© 2020 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 105/20 Schlafentzug im Lichte des Folterverbots im Völkerrecht Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 105/20 Seite 2 Schlafentzug im Lichte des Folterverbots im Völkerrecht Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 105/20 Abschluss der Arbeit: 10. Dezember 2020 (zugleich letzter Zugriff auf die Internetlinks) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 105/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Das Folterverbot im Völkerrecht 4 2. Definition der Folter in der VN-Antifolterkonvention und Schlafentzug als mögliche Foltermethode 4 3. Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK 9 4. Zusammenfassung 12 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 105/20 Seite 4 1. Das Folterverbot im Völkerrecht Der Auftraggeber/die Auftraggeberin fragt nach einer Definition von Schlafentzug als Folter im Sinne der VN-Antifolterkonvention. Hintergrund der Anfrage sind die Proteste im Dannenröder Forst, bei denen nach Angaben der Auftraggeberin/des Auftraggebes mehrere Personen inhaftiert wurden, und über mehrere Tage hinweg nachts alle ein- bis eineinhalb Stunden geweckt worden seien.1 Dieses Vorgehen ist mit Suizidgefahr begründet worden. Die Inhaftierten würden dabei so lange angeleuchtet, bis sie sich bewegen.2 Das bedeutete für sie nie mehr als anderthalb Stunden durchgängigen Schlaf pro Nacht. Inhaltlich beschränkt sich dieser Sachstand auf die Bewertung von andauerndem Schlafentzug als mögliche Verletzung des Folterverbots im Völkerrecht. Art. 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR), Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und Art. 7 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPbR) enthalten das Verbot von Folter sowie das Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung. Ergänzt werden diese Vorschriften durch das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (VN-Antifolterkonvention ). Das Folterverbot ist zudem gewohnheitsrechtlich anerkannt und gilt als zwingendes Recht (ius cogens), das auch im Falle des Notstandes nicht beschränkt werden darf.3 2. Definition der Folter in der VN-Antifolterkonvention und Schlafentzug als mögliche Foltermethode Die VN-Antifolterkonvention (Convention against Torture, CAT) enthält in Art. 1 Abs. 1 CAT eine allgemeine Definition von Folter. Hiernach bezeichnet der Ausdruck „Folter" jede Handlung , durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden . 1 Siehe zu den Inhaftierungen: Spiegel-online vom 28. Oktober 2020, „Abseilaktion über Autobahnen in Hessen - neun Aktivisten in U-Haft“, https://www.spiegel.de/panorama/justiz/abseilaktion-ueber-autobahnen-in-hessenneun -aktivisten-in-u-haft-a-e8bd3c7d-a30c-4624-bc6a-ac3417953df8. 2 Zu den Einzelheiten: heise online vom 15. November 2020, „Klimaaktivisten wegen gewaltfreien Widerstand in Haft“, https://www.heise.de/tp/features/Klimaaktivisten-wegen-gewaltfreien-Widerstand-in-Haft-4960560.html; Pressemitteilung des Bundesvorstandes Rote Hilfe e.V. vom 11. November 2020, https://www.rotehilfe .de/news/bundesvorstand/1095-jva-frankfurt-macht-rote-hilfe-e-v-zu-einer-verfassungswidrigen-organisation -gefangene-leiden-zusaetzlich-unter-isolation-und-schlafentzug. 3 Art. 4 Abs. 2 Zivilpakt; Art. 15 Abs. 2 EMRK. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 105/20 Seite 5 Die Leidenszufügung muss zu einem bestimmten Zweck erfolgen. Beispielhaft nennt Art. 1 Abs. 1 CAT die Erlangung einer Aussage oder eines Geständnisses der betreffenden Person oder eines Dritten, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen oder um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen. Nicht erfasst sind Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind. Unter einer grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 16 Abs. 1 CAT sind erhebliche körperliche oder seelische Verletzungen zu verstehen. Entscheidendes Abgrenzungskriterium zur Folter nach Art. 1 Abs. 1 CAT ist dabei nicht die Intensität des Leidens sondern der Zweck der Leidenszufügung und die Machtlosigkeit des Opfers.4 Die Anwendung des Begriffs der Folter kann im Einzelfall zu schwierigen Abgrenzungsfragen führen. Insbesondere die Frage, ob eine Leidenszufügung „groß“ ist und damit eine gewisse Intensitätsschwelle erreicht wird, kann von den Betroffenen unterschiedlich beurteilt werden. Der Bericht des VN-Sonderberichterstatters über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, P. Kooijmans vom 9. Februar 1986 enthält Beispiele dafür, welche Folterpraktiken von der VN-Antifolterkonvention umfasst sein sollen.5 Auf Seite 29 des Berichts werden unter anderem die andauernde Verweigerung von Ruhephasen und Schlaf als eine mögliche Foltermethode bezeichnet. Der Folterbegriff setzt voraus, dass der/die Betroffene zielgerichteten Quälereien ausgesetzt worden ist, die von erheblicher Intensität sind und zu einer großen Leidenszufügung führen.6 Dass dauerhafter Schlafentzug die Gesundheit beeinträchtigen kann, ist wohl allgemein wissenschaftlich dokumentiert.7 Andauernder Schlafentzug zählt zudem zur psychischen Folter, da er keine sichtbaren Spuren beim Betroffenen hinterlässt. Eine Definition, wann Schlafentzug eine entsprechende Intensität erreicht, beziehungsweise welche Schlafdauer noch als angemessen erachtet werden kann, enthält der genannte Bericht jedoch nicht. 4 Manfred Nowak/Elisabeth Mc Arthur, The United Nations Convention against torture, A Commentary, New York: Oxford University Press 2008, S. 558. 5 Bericht des VN-Sonderberichterstatters über Folter E/CN.4/1986/15 vom 19. Februar 1986, https://ap.ohchr .org/documents/E/CHR/report/E-CN_4-1986-15.pdf. 6 Vgl. dazu Informationsportal zur VN-Antifolterkonvention, „Definition der Folter“, https://www.antifolterkonvention .de/definition-der-folter-3153/. 7 Siehe dazu z. B.: Metin Basoglu/Maria Livanou/Cvetana Crnobaric´, „Torture vs Other Cruel, Inhuman, and Degrading Treatment“, in: Archives of General Psychiatry 2007, 277-285 (283), https://www.researchgate .net/publication/6466252_Torture_vs_Other_Cruel_Inhuman_and_Degrading_Treatment. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 105/20 Seite 6 In den folgenden Berichten der VN-Sonderberichterstatters über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung gegenüber der VN-Menschenrechtskommission sowie in den Berichten des VN-Ausschusses gegen Folter wurde andauernder Schlafentzug regelmäßig im Zusammenhang mit Folter genannt.8 Daraus lässt sich zunächst schließen, dass andauernder Schlafentzug grundsätzlich zu Folter oder unmenschlicher Behandlung im Sinne der VN-Antifolterkonvention führen kann. Allerdings trat der in den Berichten genannte andauernde Schlafentzug nicht isoliert auf, sondern wurde im Zusammenhang mit weiteren Misshandlungen ausgeübt. Daher ist fraglich, ob andauernder Schlafentzug isoliert betrachtet, bereits die nach Art. 1 Abs. 1 CAT erforderliche Intensität erreicht. Ein Beispiel, das in Zusammenhang mit der Definition von Folter in der VN-Antifolterkonvention aufgeführt wird, sind die Vernehmungen palästinensischer Häftlinge durch israelische Sicherheitskräfte in den späten 1980er und 1990er Jahren.9 Die Sicherheitskräfte waren von der israelischen Regierung autorisiert „moderate physische Gewalt“ gegenüber den Inhaftierten auszuüben . Die Methoden, die von den Sicherheitskräften angewandt wurden, waren heftiges Schütteln , Überziehen von Säcken, lang andauerndes Anketten in schmerzhaften Stellungen, lang andauerndes Abspielen lauter Musik, Zwang zum lang andauernden Kauern auf den Zehenspitzen sowie auch lang andauernder Schlafentzug.10 Der damalige VN-Sonderberichterstatter über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Sir N. Rodley, stellte in seinem Bericht vom 10. Januar 1997 fest, dass jede Maßnahme für sich genommen möglicherweise keine großen körperlichen oder seelischen Schmerzen oder Leiden hervorrufe. Die Kombination dieser Maßnahmen (und die Maßnahmen wurden häufig gemeinsam angewendet) könne aber die geforderte Intensität erreichen. Gerade 8 Siehe u. a. Bericht des VN-Ausschusses gegen Folter A/52/44 vom 10. September 1997, Nr. 56, https://www.refworld.org/docid/453776a62.html. Bericht des VN-Sonderberichterstatters über Folter E/CN.4/1997/7 vom 10. Januar 1997, Nr. 121, https://unispal.un.org/DPA/DPR/unispal.nsf/0/D015226692B7C5CB85256CF500750681; Bericht des VN-Sonderberichterstatters über Folter CN.4/2006/Add.6 vom 10. März 2006, Nr. 45, https://undocs .org/E/CN.4/2006/6/Add.6. Bericht des VN-Sonderberichterstatters über Folter A/HRC/13/39/Add.5 vom 5. Februar 2010, Nr. 55, https://undocs.org/A/HRC/13/39/Add.5. Für eine ausführliche Untersuchung von Schlafentzug als Folter siehe auch: Ergün Cakal, „Befogging reason, undermining will: „Understanding sleep deprivation as torture and other ill-treatment in international law“, in: TORTURE Volume 29,2019, S. 14, https://www.researchgate.net/publication/336740365_Befogging_reason_undermining _will_Understanding_sleep_deprivation_as_torture_and_other_ill-treatment_in_international_law. Der Autor ist Rechtsberater beim Danish Institute against Torture (DIGNITY). 9 Manfred Nowak/Elisabeth Mc Arthur, The United Nations Convention against torture, A Commentary, New York: Oxford University Press 2008, S. 55-58. 10 Avishai Ehrlich/Margret Johannsen, „Folter im Dienste der Sicherheit? Terrorismus und Menschenrechte am Beispiel der Vernehmungspraxis des israelischen Inlandgeheimdienstes Shin Bet gegenüber palästinensischen Häftlingen“, in: Jana Hasse u.a. (Hrsg.), „Menschenrechte: Bilanz und Perspektiven“, Baden-Baden: Nomos 2002, S. 332-359 (350), https://socialhistoryportal.org/sites/default/files/raf/0120020000_0.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 105/20 Seite 7 wenn diese Maßnahmen auf einer lang anhaltenden Basis angewandt würden, etwa mehrere Stunden oder sogar über Tage und Wochen hinweg, könne man hier nur von Folter sprechen.11 Der israelische High Court of Justice entschied im Jahre 1999, dass die genannten Vernehmungsmethoden die Menschenwürde verletzten und nach israelischem Recht unrechtmäßig seien. Das Urteil nahm keinen Bezug auf internationales Recht und die VN-Antifolterkonvention. Der VN-Ausschuss gegen Folter begrüßte das Urteil, kritisierte aber zugleich, dass andauernder Schlafentzug, der lediglich als Nebenfolge einer langen Vernehmung auftrete, nicht durch das Gericht verboten worden sei.12 Mit Blick auf die Republik Korea äußerte der VN-Ausschuss gegen Folter große Bedenken, nachdem Nichtregierungsorganisationen berichteten, politische Verdächtige würden unter Anwendung von Folter vernommen, um an ein Geständnis zu gelangen. Der Ausschuss stellte fest, dass andauernder Schlafanzug gegenüber Inhaftierten in einigen Fällen Folter darstellen könne und die regelmäßige Anwendung dieser Methode durch die Behörden inakzeptabel sei.13 Wie lange genau den Inhaftierten der Schlaf entzogen wurde, lässt sich nicht ermitteln. Der Schlafentzug wurde in Verbindung mit Einschüchterungen und Drohungen und teilweise mit Schlägen angewandt .14 Im Jahre 2006 veröffentlichte der damalige VN-Sonderberichterstatter über Folter, Manfred Nowak, einen Bericht über das Gefangenenlanger Guantanamo.15 In einem Interview mit Zeit online zu den Ergebnissen der Untersuchung nimmt er auch zu Schlafentzug Stellung: 11 Bericht des VN-Sonderberichterstatters über Folter E/CN.4/1997/7 vom 10. Januar 1997, Nr. 121, https://unispal.un.org/DPA/DPR/unispal.nsf/0/D015226692B7C5CB85256CF500750681. 12 Bericht des VN-Ausschusses gegen Folter A/57/44 vom 1. November 2002, Nr. 52, https://www.refworld.org/docid/3f2cebb04.html; Manfred Nowak/Elisabeth McArthur, The United Nations Convention against Torture, A Commentary, New York: Oxford University Press 2008, S. 58. 13 Bericht des VN-Ausschusses gegen Folter A/52/44 vom 10. September 1997, Nr. 56, https://www.refworld.org/docid/453776a62.html. 14 Siehe dazu den Bericht des VN-Ausschusses gegen Folter zu der Republik Korea CAT/C/SR.266 vom 18. November 1996, Nr. 13, https://digitallibrary.un.org/record/229280?ln=ar. 15 Bericht zur Situation der Gefangenen in Guantanamo an den VN-Menschenrechtsausschuss E/CN.4/2006/120 vom 27. Februar 2006, https://undocs.org/E/CN.4/2006/120. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 105/20 Seite 8 „Nicht jeder Schlafentzug ist ja zum Beispiel automatisch Folter. Aber Schlafentzug über längere Zeit zum Zwecke der Desorientierung ist Folter, sobald er schweres Leiden bei der betroffenen Person verursacht. Und es gibt Beweise, dass Menschen vierzehn Tage lang jede Viertelstunde aufgeweckt wurden.“16 Im Jahre 2014 kritisierte der VN-Ausschuss gegen Folter in seinen abschließenden Bemerkungen zum dritten bis fünften Staatenbericht zu den USA, die Vernehmungsregeln des amerikanischen Militärs (United States Army Manual) enthielten eine Vorschrift, nach der Inhaftierte alle 24 Stunden nur vier Stunden schlafen durften. Diese Methode war laut der Vorschrift zunächst für 30 Tage anwendbar und konnte anschließend verlängert werden. Der Ausschuss forderte die USA auf, diese Regel umgehend abzuschaffen, da eine solche Vorschrift zu dauerhaftem Schlafentzug führen könne und eine Misshandlung darstelle.17 Aus den beiden zuletzt genannten Fällen mit Bezug zu den USA lässt sich schließen, dass Schlafentzug nicht unmittelbar zu einer Misshandlung führt. Maßgeblich sind vielmehr die Umstände des Einzelfalls, insbesondere der Zweck und die Dauer des Schlafentzugs. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine genaue Definition wann andauernder Schlafentzug zu Folter oder unmenschlicher Behandlung im Sinne der VN-Antifolterkonvention führt fehlt.18 Entscheidend ist daher eine Einzelfallbetrachtung. Berichte der VN-Sonderberichterstatter und des VN-Ausschusses gegen Folter haben wiederholt andauernden Schlafentzug als Misshandlung verurteilt. Schlafentzug wurde dabei meist im Zusammenhang mit Vernehmungssituationen kritisiert und wurde in Kombination mit anderen Typen von Misshandlungen angewendet . Maßgebend für die Bewertung von Schlafentzug als Verletzung der VN-Antifolterkonvention ist zudem die Dauer des Schlafentzugs. Damit Schlafentzug als Folter im engeren Sinne qualifiziert werden kann, muss dieser zielgerichtet eingesetzt werden, etwa um von dem Betroffenem ein Geständnis zu erlangen. 16 Zeit-online vom 5. April 2006, „Folter macht wahnsinnig“, https://www.zeit.de/feuilleton/kursbuch_163/nowak /komplettansicht. Weitere in Guantanamo eingesetzte Verhörtechniken waren beispielsweise das Verharren in Stresspositionen, der Einsatz von Hunden, der Einsatz von Kälte, Isolationshaft, Waterboarding und das Einsperren in Käfige, um von den Gefangenen Informationen zu erlangen. 17 Bericht des VN-Ausschusses gegen Folter CAT/C/USA/CO/3-5 vom 19. Dezember 2014, Nr. 17, https://undocs .org/CAT/C/USA/CO/3-5. Die Bemerkungen des VN-Ausschusses gegen Folter sind völkerrechtlich nicht bindend. Vgl.: Ergün Cakal, „Befogging reason, undermining will: „Understanding sleep deprivation as torture and other ill-treatment in international law“, in: TORTURE Volume 29, 2019, S. 15, https://www.researchgate.net/publication /336740365_Befogging_reason_undermining_will_Understanding_sleep_deprivation_as_torture _and_other_ill-treatment_in_international_law; Siehe auch: The Guardian vom 28. November 2014, „UN torture report condemns sleep deprivation among US detainees“, https://www.theguardian.com/law/2014/nov/28/un-condemns-sleep-deprivation-among-us-detainees . 18 So auch: Ergün Cakal, „Befogging reason, undermining will: „Understanding sleep deprivation as torture and other ill-treatment in international law“, in: TORTURE Volume 29, 2019, S. 12, https://www.researchgate .net/publication/336740365_Befogging_reason_undermining_will_Understanding_sleep_deprivation_as_torture _and_other_ill-treatment_in_international_law. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 105/20 Seite 9 3. Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verbietet die Anwendung von Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen oder Strafe. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) versteht unter Folter in ständiger Rechtsprechung eine vorsätzliche und unmenschliche Behandlung, die sehr schweres und grausames Leiden verursacht und zieht zur Begriffsbestimmung Art. 1 der VN-Antifolterkonvention heran (s.o.).19 Als unmenschliche Behandlung betrachtet der EGMR die vorsätzliche und länger andauernde Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids. Bei einer erniedrigenden Behandlung steht hingegen nicht die Zufügung großen körperlichen oder seelischen Leids, sondern die Demütigung des Opfers im Vordergrund.20 Für die Anwendung von Art. 3 EMRK fordert der EGMR zudem ein Mindestmaß an Schwere der Misshandlung. Die Beurteilung, ob dieses Mindestmaß erreicht ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, z.B. der Dauer, den körperlichen und seelischen Auswirkungen und ggf. dem Alter , Geschlecht und Gesundheitszustand des Opfers.21 Der EGMR hat sich in der Vergangenheit wiederholt mit Schlafentzug im Rahmen einer Prüfung von Art. 3 EMRK befasst. Dabei spielte Schlafentzug entweder in Zusammenhang mit Vernehmungsmethoden oder mit Haftbedingungen eine Rolle. In einem viel beachteten Urteil aus dem Jahre 1978 befasste sich der EGMR mit Befragungsmethoden durch die Briten gegenüber Gefangenen in Nordirland. Der Gerichtshof entschied, die systematisch angewandten fünf „Vernehmungstechniken“- stundenlanges Stehen in unbequemen Positionen, Aufsetzen von Hüllen über den Kopf, dauerhafter intensiver Lärm, Schlafentzug und unzureichende Versorgung mit Essen und Trinken - hätten in ihrer Gesamtheit gegen das Verbot unmenschlicher Behandlung nach Art. 3 EMRK verstoßen, stellten aber keine Folter dar.22 19 Meyer-Ladewig/Lehnert, in: Mayer-Ladewig, u.a. (Hrsg.), Europäische Menschenrechtskonvention, Handkommentar, Baden-Baden, u.a.: Nomos, u.a. 4. Aufl. 2017, Art. 3 EMRK Rdnr. 19-25; EGMR, Selmouni gegen Frankreich, Urteil vom 28. Juli 1999, Nr. 25803/94, NJW 2001, 56. 20 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, München: Beck, 6. Aufl. 2016, § 20 Rdnr. 48-50. 21 Sinner, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, München: Beck, 2. Aufl. 2015, Art. 3 EMRK Rdnr. 6. 22 EGMR, Irland gegen Großbritannien, Urteil vom 18. Januar 1978, Nr. 5310/71, https://hudoc .echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-57506%22]}; anders die Beurteilung der Europäische Menschenrechtskommission in einem Bericht. v. 25. Januar 1976, die diese Methoden als Folter qualifizierte. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 105/20 Seite 10 Damals legte der Gerichtshof den Folterbegriff eng aus und nahm eine Folter wohl nur bei einer physischen Verletzung des Opfers an.23 Für eine Vernehmung, bei der ein Gefangener über zwei Tage und 19 Stunden hinweg gezwungen wurde die gesamte Zeit über auf einem Stuhl zu sitzen und in der Folge nicht schlafen konnte, nahm der Gerichtshof ebenfalls einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK an. Die physischen und mentalen Auswirkungen auf den Beschwerdeführer seien von solch einer Schwere, dass sie nicht mit dem Verbot der unmenschlichen Behandlung aus Art. 3 EMRK vereinbar seien.24 Haftbedingungen verletzen Art. 3 EMRK, wenn sie erhebliches physisches oder psychisches Leid verursachen, die Menschenwürde verletzen oder zu einer Erniedrigung der Inhaftierten führen.25 In diesem Zusammenhang hat sich der EGMR immer wieder mit Schlafentzug als Folge von unangemessenen Schlafgelegenheiten in überfüllten Haftanstalten befasst. So stellte der EGMR fest, dass es nicht hinnehmbar sei, wenn die Gefangenen wegen der akuten Überbelegung in einer Zelle abwechselnd schlafen müssen und sich trotzdem immer noch zwei bis drei Personen ein Bett teilen müssen.26 Berücksichtigt wurden dabei auch weitere Umstände der Haftbedingungen, wie beispielsweise eine ununterbrochene Beleuchtung der Zelle, allgemeine Unruhe und Lärm, angemessene Belüftung, hygienische Bedingungen und sanitäre Verhältnisse, ausreichende Ernährung , Erholung, Außenkontakte sowie die Dauer der Haft.27 Im Fall Lecomte gegen Deutschland aus dem Jahre 2016 befasste sich der Gerichtshof mit den Haftbedingungen einer Demonstrantin gegen einen Castortransport.28 Die Beschwerdeführerin rügte unter anderem, sie habe nicht schlafen können, da die Zelle die ganze Nacht beleuchtet gewesen sei und die Lüftung Lärm verursacht habe. Die Richter verneinten eine Verletzung von Art. 3 EMRK. Zwar könne Schlafentzug durch ununterbrochene Beleuchtung und Lärm für den Gefangenen eine physische und psychische Belastung darstellen. Im vorliegenden Fall sei aber 23 Gaede, in: Knauer, u.a. (Hrsg.), Münchener Kommentar zur StPO, München: Beck, 1. Aufl. 2018, Art. 3 EMRK Rdnr. 19-20. Inzwischen legt der EGMR den Folterbegriff hingegen in Anlehnung an Art. 1 der VN-Antifolter- Konvention aus (s.o.), weshalb Folter öfter angenommen werden kann. Siehe dazu: EGMR, Selmouni gegen Frankreich, Urteil vom 28. Juli 1999, Nr. 25803/94, NJW 2001, 56. 24 EGMR, Mader gegen Kroatien, Urteil vom 21. Juni 2011, Nr. 56185/07, https://hudoc .echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-105293%22]}. Siehe auch: Ergün Cakal, „Befogging reason, undermining will: „Understanding sleep deprivation as torture and other ill-treatment in international law“, in: TORTURE Volume 29, 2019, S. 17, https://www.researchgate.net/publication/336740365_Befogging_reason_undermining _will_Understanding_sleep_deprivation_as_torture_and_other_ill-treatment_in_international_law. 25 Sinner, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, München: Beck, 2. Aufl. 2015, Art. 3 EMRK Rdnr. 12. 26 Siehe dazu etwa EGMR, Ananyev und andere gegen Russland, [Piloturteil], Urteil vom 10. Januar 2012, Nr. 42525/07 und 60800/08, https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-108465%22]}; EGMR, Kalashnikov gegen Russland, Urteil vom 15. Juli 2002, Nr. 47095/99, NVwZ 2005, S. 303. 27 Meyer-Ladewig/Lehnert, in: Mayer-Ladewig, u.a. (Hrsg.), Europäische Menschenrechtskonvention, Handkommentar, Baden-Baden, u.a.: Nomos, u.a. 4. Aufl. 2017, Art. 3 EMRK Rdnr. 29; EGMR, Kalashnikov gegen Russland, Urteil vom 15. Juli 2002, Nr. 47095/99, NVwZ 2005, S. 303. 28 EGMR, Lecomte gegen Deutschland, Urteil vom 6. Oktober 2015, Nr. 80442/12, NVwZ 2016, 1387. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 105/20 Seite 11 ein Mindestmaß an Schwere nicht erreicht worden. Nachdem die Beschwerdeführerin aus unklaren Gründen auf den Schrank in ihrer Zelle geklettert war und es ablehnte, herunterzukommen , ließen die Polizeibeamten das Licht in der Zelle zur Sicherheit eingeschaltet und sahen regelmäßig nach ihr. Die Beschwerdeführerin habe deshalb durch ihr auffälliges Verhalten selbst dazu beigetragen, dass die Zelle in der Nacht beleuchtet werden musste. Bei der Prüfung der Haftbedingungen hat der Gerichtshof zudem die „kumulative Wirkung der Bedingungen“ berücksichtigt und bei der Bewertung insbesondere auch auf die relativ kurze Dauer des Gewahrsams sowie den Umfang, in dem der Gefangenen die Beschäftigung im Freien erlaubt wurde, abgestellt .29 In einer Reihe von Fällen setzte sich der Gerichtshof zudem mit unmenschlichen Bedingungen auf Gefangenentransporten auseinander.30 Im Jahre 2019 verurteilte der EGMR Russland wegen einer Verletzung von Art. 3 EMRK, nachdem Gefangene auf einer 2.200 Kilometer langen Strecke wachbleiben mussten, weil es in den Zügen nicht genügend Schlafplätze gab. Zudem mussten die Beschwerdeführer bei einer Fahrtpause 15 Stunden lang in einem unbeheizten Waggon warten , obwohl draußen Minusgerade herrschten. Während eines Tages durften die Beschwerdeführer nur zwei Mal die Toilette benutzen und erhielten nur drei Gläser Wasser pro Tag für die Dauer einer insgesamt 62-stündigen Reise.31 In einem anderen Fall wurde der Beschwerdeführer 65 Stunden lang auf beengtem Raum (zwei Quadratmeter) transportiert. Der Beschwerdeführer wurde durch die Sicherheitskräfte alle zwei Stunden kontrolliert und dazu angehalten, seine Position zu verändern. Die Zelle war zudem ununterbrochen beleuchtet. Der Gerichtshof entschied, der daraus resultierende Schlafentzug habe eine erhebliche körperliche und psychische Belastung für den Beschwerdeführer dargestellt. Er kam zu dem Schluss, dass der Schlafentzug in Kombination mit der Dauer des Transports, dem begrenzten Raum, der unangemessenen Belüftung und Beleuchtung sowie einer unzureichenden Nahrungsmittelversorgung eine unmenschliche Behandlung sei und gegen Art. 3 EMRK verstoße.32 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der EGMR sich wiederholt mit Schlafentzug als Verstoß gegen das Verbot aus Art. 3 EMRK befasst hat. Dabei wurde andauernder Schlafentzug nicht als Folter, wohl aber als unmenschliche Behandlung qualifiziert. Über allgemein gültige Kriterien, wann Schlafentzug zu einer Misshandlung führt, geben auch die genannten Entscheidungen des EGMR keinen Aufschluss. Entscheidend sind vielmehr die Umstände des Einzelfalls sowie eine kumulative Wirkung der Bedingungen, der die Betroffenen ausgesetzt sind. 29 Ebd. 30 beck-aktuell vom 9. April 2019, „EGMR verurteilt Russland wegen unmenschlicher Gefangenentransporte, https://beck-online.beck.de/Dokument?vpath=bibdata%2Freddok%2Fbecklink %2F2012802.htm&pos=2&hlwords=on. Dort heißt es u. a.: „Die Straßburger Richter bemängeln in ihrem Urteil ein strukturelles Problem bei Gefangenentransporten in Russland. Derzeit warteten noch Hunderte ähnlicher Beschwerden auf ihre Bearbeitung. 31 EGMR, Tomov u.a. gegen Russland, Urteil vom 9. Juli 2019, Nr. 18255/10, https://hudoc .echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-192209%22]}. 32 EGMR, Guliyev gegen Russland, Urteil vom 19. Juni 2008, Nr. 24650/02, https://hudoc .echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-87045%22]}. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 105/20 Seite 12 4. Zusammenfassung Andauernder Schlafentzug kann zu Folter oder einer unmenschlichen Behandlung führen. Während die VN-Berichterstatter über Folter und der VN-Ausschuss gegen Folter Schlafentzug sowohl im Zusammenhang mit Folter als auch mit einer unmenschlichen Behandlung benannt haben , hat der EGMR Schlafentzug nach hiesigem Kenntnisstand „nur“ als Verstoß gegen das Verbot einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung verurteilt. Eine genaue Definition und genaue Kriterien, wann Schlafentzug eine Misshandlung für den Betroffenen bedeutet, fehlen . Entscheidend ist deshalb stets eine Würdigung der Gesamtumstände des konkreten Falls. Zudem muss die Behandlung ein Mindestmaß an Schwere erreichen. In Bezug auf Schlafentzug als mögliche Folter muss zudem unterschieden werden zwischen einem absichtlichen Schlafentzug zum Beispiel als verbotene Vernehmungsmethode (mit dem Ziel einer Geständniserlangung oder Einschüchterung) und dem regelmäßigen Aufwachen eines Inhaftierten als Folge einer wiederkehrenden Kontrolle im Rahmen einer Suizidprävention während der Untersuchungshaft. 33 Hier kommt der Staat seiner Schutzpflicht für die Gefangenen nach, auch wenn sich die gesundheitlichen Folgen dieses Schlafentzugs wohl nicht unterscheiden.34 Zuvor muss eine Abwägung zwischen der Selbstbestimmung der Gefangenen einerseits und der Pflicht des Staates, das Leben der Gefangenen zu schützen andererseits, stattfinden. Im Ergebnis trifft den Staat die Pflicht, suizidgefährdete Personen in seinem Gewahrsam zu überwachen.35 Etwas anderes kann sich aus Sicht der Verfasserin/des Verfassers nur dann ergeben, wenn die Anordnung der Suizidprävention missbräuchlich erfolgen würde, um dem Inhaftierten Leid zuzufügen oder ein Geständnis zu erpressen. *** 33 Vgl. dazu den Beitrag von Henning Ernst Müller, „Suizidprophylaxe oder Folter? Zum Fall Middelhoff“, beckblog , 8. April 2015, https://community.beck.de/2015/04/08/suizidprophylaxe-oder-folter-zum-fall-middelhoff. 34 Aus Art. 2 EMRK ergibt sich eine besondere Schutzpflicht des Staates gegenüber Gefangenen, da sie sich in einem besonderen Näheverhältnis zum Staat befinden. Vgl. dazu Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention , München: Beck, 6. Aufl. 2016, § 20 Rdnr. 27-28. 35 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, München: Beck, 6. Auflage 2016, § 20 Rdnr. 27-28.