden Religionen an. An dritter Stelle folgen Yesiden mit 3,7 Prozent.7 Länderbezogen fällt dies anders aus: für den Irak stellen die Yesiden mit 61 Prozent die größte Gruppe der Asylsuchenden dar, gefolgt von 21,8 Prozent der Personen mit islamischer Religionszugehörigkeit und 11,9 Prozent christlicher Asylantragsteller. Für die Arabische Republik Syrien sind 82,6 Prozent der Asylsuchenden der islamischen Religion zuzurechnen. Die zweitstärkste Gruppe ist die der Yesiden mit 5,2 Prozent, gefolgt von 4,9 Prozent christlicher Asylbewerber.8 Die Diskussion über die besondere Schutzbedürftigkeit von Angehörigen religiöser Minderheiten wurde mit der Einrichtung eines Sonderkontingents für schwer traumatisierte Opfer sexueller Gewalt der yesidischen Glaubensrichtung neu akzentuiert. 9 Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann hatte anlässlich eines Flüchtlingsgipfels am 13. Oktober 2014 angekündigt, zusätzlich zu humanitären Aufnahmeprogrammen für Flüchtlinge aus Syrien ein Sonderkontingent für schwer traumatisierte Opfer sexueller Gewalt der yesidischen Glaubensrichtung einzurichten. An mehreren Standorten in Baden Württemberg sollen die Frauen medizinisch und psychologisch betreut werden. Baden-Württemberg hat am 18. Feburar 2015 eine gemeinsame Absichtserklärung mit der föderalen Region Kurdistan-Irak unterzeichnet , um bis zu 1.000 besonders schwer traumatisierte Frauen und Kinder aus Nordirak in Baden- Württemberg zur Behandlung aufzunehmen. .10 6 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2015). Asylgeschäftsstatistik für den Monat August 2015. Abrufbar unter: http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/201508-statistik-anlage -asyl-geschaeftsbericht.pdf?__blob=publicationFile, (letzter Zugriff: 7. Oktober 2015). S.2. 7 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2015). Das Bundesamt in Zahlen 2014. Asyl. Abrufbar unter: http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Broschueren/broschuere-bundesamt-in-zahlen- 2014-asyl.html?nn=1694460, (letzter Zugriff: 2. Juli 2015). 8 Ebenda, S.23. 9 Ruf, Reiner (16. Dezember 2014). Kummer mit Kretschmanns Herzensanliegen. In: Stuttgarter Zeitung. Abrufbar unter: http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.opfer-sexueller-gewalt-im-irak-kummer-mit-kretschmanns-herzensanliegen .879685d3-ae75-4d2e-8a1d-11cce9a1ae3b.html, (letzter Zugriff: 1. Juli 2015). 10 . Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 115/15 Seite 6 Dass die Situation religiöser Minderheiten und die Religions- und Glaubensfreiheit im politischen Raum von Bedeutung sind, zeigt auch ein in den Deutschen Bundestag eingebrachter interfraktioneller Antrag von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen.11 Darin fordern die Fraktionen von der Bundesregierung einen Bericht zur Lage der Religions- und Glaubensfreiheit weltweit vorzulegen, analog zu dem seit 1999 jährlich vom Außenministerium der Vereinigten Staaten herausgegebenen International Religious Freedom Report, der Informationen zu 200 Staaten und Territorien enthält. Zur Begründung führen die Fraktionen an, damit die Arbeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften sowie staatlicher Institutionen bei der weltweiten Durchsetzung von Religionsfreiheit besser unterstützen zu können. Im Folgenden werden die Fakten zusammengetragen, die die Lage religiöser Minderheiten im Irak und Syrien veranschaulichen. Während der Bericht des US-Außenministeriums für 2013 von der „umfangreichsten Vertreibung religiöser Gemeinden weltweit“ spricht, lässt sich im Einzelfall eine Kausalität zwischen religiöser Verfolgung und konfessioneller Bindung nicht leicht herstellen . Wechselnde Allianzen in dem bewaffneten Konflikt in Syrien unterliegen einem taktischen Kalkül, das sich für religiöse Minderheiten nachteilig auswirken kann und sie zum Instrument der Kriegstaktik der Akteure machen kann. Die Unübersichtlichkeit der Lage und die Dynamik in dem bewaffneten Konflikt werden in einem Bericht der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) beschrieben: „Vor allem die radikalen Kräfte in der Opposition und die Kampfverbände der mittlerweile zahlreichen islamistischen Terrorgruppen, wie zum Beispiel der syrische Al-Kaida Ableger Al-Nusra-Front, kämpfen nicht mehr nur gegen die Sicherheitskräfte des Regimes, sondern zunehmend auch gegen bewaffnete und unbewaffnete Angehörige der nicht-arabischen und nicht-sunnitischen Minderheiten sowie immer wieder auch gegen Teile der Freien Syrischen Armee, die andernorts jedoch Seite an Seite mit ihnen kämpft.“12 Nach Einschätzung der Gesellschaft für bedrohte Völker hat sich der Krieg in Syrien von einem Bürgerkrieg, in dem sich Opposition und Regierung gegenüberstehen, in einen Stellvertreterkrieg um die Vorherrschaft im Nahen Osten entwickelt.13 2. Quellenlage Im Folgenden werden einige wichtige Informationsquellen zum Thema vorgestellt und anschließend die Erkenntnisse zur Lage religiöser Minderheiten in Irak und Syrien dargestellt. Die Einschränkung von Religionsfreiheit und die Verfolgung religiöser Gruppierungen werden von überstaatlichen , staatlichen, nichtstaatlichen und kirchlichen Stellen dokumentiert. Informationen dazu finden sich auch in den Meldungen von Nachrichtenagenturen und in Informationsportalen im Internet. Beispiele für die Verletzung von Religionsfreiheit sind den Länderberichten der 11 Deutscher Bundestag (17. Juni 2015). Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religions- und Glaubensfreiheit. Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD und Bündnis 90/Die Grünen. BT-Drs. 18/5206. 12 Gesellschaft für bedrohte Völker (September 2013). Syrien: Minderheiten in Angst. Abrufbar unter: https://www.gfbv.de/fileadmin/redaktion/Reporte_Memoranden/2013/Syrien-Memorandum__September _2013__Niklas_Freund.pdf, (letzter Zugriff: 30. Juni 2015). S. 27. 13 Ebenda. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 115/15 Seite 7 nichtstaatlichen Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) zu entnehmen und auf der Homepage der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) sowie christlicher Hilfsorganisationen dokumentiert. Neben einzelnen aktuellen Informationen finden sich auch periodisch erscheinende Berichte zum Thema. Hierzu zählen die seit 1986 angefertigten Berichte des VN-Sonderberichterstatters für Religions- und Weltanschauungsfreiheit (Report of the Special Rapporteur on the Freedom of Religion or Belief). Nachdem das Gesetz International Religious Freedom Act 1998 in Kraft getreten ist, gibt das Außenministerium der Vereinigten Staaten seit 1999 jährlich einen Report on International Religious Freedom heraus.14 Darüber hinaus sei auf Untersuchungen verwiesen, die Einschränkungen der Religions- und Glaubensfreiheit bemessen, wie u.a. auch im World Freedom Report des Pew Research Center’s index of government restrictions on religion, der den Grad der Einschränkung bemisst. Kennzeichnend für diese Untersuchungen ist, dass sie Einschränkungen und Verletzungen der Religionsfreiheit für alle Religionen darstellen, womit sie sich von den Untersuchungen christlicher Organisationen unterscheiden, in denen es ausschließlich um die Verfolgung von Christen weltweit geht. Hierzu zählt der seit 1993 jährlich veröffentlichte Weltverfolgungsindex des überkonfessionellen christlichen Hilfswerks Open Doors.15 Insgesamt gestaltet sich eine systematische Bestandsaufnahme der Diskriminierung und Verfolgung religiöser Minderheiten im Irak und Syrien schon deshalb schwierig, weil keine offiziellen Zahlen, im Zuge eines Zensus etwa, über die Größe religiöser Minderheiten vorliegen und auch die Zahlen über Vertreibungen je nach Quelle variieren. Der Bericht des US-Außenministeriums 2007 wies darauf hin, dass seine Schätzungen über die Mitgliederstärke religiöser Gruppierungen auf Schätzungen von Nichtregierungsorganisationen zurückgehen. Konkrete Zahlen zum Ausmaß der Verfolgung religiöser Minderheiten finden sich im Falle der Christenverfolgung; diese variieren jedoch nach staatlichen und kirchlichen Stellen, wie etwa dem internationalen katholischen Hilfswerk Kirche In Not. Die Möglichkeiten der Verifizierung sind eingeschränkt. Weitgehend verzichtet wird auf Zahlen zu Todesopfern christlicher Verfolgung, da hier keine systematischen Erhebungen vorliegen, sondern nur selektive Angaben, die zudem nicht immer Rückschlüsse auf die Täter zulassen. Weitaus weniger Details finden sich über die Lage anderer religiöser Minderheiten in Syrien und Irak in deutschen und englischsprachigen Medien, wissenschaftlichen Beiträgen und auch von staatlicher Seite. Deshalb beschränkt sich die Dokumentation von Verfolgung und Vertreibung religiöser Minderheiten in Irak und Syrien auf die Darstellung der Lage von Christen, Yesiden und Drusen. 14 Zur Genese des Gesetzes siehe auch: Council on Foreign Relations (27. Januar 1998). International Religious Freedom Act. Abrufbar unter: http://www.cfr.org/religion/international-religious-freedom-act-1998/p16253, (letzter Zugriff: 6. Juli 2015). 15 Der Weltverfolgungsindex enthält eine Rangliste der 50 Länder, in denen Christen am meisten diskriminiert und verfolgt werden. Das methodische Vorgehen bei der Informationsbeschaffung und -auswertung ist dabei nicht ausführlich dargelegt. Vgl. Open Doors (2015). Weltverfolgungsindex 2015. Abrufbar unter: https://www.opendoors.de/verfolgung /weltverfolgungsindex2015/, (letzter Zugriff: 6. Juli 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 115/15 Seite 8 3. Religiöse Minderheiten in der Republik Irak 3.1. Rechtlicher Rahmen Religionsfreiheit ist im Irak durch die Verfassung garantiert. Allerdings ist der Islam Staatsreligion und damit auch zentraler Bezugspunkt bei der Schaffung von Recht. Die multiethnische, multireligiöse und multikonfessionelle Ausrichtung des Irak ist in Art. 3 der Verfassung festgelegt . Christen, Yesiden, Sabäer und Mandäer werden wie auch Muslime in Artikel 2 der Verfassung erwähnt. Kein neues Gesetz darf dem Islam widersprechen. Es darf aber auch nicht im Widerspruch zu den demokratischen Grundrechten stehen, zu denen die Verfassung auch das Recht auf Religionsfreiheit zählt. Hieraus ergibt sich ein Spannungsverhältnis, das von den Gerichten bislang immer mit Urteilen zugunsten der Religionsfreiheit aufrechterhalten wurde.16 Angesichts der religiös-konservativen Traditionen hat das Kabinett von Ministerpräsident Maliki im Februar 2014 ein Gesetz auf den Weg gebracht, das die Heirat von Minderjährigen erlaubt. Als Beweggrund der Regierung wird Wählerwerbung bei schiitischen Islamisten vermutet.17 Der vom US- Außenministerium veröffentlichte International Religious Freedom Report 2013 weist darauf hin, dass es in der Praxis an gesellschaftlichem Respekt für die Religionszugehörigkeit und Entfaltungsmöglichkeiten von religiösen Minderheiten fehlt und religionsbezogene Straftaten gegenüber Minderheiten in der Regel straflos bleiben. 3.2. Konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung Die irakische Bevölkerung ist mehrheitlich muslimisch (99 Prozent), davon werden 60 bis 65 Prozent der Bürger der schiitischen Gemeinschaft zugerechnet, die vorwiegend im Südosten des Landes leben. Ein Drittel (32 bis 37 Prozent) der zumeist im Norden des Landes lebenden Muslime gehören den arabisch- und kurdisch-sunnitischen Muslimen an. Die sunnitischen Kurden machen 18 bis 20 Prozent der Bevölkerung, die sunnitischen Araber 12 bis 16 Prozent und die sunnitischen Turkmenen ein bis zwei Prozent aus. Die Zahl der Christen wird gegenwärtig mit 300.000 Personen beziffert, das entspricht einem Bevölkerungsanteil von 0,8 Prozent. Jeweils kleiner als ein Prozent der Bevölkerung ist auch der Anteil der Hindus, Buddhisten und Juden im Irak.18 3.3. Lage religiöser Minderheiten Das US-Außenministerium zählt die Länder Syrien und Irak in seinem International Religious Freedom Report 2014 zu den acht „countries of particular concern“, d.h. mit schwerwiegender Verletzung von Religions- und Glaubensfreiheit. 16 US Department of State (2014). International Religious Freedom Report 2013. Abrufbar unter: http://www.state.gov/j/drl/rls/irf/religiousfreedom/index.htm#wrapper, (letzter Zugriff: 2. Juli 2015). 17 Katzman, Kenneth (22. Juni 2015). Iraq: Politics, Security and U.S. Policy. Congressional Research Service. S. 37.Abrufbar unter: https://fas.org/sgp/crs/mideast/RS21968.pdf, (letzter Zugriff: 30. Juni 2015). 18 US Central Intelligence Service (2015). The World Factbook – Iraq, People and Society. Abrufbar unter: https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/iz.html, (letzter Zugriff: 30. Juni 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 115/15 Seite 9 Die Situation von Angehörigen religiöser Minderheiten hat sich seit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein im März 2003 deutlich verschlechtert.19 Der Vormarsch des Islamischen Staates (IS) bedroht alle religiösen Gruppierungen außer dem orthodoxen sunnitischen Islam. Seit Sommer 2014 kam es verstärkt zu Übergriffen auf und Vertreibungen von Christen, Yesiden und der Schabak, deren Siedlungsgebiete im Herrschaftsgebiet des IS, etwa der Provinz Niniveh liegen. Des Weiteren soll es im Zuge der Eroberung der Stadt Tikrit zu Massenhinrichtungen von 1.700 schiitischen Armeeangehörigen durch Kämpfer des Islamischen Staates gekommen sein.20 Die jüngste Vertreibung und Gewalt verstärkt einen Trend, der über die vergangene Dekade Hunderttausende von Christen und Angehörige anderer religiöser Minderheiten auf der Suche nach Religions -und Glaubensfreiheit zum Verlassen des Irak veranlasste.21 Anlässlich einer Anhörung verschiedener Unterausschüsse des Auswärtigen Ausschusses im US- Kongress hat ein Vertreter des US-Außenministeriums die „gezielten und systematischen Anstrengungen des IS zur Vertreibung und Auslöschung ganze Religionsgemeinschaften im Irak in der Niniveh-Ebene und dem Sinjar-Gebirge“ und das Ziel der „Zerstörung eines reichen religiösen Erbes und ethnischer Vielfalt“ durch den Islamischen Staat verurteilt.22 Die internationale Nichtregierungsorganisation Freedom House verzeichnet in ihrem jährlich herausgegebenen Index zu Freiheit und Demokratie, dem Freedom House Report 2015, eine Verschlechterung der politischen Teilhaberechte von Christen, Schiiten und Yesiden für den Irak im Jahr 2014. Aber nicht nur der IS wird für die Zerstörung von religiösen Gemeinschaften verantwortlich gemacht, auch mit dem Staat verbundenen schiitischen Milizen werden Angriffe auf die sunnitische Glaubensgemeinschaft zugeordnet. Deshalb befindet sich das Land mit Blick auf die Bewertung des Rechts auf politische Teilhabe und auf Bürgerrechte mit sechs von sieben zu vergebenden Punkten im Abwärtstrend.23 Im Folgenden wird auf die Situation der Christen und Yesiden im Irak näher eingegangen. 19 UNHCR (April 2005). Hintergrundinformationen zur Gefährdung von Angehörigen religiöser Minderheiten im Irak. Abrufbar unter: http://www.yeziden.de/fileadmin/yeziden/pdf/Irak_Yeziden_UNHCR.pdf, (letzter Zugriff: 1. Juli 2015). 20 Human Rights Watch (September 2014). Irak: Hinrichtungen durch Islamischen Staat in Tikrit. Abrufbar unter: https://www.hrw.org/de/news/2014/09/03/irak-hinrichtungen-durch-islamischen-staat-tikrit, (letzter Zugriff: 6. Juli 2015). 21 Blanchard, Christopher M. (24. Juli 2014). Conflict in Syria and Iraq. Congressional Research Service. Abrufbar unter: http://www.fas.org/sgp/crs/mideast/IN10111.pdf, (letzter Zugriff: 6. Juli 2015). 22 US Department of State (14. September 2014). ISIL’s persecution of religious minorities in Iraq and Syria. Testimony of Tom Malinowski Assistant Secretary,Bureau of Democracy, Human Rights, and Labor. As-Prepared Opening Statement. House Foreign Affairs Subcommittees on Africa, Global Health, Global Human Rights and International Organizations and the Middle East and North Africa. Abrufbar unter: http://www.state.gov/j/drl/rls/rm/2014/231483.htm, (letzter Zugriff: 7. Juli 2015). 23 Freedom House (2015). Freedom in the World 2015 Report. S. 9 f. Abrufbar unter: https://freedomhouse.org/sites /default/files/01152015_FIW_2015_final.pdf, (letzter Zugriff: 1. Juli 2015). Der Freedom House Report liefert jährlich eine vergleichende Analyse zur Lage der politischen Rechte und Bürgerrechte basierend auf den Erhebungen unter 195 Staaten und 15 strittigen Regionen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 115/15 Seite 10 3.3.1. Christen Das Zentrum der irakischen Christen lag in Nordirak bei Mossul und Bagdad. Die christliche Gemeinde ist seit dem Ende der Herrschaft Saddam Husseins 2003 um rund 50 Prozent zurückgegangen , wobei die Menschen in Syrien, dem Libanon und Jordanien Zuflucht suchten.24 Der International Religious Freedom Report des US-Außenministeriums schätzte den Anteil der im Irak ansässigen Christen für das Jahr 2013 auf 500.000 Personen und verzeichnet einen Rückgang um 300.000 Personen über fünf Jahre. Der Congressional Research Service des US-Kongress erkennt darin einen Trend, der bereits vor der Terrorherrschaft des IS begann. So habe sich die Zahl der Christen im Irak seit Ende des Regimes von Saddam Hussein von ein bis 1,5 Millionen Christen auf geschätzte 400.000 bis 850.000 halbiert.25 In Reaktion auf die Explosion mehrerer Autobomben und auf Einschüchterung flohen 2009 rund 10.000 Christen aus der Gegend um Kirkuk .26 Zu dieser Zeit warnte der chaldäisch-katholische Erzbischof von Kirkuk Louis Sako bereits vor einer „Auslöschung des Christentums im Irak“.27 Als weiterer einschneidender Zwischenfall gilt der Angriff auf eine christliche Kirche in Bagdad 2010, bei dem Militante 60 Gläubige töteten .28 Nach Aussagen des syrisch-katholischen Erzbischofs Yohanna Petros Mouche eröffnete die „Schwäche des irakischen Zentralstaates schwachen Seelen diverse Möglichkeiten, Minderheiten zu bedrohen“.29 Dazu zählten Angriffe auf Amts- oder Würdenträger, Entführungen und Lösegelderpressungen . Dies habe viele Christen bewogen, die Region zu verlassen und ins Ausland abzuwandern, so der Erzbischof von Mossul. Ein von irakisch-assyrischen Christen unterstützter Plan für eine Selbstverwaltungsregion in Nordirak, der von der irakischen Regierung im Januar 2014 in veränderter Form angenommen wurde, verlor seine Bedeutung mit der Machtübernahme des IS in weiten Teilen Nordiraks. Die Mehrheit der irakischen Christen flüchtete im Sommer 2014 infolge eines Ultimatums durch den Islamischen Staat in die föderale Region Kurdistan-Irak (RKI). Das IS-Ultimatum an die christliche Minderheit vom 19. Juli 2014 lautete, entweder zum Islam zu konvertieren und eine 24 US Central Intelligence Service, (Vgl. Fußnote 18). 25 Katzman, Kenneth (Vgl. Fußnote 17). 26 RFI (4. Juli 2009). Iraqi army arrests suspect in deadly Kirkuk bombings. Abrufbar unter: http://www.rferl.org/content/Iraqi_Army_Arrests_Suspect_In_Deadly_Kirkuk_Bombings_/1769344.html, (letzter Zugriff. 8. Juli 2015). 27 Kirche In Not (27. März 2009). „Situation der Christen ist eine Tragödie.“ Abrufbar unter: http://www.kirchein -not.de/aktuelle-meldungen/2009/03-27-irak-erzbischof-sako-pk-wien, (letzter Zugriff: 30. Juni 2015). 28 Katzman, Kenneth (Vgl. Fußnote 17). 29 Frankfurter Allgemeine Zeitung (8. Juli 2015). Morgen wird der IS auch bei euch sein. Ein Gespräch mit Erzbischof von Mossul, Yohanna Petros Mouche. Seite 9. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 115/15 Seite 11 Sondersteuer zu entrichten oder durch das Schwert exekutiert zu werden.30 Der syrisch-katholische Erzbischof Yohanna Petros Mouche beschrieb die Vertreibung von Christen aus Karakosch folgendermaßen: „Die Zahlungen von Schutzgeldern lehnen wir kategorisch ab. Der IS nahm unsere Ablehnung als Vorwand, um sich an den noch in Mossul verbliebenen Christen zu rächen. Sie wurden überfallen, ihre Autos und sämtliches Hab und Gut wurden beschlagnahmt. Anschließend vertrieb man sie aus ihren Häusern.“31 An Kontrollpunkten wurden Christen gezwungen, Wertgegenstände abzugeben. Andere Formen von Enteignung durch die Miliz betreffen die von Christen zurückgelassenen Häuser, die beschlagnahmt und an solche sunnitische Familien übergeben wurden, die aus Gegenden wie Tikrit und Dijala vertrieben worden waren. Dem waren Markierungen christlicher Häuser durch die Terrorgruppe IS vorausgegangen. Die christliche Gemeinde sprach in Zusammenhang mit den Ereignissen von ethnischer Säuberung. Die Gemeinde hatte nach Aussage des christlichen Patriarchen vor der Vertreibung 25.000 Mitglieder gezählt.32 Die Einschätzung, dass es in der Folge der Machtübernahme des IS in der Region Mossul zu ethnischen Säuberungen kam, wird von Human Rights Watch (HRW) geteilt. Die Menschenrechtsorganisation berichtet von der Entführung und Gefangennahme christlicher Nonnen und Waisenkinder sowie der Entfernung von Christen aus Regierungsämtern in Mossul durch den IS. Sarah Leah Whitson, die Koordinatorin für den Nahen Osten bei HRW, spricht von einer gezielten Verfolgung verschiedener religiöser Minderheiten: „Christ zu sein in dem vom IS kontrollierten Gebiet kann deine Freiheit und dein Leben kosten . ISIS scheint alle Spuren von Minderheiten in der Region im Namen der Religion auslöschen zu wollen. Letztlich ist dies nicht mehr als eine Terrorherrschaft.“33 Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung Christoph Strässer bewertete diese Ereignisse gegenüber dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe am 5. November 2014 als eine dramatischen Verschlechterung und schwersten Menschenrechtsverletzungen im Irak. 34 30 Salloum, Raniah (20. Juli 2014). Iraks letzte Christen müssen Mossul verlassen. In: SpiegelOnline. Abrufbar unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/ultimatum-der-is-miliz-iraks-letzte-christen-muessen-fliehen-a- 981961.html, (letzter Zugriff: 1. Juli 2015). 31 Frankfurter Allgemeine Zeitung, (Vgl. Fußnote 29). Seite 9. 32 ZEITOnline (19. Juli 2014). Tausende Christen fliehen aus Mossul. Abrufbar unter: http://www.zeit.de/politik /ausland/2014-07/irak-christen-mossul, (letzter Zugriff: 1. Juli 2015). 33 Human Rights Watch (19. Juli 2014). Iraq: ISIS Abducting, Killing, Expelling Minorities. Abrufbar unter: http://www.hrw.org/news/2014/07/19/iraq-isis-abducting-killing-expelling-minorities, (letzter Zugriff: 2. Juli 2015). 34 Heute im Bundestag (5. November 2014). Strässer: Religiöse Minderheiten gefährdet. Abrufbar unter: http://www.bundestag.de/presse/hib/2014_11/-/339154, (letzter Zugriff: 1. Juli 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 115/15 Seite 12 Strässer machte den IS für Massaker an Frauen und Kindern, für Zwangsverheiratungen und Vergewaltigungen verantwortlich, die eine „Bedrohung für die Existenz der christlichen Gemeinschaft “ darstellten. Langfristig bliebe den Christen nur die dauerhafte Flucht in den kurdischen Nordirak, wo sie ihre Religion vergleichsweise freier ausüben könnten. Dem Weltverfolgungsindex 2015 des überkonfessionellen christlichen Hilfswerks Open Doors zufolge, das das Ausmaß der Verfolgung und Benachteiligung von Christen in 50 Ländern weltweit bewertet, hat sich die Religionsfreiheit für Christen in weiten Teilen des Irak im Zuge der Errichtung eines Kalifats durch den Islamischen Staat erheblich verschlechtert.35 Der Irak belegt Platz drei (2014: Platz vier) der Länder, in denen Christen weltweit am stärksten verfolgt werden. Open Door nennt als Haupttriebskräfte der Verfolgung im Irak Islamistischen Extremismus Exklusives Stammesdenken Systematische Korruption. 3.3.2. Yesiden Die yesidische Religion ist eine monotheistische Religion, deren Wurzeln nach Angaben der yesidischen Minderheit in Deutschland 2.000 Jahre vor dem Christentum liegen. Die Siedlungsgebiete der religiösen Minderheit der Yesiden liegen im Irak, Syrien, der Türkei und dem Iran. Die Yesiden sind von der Volkszugehörigkeit ethnische Kurden und stellen gegenwärtig eine religiöse Minderheit unter den mehrheitlich muslimischen Kurden dar. Weltweit gibt es nach Angaben der yesidischen Gemeinschaft in Deutschland eine Million Menschen dieser ethno-religiösen Gruppe.36 Viele Muslime betrachten Yesiden als „Teufelsanbeter“. Immer wieder in der Geschichte waren und sind Angehörige des Yesidentums Verfolgung und Gewalt ausgesetzt. Im Irak lebten etwa 500.000 Yesiden, davon 300.000 im Sinjar-Gebiet im Norden der Provinz Niniveh. Nach dem Golfkrieg von 1991 wurde die Zahl der im Irak lebenden Yesiden auf 600.000 Personen geschätzt, von denen 10 Prozent im kurdischen Norden, die übrigen 90 Prozent im Rest des Iraks lebten. 37 Nach Berichten von Human Rights Watch haben im August 2014 bei einer Offensive im Nordwesten des Iraks Kämpfer des Islamischen Staates Hunderte von Yesiden auf irakischem und 35 Open Doors (2015). Weltverfolgungsindex 2015. Wo Christen am stärksten verfolgt wurden. Abrufbar unter: https://www.opendoors.de/downloads/wvi/pdf_wvi2015.pdf, (letzter Zugriff: 30. Juni 2015). 36 Tolan, Telim (2015). Yesiden in Deutschland, Religion und Leben, eine Kurzübersicht. Abrufbar unter: http://www.yeziden.de/yeziden_in_de.0.html, (letzter Zugriff: 8. Juli 2015). 37 UNHCR (April 2005). Hintergrundinformationen zur Gefährdung von Angehörigen religiöser Minderheiten im Irak. Abrufbar unter: http://www.yeziden.de/fileadmin/yeziden/pdf/Irak_Yeziden_UNHCR.pdf, (letzter Zugriff: 1. Juli 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 115/15 Seite 13 syrischem Staatsgebiet gefangen genommen und hielten diese in Gefangenenlagern fest.38 Im Zuge der Verschleppung von yesidischen Zivilisten wurden Frauen und Mädchen, die von IS- Kämpfern als „Kriegsbeute“39 betrachtet wurden, systematisch von ihren Familien getrennt, vergewaltigt und zwangsverheiratet. Berichtet wurde von Yesidinnen und Yesiden, die der Terrorherrschaft des Islamischen Staates entkommenen sind, auch über Zwangskonvertierung, sexuelle Gewalt und Sklaverei.40 Ein von Amnesty International veröffentlichter Bericht zur systematischen Folter und sexuellen Versklavung von yesidischen Frauen stuft das Vorgehen des IS im Nordirak als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen gegenüber Frauen und Kindern ein.41 Die Vereinten Nationen bezifferten die Zahl der vertriebenen und verschleppten religiösen Minderheiten durch IS-Kämpfer auf 250.000 Personen.42 Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge waren etwa 40.000 Yesiden aus der Niniveh-Ebene auf der Flucht vor IS in das Sinjar Gebirge im Nordirak geflohen und dort von IS-Kämpfern eingekesselt worden. Der VN-Sonderberichterstatter für Religions- und Glaubensfreiheit Heiner Bielefeldt bezeichnete die Vertreibung und Einkesselung der Yesiden im Sinjar Gebirge sowie die „versuchte Auslöschung einer religiösen Minderheit“ als „systematische und schwerwiegendste Verletzung der Religionsfreiheit“.43 4. Religiöse Minderheiten in der Arabischen Republik Syrien 4.1. Rechtlicher Rahmen In der Arabischen Republik Syrien gibt es keine offizielle Staatsreligion, wenngleich nach der Verfassung der Präsident Syriens muslimisch sein muss und islamische Rechtsprechung der Hauptbezugspunkt für die Gesetzgebung ist.44 Religionsfreiheit wird in Syrien in Artikel 3.3 der Verfassung garantiert, so die Ausübung der Religionsfreiheit nicht die öffentliche Sicherheit ge- 38 Human Rights Watch (Oktober 2014). Irak: Zwangsheirat und –konvertierung von Yesiden. Abrufbar unter: https://www.hrw.org/de/news/2014/10/12/irak-zwangsheirat-und-konvertierung-von-jesiden, (letzter Zugriff: 6. Juli 2015). 39 Human Rights Watch (April 2015). Irak: IS-Flüchtlinge schildern systematische Vergewaltigungen. Abrufbar unter: https://www.hrw.org/de/news/2015/04/15/irak-fluchtlinge-schildern-systematische-vergewaltigungen, (letzter Zugriff: 6. Juli 2015). 40 Ebenda. 41 Amnesty International (2014). Escape from hell. Abrufbar unter: http://www.amnesty.org.uk/sites/default/files /escape_from_hell_-_torture_and_sexual_slavery_in_islamic_state_captivity_in_iraq_-_english_2.pdf, (letzter Zugriff: 7. Juli 2015). 42 Office of the High Commissioner for Human Rights (12. August 2014). Iraq: “Immediate action needed to protect human rights of Yazidis in grave danger” – UN experts. Abrufbar unter: http://www.ohchr.org/EN/NewsEvents /Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=14936&LangID=E, (letzter Zugriff: 2. Juli 2015). 43 Ebenda. 44 US Department of State (2013). International Religious Freedom Report 2013. Syria. Abrufbar unter: http://www.state.gov/j/drl/rls/irf/religiousfreedom/index.htm#wrapper, (letzter Zugriff: 3. Juli 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 115/15 Seite 14 fährdet. Zudem dürfen Staatsbürger aufgrund ihrer religiösen Weltanschauung nicht diskriminiert werden (Artikel 33.3).45 Die Verfassung enthält auch rechtliche Mechanismen, um religiöse Gruppierungen zu verbieten, die von der Regierung als „extremistisch“ eingestuft werden.46 Dazu werden muslimische Extremisten ebenso wie etwa die Zeugen Jehovas gezählt. Die Mitgliedschaft in salafistischen Organisationen ist rechtswidrig, wobei die Regierung die Kennzeichen für Salafismus nicht näher definiert hat.47 Dem Gesetz zufolge steht auf Zugehörigkeit zur syrischen Muslimbruderschaft die Todesstrafe. Dem International Religious Freedom Report 2013 des US-Außenministeriums zufolge wurde die Todesstrafe bis zum Jahr 2012 generell in eine 12-jährige Haftstrafe umgewandelt, seit 2013 wurde die Haftstrafe verlängert. Darüber hinaus soll die Regierung auch außergerichtliche Tötungen von Anhängern der Muslimbruderschaft vorgenommen haben.48 4.2. Konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung Ein Großteil der rund 18 Millionen Einwohner Syriens (geschätzter Stand: Juli 2014) ist muslimisch (87 Prozent).49 Von den in Syrien lebenden Muslimen lassen sich 74 Prozent der sunnitischen und 13 Prozent der schiitischen Glaubensrichtung des Islam (darunter Alawiten und Ismailiten ) zuordnen. Während sich der sunnitische Bevölkerungsanteil auf das gesamte Land verteilt , konzentriert sich die alawitische Bevölkerung Syriens, zu der auch Präsident Assad gehört, auf die bergige Küstenregion des Regierungsbezirkes Latakia im Nordwesten des Landes. Zudem lebt ein bedeutender Anteil der Alawiten in den Städten Latakia, Tartus, Homs und Damaskus. Neben den 87 Prozent muslimischen Bewohnern Syriens leben noch zehn Prozent Christen, drei Prozent Drusen und einige wenige Juden in dem Land. Die christliche Gemeinde konzentriert sich auf die Region um Damaskus sowie die Städte Aleppo, Homs, Hama und Latakia und auf den Regierungsbezirk Hasaka im Nordosten Syriens. Konfessionell sind die Christen Syriens in die unabhängigen orthodoxen Kirchen, die unierten Kirchen, die assyrische Kirche des Ostens und die unabhängigen nestorianischen Kirchen zu untergliedern. Die Drusen leben in der Region um Jabal al-Arab im südlichen Regierungsbezirk Suweida, während sich die ca. 50 Juden in Aleppo und Damaskus aufhalten.50 Zudem leben ungefähr 5.000 Yesiden in den kurdischen Gebieten im Norden und Nordosten Syriens. 45 Aid to the Church in Need (2015). Country Reports. Syria. Abrufbar unter: http://religion-freedom-report .org.uk/wp-content/uploads/country-reports/syria.pdf, (letzter Zugriff: 03. Juli 2015). 46 US Department of State (2013). (Vgl. Fußnote 44).). 47 Ebenda. 48 US Department of State (2013). (Vgl. Fußnote 44). 49 Central Intelligence Agency (2015). The World Fact Book. Middle East. Syria. Abrufbar unter: https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/sy.html, (letzter Zugriff: 08. Juli 2015). 50 US Department of State (2013). (Vgl. Fußnote 44). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 115/15 Seite 15 4.3. Lage religiöser Minderheiten Nach der Ausrufung eines Kalifats durch den Islamischen Staat für Irak und Syrien (IS) am 29. Juni 2014 in Syrien ist der IS der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge in neun syrischen Provinzen aktiv.51 Das Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen spricht in seinem Bericht für 2014 von Zwangskonvertierungen im Herrschaftsbereich des IS und von Vertreibung , die alle ethnischen und religiösen Minderheiten trifft, insbesondere aber Christen, Schiiten und Kurden:52 “There is a manifest pattern of violent acts directed against certain groups – notably Christians , Shias and Kurds – with the intent to curtail and control their presence within ISIS areas ,” so Vitit Muntarbhorn, Beauftragte einer Untersuchungskommission der Vereinten Nationen für die Arabische Republik Syrien. Der Kreislauf der Gewalt hat insbesondere in syrischen Dörfern mit verschiedenen Ethnien und religiösen Gruppierungen zu sektiererischen Spannungen geführt und lokale Konflikte verursacht .53 Der Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit der Vereinten Nationen Heiner Bielefeldt und zwei weitere VN-Sonderberater und Sonderberichterstatter haben angesichts „zunehmender und rücksichtsloserer“ Luftangriffe der syrischen Regierung – etwa mit Fassbomben – vor einer „Eskalation und Konfessionalisierung des bewaffneten Konfliktes“ gewarnt . 54 Sie befürchten großflächige Vergeltungsschläge durch bewaffnete nichtstaatliche Gruppierungen gegen die das Assad-Regime stützenden oder als regierungsfreundlich angesehenen konfessionellen Gruppen. Religiöse und ethnische Minderheiten wie Alawiten, Armenier, Assyrer, Drusen, Ismailiten und Kurden seien ohnehin einer erhöhten Bedrohung durch nichtstaatliche bewaffnete Gruppierungen aufgrund ihrer religiösen oder ethnischen Identität ausgesetzt . 51 Syrian Observatory for Human Rights (2015). Islamic State. Abrufbar unter: http://www.syriahr .com/en/2015/06/islamic-state-a-year-of-caliphate-ruling-50-of-syria-seizing-the-syrian-people-resourcesblatant -violations-of-human-rights-and-massacres-against-all-its-components/, (letzter Zugriff: 30. Juni 2015). 52 Office of the High Commissioner for Human Rights (2014). UN Commission of Inquiry: Syrian victims reveal ISIS’s calculated use of brutality and indoctrination. Abrufbar unter: http://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages /DisplayNews.aspx?NewsID=15295&LangID=E, (letzter Zugriff: 9. Juli 2015). 53 Office of the High Commissioner for Human Rights (23. Juni 2015). Oral Update of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic. Abrufbar unter: http://www.ohchr.org/EN/HRBodies /HRC/IICISyria/Pages/IndependentInternationalCommission.aspx, (letzter Zugriff: 9. Juli 2015). 54 UN New Center (12. Juni 2015). Statement by the Special Adviser of the Secretary-General on the Prevention of Genocide, the Special Adviser of the Secretary-General on the Responsibility to Protect, the Special Rapporteur on Minority Issues and the Special Rapporteur on Freedom of Religion or Belief, on the situation in Syria. Abrufbar unter: http://www.un.org/apps/news/story.asp?NewsID=51144#.VZ6czPl4vTo, (letzter Zugriff: 6. Juli 2015I. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 115/15 Seite 16 Nach Auffassung von Petra Becker, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), beruht das Kalkül des Assad-Regimes auf einer bewussten Konfessionalisierung des Konfliktes und wachsenden inter-religiösen Spannungen: „Assad verfolgt eine Strategie der Polarisierung von religiösen Minderheiten und der sunnitischen Mehrheitsbevölkerung. Konkret ging es ihm von Anfang an darum, einen Keil zwischen Sunniten auf der einen Seite und Alawiten, Christen, Drusen, Ismailiten und Schiiten auf der anderen Seite zu treiben. Sein Regime trieb die Protestbewegung durch massive Gewaltanwendung in die Militarisierung und förderte ihre Radikalisierung, indem es Dutzende von Dschihadisten aus seinen Hochsicherheitsgefängnissen entließ.“55 Das Assad-Regime habe religiöse Gruppen zur Zielscheibe in einem zunehmend konfessionsgebundenen Konflikt gemacht, schrieb auch das US-Außenministerium in seinem International Religious Freedom Report 2013.56 Dies gelte insbesondere für solche religiöse Gruppen, die ihre Gefolgschaft der Opposition zusicherten wie der sunnitischen Mehrheit des Landes. Regimefreundliche Milizen bestehend aus irakischen Schiiten und Hisbollah Kämpfern griffen gezielt Oppositionsanhänger an. Die mit Al-Kaida verbundene Al-Nusra-Front hat im Gegenzug Alawiten, schiitische Muslime, Christen und andere religiöse Minderheiten angegriffen, die als das Assad-Regime stützend wahrgenommen wurden. Die Gesellschaft für bedrohte Völker, die für die Rechte bedrohter ethnischer, sprachlicher und religiöser Minderheiten eintritt, fasst in einem Bericht von 2013 ihre Sorge um Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten zusammen, die etwa 45 Prozent der syrischen Bevölkerung ausmachen.57 Für Islamisten sei Gewalt gegen Andersgläubige ein legitimes Mittel, deshalb werde die Lage für Christen und Alawiten immer schwieriger. Sie verweisen in diesem Zusammenhang auf die Verschleppung zweier christlicher Bischöfe am 22. April 2013 durch eine bewaffnete islamistische Gruppe. Auch hätten sich Berichte über grausame Hinrichtungen, gezielte Ermordungen , Entführungen und Vergewaltigungen von Christen gehäuft.58 4.3.1. Christen Die christliche Gemeinschaft Syriens zählte bislang zur zweitgrößten im Nahen Osten. In Syrien lebten inoffiziellen Schätzungen zufolge etwa fünf bis zehn Prozent Christen vor Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges. Die christliche Gemeinde besteht aus der griechisch-orthodoxen, der syrisch -orthodoxen, der melkitisch-katholischen, der römisch-katholischen, der armenischen, der assyrischen und der maronischen Kirche. Trotz diskriminierender Gesetze und Regelungen, wie 55 Becker, Petra (Mai 2014). Zwischen Autokratie und Dschihadismus. Syriens Christen hoffen auf Umsetzung von Genf I. SWP-Aktuell 39. S.4. 56 US Department of State (2013). (Vgl. Fußnote 44). 57 Gesellschaft für bedrohte Völker (2013). Syrien: Minderheiten in Angst. Abrufbar unter: https://www.gfbv.de/fileadmin/redaktion/Reporte_Memoranden/2013/Syrien-Memorandum__September _2013__Niklas_Freund.pdf, (Letzter Zugriff: 8. Juli 2015). 58 Ebenda, S. 16f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 115/15 Seite 17 des Verbotes für Christen den Präsidenten Syriens zu stellen, konnten Christen unter der Herrschaft Assads ihre Religion in der Arabischen Republik Syrien relativ uneingeschränkt ausüben. Dies änderte sich mit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges 2011.59 So hat etwa Assads Positionierung als Sicherheitsgarant der christlichen Glaubensgemeinschaften in Syrien zu einer negativen Wahrnehmung der Christen in der syrischen Opposition beigetragen.60 In den vergangenen vier Jahren wurden sowohl regierungskritische Geistliche, wie der aus Italien stammende Jesuitenpater Paolo dall’Oglio, als auch regierungsfreundliche Bischöfe, wie Mor Gregorius Yuhanna Ibrahim oder Mor Boulos Yazigi aus Aleppo, entführt. Ende 2011 hatte das Assad -Regime den Jesuitenpater Paolo dall’Oglio zur Persona non grata erklärt, nachdem er drei Jahrzehnte um Verständigung zwischen Christen und Muslimen in Syrien bemüht war.61 Die Al- Nusra-Front setzte im Oktober 2014 Franziskanerpater Hanna Dschallouf sowie etwa 20 weitere Geistliche fest. Im April 2014 wurde der niederländische Jesuitenpater Frans van der Lugt in Homs ermordet, der die Aushungerung der Altstadt Homs durch die Regierung anprangert hatte.62 Ende 2013 wurden 12 syrisch-orthodoxe Nonnen in der Stadt Ma’alula durch die Al- Nusra-Front entführt. Besonders gefährdet ist die christliche Minderheit in den nordsyrischen Gebieten, welche vom IS kontrolliert werden. Dort kam es Ende Februar 2015 in der Provinz Hassaka in mehreren Dörfern zur Verschleppung von über 300 assyrischen Christen.63 Auch die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte prangerte zahlreiche Verbrechen gegen assyrische Christen im Nordosten des Landes an, darunter die Exekution von 2.000 assyrischen Christen,64, die Zerstörung der antiken Stadt Nimrud und ihre Einebnung. In anderen Berichten wird von der Rückeroberung von IS-Stellungen im Nordosten Syriens durch kurdische Kämpfer berichtet, die dabei 14 von assyrischen Christen bewohnte Dörfer befreiten.65 59 Gesellschaft für bedrohte Völker (2013). Syrien: Minderheiten in Angst. Abrufbar unter: https://www.gfbv.de/fileadmin/redaktion/Reporte_Memoranden/2013/Syrien-Memorandum__September _2013__Niklas_Freund.pdf, (Letzter Zugriff: 8. Juli 2015). 60 European Parliament Intergroup on Freedom of Religion or Belief and Religious Tolerance (2014). 2014 Annual Report. The State of Freedom of Religion or Belief in the World. Abrufbar unter: http://www.religiousfreedom .eu/file/2015/06/2014-Intergroup-Report-FINAL.pdf, (letzter Zugriff: 7. Oktober 2015). 61 Becker, Petra (Mai 2014). (Vgl. Fußnote 55), S.4f. 62 Reuter, Christoph (07. April 2014). Ermordeter Jesuit in Syrien: Er teilte den Schmerz. In: SpiegelOnline. Abrufbar unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/nachruf-auf-pater-frans-aus-homs-in-syrien-ermordet-a- 963113.html, (letzter Zugriff: 7. Oktober 2015). 63 ZeitOnline (27. Februar 2015). Dschihadisten sollen zahlreiche Christen hingerichtet haben. Abrufbar unter: http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-02/islamischer-staat-assyrische-christen-hinrichtung, (letzter Zugriff: 7. Oktober 2015). 64 Syrian Observatory for Human Rights (SOHR, 27. Mai 2015). Fate of 220 Assyrian Christians abducted by ISIS remains unknown. Abrufbar unter: http://www.syriahr.com/en/2015/03/fate-of-220-assyrian-christians-abducted -by-isis-remains-unknown/, (letzter Zugriff: 7. Juli 2015). 65 SOHR (4. Juni 2015). Syria conflict: IS ‘driven from Assyrian villages’ Abrufbar unter: http://www.syriahr .com/en/2015/06/syria-conflict-is-driven-from-assyrian-villages/, (letzter Zugriff: 7. Juli 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 115/15 Seite 18 „Die christliche Gemeinschaft in Syrien wie auch in weiten Teilen des Nahen Ostens wird zu einem Schatten ihrer selbst.“66 Zu dieser Einschätzung gelangte der International Religious Freedom Report für das Jahr 2013 des US-Außenministeriums und belegte seine Aussage exemplarisch mit Zahlen für die Stadt Homs: Demnach zählte die christliche Gemeinschaft in Homs vor Ausbruch des bewaffneten Konfliktes 160.000 Angehörige, während für das Jahr 2013 nur noch einige Tausende registriert wurden. In Aleppo machen Christen die größte religiöse Minderheit aus. Schon vor 2011 lebte in Aleppo eine große armenisch-christliche Gemeinschaft. Viele Christen sind in den vergangenen Monaten vor den Luftangriffen aus den am stärksten betroffenen Stadtteilen geflohen. Dabei stieg die Zahl der Binnenmigranten aus Homs, Damaskus und Aleppo in den Küstengebirgen,67 aber auch die Zahl der Flüchtlinge. Vor einem Exodus der christlichen Gemeinde in Syrien hatte die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) bereits im August 2013 gewarnt und von der deutschen Bundesregierung gefordert, „bei ihren außenpolitischen Entscheidungen ein besonderes Augenmerk auf den Schutz christlicher Minderheiten zu legen“.68 Während sich 2011 auch Christen an der Revolutionsbewegung aktiv beteiligten, ist das Gros der christlichen Bevölkerung aufgrund der Militarisierung und Radikalisierung der Bewegung inzwischen auf Distanz gegangen. Ungeachtet dessen befinden sich unter den bekanntesten Oppositionsführern und regime-kritischen Menschenrechtsanwälten ebenfalls viele Christen. Das Assad- Regime stellt sich selbst als Schutzmacht der Christen dar und unterstreicht seine Verbundenheit mit der christlichen Glaubensgemeinschaft etwa durch medienwirksame Auftritte, wie den Assads im bekannten christlichen Wallfahrtsort Maaloula im April 2014.69 Im Verlauf der an Schärfe zunehmenden Krise gibt es Befürchtungen, dass die als eher regimefreundlich geltende Haltung70 von Christen sie zur Zielscheibe bewaffneter nicht-staatlicher Gruppen macht. Diese Ängste werden von dem Regime instrumentalisiert. 4.3.2. Yesiden Die im Norden und Nordosten in den kurdischen Gebieten lebenden Yesiden stellen mit etwa 5.000 Angehörigen die kleinste Minderheit Syriens dar. Sie wurden in der Geschichte Syriens 66 US Department of State (Vgl. Fußnote 44). 67 Becker, Petra (Mai 2014). (Vgl. Fußnote 55), S.3. 68 Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (2013). Mittlerer Osten: Christen leiden in Syrien und Ägypten am meisten. Abrufbar unter: http://www.igfm.de/, (letzter Zugriff: 7. Juli 2015). 69 Becker, Petra (Mai 2014). (Vgl. Fußnote 55), S.4ff. 70 Vgl. Becker, Petra (Mai 2014). (Vgl. Fußnote 55) S. 4 Während Christen sich einerseits eher für das Assad-Regime als für die Opposition entscheiden würden, würden sie vor die Wahl gestellt, geben sie andererseits zu erkennen, dass sie auch unter Assad keine Zukunft für sich in Syrien sehen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 115/15 Seite 19 wegen ihrer ethnischen Abstammung als Kurden verfolgt, aber auch weil Muslime sie als „Teufelsanbeter “ und Ungläubige betrachten.71 Am 29. Oktober 2012 wurde das yesidische Dorf Qestel Ali Cindo im nordwestlich gelegenen Distrikt Afrin von islamistischen Gruppen angegriffen. Auch das nahe Qestel Ali Cindo gelegene Dorf Basufan wurde bereits einige Male von islamistischen Gruppen angegriffen, die nur durch kurdische Milizen gestoppt werden konnten.72 Durch die Ausbreitung des radikal-sunnitischen IS kommt es vermehrt im syrisch-irakischen Grenzgebiet zu religiöser Verfolgung der yesidischen Glaubensgemeinschaft. Ähnlich dem irakischen Teil des IS-Herrschaftsgebietes wird auch für die syrische Grenzregion von sexueller Gewalt und Menschenhandel mit yesidischen Gefangenen berichtet. So sollen 42 yesidische Frauen, die 2014 im Sinjar-Gebirge im Irak als Geiseln genommen wurden, im Juni 2015 vom IS in Syrien an Kämpfer weiterverkauft worden sein.73 Das gezielte Einsetzen sexueller Gewalt des IS gegen yesidische Frauen in Syrien klagte Zainab Bangura an, VN-Sondergesandte für sexuelle Gewalt in Konflikten.74 Die im Zuge der Radikalisierung der syrischen Opposition zugenommene religiöse Verfolgung führte nach Angaben der Gesellschaft für bedrohte Völker bereits bis Herbst 2013 zur Flucht von etwa zwei Dritteln der Yesiden ins Ausland.75 4.3.3. Alawiten und Ismailiten Die religiöse Gemeinschaft der Alawiten, der in Syrien etwa drei Millionen Menschen angehören, wird im Nahen Osten der schiitischen Glaubensrichtung zugerechnet. Obwohl Präsident Assad der schiitischen Glaubensgemeinschaft der Alawiten angehört, maß er familiären Bindungen oftmals mehr Bedeutung als konfessionellen Bindungen bei. Zudem soll Assad zeitweise die alawitische Glaubensgemeinschaft benachteiligt haben, um die „große sunnitische Mehrheit zu besänftigen .“76 Neben den politischen Anfeindungen durch die mehrheitlich sunnitische Opposition 71 Gesellschaft für bedrohte Völker (2013). Syrien: Minderheiten in Angst. Abrufbar unter: https://www.gfbv.de/fileadmin/redaktion/Reporte_Memoranden/2013/Syrien-Memorandum__September _2013__Niklas_Freund.pdf, (Letzter Zugriff: 06. Juli 2015). 72 Ebenda. 73 Syrian Observatory for Human Rights (2015). Daesh sells 42 Yazidi women to militants in Syria. Abrufbar unter : http://www.syriahr.com/en/2015/06/daesh-sells-42-yazidi-women-to-militants-in-syria/, (letzter Zugriff: 07. Juli 2015). 74 Ebenda. 75 Gesellschaft für bedrohte Völker (2013). Syrien: Minderheiten in Angst. Abrufbar unter: https://www.gfbv.de/fileadmin/redaktion/Reporte_Memoranden/2013/Syrien-Memorandum__September _2013__Niklas_Freund.pdf, (Letzter Zugriff: 08. Juli 2015). 76 Aid to the Church in Need (2015). Country Reports. Syria. Abrufbar unter: http://religion-freedom-report .org.uk/wp-content/uploads/country-reports/syria.pdf, (letzter Zugriff: 03. Juli 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 115/15 Seite 20 werden die Alawiten durch die voranschreitende Radikalisierung der Opposition zunehmend aus religiösen Gründen verfolgt.77 Bereits im März 2013 wurden in dem mehrheitlich alawitisch besiedelten Regierungsbezirk Latakia 13 alawitische Dörfer von der freien syrischen Armee und ihren Verbündeten erobert. Dabei töteten sie knapp 200 Zivilisten und hielten über 200 weitere Zivilisten als Geiseln.78 Auch die als tolerant und offen geltende schiitische Glaubensgemeinschaft der Ismailiten sieht sich durch die zunehmende Radikalisierung der Opposition bedroht. Sie gelten – wie die Alawiten – bei einer großen Zahl der sunnitischen Muslime, besonders aber in der Opposition, aufgrund ihres Glaubens als „Abtrünnige“.79 4.3.4. Drusen Die religiöse Gemeinschaft der Drusen in Syrien umfasst ungefähr 300.000 Menschen, die sich auf den Gebirgszug Dschebel ad-Duruz im Südwesten Syriens konzentrieren. Diese Region wurde seit Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges 2011 weitgehend von Kämpfen verschont. Da die Drusen in der Vergangenheit wiederholt Opfer religiöser Verfolgung durch sunnitische Muslime waren , unter dem Assad-Regime ihre Religion jedoch weitgehend frei ausüben konnten, wahrten sie zunächst ihre Neutralität. Die anfängliche Neutralität der Drusen in dem bewaffneten Konflikt wandelte sich langsam und auch nur teilweise in eine Unterstützung der syrischen Opposition.80 So argumentiert eine Gruppe von Drusen, dass angesichts der religiösen Zusammensetzung Syriens (74 Prozent Sunniten; 13 Prozent Alawiten, Ismailiten, Schiiten) Präsident Assad nicht für einen Schutz der Minderheiten garantieren könne und den bewaffneten Konflikt aufgrund der zahlenmäßigen Überlegenheit der Opposition verlieren werde. Ein prominenter Fürsprecher für eine Kooperation der Drusen mit der syrischen Opposition ist Walid Jumblatt, Führer der libanesischen Drusen. Andere Angehörige der Glaubensgemeinschaft zeigen sich regimefreundlich in der Hoffnung auf Sicherheitsgarantien. Wiam Wahhab, ein drusischer Politiker im Libanon, spricht sich dafür aus, auf der Seite Assads zu kämpfen. Wie viele syrische Drusen sieht er die freie Religionsausübung in Syrien durch den IS und die Al-Nusra-Front, bedroht. In ihrer Haltung gestärkt sieht sich diese Gruppierung infolge der sich verschlechternden Sicherheitslage der Drusen in Syrien. Anfang Juni 2015 wurden 20 Bewohner des drusischen Dorfes Qalb al-Loza in der nordöstlichen Provinz 77 Aid to the Church in Need (2015).(Vgl. Fußnote 76). 78 Ebenda. 79 Gesellschaft für bedrohte Völker (2013). Syrien: Minderheiten in Angst. Abrufbar unter: https://www.gfbv.de/fileadmin/redaktion/Reporte_Memoranden/2013/Syrien-Memorandum__September _2013__Niklas_Freund.pdf, (Letzter Zugriff: 08.07.2015). 80 Ebenda. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 115/15 Seite 21 Idlib durch eine Miliz der Al-Nusra-Front getötet, darunter auch ein Kind.81 Die Bedrohung durch die sunnitische Opposition hat einige Mitglieder der drusischen Glaubensgemeinschaft Anfang Juni 2015 zur Unterstützung von Assads Armee veranlasst, wo sie eine nahe Sweida im Süden Syriens gelegene Militärbasis des Regimes gegen Angreifer der Al-Nusra-Front verteidigten .82 Wie auch in der christlichen Gemeinde verläuft die Kluft in der Loyalität zum Assad-Regime mitten durch die drusische Gemeinschaft.83 81 Syrian Observatory for Human Rights (2015). 20 civilians killed in Qalb al-Loza village which is inhabited by Druze. Abrufbar unter: http://www.syriahr.com/en/2015/06/20-civilians-killed-in-qalb-al-loza-village-which-isinhabited -by-druze/, (letzter Zugriff: 08.07.2015). 82 Syrian Observatory for Human Rights (2015). Syrian Druze join battle to push back rebels in south. Abrufbar unter: http://www.syriahr.com/en/2015/06/syrian-druze-join-battle-to-push-back-rebels-in-south/, (letzter Zugriff : 08.07.2015). 83 Syrian Observatory for Human Rights (2015.) For Syria’s Druze, survival hinges on choosing the right ally. Abrufbar unter: http://www.syriahr.com/en/2015/07/for-syrias-druze-survival-hinges-on-choosing-the-right-ally/, (letzter Zugriff: 08.07.2015).