© 2017 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 104/17 Mandatierung von völkerrechtlich umstrittenen Auslandseinsätzen der Bundeswehr im Lichte völkerstrafrechtlicher Verantwortlichkeit Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/17 Seite 2 Mandatierung von völkerrechtlich umstrittenen Auslandseinsätzen der Bundeswehr im Lichte völkerstrafrechtlicher Verantwortlichkeit Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 104/17 Abschluss der Arbeit: 27. November 2017 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/17 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Jurisdiktion des Internationalen Strafgerichtshofs über das Aggressionsverbrechen 4 2. Auslandseinsätze der Bundeswehr auf völkerrechtlich umstrittener Rechtsgrundlage 5 3. Thematisierung im Deutschen Bundestag 6 4. Das Aggressionsverbrechen im Völkerrecht und im nationalen Recht 7 5. Schwellenklausel 9 6. Folgerungen für militärische Auslandseinsätze im „Grauzonenbereich“ 12 6.1. Humanitäre Intervention 13 6.2. Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure 14 6.3. Präventive Selbstverteidigung 14 7. Offene Fragen und Handlungsempfehlungen 15 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/17 Seite 4 1. Jurisdiktion des Internationalen Strafgerichtshofs über das Aggressionsverbrechen Im Dezember 2017 beschließen die Vertragsstaaten des Römischen Statuts nach Maßgabe des auf der Vertragsstaatenkonferenz von Kampala1 im Jahre 2010 neu eingefügten Art. 15bis Abs. 3 des Römischen Statuts2 über die künftige Jurisdiktion des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) in Bezug auf das Aggressionsverbrechen (crime of aggression).3 Angesichts der Möglichkeit des IStGH, künftig über Fälle entscheiden zu können, bei denen es (auch) um das Vorliegen eines Angriffskrieges geht, erhält die Diskussion über die völkerrechtlichen Grundlagen von Militäreinsätzen eine neue Stoßrichtung.4 Denn neben die völkerrechtliche Verantwortung eines Staates für die Rechtmäßigkeit seiner Militäreinsätze5 tritt nunmehr auch die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit von staatlichen Führungsorganen, die als Staatsoberhäupter, Regierungschefs, Politiker oder militärische Befehlshaber für den Einsatz verantwortlich zeichnen.6 1 Vgl. dazu Kreß, Claus, Durchbruch in Kampala, in: Vereinte Nationen (Zeitschrift) 2010, S. 260-265. 2 IStGH-Statut vom 17.7.1998, BGBl. 2000 II, S. 1394. 3 Gem. Art. 121 Abs. 3 des Römischen Statuts bedarf es für diese sog. Aktivierungsentscheidung einer Zweidrittelmehrheit der Vertragsstaaten, vgl. zum Prozedere Ambos, Kai, Das Verbrechen der Aggression nach Kampala, in: Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik 2010, S. 649-668 (654), https://pdfdokument.com/dasverbrechen -der-aggression-nach-kampala-zeitschrift-far-_59f8d7f21723dde18187ab88.html; Heinsch, Robert, The Crime of Aggression after Kampala: Success or Burden for the Future?, in: Goettingen Journal of International Law 2 (2010) 2, 713-743, http://www.gojil.eu/issues/22/22_article_heinsch.pdf. 4 Vgl. zuletzt Kreß, Claus, „Wird die humanitäre Intervention strafbar?“, FAZ v. 9.11.2017, S. 7, online unter http://www.iipsl.jura.uni-koeln.de/sites/iipsl/Home/FAZ131117.pdf; ihm widersprechend Paech, Norman, „Imperiales Völkerecht“, FAZ v. 22.11.2017, S. 6. 5 Art. 25 Abs. 4 des Römischen Statuts lautet: „Die Bestimmungen dieses Statuts betreffend die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit berühren nicht die Verantwortung der Staaten nach dem Völkerrecht.“ 6 Art. 25 Abs. 2 des Römischen Statuts lautet: „Wer ein der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegendes Verbrechen begeht, ist dafür in Übereinstimmung mit diesem Statut individuell verantwortlich und strafbar.“ Art. 27 Abs. 1 des Römischen Statuts lautet: „Insbesondere enthebt die amtliche Eigenschaft als Staats- oder Regierungschef, als Mitglied einer Regierung oder eines Parlaments, als gewählter Vertreter oder als Amtsträger einer Regierung eine Person nicht der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nach diesem Statut.“ Gem. Art. 25 Abs. 3 des Römischen Statuts ist nicht nur verantwortlich, wer die Tat selbst begeht (Abs. 3 lit. a), sondern auch, wer „die Begehung eines solchen Verbrechens (…) anordnet, dazu auffordert oder dazu anstiftet“ (Abs. 3 lit. b) oder „zur Erleichterung eines solchen Verbrechens Beihilfe oder sonstige Unterstützung bei seiner Begehung oder versuchten Begehung leistet, einschließlich der Bereitstellung der Mittel für die Begehung“ (Abs. 3 lit. c). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/17 Seite 5 2. Auslandseinsätze der Bundeswehr auf völkerrechtlich umstrittener Rechtsgrundlage Auf der Grundlage des AWACS-Urteils des BVerfG von 19947 und des Parlamentsbeteiligungsgesetzes 8 mandatiert der Deutsche Bundestag Auslandseinsätze der Bundeswehr, die sowohl einer verfassungsrechtlichen als auch einer tragfähigen völkerrechtlichen Rechtsgrundlage bedürfen. Die völkerrechtlichen Grundlagen von Militäroperationen erscheinen indes in dem Maße kontrovers , wie sie sich nicht auf ein klares, zur Gewaltanwendung ermächtigendes Sicherheitsratsmandat nach Kapitel VII der VN-Charta oder auf eine „Einladung“ des betroffenen Staates („Intervention auf Einladung“) stützen können. Dies hat die deutsche Staatspraxis der letzten 20 Jahre punktuell gezeigt: Völkerrechtlich umstritten waren u.a. die deutsche Beteiligung an der NATO-Luftüberwachungsoperation über dem Kosovo (1999)9, die Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland am US-Militäreinsatz gegen den Irak (2003) oder zuletzt die Unterstützung des Militäreinsatzes der internationalen Koalition gegen den sog. „IS“ in Syrien (seit 2016).10 Die Auslandseinsätze im „Grauzonenbereich“, die von Sicherheitsratsresolutionen allenfalls „flankiert“, nicht aber im klassischen Sinne „mandatiert“ waren, warfen Fragen hinsichtlich der Existenz und Reichweite von Rechtsfertigungsgründen vom völkerrechtlichen Gewaltverbot (Art. 2 Nr. 4 VN-Charta) auf. So ging es im Fall „Kosovo“ um den Rechtfertigungsgrund der sog. „humanitären Intervention “,11 im Fall „Irak“ um die Annahme bzw. die Reichweite eines präventiven Selbstverteidigungsrechts im Rahmen von Art. 51 VN-Charta12 und im Fall „IS/ Syrien“ um die Frage der Zulässigkeit von Selbstverteidigungshandlungen gegen nicht-staatliche Akteure auf dem 7 BVerfGE 90, 286. 8 Gesetz über die parlamentarische Beteiligung bei der Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland (Parlamentsbeteiligungsgesetz) vom 18. März 2005 (BGBl. I, S. 775). 9 Antrag der Bundesregierung, BT-Drs. 14/16 v. 4.11.1998, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/14/000/1400016.pdf. 10 Antrag der Bundesregierung zum Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verhütung und Unterbindung terroristischer Handlungen durch die Terrororganisation IS auf Grundlage von Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen in Verbindung mit Artikel 42 Absatz 7 des Vertrages über die Europäische Union sowie den Resolutionen 2170 (2014), 2199 (2015), 2249 (2015) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, BT-Drs. 18/6866 v. 1.12.2015, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/068/1806866.pdf. 11 Vgl. zuletzt C. O´Meara, Should international law recognize a right of humanitarian intervention?, in: ICLQ 2017, S. 441-466, https://www.cambridge.org/core/services/aop-cambridgecore /content/view/BB33A4BD19815812A9E48FF5F271357E/S0020589317000057a.pdf/should_international_la w_recognize_a_right_of_humanitarian_intervention.pdf. 12 Dazu Ambos/Arnold (Hrsg.), Der Irakkrieg und das Völkerrecht, Berlin 2004. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/17 Seite 6 Territorium eines Staates, der nicht willens bzw. nicht in der Lage ist (sog. „unable and unwilling -Doktrin“), die Terroristen auf seinem Hoheitsgebiet zu bekämpfen.13 Die Diskussion über die Völkerrechtskonformität der o.g. Fallkonstellationen soll an dieser Stelle nicht vertieft, sondern allein im Lichte des Aggressionsverbrechens näher beleuchtet werden. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob völkerrechtlich „umstrittene“ Militäroperationen “ den Straftatbestand des Angriffskrieges bzw. des Aggressionsverbrechens erfüllen können. 3. Thematisierung im Deutschen Bundestag Bereits in der Diskussion im Deutschen Bundestag um die völkerrechtlichen Grundlagen des Kosovo -Einsatzes wurde der Bezug zwischen humanitärer Intervention und Angriffskrieg hergestellt , wobei unterschiedliche Auffassungen zutage traten. Anlässlich der 248. Sitzung gaben etwa mehrere Abgeordnete der SPD-Fraktion gem. § 31 der Geschäftsordnung (GOBT) eine Erklärung mit folgendem Inhalt ab: „Wir, die Unterzeichner, lehnen den vorliegenden Antrag der Bundesregierung (Drucksache 13/11469) aus schwerwiegenden völkerrechtlichen Bedenken ab. Nur eine entsprechende eindeutige Ermächtigung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen kann die Rechtfertigung für eine militärische Intervention sein, die anderenfalls als ein Angriffskrieg auf einen souveränen Staat zu verstehen wäre (…)“.14 Ähnlich äußerte sich der Abgeordnete Gregor Gysi von der damaligen PDS-Fraktion.15 Demgegenüber argumentierten die Abgeordneten Winfried Nachtwei, Kerstin Müller und Volker Beck von der Fraktion BÜBNDNIS 90 / DIE GRÜNEN: „Auf der anderen Seite ist es überzogen und verkürzt, ihn [den Militäreinsatz der NATO im Kosovo] als völkerrechts- und grundgesetzwidrigen Angriffskrieg zu bezeichnen und damit auf eine Stufe zu stellen zum Beispiel mit dem deutschen Überfall auf Polen. Daß das Primärziel der NATO-Drohung eindeutig humanitär ist, daß es um die Durchsetzung der Sicherheitsratsresolution 1199 als Voraussetzung eines Friedensprozesses im Kosovo geht, 13 Vgl. Finke, Jasper, Selbstverteidigungsrecht gegen nichtstaatliche Akteure, in: AVR 2017, S. 1-42; Hartwig, Matthias, Which state`s territory may be used for self-defence against non-state actors?, in: ZaöRV 2017, S. 43-45; Couzigou, Irène, The right to self-defence against non-state actors – criteria of the “unwilling or unable ” test, in: ZaöRV 2017, S. 53-55. 14 Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 248. Sitzung, 16.10.1998, Plenarprotokoll 13/248, 23170 (A). 15 Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 30. Sitzung v. 25.3.1999, Plenarprotokoll 14/30, 2427 (D): „Wenn man einen Krieg führt, ohne selbst angegriffen worden zu sein, dann ist das ein Angriffskrieg und kein Verteidigungskrieg. Genau diesen verbietet das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Und dagegen haben Sie verstoßen.“ Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/17 Seite 7 kann nicht einfach beiseite gewischt werden. Wir stehen heute in dem Dilemma zwischen aktueller humanitärer Herausforderung und der für den Weltfrieden elementaren Verpflichtung auf das Völkerrecht. Dieser Konflikt ist nicht lösbar (…)“.16 Im Zusammenhang mit der deutschen Beteiligung am Irak-Krieg 2003 zielte ein Antrag der Fraktion DIE LINKE aus dem Jahre 2012 auf die völkerstrafrechtliche Verantwortlichkeit der Beteiligten mit Blick auf das Verbot des Angriffskrieges.17 4. Das Aggressionsverbrechen im Völkerrecht und im nationalen Recht Die Einigung der Vertragsstaaten des Römischen Statuts in Kampala 2010 ergänzt das IStGH- Statut um einen neuen Art. 8bis, der das Aggressionsverbrechen im Einzelnen definiert. Der Tatbestand besteht aus einer staatlichen Komponente und dem individuellen strafrechtsbewehrten Verhalten: Unterschieden wird danach zwischen der (staatlichen) Aggressionshandlung (act of aggression) einerseits, die auf der Grundlage der Resolution 3314 (XXIX) der VN-Generalversammlung aus dem Jahre 197418 (sog. „Aggressionsdefinition“) katalogartig definiert wird, und dem individuellen Aggressionsverbrechen andererseits. Ein Verbrechen liegt vor, wenn eine Person, „die tatsächlich in der Lage ist, das politische oder militärische Handeln eines Staates zu kontrollieren oder zu lenken“ (sog. „Führungsdelikt“), eine Angriffshandlung im o.g. Sinne „plant, vorbereitet, einleitet oder ausführt.“ Der IStGH würde jedoch gem. Art. 17 Abs. 1 des Römischen Statuts19 und mit Blick auf seine (nur) ergänzende, subsidiäre Strafgerichtsbarkeit20 ein Strafverfahren wegen des Vorwurfs eines Aggressionsverbrechens gegen einen Politiker oder Militär für nicht zulässig erklären, wenn diese Person nach dem Recht ihres Heimatstaates entsprechend strafrechtlich verfolgt wird. Das rechtliche Instrumentarium dafür ist in Deutschland gegeben. Das Grundgesetz enthielt von Anbeginn in Art. 26 Abs. 1 einen Verfassungsauftrag zur Pönalisierung der Vorbereitung eines Angriffskrieges. Dem Verfassungsgeber ging es vor allem darum, die (sich fortentwickelnde) völkerrechtliche Lage innerstaatlich abzubilden, was eine Interpretation der Verfassungsnorm im 16 Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 248. Sitzung, 16.10.1998, Plenarprotokoll 13/248, 23167 (C). 17 Antrag der Fraktion DIE LINKE, BT-Drs. 17/11698 v. 28.11.2012, Angriffskrieg verfassungs- und völkerrechtskonform unter Strafe stellen, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/116/1711698.pdf. 18 Verfügbar unter http://www.un.org/depts/german/gv-early/ar3314_neu.pdf. 19 Gem. Art. 17 Abs. 1 lit. a) Römisches Statut ist ein Verfahren vor dem IStGH unzulässig, wenn „in der Sache von einem Staat, der Gerichtsbarkeit darüber hat, Ermittlungen oder eine Strafverfolgung durchgeführt werden, es sei denn, der Staat ist nicht willens oder nicht in der Lage, die Ermittlungen oder die Strafverfolgung ernsthaft durchzuführen.“ 20 Vgl. Präambel und Art. 1 Römisches Statut. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/17 Seite 8 Lichte des Völkerrechts nahelegt.21 Konsequenterweise hat Deutschland im Einklang mit dem Römischen Statut als einer der ersten Staaten die Ergänzungen der Beschlüsse der Vertragsrevisionskonferenz von Kampala betreffend das Verbrechen der Aggression in nationales Recht umgesetzt 22 und den früheren § 80 StGB durch § 13 Völkerstrafgesetzbuch (VStGB)23 ersetzt. § 13 VStGB, der die Regelungen von Art. 8bis des Römischen Statuts weitgehend wortgleich abbildet , lautet: (1) Wer einen Angriffskrieg führt oder eine sonstige Angriffshandlung begeht,24 die ihrer Art, ihrer Schwere und ihrem Umfang nach eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellt, wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft (sog. „Schwellenklausel“) (3) Eine Angriffshandlung ist die gegen die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit der Charta der Vereinten Nationen unvereinbare Anwendung von Waffengewalt durch einen Staat. (4) Beteiligter einer Tat (…) kann nur sein, wer tatsächlich in der Lage ist, das politische oder militärische Handeln eines Staates zu kontrollieren oder zu lenken.25 21 So Zimmermann, Andreas / v. Henn, Elisabeth, Das Aggressionsverbrechen und das deutsche Strafrecht, in: ZRP 2013, S. 240-243 (241); vgl. allgemein zum Verhältnis von VStGB und StGB Werle, Gerhard, Völkerstrafrecht und deutsches Völkerstrafgesetzbuch, in: JZ 2012, S. 373-424, http://docserver.ingentaconnect.com/deliver/connect/mohr/00226882/v67n8/s1.pdf?expires=1511426231&id=0 000&titleid=75000343&checksum=D940E19B4D23D78C40C5975B268AA08B. 22 Vgl. dazu Effinowicz, Ruth, Aktuelles Gesetzgebungsvorhaben: Neufassung des Verbrechens der Aggression, in: JuS 2017, S. 24-26; Jeßberger, Florian, Das Verbrechen der Aggression im deutschen Strafrecht, in: ZIS 2015, S. 514-522, http://www.zis-online.com/dat/artikel/2015_10_956.pdf; Krieger, Heike, Die Umsetzung des völkerrechtlichen Aggressionsverbrechens in das deutsche Recht im Lichte von Art. 26 Abs. 1 GG, in: DÖV 2012, S. 449-457. Zu den Hintergründen vgl. auch die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/8621, S. 9 ff., https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/086/1808621.pdf. 23 Völkerstrafgesetzbuch vom 26. Juni 2002 (BGBl. I, S. 2254), das durch Artikel 1 des Gesetzes vom 22. Dezember 2016 (BGBl. I, S. 3150) geändert worden ist. 24 Anders als das Römische Statut normiert § 13 VStGB – vor dem Hintergrund von Art. 26 GG und § 80 StGB a.F. – explizit auch den gravierendsten Fall einer Angriffshandlung, nämlich den Angriffskrieg. Gem. § 1 S. 2 VStGB gilt der Tatbestand des Aggressionsverbrechens unabhängig vom Recht des Tatorts auch für Taten die im Ausland begangen wurden, wenn der Täter Deutscher ist oder sich die Tat gegen die Bundesrepublik Deutschland richtet. 25 „Einfache“ Soldaten genießen das Kombattantenprivileg (Art. 44 ZP I, Art. 82 ff. GA III), vgl. insoweit die Gesetzesbegründung BT-Drs. 18/8621, S. 20. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/17 Seite 9 5. Schwellenklausel Mit Blick auf die eingangs skizzierte völkerstrafrechtliche Bewertung eines Militäreinsatzes, seiner völkerrechtlichen Grundlagen und seines nationalen parlamentarischen Mandatierungsprozesses wird die sog. „Schwellenklausel“ in § 13 Abs. 1 VStGB (Art. 8bis Abs. 1 Römisches Statut) zum Dreh- und Angelpunkt der Diskussion. Ausgangspunkt dieser Schwellenklausel ist der qualitative Unterschied, der eine bloß rechtswidrige Handlung zu einem Verbrechen mit individueller strafrechtlicher Verantwortlichkeit macht. Das Römische Statut unterscheidet vom Grundsatz her zwischen der Völkerrechtswidrigkeit eines Militäreinsatzes, für die der Staat nach den Grundsätzen der Staatenverantwortlichkeit haftet, und der individuellen Strafbarkeit eines Führungsorgans, das diesen Einsatz zu verantworten hat.26 Das bedeutet: Die Existenz einer (rechtswidrigen) Aggressionshandlung hat nicht automatisch die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit der an dieser Handlung beteiligten Personen zur Folge.27 Dieser qualitative Unterschied kommt in der sog. „Schwellenklausel“ (threshold clause) mit der dort normierten „Mindestschwere“ zum Ausdruck. Danach begründen nur „offenkundige“ Verletzungen der VN-Charta (ergo: des Gewaltverbots, Art. 2 Nr. 4) eine Strafbarkeit nach dem Aggressionsverbrechen . Vorliegen muss also eine Aggressionshandlung, die – so der englische Originaltext – „by its character, gravity and scale a manifest violation of the UN-Charter“ darstellen. Nach den in Kampala von den Verhandlungsstaaten angenommenen sog. „vereinbarten Auslegungen “28 soll sich die Offenkundigkeit der Verletzung des Gewaltverbots also nach Art, Schwere und Umfang des Verstoßes gegen das Gewaltverbot bestimmen, um im konkreten Einzelfall die Feststellung einer solchermaßen offenkundigen Verletzung zu rechtfertigen. 26 Ebenso Effinowicz, Ruth, Aktuelles Gesetzgebungsvorhaben: Neufassung des Verbrechens der Aggression, in: JuS 2017, S. 24-26 (25); Ambos, Kai, Das Verbrechen der Aggression nach Kampala, in: Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik 2010, S. 649-668 (654 f.), http://www.zis-online.com/dat/artikel/2010_11_501.pdf . Auch das nationale Recht unterscheidet etwa zwischen der Rechtswidrigkeit des Verwaltungshandelns einer Behörde und der Strafbarkeit des Sachbearbeiters (wegen Rechtsbeugung gem. § 339 StGB), der den Verwaltungsakt erlassen hat. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. Urteil vom 4. September 2001, BGHSt 47, 105-116) stellt nicht jede unrichtige Rechtsanwendung eine Beugung des Rechts im Sinne von § 339 StGB dar. Nur der Rechtsbruch als elementarer Verstoß gegen die Rechtspflege solle unter Strafe gestellt sein. Rechtsbeugung begehe ein Amtsträger, der sich bewusst und schwerwiegend von Recht und Gesetz entfernt . Die bloße Unvertretbarkeit einer Entscheidung begründe eine Rechtsbeugung hingegen noch nicht. 27 So dezidiert Ambos, Kai, Das Verbrechen der Aggression nach Kampala, in: Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik 2010, S. 649-668 (654); ebenso Clark, Goettingen Journal of International Law 2010, S. 689 (695). So unterscheidet bereits die Resolution 3314 der VN-Generalversammlung mit ihrer „Aggressionsdefinition“ zwischen einer Aggressionshandlung und einem Aggressionskrieg („war of aggression“), wobei nur letzter in Art. 5 Abs. 2 des Römischen Statuts von 1998 als Verbrechen gegen den Frieden angesehen wurde. 28 Die sog. „Understandings“ wurden in Kampala von der Vertragsstaaten im Konsens und zeitgleich mit dem Änderungsentwurf angenommen und sind gem. Art. 31 Abs. 2 der Wiener Vertragsrechtskonvention (als eine sich auf den Vertrag beziehende Urkunde bzw. Übereinkunft) bei der Auslegung des Römischen Statuts mit heranzuziehen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/17 Seite 10 Die Kombination von „Charakter, Schweregrad und Ausmaß“ und dem Adjektiv „offenkundig“ (manifest) macht den qualitativen Unterschied zwischen staatlicher Handlung und individuellem Verbrechen deutlich und beugt einer gewissen Trivialisierung vor.29 Gleichwohl ist die mangelnde Präzision der Schwellenklausel bis heute Gegenstand eingehender Diskussion und Kritik gewesen.30 Doch ist die fehlende Präzision der Schwellenklausel letztlich dem Mangel des Völkerrechts geschuldet, zwischen rechtmäßigen und unrechtmäßigen Gewaltanwendungen präzise abzugrenzen.31 Alternative Formulierungen zur „Schwellenklausel“ – etwa die Forderung einer spezifischen Absicht (animus aggressionis), gepaart mit dem Ziel einer langfristigen Okkupation, Unterwerfung oder Annexion – fanden in den Diskussionspapieren der Arbeitsgruppen im Vorfeld der Kampala-Konferenz zwar Erwähnung, aber im Ergebnis keine Mehrheit.32 Insbesondere wurde argumentiert, dass sich eine aggressive Absicht kaum feststellen ließe, weil sich die Staaten bei potentiellen militärischen Interventionen zumeist auf die Verfolgung legitimer Staatsinteressen berufen würden.33 Ebenso wenig durchsetzen konnten sich Vorschläge der USA, bestimmte Gewalteinsätze, etwa zur Beendigung von Völkerstraftaten und humanitären Katastrophen (sog. „humanitäre Intervention“), ausdrücklich straffrei zu stellen.34 Mit Blick auf eine „historische“ Auslegung des Aggressionsverbrechens zeigen diese Beispiele gleichwohl, welche Assoziationen die Vertragsstaaten mit dem Kompromiss einer „Schwellenklausel “ verbanden. Insbesondere sollte damit erreicht werden, dass strittige „Grauzonenfälle“, bei denen die Völkerrechtskonformität der Militäroperation fraglich ist, nicht in den Anwendungsbereich der Norm fallen.35 29 Kreß, Claus, Time for Decision: Some Thoughts on the Immediate Future of the Crime of Aggression, in: EJIL 2009, S. 1129-1146 (1142), http://www.ejil.org/pdfs/20/4/1936.pdf; Ambos, Kai, Das Verbrechen der Aggression nach Kampala, in: Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik 2010, S. 649-668 (656). 30 Vgl. Glennon, Michael J., "The Blank-Prose Crime of Aggression", in: Yale Journal of International Law, 2010, vol. 35, pp. 71-114 (101 f.), http://digitalcommons.law.yale.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1380&context=yjil; Murphy, Sean D., Aggression, Legitimacy and the International Criminal Court, in: EJIL 2009, S. 1147-1156 (1150 f.), http://ejil.org/pdfs/20/4/1938.pdf; Paulus, Andreas, Second Thoughts on the Crime of Aggression, in: EJIL 2009, S. 1117-1128 (1123), http://www.ejil.org/pdfs/20/4/1939.pdf. 31 Ambos, Kai, Das Verbrechen der Aggression nach Kampala, in: Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik 2010, S. 649-668 (655). 32 Ambos, Kai, Das Verbrechen der Aggression nach Kampala, in: Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik 2010, S. 649-668 (655) m.w.N. in Anm. 45. 33 May, Larry, Aggression and crimes against peace, Cambridge 2008, S. 257; Solera, Oscar, Defining the crime of aggression, 2007, S. 428 ff. 34 Kreß, Claus, Wird die humanitäre Intervention strafbar?, FAZ v. 9.11.2017, S. 7. 35 Zimmermann, Andreas / v. Henn, Elisabeth, Das Aggressionsverbrechen und das deutsche Strafrecht, in: ZRP 2013, S. 240-243 (241). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/17 Seite 11 In diesem Zusammenhang hätte die Einführung eines subjektiven Kriteriums als zusätzliche Schwelle beim Tatbestand des Aggressionsverbrechens ungeachtet aller damit einhergehenden Beweisprobleme die Entscheidung in solchen „Grenzfällen“ möglicherweise erleichtern können .36 Aufschlussreich erscheint die Gesetzesbegründung zu § 13 VStGB: „Mit dem Merkmal der „offenkundigen Verletzung“ wird die Formulierung aus Artikel 8bis des Römischen Statuts wortgleich übernommen. Die Offenkundigkeit der Rechtsverletzung wird damit zur Voraussetzung für die Strafbarkeit. Ziel der Schwellenklausel war es nach den Beschlüssen von Kampala, die strafrechtliche Verantwortlichkeit auf eindeutige Fälle zu beschränken. Sie wirkt mithin als tatbestandliches Korrektiv. Es sollen in ihrer Vereinbarkeit mit dem Gewaltverbot umstrittene Handlungen („völkerrechtliche Grauzonen“) und unzureichend intensiver Gewalteinsatz ausgeschlossen werden. Damit wird nur ein Teilbereich völkerrechtswidriger Gewaltanwendung tatbestandlich erfasst. Eine ähnliche Formulierung („offensichtliche Rechtswidrigkeit “) findet sich in § 3 VStGB sowie in § 326 Absatz 6 StGB. Offenkundig bedeutet, dass der Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen für jeden Betrachter von außen auf der Hand liegen und jenseits jeden Zweifels liegen muss. Nach dem Recht der Verträge etwa bestimmt Artikel 46 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge, dass eine Verletzung nationaler Rechtsvorschriften dann offenkundig ist, wenn sie für jeden Staat objektiv erkennbar ist, der sich im Einklang mit der allgemeinen Übung nach Treu und Glauben verhält. Die hohe Schwelle entspricht der Auslegung des bisherigen § 80 StGB, dem Ergebnis der Verhandlungen in Kampala und dem Völkergewohnheitsrecht. Die Schwellenklausel erfüllt eine Filterfunktion und begrenzt die Reichweite das Tatbestands anhand objektiver Merkmale („Art, Schwere, Umfang“). Beurteilungsmaßstab sind demnach sowohl qualitative („Art“) als auch quantitative („Schwere, Umfang“) Elemente. Nach der Resolution der Review Conference „RC/Res. 6“ vom 11. Juni 2010, mit der die Änderungen des Römischen Statuts zum Verbrechen der Aggression angenommen wurden, genügt ein einzelnes Kriterium für die Feststellung eines offenkundigen Verstoßes gegen die Charta nicht. Es müssen vielmehr mindestens zwei Kriterien kumulativ vorliegen (Resolution RC/Res. 6 Annex III Vereinbarte Auslegungen (“understandings”) Nummer 7: „It is understood that in establishing whether an act of aggression constitutes a manifest violation of the Charter if the United Nations, the three components of character, gravity and scale must be sufficient to justify a “manifest” determination. No one component can be significant enough to satisfy the manifest standard by itself”). Damit sind die Hürden für eine Rechtsverlet- 36 Für ein solches subjektives Element sprechen sich aus: Ambos, Kai, Das Verbrechen der Aggression nach Kampala , in: Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik 2010, S. 649-668 (656); Solera, Oscar, Defining the crime of aggression, 2007, S. 415, 423 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/17 Seite 12 zung bewusst hoch gesetzt. Die Offenkundigkeit ist im Rahmen einer Gesamtabwägung zu ermitteln. Als Leitbild für einen offensichtlichen Verstoß dient etwa der Angriffskrieg als Prototyp einer Angriffshandlung. Es handelt sich dabei um Anwendung von Gewalt in größerem Umfang, die hinreichend schwerwiegend und von einem evident aggressiven Element geprägt ist. Eindeutige Fälle sind etwa die dauerhafte Annektierung eines fremden Staatsgebiets oder die Unterwerfung eines Staates als Ziel des Angriffs. Mit den Merkmalen der Schwere und des Umfangs können kleinere Grenzscharmützel (bei Einsatz von geringfügiger militärischer Gewalt) oder kurzzeitige Territorialitätsverletzungen (begrenzter „Umfang “) als eindeutige Fälle ausgeschlossen werden. Das Merkmal der „Art“ des Gewalteinsatzes zielt hingegen auch auf den Zweck der Handlung und führt dazu, dass etwa eine humanitäre Intervention oder die präventive Selbstverteidigung in Anbetracht eines bevorstehenden bewaffneten Angriffs tatbestandlich nicht erfasst würden. Ihrer Art nach keine „offenkundige Verletzung“ sind auch die Rettung eigener Staatsangehöriger, sowie die Reaktion auf grenzübergreifende nicht-staatliche bewaffnete Angriffe. Es muss jedoch stets anhand des konkreten Einzelfalls über die Auslegung des Merkmals der „Offenkundigkeit“ entschieden werden, weil auch bei diesen Konstellationen eine völkerrechtliche Grauzone berührt sein könnte. Durch die Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „Offenkundigkeit“ durch die drei Elemente ist das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot gewahrt. Auch der Verweis auf einen völkerrechtlichen Vertrag (Charta der Vereinten Nationen) ist unproblematisch. Die richterliche Feststellung, ob eine Handlung mit Völkerrecht vereinbar ist, kennt zahlreiche Vorbilder z. B. auch im VStGB selbst durch die Verweise auf die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ in § 7 Absatz 1 Nummer 4 und Nummer 9. Auch außerhalb des Völkerstrafrechts wird beispielsweise in § 17 des Außenwirtschaftsgesetzes die Zuwiderhandlung gegen eine vom „Sicherheitsrat der Vereinten Nationen“ oder einer vom „Rat der Europäischen Union … beschlossenen Sanktionsmaßnahme“ mit Strafe bedroht.“37 6. Folgerungen für militärische Auslandseinsätze im „Grauzonenbereich“ Welche Militäreinsätze mangels eindeutig klarer völkerrechtlicher Grundlage als „offenkundige Verletzung der VN-Charta“ (i.S.v. § 13 Abs. 1 VStGB bzw. Art. 8bis Abs. 1 Römisches Statut) anzusehen sind, wird in der Literatur kontrovers diskutiert. Für die Zukunft geraten jene bereits erwähnten Militäreinsätze im „Grauzonenbereich“ in den Blick,38 da der IStGH keine rückwir- 37 BT-Drs. 18/8621, S. 16 f., https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/086/1808621.pdf. 38 Vgl. zu den strittigen Fällen einer „offenkundigen“ Charta-Verletzung vgl. Zimmermann/Freiburg, in: Trifterer /Ambos (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court. A Commentary, München, 3. Aufl. 2016, Art. 8bis, Rdnr. 69 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/17 Seite 13 kende Jurisdiktion über den Aggressionstatbestand ausübt. 6.1. Humanitäre Intervention Der überwiegende Teil der völkerrechtlichen Literatur sowie der deutsche Gesetzgeber (vgl. die Gesetzesbegründung zu § 13 VStGB) und der überwiegende Teil der Vertragsstaaten des Römischen Statuts (wenn man die Verhandlungen der Vertragsrevisionskonferenz von Kampala in einer historischen Auslegung des Vertragstextes zugrunde legt) nehmen die gewohnheitsrechtlich nach wie vor umstrit tene „humanitäre Intervention“39 vom Tatbestand des Aggressionsverbrechens aus, weil der Kern einer derartigen Intervention in ihrem humanitären Zweck bestehe .40 Die in Art. 8bis Römisches Statut eingeführten Schwellenkriterien (Schweregrad, Ausmaß und Charakter) sind zwar grundsätzlich objektiv zu verstehen.41 Gleichwohl schließt das Merkmal „character“ (französisch: „la nature“) in der historischen Auslegung des Art. 8bis Römisches Statut durchaus Elemente einer subjektiven Motivation mit ein.42 39 So fehlt es trotz einiger Staatenpraxis (z.B. Indien in Bangladesch 1971, Vietnam in Kambodscha 1978, Tansania in Uganda 1979, USA in Grenada 1983) oftmals an der entsprechenden opinio iuris. So wurde nicht zuletzt die NATO-Operation im Kosovo 1999 von der Mehrzahl der Staaten (insb. Russland, China, Indien, der sog. „Rio-Gruppe“ der sog. „Gruppe der 77“ etc.) als völkerrechtswidrig verurteilt. In den Verhandlungen vor dem IGH zu dieser Intervention (Legality of Use of Force (Serbia and Montenegro vs. Belgium et. al.), Oral Pleadings of Belgium, CR 99/15, 11, para. 16, http://www.icj-cij.org/en/case/105) haben dann nicht einmal die NATO-Staaten das Argument der humanitären Intervention plädiert. 40 Vgl. z.B. Zimmermann, Andreas/v. Henn, Elisabeth, Das Aggressionsverbrechen und das deutsche Strafrecht, in: ZRP 2013, S. 240-243 (241); Zimmermann/Freiburg, in: Trifterer/Ambos (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court. A Commentary, München, 3. Aufl. 2016, Art. 8bis, Rdnr. 77 f.; Ambos, Kai, Das Verbrechen der Aggression nach Kampala, in: Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik 2010, S. 649-668 (656); Kreß, Claus, „Wird die humanitäre Intervention strafbar?“, FAZ v. 9.11.2017, S. 7; ders., Time for Decision : Some Thoughts on the Immediate Future of the Crime of Aggression, in: EJIL 2009, S. 1129-1146 (1141), http://www.ejil.org/pdfs/20/4/1936.pdf; Solera, Oscar, Defining the crime of aggression, 2007, S. 461; ders., The Definition of the Crime of Aggression: Lessons Not Learned, in: Case Western Reserve Journal of International Law 2010, S. 801-823 (823), https://scholarlycommons.law.case.edu/cgi/viewcontent.cgi?referer=https://www.google.de/&httpsredir=1&artic le=1255&context=jil; a.A. Paech, Norman, „Imperiales Völkerrecht“, FAZ v. 22.11.2017, S. 6. 41 Elements, RC/Res. 6, Advance version, 16.6.2010, Annex II, S. 5, zitiert bei Ambos, Kai, Das Verbrechen der Aggression nach Kampala, in: Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik 2010, S. 649-668 (655), Fn. 54. 42 Zimmermann/Freiburg, in: Trifterer/Ambos (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court. A Commentary, München, 3. Aufl. 2016, Art. 8bis, Rdnr. 61: “Given the drafting history of article 8bis para. 1, this is to be understood as referring to the (actual) subjective motivation of the persons responsible for the use of force, i.e. whether they rather aim at occupying or annexing foreign territory or whether instead they, for example , aim at protecting fundamental human rights of a given population” Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/17 Seite 14 6.2. Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure Selbstverteidigungseinsätze gegen nicht-staatliche Akteure (Beispiel: der Anti-„IS“-Einsatz der internationalen Coalition of the Willing in Syrien unter Beteiligung der Bundeswehr seit 2016) bleiben zwar völkerrechtlich umstritten, lassen sich aber unter bestimmten Umständen durchaus vertretbar argumentieren; ein „offenkundiger“ Verstoß gegen das Gewaltverbot der VN-Charta wäre dann jedenfalls nicht zu erkennen.43 So beruft sich etwa die Bundesregierung im Fall des „IS/Syrien-Einsatzes“ neben dem Selbstverteidigungsrecht auf die Resolution 2249 (2015) des VN-Sicherheitsrats vom 20. November 2015, welche zwar keine explizite Mandatierung kollektiver Militäraktionen gegen den „IS“ in Syrien enthält, wohl aber auf das Selbstverteidigungsrecht der Staatengemeinschaft gegen die Terrororganisation Bezug nimmt. In dieser Resolution stellt der Sicherheitsrat außer Streit, dass ein militärisches Vorgehen gegen den „IS“ in Syrien mit dem Völkerrecht grundsätzlich vereinbar ist. Gleichzeitig betont der Sicherheitsrat in seiner Präambel die außergewöhnliche Bedrohung, die vom „IS“ ausgeht und stellt damit klar, dass das militärische Vorgehen gegen die territorial verfestigte Organisation eine besondere Ausnahmesituation darstellt. Die Bundesregierung hat zur Rechtfertigung des kollektiven Selbstverteidigungsrechts ausdrücklich die territoriale Verfestigung der Organisation angeführt (und beruft sich nicht auf den sog. „unable and unwilling“- Test). Das Selbstverteidigungsrecht gegen nichtstaatliche Gruppen, die die tatsächliche Kontrolle über ein Gebiet ausüben, das von der Regierung des betreffenden Staates nicht mehr kontrolliert wird, findet überdies Bestätigung in der internationalen Staatenpraxis.44 6.3. Präventive Selbstverteidigung Umstrittener stellt sich dagegen die US-geführte Irak-Invasion 2003 – einschließlich der deutschen Unterstützung dieses Militäreinsatzes – dar. Nach Auffassung der völkerrechtlichen Literatur handelt es sich zwar um eine völkerrechtswidrige Aggressionshandlung gegen den Irak,45 43 Ebenso Zimmermann/Freiburg, in: Trifterer/Ambos (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court. A Commentary, München, 3. Aufl. 2016, Art. 8bis, Rdnr. 76. 44 Im Ergebnis zustimmend Christopher Verlage, Anti-IS-Einsatz in Syrien rechtmäßig, in: ZRP 2016, S. 90; im Ergebnis ebenso Anne Peters, German Parliament decides to send troops to combat ISIS, http://www.mpil.de/files/pdf4/Peters_EJILTalk-German_troops_to_Syria1.pdf. 45 Vgl. näher Kreß, Claus, Strafrecht und Angriffskrieg im Licht des "Falles Irak", in: ZStW 2003, S. 294-351 (331). Ambos/Arnold (Hrsg.), Der Irak-Krieg und das Völkerrecht, 2004. Für die deutsche Beteiligung vgl. den Beitrag in FR v. 13.2.2003, „Eine deutsche Beteiligung am Krieg gegen Irak ist rechtswidrig“. Offener Brief Freiburger Juristen an die Bundesregierung und das Parlament. Vgl. ebenso das Interview mit dem ehem. Bundesverwaltungsrichter Dieter Deiseroth v. 15.3.2003 über die rechtlichen Folgen eines verfassungswidrigen Angriffskrieges („Ein Krieg gegen Irak wäre eindeutig völkerrechtswidrig “), http://www.fr.de/politik/spezials/ein-krieg-gegen-irak-waere-eindeutig-voelkerrechtswidrig-a- 1202981. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/17 Seite 15 weil ein „präventives“ Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 VN-Charta im Ergebnis nicht trägt,46 aber (wohl) nicht um ein Aggressionsverbrechen, weil „die von einer beachtlichen wissenschaftlichen Mindermeinung vertretene Rechtfertigung der Invasion, insbesondere auf der Grundlage von Sicherheitsratsresolution 678, der Verletzung der VN-Charta das Merkmal der ´Offensichtlichkeit` nahm.“47 7. Offene Fragen und Handlungsempfehlungen Die Frage, wer welche „beachtliche“ Mindermeinung die Völkerrechtskonformität eines Militäreinsatzes vertreten muss, damit dieser nicht als „offenkundige Verletzung des Gewaltverbots“ angesehen werden kann, führt zum eigentlichen Kern des Problems. “Any lawyer of some quality [may] find some reasons why almost anything is legal or illegal under prevailing circumstances,” merkt der deutsche Verfassungsrichter Andreas Paulus in diesem Zusammenhang ironisch an.48 Besteht insoweit nicht die Gefahr einer zunehmenden „Aufweichung“ der Schwellenklausel bis hinunter zu den eindeutig völkerrechtswidrigen Angriffskriegen wie z.B. der deutsche Angriff auf Polen 1939 oder die Kuweit-Invasion des Irak 1990? Dass es bei der Frage, ob eine „offenkundige“ Verletzung der VN-Charta vorliegt, nicht allein auf die Rechtsauffassung des gewaltanwendenden Staates ankommen kann,49 versteht sich von selbst. Doch bildet sich im Vorfeld einer (geplanten) Militäroperation in Wissenschaft und Praxis regelmäßig eine (herrschende) Auffassung über die Völkerrechtskonformität des Einsatzes heraus . Ähnlich wie bei der Identifizierung von Völkergewohnheitsrecht wird man auch bei der Frage der „Offenkundigkeit“ einer Charta-Verletzung eine gewisse Repräsentativität der Auffassungen („beachtlichen wissenschaftlichen Mindermeinung“) fordern müssen.50 46 Vgl. zu den Voraussetzungen eines präventiven Selbstverteidigungsrechts Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München, 6. Aufl. 2014, § 52, Rdnr. 15-20; Zimmermann/Freiburg, in: Trifterer/Ambos (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court. A Commentary, München, 3. Aufl. 2016, Art. 8bis, Rdnr. 72. 47 So Ambos, Kai, Das Verbrechen der Aggression nach Kampala, in: Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik 2010, S. 649-668 (656). 48 Paulus, Andreas, Second Thoughts on the Crime of Aggression, in: EJIL 2009, S. 1117-1128 (1123), http://www.ejil.org/pdfs/20/4/1939.pdf. 49 Insoweit ironisch Paech, Norman, „Imperiales Völkerrecht“, FAZ v. 22.11.2017, S. 6: „Etwa die US- Administration mit ihren Juristen?“ 50 Gem. Art. 38 Abs. 1 lit. d) des Statuts des Internationalen Gerichtshofs (IGH-Statut) gelten die Lehrmeinungen der fähigsten Völkerrechtler der verschiedenen Nationen als „Hilfsmittel zur Feststellung von Rechtsnormen“. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/17 Seite 16 Eine besondere Rolle kommt dabei nicht nur der Wissenschaft, sondern vor allem den Staaten und den internationalen Organisationen (sowie deren Organen) zu, welche die Bildung von Völkergewohnheitsrecht mittragen. Gerade im Bereich von völkerrechtlichen „Grauzonen“, bei der Schaffung von „Präzedenzfällen“ und der Herausbildung von Gewohnheitsrecht kommt es entscheidend auf die opinio iuris der handelnden Akteure an.51 Der Deutsche Bundestag und seine Fraktionen, wenn sie über einen militärischen Auslandseinsatz im „Grauzonenbereich“ zu entscheiden haben, können nicht nur eigene rechtliche Stellungnahmen abgeben, sondern auch entsprechende Rechtsauffassungen äußern. Wichtig ist überdies, dass das Parlament die Regierung zu einer präzisen völkerrechtlichen Bewertung des geplanten Einsatzes anhält, die u.a. in dem Antrag auf parlamentarische Mandatierung des Auslandseinsatzes zum Ausdruck kommen sollte. An einer überzeugenden rechtlichen Begründung des Bundeswehreinsatzes fehlte es beispielsweise bei den Anträgen der Bundesregierung betreffend eine Beteiligung der Bundeswehr an der NATO-Luftoperation im Kosovo.52 Zugespitzt fasst Armin Steinkamm in einer „Nachlese“ zum Bundeswehreinsatz im Kosovo die damalige Situation zusammen: „Eine offizielle Verlautbarung der Bundesregierung – und auch des BMVg – blieb offenbar deshalb aus, weil sich die zuständigen Ressorts der Bundesregierung auf einen gemeinsamen Standpunkt im Detail nicht einigen konnten, aber möglicherweise auch deshalb, weil innerhalb der NATO eine gemeinsame Sprachregelung nur auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu erreichen war (…). So darf man sich nicht wundern, dass in den Medien und in den politischen Parteien Meinungen vertreten wurden, die teilweise ohne einschlägige Rechtskenntnisse geäußert wurden oder sich in moralischen Appellen verloren (…). Es spricht vieles dafür, dass die politische und insbesondere juristische Diskussion um den Kosovo-Krieg einen anderen Verlauf genommen hätte, wenn z.B. die Information des BMVg zu den völker- und verfassungsrechtlichen Aspekte der deutschen Beteiligung an der Luftoperation der NATO schon vor Beginn der Operation in die Öffentlichkeit gelangt wäre.“53 51 Vgl. dazu Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München, 6. Aufl. 2014, § 17, Rdnr. 12-15. Zutreffend äußerte sich der der ehemalige Bundestagsabgeordnete Wolfgang Gerhard, FDP-Fraktion, anlässlich der Bundestagsdebatte über den Kosovo-Einsatz (vgl. Stenographischer Bericht, 248. Sitzung, 16.10.1998, Plenarprotokoll 13/248, 23143 (C)): „Das Völkerrecht, so stellen wir fest, trägt sich nicht von selbst ...“ 52 Vgl. Antrag der Bundesregierung, Deutsche Beteiligung an den von der NATO geplanten begrenzten und in Phasen durchzuführenden Luftoperationen zur Abwendung einer humanitären Katastrophe im Kosovo-Konflikt, BT-Drs. 13/11469 v. 12.10.1998, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/13/114/1311469.pdf sowie Antrag der Bundesregierung, Deutsche Beteiligung an der NATO Luftüberwachungsoperation über dem Kosovo, BT-Drs. 14/16 v. 4.11.1998, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/14/000/1400016.pdf. 53 Steinkamm, Armin, Völkerrecht, Humanitäre Intervention und Legitimation des Bundeswehr-Einsatzes, in: Südosteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsforschung 2000, S. 229-258 (230 f.). Steinkamm war Professor an der Bundeswehr-Universität München.