WD 2 - 3000 - 106/17 (20. November 2017) © 2017 Deutscher Bundestag Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Die Pflicht zur Rettung von Menschen in Seenot ist als Ausdruck der Menschlichkeit tief verankert in der Jahrhunderte alten, maritimen Tradition und gilt gemeinhin als ungeschriebenes Völkergewohnheitsrecht.1 Sie gilt in jedem Bereich der See.2 Der klassische Fall einer Seenotrettung betraf Seefahrer, die auf ihrer Route mehr oder weniger zufällig Schiffe in Gefahr antrafen. Seefahrer, die hingegen aufbrechen, um gezielt nach Schiffbrüchigen zu suchen (wie im Falle der privaten Seenotrettungsorganisationen im Mittelmeer), unterliegen jedoch denselben gewohnheitsrechtlichen Verpflichtungen. Denn auch sie sind an die humanitären Prinzipien der Seenotrettung gebunden. Kodifiziert wurde die Pflicht zur Seenotrettung erstmals 1910 im Brüsseler Abkommen zur einheitlichen Feststellung von Regeln über Hilfeleistung und Bergung in Seenot3. Praktisch jede nachfolgende Übereinkunft über die Sicherheit auf See enthält eine entsprechende Vorschrift, etwa: 1 Nandan und Rosenne, UNCLOS 1982: A Commentary (1995), Vol III, S. 170 (171 f.); International Maritime Organization, „Note by the Secretariat: Place of Refuge” (20. Februar 2002), Dok. Nr. LEG 84/7, S. 2; Sachstand “Völkerrechtliche Schutzpflichten gegenüber Migranten in Seenot“ (31. Oktober 2013), WD 2 - 3000 - 078/13, S. 4; Barnes, „Refugee Law at Sea“, ILCQ, 2004, Vol. 53, S. 47 (49); Noyes, „Ships in Distress“ (2007), in Wolfrum (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, verfügbar unter: http://opil.ouplaw.com/home/EPIL (zuletzt aufgerufen am 20. November 2017); Rah, Asylsuchende und Migranten auf See (2007), S. 100; v. Brevern und Bopp, „Seenotrettung von Flüchtlingen“, ZaöRV, 2002, S. 841; von der Mühll, Hilfeleistung und Bergung in Seenot (1948), S. 52 f. 2 Sachstand, „Seenotrettung durch deutsche Kriegsschiffe“ (23. Februar 2016), WD 2 - 3000 - 034/16, S. 5. 3 Convention for the Unification of Certain Rules with Respect to Assistance and Salvage at Sea (unterzeichnet am 23. September 1910, in Kraft getreten am 1. März 1913), RGBl. 1913, Nr. 10, S. 66. Wissenschaftliche Dienste Kurzinformation Inhalt der völkerrechtlichen Verpflichtung zur Seenotrettung Inhalt der völkerrechtlichen Verpflichtung zur Seenotrettung Fachbereich WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Seite 2 − 1974: Internationales Übereinkommen zum Schutz menschlichen Lebens auf See – SOLAS (Anlage, Kapitel V, Bestimmung 10)4; − 1979: Internationales Übereinkommen über Seenotrettung – SAR (Anlage, Kapitel 2, Nr. 2.1.10)5; oder − 2004: VN-Seerechtsübereinkommen – SRÜ (Art. 98)6. Nach Art. 98 SRÜ hat jeder Kapitän die Pflicht, Schiffbrüchigen in Seenot Hilfe zu leisten. Es gibt mithin keine Unterschiede zwischen der Seenotrettung durch private oder staatliche Schiffe. Worin die Hilfeleistung konkret besteht, definiert das SRÜ nicht. Das mit Art. 98 SRÜ verfolgte Ziel, die Seenot bzw. Lebensgefahr effektiv zu beenden, dürfte es jedenfalls dann gebieten, die in Seenot geratenen Menschen an Bord des Schiffes zu nehmen, wenn der Lebensgefahr bzw. Seenot mit anderen Mitteln der Hilfeleistung – Unterstützung der zuständigen Küstenwacheeinheiten , Ausbringen von Rettungsmitteln, usw. – nicht effektiv begegnet werden kann.7 Nach Ziffer 3.1.9 des Annexes zum SAR sowie nach dem neu eingeführten Absatz 1.1 der Regel V/33 des SOLAS sind die Geretteten innerhalb einer angemessenen Zeit an einen „sicheren Ort“ zu bringen. Auch die vom Schiffssicherheitsausschuss (MSC) der IMO im Jahr 2004 verabschiedete Resolution MSC.167(78)8, welche Hinweise zur Behandlung von in Seenot geratenen Menschen gibt, sowie das von der IMO zuletzt im Jahr 2016 herausgegebene IAMSAR Manual,9 welches in Band 3 Ausführungen zur Art und Weise der Hilfeleistung enthält, sprechen allein davon, dass die Geretteten an einen „sicheren Ort“ gebracht werden sollen. Es geht also nach dem geltenden Seevölkerrecht im weiteren Fortgang nicht darum, die Geretteten in den „nächsten, sicheren Hafen“ zu bringen. Wann ein Ort sicher ist, spezifizieren die Resolution MSC.167(78) und die inhaltsgleichen, vom Verkehrsministerium erlassenen Richtlinien für die Behandlung von auf See geretteten Personen 4 International Convention for the Safety of Life at Sea (unterzeichnet am 1. November 1974, in Kraft getreten am 25. Mai 1980), 1184 UNTS 3, verfügbar unter: http://treaties.un.org/doc/Publication/UNTS/Volume %201184/volume-1184-I-18961-English.pdf (zuletzt aufgerufen am 20. November 2017). 5 Convention on Maritime Search and Rescue (unterzeichnet am 27. April 1979; in Kraft getreten am 22. Juni 1985), BGBl. 1982, Teil II, Nr. 20, S. 486. 6 United Nations Convention on the Law of the Sea (unterzeichnet am 10. Dezember 1982, in Kraft getreten am 16. November 1994), BGBl. 1994, Teil II, S. 1799, verfügbar unter: http://www.un.org/Depts/los/convention_agreements /convention_overview_convention.htm (zuletzt aufgerufen am 20. November 2017). 7 Sachstand, „Seenotrettung durch deutsche Kriegsschiffe“ (23. Februar 2016), WD 2 - 3000 - 034/16, S. 6. 8 Resolution MSC.167(78) vom 20. Mai 2004, verfügbar unter: http://www.imo.org/en/OurWork/Facilitation/personsrescued /Documents/MSC.167(78).pdf#search=Resolution%20MSC%2E167%2878%29 (zuletzt aufgerufen am 20. November 2017). 9 IMO, International Aeronautical and Maritime Search and Rescue Manual, Bd. III: Mobile Facilities (IMO, London, 2016), S. 2-39. Inhalt der völkerrechtlichen Verpflichtung zur Seenotrettung Fachbereich WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Seite 3 vom 1. Juli 200610 wie folgt: „6.12. Ein sicherer Ort (im Sinne des SAR) ist ein Ort, an dem die Rettungsmaßnahmen als beendet angesehen werden. Es ist auch ein Ort, an dem das Leben der Überlebenden nicht mehr weiter in Gefahr ist und an dem ihre menschlichen Grundbedürfnisse (wie zum Beispiel Nahrung, Unterkunft und medizinische Bedürfnisse) gedeckt werden können. Es ist weiter ein Ort, von dem aus Vorkehrungen für den Transport der Überlebenden zu ihrem nächsten oder endgültigen Bestimmungsort getroffen werden können. (…) 6.14 Ein sicherer Ort kann an Land sein oder sich an Bord eines Rettungsmittels oder eines anderen geeigneten Schiffes oder einer Einrichtung auf See befinden, die als ein sicherer Ort dienen können, bis die Überlebenden an ihrem nächsten Bestimmungsort ausgeschifft werden. 6.15 Die Übereinkommen (…) weisen darauf hin, dass bei der Verbringung an einen sicheren Ort die besonderen Umstände des Falles zu berücksichtigen sind. Zu diesen Umständen können beispielsweise Faktoren zählen wie die Situation an Bord des Hilfe leistenden Schiffes, Bedingungen vor Ort, medizinischer Bedarf und Verfügbarkeit von Transport- oder anderen Rettungsmitteln. Jeder Fall ist einzigartig, und bei der Auswahl eines sicheren Ortes können eine Vielzahl wichtiger Faktoren berücksichtigt werden müssen. (…) 6.18 In vielen Fällen kann das Hilfe leistende Schiff oder ein anderes Schiff die Überlebenden an einen sicheren Ort bringen. Stellt jedoch diese Aufgabe für das Schiff eine Erschwernis dar, sollten die Rettungsleitstellen versuchen, andere mögliche Alternativen zu arrangieren. (…) Anhang: Eigene Anmerkungen zu den geltenden Bestimmungen des Völkerrechts 3. (…) Zum Beispiel braucht ein sicherer Ort nicht unbedingt an Land zu liegen. Ein sicherer Ort sollte eher unter Bezugnahme auf seine Merkmale sowie auf das festgelegt werden, was er für die Überlebenden bereitstellen kann. Es ist ein Ort, an dem die Rettungsmaßnahme ihren Abschluss findet.“ Ein „sicherer Ort“ im Sinne der seevölkerrechtlichen Verpflichtungen ist damit nicht zwangsläufig nur ein sicherer Hafen. Ein „sicherer Ort“ kann grundsätzlich auch an Bord eines anderen, größeren Schiffes sein, wobei stets die konkreten Umstände des Einzelfalles maßgeblich sind. Bei der Einschätzung dürfte dem Kapitän des Hilfe leistenden Schiffes ein pflichtgemäßes Ermessen zukommen. Bei der Rückführung Geretteter in einen fremden Hafen haben Staatsschiffe das sog. refoulement -Verbot zu beachten. Nach Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention11 darf kein Vertragsstaat einen Flüchtling in Gebiete aus- oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde. Das Rückschiebeverbot gilt auch für jene Gegenden, wo eine konkrete Gefahr für Leib und Leben 10 Richtlinien für die Behandlung von auf See geretteten Personen, (2009) Verkehrsblatt, Heft 2, S. 64. 11 Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (unterzeichnet am 28. Juli 1951, in Kraft getreten am 22. April 1954), BGBl. 1953, Teil II, S. 560. Inhalt der völkerrechtlichen Verpflichtung zur Seenotrettung Fachbereich WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Seite 4 des Flüchtlings durch eine Bürgerkriegssituation besteht.12 Zudem hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2011 im Fall M.S.S. gegen Belgien entschieden, dass die Rückführung von Flüchtlingen nach Griechenland im Rahmen der Dublin II-Verordnung gegen Art. 3 EMRK verstößt, soweit in den Aufnahmelagern erniedrigende Haft- und Lebensbedingungen festgestellt werden.13 Auf private Schiffe müsste das refoulement-Verbot ausgedehnt werden, wenn dieses zu den zwingenden Regelungen des Völkerrechts i.S.d. Art. 53 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge14 zählen würde. Diese Frage scheint jedoch trotz guter Argumente für eine Ausdehnung noch nicht abschließend geklärt zu sein.15 Zur weiteren Vertiefung der bisher diskutierten Rechtsfragen im Zusammenhang mit der völkerrechtlichen Pflicht zur Seenotrettung sei auf die folgenden Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste verwiesen: - Sachstand, „Rechtsfragen bei Seenotrettungseinsätzen innerhalb einer libyschen SAR- Zone im Mittelmeer“ (25. August 2017), WD 2 - 3000 - 075/17 (Anlage 1); - Sachstand, „Der italienische Verhaltenskodex für private Seenotretter im Mittelmeer: Völker-, europa- und strafrechtliche Aspekte“ (31. Juli 2017), WD 2 - 3000 - 068/17 (Anlage 2); - Sachstand, „Der italienische Verhaltenskodex für private Seenotretter im Mittelmeer: Völkerrechtliche Aspekte“ (31. Juli 2017), WD 2 - 3000 - 067/17 (Anlage 3); - Sachstand, „Die völkerrechtliche Pflicht zur Seenotrettung Verpflichtungen eines Küstenstaates nach dem Übereinkommen über Seenotrettung, das Refoulement-Verbot und die Strafverfolgung am Beispiel jüngster Vorfälle im Mittelmeer“ (19. Juni 2017) WD 2 - 3000 - 053/17 (Anlage 4); - Sachstand, „Rechtliche Konsequenzen einer Behinderung von Seenotrettern“ (11. November 2016), WD 2 - 3000 - 138/16 (Anlage 5); - Sachstand, „Seenotrettung durch deutsche Kriegsschiffe“ (23. Februar 2016), WD 2 - 3000 - 034/16 (Anlage 6); sowie - Sachstand, „Völkerrechtliche Schutzpflichten gegenüber Migranten in Seenot“ (31. Oktober 2013), WD 2 – 3000 – 078/13 (Anlage 7). *** 12 Sachstand, „Völkerrechtliche Aspekte der Rückführung von Flüchtlingen in die Türkei durch die Deutsche Marine im Rahmen der NATO-Seeraumüberwachungsoperation in der Ägäis“ (15. März 2016), WD 2 - 3000 - 040/16, S. 5. 13 Ibid. 14 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (geschlossen am 23. Mai 1969, in Kraft getreten am 27. Januar 1980), BGBl. 1985, Teil II, S. 926. 15 Sachstand, „Der italienische Verhaltenskodex für private Seenotretter im Mittelmeer: Völker-, europa- und strafrechtliche Aspekte“ (31. Juli 2017), WD 2 - 3000 - 068/17, S. 16.