© 2016 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 - 104/16 Zur innerstaatlichen Umsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie zur Durchsetzung und Wirkung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Deutschland, Frankreich, Italien und Russland, im Vereinigten Königreich und in der Türkei Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. 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Oktober 2016 (auch Zugriff auf Onlinequellen) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 5 2. Zur Rolle des Ministerkomitees des Europarates bei der Umsetzung von Urteilen 8 2.1. Art. 46 EMRK 8 2.2. Regulärer Überwachungsmechanismus des MK: Standardverfahren und verschärftes Verfahren 10 3. Deutschland 13 3.1. Stellung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Urteile des EGMR in der nationalen Rechtsordnung 13 3.1.1. EMRK 13 3.1.2. EGMR-Urteile 16 3.1.2.1. Rechtskraftwirkung 16 3.1.2.2. Orientierungswirkung 17 3.1.2.3. Berücksichtigungspflicht 17 3.2. Zur Umsetzungspraxis von EGMR-Urteilen 19 3.2.1. Quoten 20 3.2.2. Beispiele für Rechtsänderungen nach EGMR-Urteilen 21 3.2.3. Beispiele für Widerstände bei der Umsetzung von EGMR-Urteilen 23 4. Frankreich 26 4.1. Stellung der EMRK und der Urteile des EGMR in der nationalen Rechtsordnung 26 4.1.1. EMRK 26 4.1.2. EGMR-Urteile 26 4.2. Zur Umsetzungspraxis von EGMR-Urteilen 27 4.2.1. Quoten 27 4.2.2. Beispiele für Rechtsänderungen nach EGMR-Urteilen 27 4.2.3. Beispiele für Widerstände bei der Umsetzung von EGMR-Urteilen 30 5. Vereinigtes Königreich 33 5.1. Stellung der EMRK und der Urteile des EGMR in der nationalen Rechtsordnung 33 5.1.1. EMRK 33 5.1.2. EGMR-Urteile 34 5.2. Zur Umsetzungspraxis von EGMR-Urteilen 34 5.2.1. Quoten 34 5.2.2. Beispiele für Rechtsänderungen nach EGMR-Urteilen 35 5.2.3. Beispiele für Widerstände bei der Umsetzung von EGMR-Urteilen 37 6. Italien 40 6.1. Stellung der EMRK und der Urteile des EGMR in der nationalen Rechtsordnung 40 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 4 6.1.1. EMRK 40 6.1.2. EGMR-Urteile 41 6.2. Zur Umsetzungspraxis von EGMR-Urteilen 42 6.2.1. Quoten 42 6.2.2. Beispiele für Rechtsänderungen nach EGMR-Urteilen 43 6.2.3. Beispiele für Widerstände bei der Umsetzung von EGMR-Urteilen 44 7. Russland 46 7.1. Stellung der EMRK und der Urteile des EGMR in der nationalen Rechtsordnung 46 7.1.1. EMRK 46 7.1.2. EGMR-Urteile 46 7.2. Zur Umsetzungspraxis von EGMR-Urteilen 48 7.2.1. Quoten 48 7.2.2. Beispiele für Rechtsänderungen nach EGMR-Urteilen 49 7.2.3. Beispiele für Widerstände bei der Umsetzung von EGMR-Urteilen 51 8. Türkei 53 8.1. Stellung der EMRK und der Urteile des EGMR in der nationalen Rechtsordnung 53 8.1.1. EMRK 53 8.1.2. EGMR-Urteile 54 8.2. Zur Umsetzungspraxis von EGMR-Urteilen 54 8.2.1. Quoten 55 8.2.2. Beispiele für Rechtsänderungen nach EGMR-Urteilen 55 8.2.3. Beispiele für Widerstände bei der Umsetzung von EGMR-Urteilen 58 9. Literaturhinweise zur Vertiefung 59 9.1. Allgemein 59 9.2. Deutschland 59 9.3. Frankreich 61 9.4. Vereinigtes Königreich 61 9.5. Italien 63 9.6. Russland 63 9.7. Türkei 65 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 5 1. Einführung Aus völkerrechtlicher Sicht sind die Rechte und Verfahrensvorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)1 grundsätzlich2 für alle Staaten verbindlich, die sie ratifiziert haben und für die sie in Kraft getreten ist3. Nach Art. 46 Abs. 1 der EMRK sind die Vertragsparteien verpflichtet, die endgültigen Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu befolgen, die gegen sie ergangen sind.4 Inwieweit auch gegen andere Staaten ergangene Urteile verpflichtende Rechtswirkungen entfalten können, ist in Literatur und Rechtsprechung umstritten .5 Das Völkerrecht selbst trifft grundsätzlich keine Aussage darüber, wie die Umsetzung auf nationaler Ebene zu erfolgen hat. Vielmehr obliegt die Wahl der Mittel in der Regel den Vertragsstaaten .6 Diese sind zudem verpflichtet, ihre Rechtslage bereits vor Ratifikation des jeweiligen völkerrechtlichen Vertrages in Einklang mit dessen Vorschriften zu bringen7 und können sich grundsätzlich nicht auf entgegenstehendes nationales Recht – gleich welchen Ranges – berufen.8 Die völkerrechtliche Verpflichtung gilt damit unabhängig vom Umsetzungsverfahren und vom Rang, den das nationale Recht dem völkerrechtlichen Vertrag – hier der EMRK – zuweist. 1 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten in der Fassung der Protokolle Nr. 11 und 14, SEV Nr. 005, http://www.coe.int/de/web/conventions/search-on-treaties/-/conventions /rms/0900001680063764; Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms vom 04.11.1950. Ratifizierung durch die Bundesrepublik Deutschland am 05.12.1952; veröffentlicht in BGBl. 1952 II, 685; BGBl. 2002 II, 1054. In Kraft getreten am 03.09.1953. 2 Sonderkonstellation infolge von Vorbehalten (Art. 57 EMRK), Derogation im Notstandsfall (Art. 15 EMRK) oder nach Kündigung (Art. 58 EMRK) bleiben hier außer Betracht. 3 Vgl. dazu ergänzend die in Art. 11, 16, 24 Wiener Vertragsrechtsübereinkommen [WÜRV] kodifizierten völkergewohnheitsrechtlichen Grundsätze. Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (WÜRV) vom 23. Mai 1969, BGBl. 1985 II, S. 927 ff., abgedruckt im Sartorius II, Nr. 320; verbindliche Fassung: Vienna Convention on the Law of Treaties, UNTS Vol. 1155, S. 331, https://treaties.un.org/doc/Publication/UNTS/Volume %201155/v1155.pdf. 4 Ausführlich zu den Wirkungen von EGMR-Urteilen auf völkerrechtlicher Ebene Ulrike Heckötter, Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des EGMR für die deutschen Gerichte . Köln: Carl Heymanns (2007), Abschnitt 3, insbes. S. 32 ff., zu den Inhalten der Verpflichtungen S. 45 ff. und 70 ff. 5 Siehe die ausführlichen Darstellungen bei Kristin Rohleder, Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen- System: unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, Baden-Baden: Nomos (2009), sowie Heckötter, Fn. 4, S. 70 ff., 128 ff. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) geht insofern von einer Orientierungswirkung aus, s. dazu 3.1.2.2. 6 Siehe hierzu für den Europaratsbereich Jörg Polakiewicz, Treaty-Making in the Council of Europe, Straßburg: Council of Europe Publishing, 1999, https://book.coe.int/img/cms/Treaty-making%20GBR%203899-6.pdf., Kapitel 9, S. 154. 7 Jörg Polakiewicz, Treaty-Making in the Council of Europe, Straßburg: Council of Europe (1999) https://book.coe.int/img/cms/Treaty-making%20GBR%203899-6.pdf, Kapitel 9, S. 154. 8 Siehe hierzu Rudolf Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht: mit Europarecht, München: C.H.Beck, 6. Auflage 2013, S. 96. Vgl. auch die kodifizierten Grundsätze des Völkergewohnheitsrechts in Art. 27 WÜRV. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 6 Was die Umsetzung der EGMR-Urteile selbst betrifft, sei die Vorbemerkung erlaubt, dass die entsprechenden Statistiken leicht zu falschen Schlüssen hinsichtlich der Umsetzungsbereitschaft eines Staates führen können. So wäre es beispielsweise nicht ausreichend, einfach die Zahl der eingegangenen Fälle beim EGMR oder die Zahl der Verurteilungen mit der Zahl der Schlussresolutionen des Ministerkomitees (dazu unten 2.) zu vergleichen. Dies hängt insbesondere damit zusammen , dass der Aufwand der Umsetzung eines Urteils je nach den erforderlichen Umsetzungsmaßnahmen sehr unterschiedlich sein kann. Zahlreiche (weitere) Faktoren könnten das Bild verzerren , so z. B. - die Zahl der Entscheidungen gegenüber einem Staat im betrachteten Kalenderjahr, die betroffenen Rechtsgebiete und Konventionsrechte (etwa Folterverbot [Art. 3 EMRK] einerseits und Länge des Verfahrens [Art. 6 Abs. 1 EMRK] andererseits), - die Schwere der festgestellten Verletzung, - die verfahrensrechtliche (Nicht-)Einordnung als Pilotfall (pilot judgment) oder die Behandlung als Leiturteil (lead case) und die Zahl der Wiederholungsurteile (repetitive cases), - die Komplexität und Dauer der Umsetzung je nach nationaler Zuständigkeit (z.B. langwieriges Gesetzgebungsverfahren unter Beteiligung mehrerer Verfassungsorgane, institutionelle Reform oder gerichtliches Wiederaufnahmeverfahren mit Instanzenzug gegenüber fristgerechter Anweisung einer Entschädigung durch die zuständige Behörde), - systembedingte Umsetzungsverzögerungen (etwa durch Wahlen, Regierungs- oder Zuständigkeitswechsel ) usw. Darüber hinaus soll darauf hingewiesen werden, dass sich die Analyse der staatlichen Defizite bei der Umsetzung der Urteile internationaler Gerichte – insbesondere des EGMR – aufgrund der praktischen Relevanz einerseits und der Komplexität der Ursachen und Lösungsansätze andererseits zu einem eigenen Forschungsgebiet entwickelt hat. Neben den Organen des Europarates und der allgemeinen menschenrechtlichen Literatur beschäftigen sich verschiedene Studien u. a. mit der Frage, welche staatlichen Strukturen eine ordnungsgemäße und zügige Umsetzung der Urteile begünstigen und wie diese Erkenntnisse für andere Staaten nutzbar gemacht werden können.9 Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass einige der unten erwähnten Urteile in internationalen und nationalen Umsetzungsberichten nicht selten sowohl als Beispiele für eine Rechtsänderung als auch Beispiele für ein fortbestehendes strukturelles oder allgemeines Umsetzungsdefizit angeführt werden (s. jeweils Unterpunkte 2.2. und 2.3. jedes Abschnitts). Dass ein Urteil eine Rechtsänderung nach sich gezogen hat, bedeutet also nicht zwingend, dass Reichweite und Qualität des neuen Gesetzes oder der neuen Rechtsprechung den Anforderungen der EMRK genügen oder dass alle festgestellten Rechtsverletzungen dadurch abgestellt worden sind. 9 Siehe hierzu etwa die empirische Studie von Dia Anagnostou/Alina Mungiu-Pippidi, Domestic Implementation of Human Rights Judgments in Europe: Legal Infrastructure and Government Effectiveness Matter, EJIL (2014), Band 25 Nr. 1, S. 205–227, doi:10.1093/ejil/chu001. Die Autorinnen untersuchten in dem von ihnen erforschten (beschränkten) Bereich neun Staaten (darunter alle hier betrachteten Staaten außer Russland) auf zügige und effektive Umsetzung und stellen u.a. fest, dass die vorhandene rechtliche Infrastruktur sowie eine effektive Regierungsführung Kernaspekte für gute Umsetzung darstellten. Teilweise kritisch zu Parametern und Analyse Erik Voeten, Domestic Implementation of European Court of Human Rights Judgments: Legal Infrastructure and Government Effectiveness Matter: A Reply to Dia Anagnostou and Alina Mungiu-Pippidi, ebd., S. 229–238, doi:10.1093/ejil/chu004. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 7 Die folgenden Überlegungen befassen sich mit Fragen zur Stellung der EMRK und zur Umsetzung von EGMR-Urteilen in den Europaratsstaaten Deutschland (3.) und Frankreich (4.), im Vereinigten Königreich (5.), in Italien (6.) und Russland (7.) sowie in der Türkei (8.). Hierfür wurden Informationen aus den betroffenen Staaten erfragt und – soweit eingegangen – verwendet. Die Frage, inwieweit in den genannten Staaten (politische) Widerstände bestehen, die die Umsetzung der Urteile in bestimmten Rechtsgebieten verhindern, verzögern oder erschweren, lässt sich nicht ohne Weiteres aus dem Stand oder der Länge des Umsetzungsverfahrens ablesen. Aufgrund der Komplexität und der nationalen Besonderheiten werden an dieser Stelle ausgewählte Literaturbeispiele angeführt. Zur Vertiefung wird abschließend auf Literatur verwiesen, in denen die jeweiligen Sach-, Motiv- und Rechtslagen ausführlich dargestellt werden (9.). Den Darstellungen der Sach- und Rechtslage in den genannten Staaten vorgelagert ist, wie gewünscht , eine kurze Einordnung der Rolle des Ministerkomitees (MK) bei der Umsetzung von Urteilen des EGMR (2.). Dabei findet das durch Protokoll 14 (2004)10 zur EMRK neu eingeführte Verfahren des Art. 46 Abs. 4 EMRK besondere Berücksichtigung. 10 Protokoll Nr. 14 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Änderung des Kontrollsystems der Konvention (SEV Nr. 194), Straßburg, 13.5.2004, http://www.coe.int/de/web/conventions /search-on-treaties/-/conventions/rms/0900001680083738; integriert in den Vertragstext; s.o. Fn. 1. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 8 2. Zur Rolle des Ministerkomitees des Europarates bei der Umsetzung von Urteilen11 2.1. Art. 46 EMRK12 Nach Art. 46 Abs. 2 EMRK überwacht das Ministerkomitee (MK) die Umsetzung der EGMR-Urteile durch die betroffenen Staaten. Dazu werden ihm die Urteile des EGMR zunächst zugeleitet (Abs. 2).13 Die neu gefassten Absätze 3 bis 514 erlauben es dem MK, in zwei Konstellationen erneut den EGMR anzurufen: - Zum einen kann das MK dem EGMR unter bestimmten Voraussetzungen mit Zweidrittelmehrheit Auslegungsfragen zu dessen Urteilen zur Klärung vorlegen, falls seine Überwachungsfunktion dies erfordert (authentische Interpretation, Abs. 3, siehe dazu auch Regel 11 Ergänzend ist auch auf die Rolle der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE) bei der Umsetzung von Urteilen zu verweisen; vgl. dazu ausführlich Alice Donald/Philip Leach, Parliaments and the European Court of Human Rights, Oxford: Oxford University Press (2016); Elisabeth Lambert Abdelgawad, The Court as a part of the Council of Europe: the Parliamentary Assembly and the Committee of Ministers, in: Andreas Føllesdal/Birgit Peters/Geir Ulfstein (Hrsg.), Constituting Europe: The European Court of Human Rights in a National , European and Global Context, Cambridge: Cambridge University Press (2013), S. 263–300. Der zuständige Ausschuss (Committee on Legal Affairs and Human Rights) hat in der Vergangenheit mehrfach Berichterstatter zur Beurteilung des Umsetzungsstandes eingesetzt; vgl. zu deren Gutachten und sonstigen Ausschussdokumenten http://website-pace.net/en_GB/web/as-jur/committee-documents. Zudem hat die PACE mehrfach Resolutionen verabschiedet, die die Rolle der nationalen Parlamente hervorheben, so z. B. die Resolution 1823 (2011), National parliaments: guarantors of human rights in Europe., sowie auf strukturelle Umsetzungsdefizite in einzelnen Mitgliedsstaaten aufmerksam gemacht, vgl. dazu etwa Resolution 1914 (2013), Ensuring the viability of the Strasbourg Court: structural deficiencies in States Parties. Zur Rolle der nationalen Parlamente siehe auch das Hintergrundmemorandum des Sekretariats, The role of parliaments in implementing ECHR standards: overview of existing structures and mechanisms, PPSD (2014) 22 rev., 08.09.2015, http://websitepace .net/documents/10643/695436/20142110-PPSDNotefondstandardsCEDH-EN.pdf/113ad45b-7ffd-4ee7-b176- 7fb79ad32f93. 12 Zu Art. 46 EMRK siehe ausführlich Linos-Alexander Sicilianos, The Role of the European Court of Human Rights in the Execution of its own Judgments: Reflections on Article 46 ECHR, in: Anja Seibert-Fohr/Mark E. Villiger (Hrsg.), Judgments of the European Court of Human Rights – effects and implementation, Studies of the Max Planck Institute Luxembourg for International, European and regulatory procedural law, Band 2, Baden- Baden: Nomos (2014), S. 285–315. 13 Siehe hierzu und zusammenfassend zum Verfahren Christoph Grabenwarter/Katharina Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention , München: C.H.Beck, 6. Auflage 2016, § 16 Rn. 15 ff. 14 Siehe hierzu und zu den Zielen der Reform den Erläuternden Bericht, Explanatory Report to Protocol No. 14 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, amending the control system of the Convention, https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?document Id=09000016800d380f, Rn. 7 ff., 95 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 9 10 der Verfahrensordnung des MK15). Dieses Verfahren ist für Fälle gedacht, in denen Meinungsverschiedenheiten über den Inhalt eines umzusetzenden Urteils bestehen.16 - Zum anderen kann das MK nach vorausgegangener Mahnung die Große Kammer des EGMR (Art. 31 b EMRK) mit Zweidrittelmehrheit der teilnahmeberechtigten Ratsmitglieder anrufen, wenn sich ein Mitgliedstaat nach Auffassung des MK weigert, ein Urteil nach Abs. 1 umzusetzen (Abs. 4; s. auch Regel 11 der Verfahrensordnung). Stellt die Große Kammer per Urteil eine Verletzung von Art. 46 Abs. 1 fest, verweist er die Rechtssache an das MK zurück (Abs. 5 S.1), der besondere Maßnahmen treffen kann. Verneint er einen Verstoß, schließt das MK das Verfahren gegen den betroffenen Staat ab (S. 2). Das als Eskalation gedachte17 neue Verfahren des Absatzes 4 (infringement proceedings) ist erst seit Inkrafttreten des Protokolls 14 im Juni 2010 bei Verstößen gegen die Pflicht zur Befolgung von EGMR-Urteilen (Abs. 1) anwendbar. Nach dem Explanatory Report soll das Verfahren – unterhalb der Schwelle der Zwangsmaßnahmen in Art. 3 und 8 der Satzung – dem MK in Ausnahmefällen erlauben, den Umsetzungsdruck durch die gerichtliche Feststellung der Nichtumsetzung auf konstruktive Weise zu erhöhen.18 Aus der Datenbank des EGMR – abrufbar unter hudoc.coe.int – sind derzeit keine Fälle ersichtlich , in denen eine abschließende Beurteilung des EGMR nach Abs. 4 vorliegt. Nach Auskunft des BMJV erstaune dies angesichts der Funktion des Abs. 4 und der – gemessen an der üblichen Verfahrensdauer – verhältnismäßig kurzen Zeit seit seinem Inkrafttreten nicht. Aus Regel 11 Nr. 2 der Verfahrensordnung ergibt sich zudem, dass das Verfahren nach Abs. 4 nur für Ausnahmefälle gedacht ist und dass regelmäßig eine Ankündigung gegenüber dem betreffenden Staat sechs Monate vor Klageerhebung erforderlich ist. Das MK überwacht nach Abs. 2 jedoch auch unabhängig vom erst kürzlich eingeführten Verfahren nach Abs. 4 bereits seit langem die Umsetzung der Urteile des EGMR durch die Mitgliedsstaaten . Dabei hat sich über die Jahre ein mehrstufiges Überwachungssystem entwickelt, dessen Grundzüge unter 2.2. beschrieben werden. 15 Siehe dazu Anhang 9 zum aktuellen Jahresbericht, Supervision of the Execution of Judgments and Decisions of the European Court of Human Rights: 9th Annual Report of the Committee of Ministers 2015, https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?document Id=090000168062e072, S. 255–261. 16 Grabenwarter/Pabel, Fn. 13, § 16 Rn. 19, die die Möglichkeit, den EGMR nach Rechtskraft erneut anzurufen, als ungewöhnlich einordnen. 17 Siehe dazu Regel 11 der Verfahrensordnung des MK (infringement proceedings). So auch die Auskunft des mit der Umsetzung von EGMR-Urteilen befassten Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV). 18 Explanatory Report to Protocol No. 14, Fn., 14, Rn. 100 und 99. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 10 2.2. Regulärer Überwachungsmechanismus des MK: Standardverfahren und verschärftes Verfahren 19 Das MK überwacht die Umsetzung aller Urteile kontinuierlich von der Rechtskraft des Urteils bis zum Vollzug der Umsetzungsmaßnahmen. Jedes Urteil ist grundsätzlich Gegenstand der Tagesordnungen der Menschenrechtssitzungen und bei Bedarf auch der allgemeinen Sitzungen des MK.20 Das genaue Verfahren inkl. Fristen und ergibt sich aus der Verfahrensordnung des MK (s. insbesondere Regel 6 ff. der Verfahrensordnung). Spätestens sechs Monate nach der Rechtskraft eines Urteils legt der betroffene Staat dem MK einen Aktionsplan (action plan) vor, der alle getroffenen oder geplanten Maßnahmen enthält. Hat der Staat Punkte des Aktionsplans umgesetzt, legt er einen Bericht vor (action report). Geht er von einer vollständigen Umsetzung aus, reicht er einen Schlussbericht ein (final action report). Das MK nimmt im Rahmen des Umsetzungsverfahrens auch schriftliche Berichte der Beschwerdeführenden oder aus der Zivilgesellschaft entgegen. Es unterstützt den Staat u. a. durch Empfehlungen , Handreichungen21, Erklärungen und Zwischenresolutionen (interim resolutions, s. dazu Regel 16 der Verfahrensordnung). Auch die – selten eingesetzten22 – Zwischenresolutionen folgen nach Auskunft des BMJV in der Schärfe ihrer Formulierung einem abgestuften System. Ferner bietet der Europarat den Staaten auf deren Wunsch hin Sonderprogramme – beispielsweise Rechtsberatung oder Unterstützung bei der Aus- und Fortbildung – an. Geht das Sekretariat des MK in seiner Evaluation vom Abschluss der Umsetzungsmaßnahmen aus und ist eine sechsmonatige Einspruchsfrist für andere Mitgliedstaaten nach Einreichung des final action report verstrichen , beendet das MK das Verfahren mit einer Schlussresolution (final resolution, s. dazu Regel 17 der Verfahrensordnung) mit Zweidrittelmehrheit.23 19 Dieser Abschnitt beruht vorrangig auf den Angaben auf der Internetpräsenz des Europarates (inkl. Infografik) unter http://www.coe.int/de/web/execution/the-supervision-process. Zu Entwicklung, Umfang und Verfahren der Kontrolle siehe ferner den aktuellen Jahresbericht des MK, Fn. 15, Anhang 8, S. 245–253, sowie zusammenfassend Grabenwarter/Pabel, Fn. 13, § 16 Rn. 15 ff. 20 Jahresbericht des MK, Anhang 8, Fn. 15, S. 249, Rn. 24. 21 Siehe hierzu etwa die Handreichung für Aktionspläne und Berichte: Guide for the drafting of action plans and reports for the execution of judgments of the European Court of Human Rights, Series « Vade-mecum » n° 1, https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?document Id=0900001680592206. 22 So Grabenwarter/Pabel, Fn. 13, § 16 Rn. 18. 23 Siehe zum Verfahren Jahresbericht des MK, Anhang 8, Fn. 15, S. 249 ff., Rn. 25 ff. Entscheidungen, Interimsentschließungen und Entschließungen für die letzten Sitzungen des MK sind abrufbar unter http://www.coe.int/de/web/execution/decisions-and-interim-resolutions und https://search.coe.int/cm/Pages /result_details.aspx?ObjectID=09000016805cf200. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 11 In der Literatur wird die Wirksamkeit des Verfahrens vor allem auf die ständige Thematisierung durch das MK zurückgeführt, das bestimmte Urteile immer wieder auf die Tagesordnung setzt.24 Seit Januar 2011 wird zudem zwischen Standardverfahren (standard procedure) und verschärftem Verfahren (enhanced procedure) unterschieden (sog. twin-track procedure infolge der Interlaken -Erklärung). Bei der ersten Begutachtung ordnet das MK die Fälle einem der beiden Überwachungsgrade zu, wobei Fälle jederzeit einem anderen Status zugewiesen werden können.25 Während sich das MK im Standardverfahren regelmäßig darauf beschränkt, die Aktionspläne und Berichte formell zu Kenntnis zu nehmen, erlässt es im verschärften Verfahren Interimsentschließungen und Entscheidungen mit konkreten Handlungsanweisungen und Bewertungen des staatlichen Umsetzungsprozesses und dringt auf Übersetzungen in die Landessprache.26 Dabei gilt das verschärfte Verfahren vor allem im Falle der Anordnung einstweiliger Maßnahmen sowie für Pilot- und Grundsatzurteile und für Staat-Staat-Verfahren.27 Urteile, in denen der EGMR systemische Probleme festgestellt hat, sowie Fälle mit schweren Folgen für die Beschwerdeführenden genießen grundsätzlich Vorrang bei der Umsetzung (Regel 4 Nr. 1 und 2 der Verfahrensordnung des MK). Für Entschädigungszahlungen besteht ein vereinfachtes Verfahren.28 Sonderregelungen gibt es darüber hinaus für die Überwachung der Umsetzung von Vergleichen (Regeln 12 bis 15 der Verfahrensordnung). Das MK gibt jährlich einen ausführlichen Bericht über seine Tätigkeit bei der Überwachung der Umsetzung von Entscheidungen und Urteilen des EGMR heraus (Regel 5 der Verfahrensordnung ), der auch eine Reihe von Statistiken und Übersichten zu anhängigen und abgeschlossenen Fällen enthält.29 In Anhang 5 zu diesem Bericht führt das MK den Umsetzungsstand besonders wichtiger Urteile bzw. die für die Umsetzung relevanten Ereignisse im Jahresverlauf – nach Sachgebieten geordnet (siehe dazu auch Anhang 4) – auf.30 Dabei bildet das MK häufig Fallgruppen, 24 So Grabenwarter/Pabel, Fn. 13, § 16 Rn. 18. Die Autorin und der Autor weisen darauf hin, dass die weit gehenden Rechte des MK nach der Satzung des Europarates (dort: Art. 3 und 8 – vorläufige Aussetzung des Vertretungsrechts und Nahelegen eines Austritts aus dem Europarat) bislang noch nie eingesetzt worden seien. 25 Siehe dazu ausführlich Jahresbericht des MK, Anhang 8, Fn. 15, S. 248 ff., Rn. 19 ff., insbesondere 22 f., 29 ff. 26 Jahresbericht des MK, Anhang 8, Fn. 15, S. 250 f., Rn. 29 ff. 27 Alle Informationen zum Verfahren stammen von der Internetpräsenz des Europarates unter http://www.coe.int/de/web/execution/the-supervision-process. Siehe dazu auch den Jahresbericht des MK, Anhang 8, Fn. 15, S. 248 ff., Rn. 22. Alle anhängigen Fälle (pending cases), nach Ländern und Art der Überwachung geordnet, sind unter http://www.coe.int/t/dghl/monitoring/execution/Reports/pendingCases_en.asp abrufbar . Auch die Aktionspläne sind hier teilweise verlinkt. 28 Jahresbericht des MK, Anhang 8, Fn. 15, S. 251, Rn. 32 f. 29 Siehe für den aktuellsten 9. Bericht von 2015, Fn. 15. insbesondere Anhang/Appendix 1 (Statistiken), 2 (anhängige Fälle), 3 (im Jahresverlauf abgeschlossene Fälle) und 4 (neue Fälle mit Umsetzungsrelevanz). 30 Für ein Register aller Fälle siehe im Jahresbericht 2015, Fn. 15, S. 269 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 12 deren Umsetzungsstand er gesondert betrachtet und denen er neue Fälle zuweist.31 Der jeweils aktuelle Stand der Umsetzung kann auf der Internetpräsenz des MK abgerufen werden.32 In seinem aktuellen Jahresbericht verweist das MK unter anderem auf die verstärkte Zusammenarbeit mit dem EGMR auch jenseits des Verfahrens des Abs. 4. Insbesondere im Rahmen der Piloturteile sowie anderer Urteile mit besonderem Fokus auf ihre Umsetzung (judgments with indication of interest for execution [under article 46]) misst der EGMR Umsetzungsfragen gesteigerte Bedeutung bei. So gibt er unter anderem in den Urteilen selbst oder in Schreiben an das MK besondere Empfehlungen, ordnet selbst Maßnahmen (wie z. B. die sofortige Freilassung willkürlich Inhaftierter) an oder setzt dem jeweiligen Staat Fristen zum Erlass bestimmter Maßnahmen (vgl. Regel 61 der Verfahrensordnung des EGMR). Ferner analysiert der EGMR gerade in Piloturteilen Hintergründe, Zusammenhänge und Ursachen von strukturellen oder systemischen Konventionsverletzungen genauer und knüpft daran Handlungsempfehlungen oder konkrete rechtliche Vorgaben.33 31 Siehe z. B. für das Vereinigte Königreich die „Fallgruppe McKerr“ zu Handlungen von Sicherheitskräften in Nordirland in den 1980er und 1990er Jahren (McKerr gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde-Nr. 28883/95 – Art. 2 EMRK), S. 133 ff., zur Zuweisung des Falls Mc Donnel gegen das Vereinigte Königreich (Beschwerde -Nr. 19653/11) zu dieser Gruppe S. 120. 32 Siehe dazu http://www.coe.int/de/web/cm/execution-judgments und http://www.coe.int/t/dghl/monitoring /execution/Reports/pendingCases_en.asp. 33 Jahresbericht des MK, Anhang 8, Fn. 15, S. 252 f., Rn. 35 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 13 3. Deutschland 3.1. Stellung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Urteile des EGMR in der nationalen Rechtsordnung 3.1.1. EMRK Völkerrechtliche Verträge, die die Bundesrepublik Deutschland nach Art. 59 GG ratifiziert hat, nehmen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) – entsprechend des Ratifikationsgesetzes (Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG) – grundsätzlich den Rang eines einfachen Bundesgesetzes ein. Über das Ratifikationsgesetz werden die völkerrechtlichen Normen in die nationale Rechtsordnung inkorporiert und erhalten damit innerstaatliche Geltung.34 Das BVerfG spricht dabei von einem Rechtsanwendungsbefehl, der sich an alle staatlichen Stellen richtet.35 Umstritten ist in der Literatur nach wie vor, ob den menschenrechtlichen Gewährleistungen der EMRK ein höherer Rang in der deutschen Rechtsordnung beizumessen ist.36 Einzelne Stimmen in der Literatur sprechen sich wegen der überragenden Bedeutung der EMRK davon aus, dass dieser zumindest übergesetzlicher Rang, wenn nicht sogar Verfassungs- oder Überverfassungsrang zukommen müsse. Dazu werden unterschiedliche Begründungsansätze vertreten.37 Das BVerfG und die überwiegende Ansicht in der Literatur gehen dabei davon aus, dass zunächst keine Besonderheiten gegenüber allgemeinem Völkervertragsrecht bestehen: So teilt auch die 34 Ständige Rechtsprechung des BVerfG, nachzulesen etwa in BVerfGE 74, 358, S. 370 (Unschuldsvermutung); BVerfGE 82, S. 106, S. 120; Beschluss des Zweiten Senats vom 14. Oktober 2004 (Görgülü-Beschluss) – 2 BvR 1481/04 [BVerfGE 111, S. 307], Rn. 31 f. Vgl. dazu die kurze Erläuterung bei Stefanie Schmahl, Rechtsgutachten über den Umgang mit rassistischen Wahlkampfplakaten der NPD, erstattet am 24. Oktober 2015 im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz, http://www.jura.uni-wuerzburg.de/fileadmin /02140200/user_upload/Aktuelles_Ankuendigungen/Gutachten_Wahlkampfplakate.pdf, S. 4 f. Zu diesem sog. gemäßigten Dualismus zwischen Völkerrecht und Landesrecht BVerfG, Görgülü-Beschluss, Rn. 34, 36; erläuternd Geiger, Fn. 8, S. 14 ff., zum GG S. 16. Die Hintergründe der Übernahme von Völkervertragsrecht in nationales Recht sind komplex und umstritten, siehe hierzu mit zahlreichen weiteren Nachweisen, auch zur Rechtsprechung des BVerfG, vertiefend Geiger, Fn. 8, S. 163 ff. 35 Siehe hierzu u.a. den Görgülü-Beschluss, Fn. 34, Rn. 30 f. 36 Siehe dazu ausführlich Thomas Giegerich, Wirkung und Rang der EMRK in den Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten , in: Oliver Dörr/Rainer Grote/Thilo Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Auflage 2013, Tübingen: Mohr Siebeck, Band I, Kapitel 2, S. 57– 98, S. 81, Rn. 45. 37 Etwa Art. 24 Abs. 1 GG, Art. 25 GG, Art. 20 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG. Siehe ausführlich zu den verschiedenen Theorien Giegerich, Fn. 36, S. 84 ff., mit Gegenargumenten Grabenwarter/Pabel, Fn. 13, § 3 Rn. 9, sowie umfassend Heckötter, Fn. 4, S. 92 ff, und Christian Walter, Nationale Durchsetzung, in: Oliver Dörr/Rainer Grote/Thilo Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz , 2. Auflage 2013, Tübingen: Mohr Siebeck, Band II, Kapitel 31, S. 2002–2052, Rn. 6 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 14 EMRK den Rang des Ratifikationsgesetzes (Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG) und besitzt damit den Rang eines einfachen Bundesgesetzes.38 Folge dessen ist, dass die deutsche Verwaltung und die Gerichte die EMRK „die Konvention wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung39 zu beachten und anzuwenden haben.“ Daraus ergibt sich, dass eine Nichtbeachtung der Rechte aus der EMRK grundsätzlich auf allen Verwaltungsebenen und in jedem Gerichtsverfahren vor ordentlichen Gerichten und Verwaltungsgerichten gerügt werden kann.40 Jedoch führt die Einstufung als einfaches Bundesgesetz dazu, dass die EMRK für das BVerfG nicht unmittelbar Prüfungsmaßstab41 ist und Beschwerdeführende sich im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG grundsätzlich nicht direkt auf einzelne Normen der EMRK berufen können.42 Allerdings ist zu beachten, dass das BVerfG unter Berufung auf Art. 1 Abs. 2 GG die Inhalte der EMRK bei Bedarf auch bei der Interpretation der – aus seiner Sicht höherrangigen – Grundrechte als Auslegungshilfe heranzieht. Dabei bedient es sich der EMRK und ggf. anderer Menschenrechtsverträge , um den Inhalt und die Reichweite der Grundrechte sowie der rechtsstaatlichen Grundsätze des GG zu ermitteln.43 Bereits in seinem Beschluss vom 26. März 1987 zur Unschuldsvermutung führt der 2. Senat des BVerfG dazu aus: „Bei der Auslegung des Grundgesetzes sind auch Inhalt und Entwicklungsstand der Europäischen Menschenrechtskonvention in Betracht zu ziehen, sofern dies nicht zu einer Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt, eine Wirkung, die die Konvention indes selbst ausgeschlossen wissen will (Art. 60 EMRK).“44 Diese Berücksichtigung im Rahmen der Auslegung begründet das BVerfG mit dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG.45 Es leitet jedoch aus Art. 25 und 59 Abs. 2 GG ab, dass das GG bei aller Völkerrechtsfreundlichkeit von zwei getrennten Rechtsordnungen ausgehe und keine vollständige Aufgabe der Souveränität im Sinne einer „Unterwerfung unter nichtdeutsche 38 Ständige Rechtsprechung des BVerfG, s. erläuternd insbesondere den Görgülü-Beschluss, Fn. 34, Rn. 30 f.; ferner die Nachweise bei Giegerich, Fn. 36, S. 82 und Fn. 135. 39 Grabenwarter/Pabel, Fn. 13, § 16 Rn. 12 und Fn. 53, verweisen darauf, dass diese Einschränkung im Urteil zur Sicherungsverwahrung nicht wieder aufgegriffen wird. Siehe dazu sogleich unten, S. 15. 40 Für den Instanzenzug gelten insoweit keine Besonderheiten. Er unterliegt dem entsprechenden Verfahrensrecht bis zur letztinstanzlichen Entscheidung, an die ggf. eine Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht oder dem zuständigen Landesverfassungsgericht angeschlossen werden kann, wenn die Voraussetzungen davor erfüllt sind. 41 Zur mittelbaren Geltendmachung Grabenwarter/Pabel, Fn. 13, § 3 Rn. 12. 42 Görgülü-Beschluss, Fn. 34, Rn. 32 m. w. N. 43 Görgülü-Beschluss, Fn. 34, Rn. 32 m. w. N. So auch Schmahl, Fn. 34, S. 4 f. 44 Beschluss des Zweiten Senats vom 26.03.1987 – 2 BvR 589/79, 2 BvR 740/81, 2 BvR 284/85; BVerfGE 74, 358– 380, zitiert nach juris, dort Rn. 35. Hervorhebungen der Vf. 45 Görgülü-Beschluss, Fn. 34, Rn. 33–36, unter Verweis auf Art. 23, 24, 25 S. 2, 59 Abs. 2 und 26 GG. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 15 Hoheitsakte“ verlange („Die Völkerrechtsfreundlichkeit entfaltet Wirkung nur im Rahmen des demokratischen und rechtsstaatlichen Systems des Grundgesetzes.“46). So erlaube es das GG, „wenn der Gesetzgeber ausnahmsweise Völkervertragsrecht nicht beachtet, sofern nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden ist.“47 Im Urteil zur Sicherungsverwahrung (2011) greift der 2. Senat die Frage der Abweichungsmöglichkeiten nicht erneut auf. 48 Vielmehr betont er, dass „[das] Grundgesetz … mit Art. 1 Abs. 2 GG dem Kernbestand an Menschenrechten einen besonderen Schutz [zuweise]“. Art. 1 Abs. 2 GG sei „mehr als ein unverbindlicher Programmsatz, indem [er] eine Maxime für die Auslegung des Grundgesetzes vorgibt und verdeutlicht, dass die Grundrechte auch als Ausprägung der Menschenrechte zu verstehen sind und diese als Mindeststandard in sich aufgenommen haben“.49 Er bestätigt jedoch vorsichtiger, dass sich die Grenzen der konventionsfreundlichen Auslegung aus dem GG ergäben. Zum einen endeten „[d]ie Möglichkeiten einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung … dort, wo diese nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint “ (Leitsatz 2c und Rn. 93 des Urteils). Zum anderen dürfe der Grundrechtsschutz durch die EMRK oder ein EGMR-Urteil nicht eingeschränkt oder gemindert werden (vgl. auch Art. 53 EMRK), was insbesondere in mehrpoligen Rechtsverhältnissen (d.h. bei Rechtsbeziehungen zwischen mehreren Personen) zu beachten sein könne.50 In Hinblick auf die Umsetzung des Gebots konventionsfreundlicher Auslegung warnt das BVerfG vor „schematische[r] Parallelisierung einzelner verfassungsrechtlicher Begriffe“. Vielmehr fordert es einen „aktiven (Rezeptions-)Vorgang“, wobei „die menschenrechtlichen Gehalte des jeweils in Rede stehenden völkerrechtlichen Vertrags … in den Kontext der aufnehmenden Verfassungsordnung ‚umgedacht‘ werden“ müssen.51 46 Görgülü-Beschluss, Fn. 34, Rn. 34. 47 Görgülü-Beschluss, Fn. 34, Rn. 35 f. Hervorhebungen der Vf. Diese innerstaatliche Sicht steht nicht notwendigerweise im Einklang mit der völkerrechtlichen Sichtweise, wonach ratifizierte und in Kraft getretene internationale Verträge unabhängig von den nationalen Einwendungen grundsätzlich völkerrechtliche Verpflichtungen begründen. Siehe dazu etwa Art. 27 WÜRV sowie die Einführung dieses Sachstandes, ferner Geiger, Fn. 8, S. 96. 48 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 04.05.2011 – 2 BvR 2365/09 [BVerfGE 128, S. 326, S. 370 ff.], http://www.bverfg.de/e/rs20110504_2bvr236509.html. 49 Urteil zur Sicherheitsverwahrung, Fn. 48, Rn. 90. 50 Urteil zur Sicherheitsverwahrung, Fn. 48, Rn. 88, 93. Zu den Grenzen siehe auch die Zusammenfassung bei Grabenwarter /Pabel, Fn. 13, § 3 Rn. 10. 51 Urteil zur Sicherheitsverwahrung, Fn. 48, Rn. 92 f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 16 3.1.2. EGMR-Urteile Urteile des EGMR spiegeln aus der Sicht des BVerfG den „Inhalt und Entwicklungsstand“ der EMRK wider und sind damit grundsätzlich Bestandteil der o. g. Auslegungshilfe. In diesem Sinne ergänzt der 2. Senat des BVerfG schon in seinem Beschluss vom 26. März 1987 zur Unschuldsvermutung : „… Deshalb dient insoweit auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes. ...“52 In seinem Urteil zur Sicherheitsverwahrung bestätigte das BVerfG, dass die EMRK „in ihrer konkreten Ausgestaltung“ – und damit in ihrer aktuellen Auslegung durch den EGMR, die sich aus dessen Urteilen ergibt – als Auslegungshilfe heranzuziehen sei.53 Dabei sei in der Praxis „… die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte möglichst schonend in das vorhandene, dogmatisch ausdifferenzierte nationale Rechtssystem einzupassen […] (vgl. BVerfGE 111, 307 <327>), weshalb sich eine unreflektierte Adaption völkerrechtlicher Begriffe verbietet . In der Perspektive des Grundgesetzes kommt insbesondere – gerade wenn ein autonom gebildeter Begriff des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei textlich ähnlichen Garantien anders ausfällt als der entsprechende Begriff des Grundgesetzes – das Verhältnismäßigkeitsprinzip als verfassungsimmanenter Grundsatz in Betracht, um Wertungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen: „Heranziehung als Auslegungshilfe“ kann vor diesem Hintergrund bedeuten, die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Abwägung berücksichtigten Aspekte auch in die verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung einzubeziehen (vgl. BVerfGE 111, 307 <324>; BVerfGK 3, 4 <8 ff.>).“54 Zu unterscheiden ist jedoch – auch in der Rechtsprechung des BVerfG – zwischen Urteilen gegen die Bundesrepublik Deutschland und Urteilen gegen andere Staaten: Während der Staat, gegen den ein Urteil ergeht, bereits völkerrechtlich an dessen Feststellungen gebunden ist und es zu befolgen hat (Rechtskraftwirkung: Art. 42 Abs. 1, 46 Abs. 1 EMRK; s. dazu 3.1.2.1.), wird bei Urteilen gegen andere Staaten unter bestimmten Voraussetzungen von einer Orientierungswirkung ausgegangen (s. dazu 3.1.2.2.).55 3.1.2.1. Rechtskraftwirkung Mit Unanfechtbarkeit des Urteils (Art. 42 Abs. 1, 44 Abs. 2 EMRK) entsteht – nur für die Parteien – eine (formelle und materielle) Rechtskraftwirkung. Der betroffene Staat ist zur Umsetzung des 52 Beschluss zur Unschuldsvermutung, Fn. 44, zitiert nach juris, dort Rn. 35. Hervorhebungen der Vf. 53 Urteil zur Sicherheitsverwahrung, Fn. 48, Rn. 90. 54 Urteil zur Sicherheitsverwahrung, Fn. 48, Rn. 94. 55 Grundlegend zur Unterscheidung von Rechtskraft und Orientierungswirkung und zu den Folgen BVerfG im Görgülü-Beschluss, Fn. 34, Rn. 39 ff. Siehe zum Ganzen ausführlich Heckötter, Fn. 4, S. 32 ff., 111 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 17 Urteils verpflichtet (Art. 46 Abs. 1 EMRK). Hierzu gehört zum einen die Beendigung der Verstöße gegen die EMRK, die der EGMR in dem Urteil festgestellt hat, zum anderen die Wiedergutmachung (grds. Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes).56 Grundsätzlich steht es dem betroffenen Staat frei, auf welche Weise und durch welche staatlichen Organe57 er die Verletzungen beendet, wenn der EGMR keine konkreten Maßnahmen angeordnet hat.58 3.1.2.2. Orientierungswirkung Die EMRK enthält keine Angaben darüber, welche Rechtswirkungen Urteile für die nicht betroffenen Staaten entfalten. Eine Rechtskraftwirkung im Sinne des Art. 46 Abs. 1 EMRK entsteht jedenfalls nicht.59 EGMR-Urteilen gegen andere Staaten oder gegen den gleichen Staat – für Parallelfälle – kann jedoch eine Orientierungswirkung (auch: Präjudizwirkung oder indirekte Wirkung ) zukommen: Um Verurteilungen oder Vertragsverstöße zu vermeiden, berücksichtigen Staaten die Rechtsprechung des EGMR von sich aus; ihre Organe passen ihre Praxis oder ihre Rechtsordnung (z. B. durch Auslegung oder Änderung von Rechtsgrundlagen) – in Übereinstimmung mit Art. 1 EMRK – hieran an.60 In den Parallelfällen, in denen der EGMR den gleichen Staat bereits – bei vergleichbarem Sachverhalt und wegen einer bestimmten Praxis oder Rechtslage – verurteilt hat, kann aus der Orientierungswirkung parallel zur Rechtskraftwirkung eine Pflicht zur Beendigung erwachsen.61 3.1.2.3. Berücksichtigungspflicht Das BVerfG hat in seiner Entscheidung zur Sicherheitsverwahrung ausdrücklich klargestellt, dass die Pflicht zur Berücksichtigung alle staatlichen Organe trifft. Dazu begründet es, warum es selbst EGMR-Entscheidungen auch bei anderem Streitgegenstand berücksichtigt: „…Dies beruht auf der jedenfalls faktischen Orientierungs- und Leitfunktion, die der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention auch über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus zukommt (vgl. zur Orientierungswirkung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 56 Vgl. zum Ganzen ausführlich und mit zahlreichen weiteren Nachweisen und Rechtsprechungsbeispielen Grabenwarter /Pabel, Fn. 13, § 16 Rn. 2–7. 57 Regelmäßig sind neben dem Gesetzgeber die Gerichte – häufig im Rahmen von Wiederaufnahmeverfahren – angesprochen ; dazu Grabenwarter/Pabel, Fn. 13, § 16 Rn. 4–6. 58 Wie jüngst häufiger, etwa in den Piloturteilen, dazu teilweise kritisch Grabenwarter/Pabel, Fn. 13, § 16 Rn. 4, 7. 59 Vgl. BVerfG, Görgülü-Beschluss, Fn. 34, Rn. 39 ff. Siehe auch Grabenwarter/Pabel, Fn. 13, § 16 Rn. 2. Das BMJV verweist insofern darauf, dass gerade im Bereich des Streikrechts für Beamtinnen und Beamte kein solches Urteil gegen Deutschland vorliege und die Urteile gegen die Türkei für Deutschland als solche nicht verbindlich sind. Hier stellt sich die Frage der Vergleichbarkeit mit eventuellen deutschen Parallelfällen. Hierüber hat der EGMR bislang nicht entschieden. S. hierzu auch 3.2.3. (S. 25). 60 Dazu ausführlich Grabenwarter/Pabel, Fn. 13, § 16 Rn. 8 f. 61 Grabenwarter/Pabel, Fn. 13, § 16 Rn. 9. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 18 bereits BVerfGE 111, 307 <320>; BVerfGK 10, 66 <77 f.>; 10, 234 <239>; jeweils m.w.N.). Die innerstaatlichen Wirkungen der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erschöpfen sich insoweit nicht in einer aus Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 59 Abs. 2 GG abzuleitenden und auf die den konkreten Entscheidungen zugrundeliegenden Lebenssachverhalte begrenzten Berücksichtigungspflicht, denn das Grundgesetz will vor dem Hintergrund der zumindest faktischen Präzedenzwirkung der Entscheidungen internationaler Gerichte Konflikte zwischen den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland und dem nationalen Recht nach Möglichkeit vermeiden (vgl. BVerfGE 109, 13 <23 f.>; 109, 38 <50>; 111, 307 <318; 328>; 112, 1 <25>; 123, 267 <344 ff., 347>; BVerfGK 9, 174 <193>). ...“62 In seiner Rechtsprechung hat das BVerfG die Berücksichtigungspflicht in verschiedenen Fallkonstellationen ausbuchstabiert und die daraus erwachsenden Pflichten für die einzelnen staatlichen Organe herausgearbeitet.63 Im Görgülü-Beschluss, der u.a. die Umsetzung eines gegen die Bundesrepublik Deutschland entschiedenen Beschwerdeverfahrens zum Gegenstand hatte, betonte der EGMR zu den Folgen der Rechtskraftwirkung im deutschen Recht grundlegend: „3. Die Bindungswirkung von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hängt von dem jeweiligen Zuständigkeitsbereich der staatlichen Organe und des einschlägigen Rechts ab. Verwaltungsbehörden und Gerichte können sich nicht unter Berufung auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von der rechtsstaatlichen Kompetenzordnung und der Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) lösen. Zur Bindung an Gesetz und Recht gehört aber auch die Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Entscheidungen des Gerichtshofs im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung. Sowohl die fehlende Auseinandersetzung mit einer Entscheidung des Gerichtshofs als auch deren gegen vorrangiges Recht verstoßende schematische "Vollstreckung" können deshalb gegen Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstoßen. a) Die über das Zustimmungsgesetz ausgelöste Pflicht zur Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Entscheidungen des Gerichtshofs erfordert zumindest, dass die entsprechenden Texte und Judikate zur Kenntnis genommen werden und in den Willensbildungsprozess des zu einer Entscheidung berufenen Gerichts, der zuständigen Behörde oder des Gesetzgebers einfließen. Das nationale Recht ist unabhängig von dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens nach Möglichkeit im Einklang mit dem Völkerrecht auszulegen (vgl. BVerfGE 74, 358 <370>). Sind für die Beurteilung eines Sachverhalts Entscheidungen des Gerichtshofs einschlägig, so sind grundsätzlich die vom Gerichtshof in seiner Abwägung berücksichtigten Aspekte auch in die verfassungsrechtliche Würdigung, namentlich die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzubeziehen, und es hat eine Auseinandersetzung mit den vom Gerichtshof gefundenen Abwägungsergebnissen stattzufinden (vgl. Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. März 2004 – 2 BvR 1570/03 -, EuGRZ 2004 S. 317 <319>). 62 Urteil zur Sicherheitsverwahrung, Fn. 48, Rn. 90. Hervorhebungen der Vf. 63 Grundlegend dazu der Görgülü-Beschluss, Fn. 34, Rn. 48–59. Siehe dazu zusammenfassend mit zahlreichen weiteren Nachweisen Grabenwarter/Pabel, Fn. 13, § 16 Rn. 11–14. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 19 Hat der Gerichtshof in einem konkreten Beschwerdeverfahren unter Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland einen Konventionsverstoß festgestellt und dauert dieser Verstoß an, so ist die Entscheidung des Gerichtshofs im innerstaatlichen Bereich zu berücksichtigen, das heißt die zuständigen Behörden oder Gerichte müssen sich mit der Entscheidung erkennbar auseinander setzen und gegebenenfalls nachvollziehbar begründen, warum sie der völkerrechtlichen Rechtsauffassung gleichwohl nicht folgen. Gerade in Fällen, in denen staatliche Gerichte wie im Privatrecht mehrpolige Grundrechtsverhältnisse auszugestalten haben, kommt es regelmäßig auf sensible Abwägungen zwischen verschiedenen subjektiven Rechtspositionen an, die bei einer Änderung der Subjekte des Rechtsstreits oder durch eine Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse im Ergebnis anders ausfallen können. Es kann insofern zu verfassungsrechtlichen Problemen führen, wenn einer der Grundrechtsträger im Konflikt mit einem anderen einen für ihn günstigen Urteilsspruch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen die Bundesrepublik Deutschland erstreitet und deutsche Gerichte diese Entscheidung schematisch auf das Privatrechtsverhältnis anwenden, mit der Folge, dass der insofern "unterlegene" und möglicherweise nicht im Verfahren vor dem Gerichtshof beteiligte Grundrechtsträger gar nicht mehr als Verfahrenssubjekt wirksam in Erscheinung treten könnte. […] c) Bei der Berücksichtigung von Entscheidungen des Gerichtshofs haben die staatlichen Organe die Auswirkungen auf die nationale Rechtsordnung in ihre Rechtsanwendung einzubeziehen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um ein in seinen Rechtsfolgen ausbalanciertes Teilsystem des innerstaatlichen Rechts handelt, das verschiedene Grundrechtspositionen miteinander zum Ausgleich bringen will. …“64 3.2. Zur Umsetzungspraxis von EGMR-Urteilen Aufschluss über die Umsetzung der Urteile geben – neben den Aktionsplänen und -berichten auf der Seite des MK sowie dem aktuellen Jahresbericht des MK für 2015 – die jährlichen Berichte des BMJV, die auf der Internetseite des Ministeriums veröffentlicht werden.65 Nach Auskunft des BMJV von Juli 2016 hat Deutschland alle erforderlichen Maßnahmen getroffen bzw. Gesetzesänderungen in die Wege geleitet (z. B. die Erweiterung der Verzögerungsrüge im Bereich des Familienrechts). Alle übrigen Verfahren beträfen Einzelfälle ohne weiteren Rechtsetzungsbedarf .66 64 Görgülü-Beschluss, Fn. 34, Rn. 47–49, 57. Hervorhebungen der Vf. 65 Siehe dazu die Rubrik „Ausgewählte Entscheidungen des EGMR und Rechtsprechungsberichte“ inkl. der Zusammenfassungen ausgewählter Urteile: http://www.bmjv.de/DE/Themen/Menschenrechte/Entscheidungen EGMR/EntscheidungenEGMR.html, übersetzte Urteile finden sich unter http://www.bmjv.de/SiteGlobals /Forms/Suche/EGMRsuche_Formular.html. 66 Dies wird nach erstem Überblick auch für die bis zum Bearbeitungsschluss veröffentlichten neuen Urteile gelten . So steht etwa beim Urteil Moog gegen Deutschland vom 06.10.2016 (Beschwerde-Nrn. 23280/08 und 2334/10) die Rechtsanwendung der Behörden bei Umgangsrechtsentscheidungen im Vordergrund. Für die Pressemitteilung siehe http://hudoc.echr.coe.int/eng-press?i=003-5509823-6927511. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 20 3.2.1. Quoten Laut Jahresbericht des MK für 2015 gingen 2014 und 2015 jeweils fünf neue Urteile beim MK zur Überwachung ein, die die Bundesrepublik Deutschland betrafen. Davon wurden 2014 zwei Fälle als Leiturteile eingeordnet; einer davon wurde zunächst der enhanced supervision zugewiesen. 2015 wurden alle fünf neuen Umsetzungsverfahren als Leiturteile klassifiziert; drei davon durchliefen das Standardverfahren, zwei waren bei Redaktionsschluss des Berichtes noch nicht zugewiesen .67 Zum Berichtszeitpunkt waren 2014 19, 2015 20 Fälle (davon 17 Leiturteile) beim MK anhängig.68 Abgeschlossen wurden 2014 17, 2015 vier Umsetzungsverfahren (darunter fünf Leiturteile ).69 Deutschland war 2015 nicht unter den zehn Staaten, gegen die die meisten Urteile gerichtet oder die meisten neuen Beschwerden anhängig waren.70 23 Urteile, die dem MK aktuell zur Umsetzung vorliegen, unterliegen dem Standardverfahren; zwei Urteile sind noch nicht eingestuft.71 Auch die Übersicht der Fälle unter enhanced supervision der Jahre 2011–2015 enthält für Deutschland derzeit keinen namentlichen Eintrag.72 Die Zahlen der derzeitigen Überwachungsverfahren stellen nicht grundsätzlich einen Widerspruch zu den Auskünften des BMJV dar: Solange das MK keine Abschlussresolution erlassen hat, dauert das Überwachungsverfahren an. Diese Abschlussresolutionen werden zuweilen erst Monate nach den letzten Maßnahmen in einer der folgenden Sitzungen des MK verabschiedet. Somit kann ein Mitgliedsstaat sehr wohl alle erforderlichen Maßnahmen getroffen oder auf den 67 Jahresbericht des MK, Fn. 15, Anhang 1 (Statistics 2015), S. 63. Vergleichszahlen für alle Mitgliedsstaaten: 96 (2014) bzw. 131 (2015) neue Umsetzungsverfahren. 68 Ebd., S. 65. Vergleichszahlen für alle Mitgliedsstaaten: 10.904 (2014) bzw. 10.652 (2015) anhängige Umsetzungsverfahren . 69 Ebd., S. 68. Dabei ermöglicht die Anzahl der anhängigen wie abgeschlossenen Umsetzungsverfahren keinen verlässlichen Rückschluss auf die Umsetzungsbereitschaft oder auf die Lage der Menschenrechte in dem jeweiligen Staat (s. Einführung). Vergleichszahlen für alle Mitgliedsstaaten: 1.502 (2014) bzw. 1.537 (2015) abgeschlossene Umsetzungsverfahren. 70 EGMR, The ECHR in Facts & Figures; 2015, http://www.echr.coe.int/Documents/Facts_Figures_2015_ENG.pdf, S. 3 und 4. Zur Zahl der ergangenen Urteile – nach Mitgliedsstaat und Konventionsverletzung geordnet – siehe die Übersichten des EGMR für 2015, http://www.echr.coe.int/Documents/Stats_violation_2015_ENG.pdf, bzw. für 1959–2015, http://www.echr.coe.int/Documents/Stats_violation_1959_2015_ENG.pdf. Laufend aktualisierte Statistiken für 2016 sind abrufbar unter http://www.echr.coe.int/Documents/Stats_annual_2016_ENG.pdf und http://www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending_2016_BIL.pdf (Stand bei Bearbeitungsschluss: 31.08.2016). 71 Suchmechanismus unter http://www.coe.int/t/dghl/monitoring/execution/Reports/pendingCases_en.asp. (Stand: 05.10.2016). 72 Department for the Execution of Judgments of the European Court of Human Rights, Main States with Cases under Enhanced Supervision: 2011-2015 (Stand: 18.05.2016), https://rm.coe.int/CoERMPublicCommon SearchServices/DisplayDCTMContent?documentId=090000168065156a Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 21 Weg gebracht haben, auch wenn das Umsetzungsverfahren formell noch nicht beendet ist. Ob und inwiefern dies auf alle anhängigen Urteile zutrifft, lässt sich nicht abschließend beurteilen. 3.2.2. Beispiele für Rechtsänderungen nach EGMR-Urteilen Nach Auskunft des BMJV ist eine Reihe von Gesetzesänderungen auf EGMR-Entscheidungen zurückzuführen.73 Als Beispiele aus den letzten Jahren werden die Sicherungsverwahrung, das Jagdrecht und die Einführung einer Verzögerungsrüge im Gerichtsverfahren genannt. Im letzten Umsetzungsbericht für 2014 greift das BMJV fünf Urteile und die damit verbundenen Umsetzungsmaßnahmen heraus, von denen vier gesetzgeberische Maßnahmen nach sich zogen: - N. [Neziraj] gegen Deutschland (Beschwerde-Nr. 30804/07, Urteil vom 08.11.2012) - A. [Anayo] gegen Deutschland (Beschwerde-Nr. 20578/07, Urteil vom 21.12.2010) sowie S. [Schneider] gegen Deutschland (Beschwerde-Nr. 17080/07, Urteil vom 15.09.2011) - H. [Herrmann] gegen Deutschland (Beschwerde-Nr. 9300/07, Urteil der Großen Kammer vom 26.06.2012).74 Im Einzelnen führt das BMJV zu den Gesetzesänderungen aus: Neziraj gegen Deutschland (Strafverfahrensrecht: Verwerfung der Berufung in Abwesenheit des/der Angeklagten): „… Zur Umsetzung des Urteils wurde der § 329 StPO dahingehend geändert, dass eine Verwerfung der Berufung des Angeklagten nicht mehr erfolgen darf, wenn statt des Angeklagten ein entsprechend bevollmächtigter und vertretungsbereiter Verteidiger in einem Termin zur Berufungshauptverhandlung erschienen ist. Anstelle der nicht mehr zulässigen Verwerfung soll in Anwesenheit des Verteidigers ohne den Angeklagten verhandelt werden, soweit nicht besondere Gründe dessen Anwesenheit erforderlich machen. Das „Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in Berufungsverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe“ ist am 18. Juli 2015 in Kraft getreten (BGBl. S. 1332). Damit hat die Bundesregierung ihre Verpflichtung zur Umsetzung des Urteils vollständig erfüllt.“ 73 Wie oben beleuchtet, kann die Umsetzung auch durch andere Maßnahmen als durch Änderung von Gesetzen oder Verordnungen, Verwaltungspraktiken oder Rechtsprechung (hier: Rechtsänderungen) sein. So können – je nach Rechtsverletzung und Entschädigungsanordnung des EGMR – auch einzelfallbezogene Maßnahmen (z. B. Wiederaufnahme des Verfahrens und Entscheidung unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des EGMR, Schadensersatz, Haftentlassung) ausreichend sein, um ein Urteil umzusetzen. Entsprechend der Frage des Auftraggebers wird in diesem Sachstand vorrangig auf Rechtsänderungen im obigen Sinne eingegangen. 74 BMJV, Bericht über die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die Umsetzung seiner Urteile in Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2014, http://www.bmjv.de/Shared- Docs/Downloads/DE/PDF/Bericht_ueber_die_Rechtssprechung_des_EGMR_2014_DE.pdf, S. 35 ff. Zum Abschluss des Berichts verweist das BMJV auf die Abschlussresolutionen des MK. Anders als der EGMR kürzt das BMVG die Namen der Beschwerdeführenden grundsätzlich aus Datenschutzgründen ab. Der EGMR tut dies nur auf Antrag bzw. bei besonderer Gefährdung der Beschwerdeführenden. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 22 Anayo gegen Deutschland sowie Schneider gegen Deutschland (Umgangs- und Auskunftsrecht leiblicher Väter): „… Zur Umsetzung des Urteils hat der Deutsche Bundestag am 25. April 2013 das Gesetz zur Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters beschlossen. Das Gesetz ist am 5. Juli 2013 in Kraft getreten (BGBl. I S. 2.176). Durch das Gesetz soll die Rechtsposition der leiblichen, nicht rechtlichen Väter im Bereich des Umgangs- und Auskunftsrechts unter entsprechender Beachtung des Kindeswohls gestärkt werden. Die Neuregelungen sehen vor, dass der leibliche Vater ein Umgangsrecht mit seinem Kind dann erhält, wenn er ein ernsthaftes Interesse an seinem Kind gezeigt hat und wenn der Umgang mit dem leiblichen Vater dem Kindeswohl dient. Des Weiteren sollen leibliche Väter bei berechtigtem Interesse künftig auch das Recht erhalten, von den rechtlichen Eltern Auskunft über die persönlichen Verhältnisses des Kindes zu verlangen, soweit dies dem Wohl des Kindes nicht widerspricht. Bestehen Zweifel an der leiblichen Vaterschaft des Antragstellers, kann die Abstammung inzident im Rahmen des Umgangs- oder Auskunftsverfahrens geklärt werden . Ein selbständiges Recht auf Klärung der leiblichen Abstammung unabhängig vom Umgangsrecht erhält der leibliche Vater dagegen nicht. Das würde zu stark nachteilig in die soziale Familie hineinwirken.“ Herrmann gegen Deutschland (Jagdrecht: Verpflichtung, die Jagd auf dem eigenen Grundstück zu dulden): „… Zur Umsetzung des Urteils wurde das Bundesjagdgesetz geändert. Das Gesetz zur Änderung jagdrechtlicher Vorschriften vom 29. Mai 2013 (BGBl. I S. 1386) ist am 6. Dezember 2013 in Kraft getreten. Das Gesetz ermöglicht Grundeigentümern, die einer Jagdgenossenschaft angehören und die Bejagung ihrer Flächen aus ethischen Gründen ablehnen, auf Antrag aus der Jagdgenossenschaft auszuscheiden. Flankierende Regelungen enthält das Gesetz zur Haftung des ausscheidenden Grundeigentümers für Wildschäden, zur Wildfolge und zum jagdlichen Aneignungsrecht. Darüber hinaus wird die Strafvorschrift zur Jagdwilderei (§ 292 StGB) an die neu geschaffene Befriedung aus ethischen Gründen angepasst. Damit soll sichergestellt werden, dass ein Betreten der aus ethischen Gründen befriedeten Grundflächen, die in der Flur nicht unbedingt als solche erkennbar sind, für die im Jagdbezirk zur Jagdausübung befugten Personen keine Strafbarkeit nach sich zieht.“ Der Bericht des Legal Affairs and Human Rights Department der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Kooperation mit dem Menschenrechtszentrum der University of Essex75 führt für Deutschland unter anderem folgende Urteile als Beispiele für Rechtsänderungen auf: - Einführung der Verzögerungsrüge bei exzessiver Verfahrenslänge infolge des Urteils Sürmeli gegen Deutschland (Beschwerde-Nr. 75529/01, Urteil der Großen Kammer vom 8. Juni 2006), des Piloturteils Rumpf gegen Deutschland (Beschwerde-Nr. 46344/06, Urteil 75 PACE, Impact of the European Convention on Human Rights in States Parties: selected examples: Overview prepared by the Legal Affairs and Human Rights Department upon the request of Mr Pierre-Yves Le Borgn’ (France, SOC), Rapporteur on the implementation of judgments of the European Court of Human Rights, AS/Jur/Inf (2016) 04, 08.01.2016, http://website-pace.net/documents/19838/419003/AS-JUR-INF-2016-04- EN.pdf/12d802b0-5f09-463f-8145-b084a095e895, S. 15 ff., inkl. Verweise auf Urteile und MK-Resolutionen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 23 vom 2. September 2010) sowie diverser weiterer Urteile durch das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (BGBl. 2011 I, S. 2302)76 - Nachträgliche Verlängerung oder Anordnung von Sicherungsverwahrung: Neuregelung der Rechtslage infolge des Urteils M. gegen Deutschland (Beschwerde-Nr. 19359/04, Urteil vom 17. Dezember 2009) und elf weiterer Urteile durch das Leiturteil des BVerfG vom 4. Mai 2011 zur Sicherheitsverwahrung (BVerfGE 128, 326), das Gesetz zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 (BGBl. I, S. 2300) und das Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung vom 5. Dezember 2012 (BGBl. 2012 I, S. 2452)77 - Stärkung des Umgangs-, Sorge- und Auskunftsrechts von Vätern nicht-ehelicher Kinder infolge (u. a.) der Urteile Zaunegger gegen Deutschland (Beschwerde-Nr. 22028/04, Urteil vom 3. Dezember 2009) und Görgülü gegen Deutschland (Beschwerde-Nr. 74969/01, Urteil vom 26. Februar 2004) durch mehrere Urteile des BVerfG und das Gesetz zur Reform der elterlichen Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern (BGBl. 2013 I, S. 795)78 79 3.2.3. Beispiele für Widerstände bei der Umsetzung von EGMR-Urteilen In der Literatur sind mehrere Konfliktfälle im weiteren Sinne herausgearbeitet worden. Bezug genommen wird insbesondere auf drei Bereiche oder Entscheidungen: - Sicherheitsverwahrung - Umgang von Polizei und Ermittlungsbehörden mit Beschuldigten: zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln (Jalloh gegen Deutschland, Beschwerde-Nr. 54810/00, Urteil der Großen Kammer vom 11. Juli 2006) 76 Siehe dazu auch ausführlich den Umsetzungsbericht des BMJV von 2011, http://www.bmjv.de/SharedDocs/Archiv /Downloads/Bericht_ueber_die_Rechtsprechung_des_Europaeischen_Gerichtshofs_fuer_Menschenrechte _und_die_Umsetzung_seiner_Urteile_in_Verfahren_gegen_die_Bundesrepublik_Deutschland _im_Jahr_2011.pdf, S. 53 f., sowie Resolution CM/ResDH(2013)244. 77 Siehe dazu auch ausführlich den Umsetzungsbericht des BMJV von 2012, http://www.bmjv.de/SharedDocs/Archiv /Downloads/Bericht_ueber_die_Rechtsprechung_des_EGMR_2012_deutsche_Faelle.pdf, S. 44 ff., sowie Resolution CM/ResDH(2014)290. 78 Siehe dazu auch die Umsetzungsberichte des BMJV von 2011, Fn. 76, S. 55 f., und 2012, Fn. 77, S. 47 f., sowie Resolution CM/ResDH(2014)163 und Resolution CM/ResDH(2009)4. 79 Siehe für weitere Fälle – auch der Orientierung an Urteilen gegen andere Staaten – etwa Elisabeth Lambert Abdelgawad /Anne Weber, The Reception Process in France and Germany, in: Helen Keller/Alec Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights: The Impact of the ECHR on National Legal Systems, Oxford: Oxford University Press (2008), S. 107–164, S. 133–136. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 24 - die sog. Caroline-(von-Monaco-)Entscheidungen80 (Schutz der Privatsphäre/Recht am eigenen Bild prominenter Persönlichkeiten)81 In allen Fällen handelt es sich um die Implementierung von EGMR-Urteilen durch nationale Gerichte in einem gewissen (jedenfalls gesellschaftlichen) Spannungsverhältnis. In den letzten beiden Bereichen liegt der Schwerpunkt jeweils bei widerstreitenden Rechtsauffassungen deutscher Gerichte im Verhältnis zur EGMR-Rechtsprechung. Im Zuge der Caroline-(von-Monaco-)Entscheidungen wird in der Literatur von einem „Ping- Pong“-Spiel zwischen EGMR und BVerfG ausgegangen, wobei der EGMR Kriterien für die Abwägung von Pressefreiheit und dem Recht auf Schutz der Privatsphäre entwickelt habe, die das BVerfG letztlich – trotz erheblicher Widerstände in der deutschen Rechtliteratur – akzeptiert habe.82 Als Schlüssel hierfür wird die Görgülü-Entscheidung des BVerfG betrachtet.83 Während einige Stimmen in den 2000er Jahren von einem Spannungs- oder Konkurrenzverhältnis , wenn nicht von einem offenen Konflikt zwischen BVerfG und EGMR sprachen84, gehen andere aus heutiger Sicht eher von einem Dialogprozess zwischen den beiden Gerichten aus:85 Auch die Urteile zur Sicherheitsverwahrung hätten in Deutschland zwar gesellschaftliche Debatten über die Konvention und den EGMR ausgelöst; es sei aber vor allem über die Art der Umsetzung diskutiert worden. Die Verbindlichkeit der Urteile sei dagegen nicht in Frage gestellt worden .86 Mittlerweile würden die Umsetzungsverpflichtung und das Kooperations- und Dialogverhältnis des BVerfG mit dem EGMR in Politik, Rechtsprechung und Gesellschaft nicht mehr angezweifelt .87 Zu trennen ist die Frage möglicher Widerstände gegen die Umsetzung von Urteilen, die gegen Deutschland ergangen sind, mit anderen Debatten um die menschenrechtliche Vereinbarkeit der deutschen Rechtslage. Diskutiert wird in Deutschland beispielsweise – auch als Reaktion auf die 80 Von Hannover gegen Deutschland, Beschwerde-Nr. 59320/00, Urteil vom 24.06.2004; Von Hannover gegen Deutschland (Nr. 2), Beschwerde-Nrn. 40660/08 und 60641/08, Urteil der Großen Kammer vom 07.02.2012; Von Hannover gegen Deutschland (Nr. 3), Beschwerde-Nr. 8772/10, Urteil vom 19.09.2013. 81 Siehe etwa Julia Rackow, From Conflict to Cooperation: The Relationship Between Karlsruhe and Strasbourg, in: Katja S. Ziegler/Elizabeth Wicks/Loveday Hodson (Hrsg.), The UK and European Human Rights: A Strained Relationship?, Oxford: Hart Publishing (2015), S. 341–359; Katharina Pabel, Germany: The Long Way of Integrating the Strasbourg Perspectives into the Protection of Fundamental Rights, in: Patricia Popelier/Sarah Lambrecht /Koen Lemmens, Criticism of the European Court of Human Rights, Shifting the Convention System: Counter-Dynamics at the National and EU Level, Cambridge: Intersentia (2016), S. 155–175, S. 169–172. 82 Zum Ganzen ausführlich Pabel, Fn. 81, S. 169 f. 83 Lambert Abdelgawad/ Weber, Fn. 79, S. 136 f. 84 S. etwa Lambert Abdelgawad/Weber, Fn. 79, S. 137. 85 Zum Ganzen ausführlich Pabel, Fn. 81, S. 169 f. 86 Pabel, Fn. 81, S. 173. 87 Pabel, Fn. 81, S. 174. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 25 Urteile in den Verfahren Obst und Schüth gegen Deutschland88 – über die Reichweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts etwa im Arbeitsrecht.89 Anlass für Diskussionen bieten darüber hinaus Urteile gegen andere Staaten wie etwa Enerji Yapı-Yol Sen gegen die Türkei von 2009 zum Streikrecht für Beamtinnen und Beamte, wonach der EGMR den Ausschluss aller civil servants vom Streikrecht als unverhältnismäßig einstufte.90 In der deutschen Rechtsliteratur wurde intensiv über die Auswirkungen dieses Urteils auf die deutsche Rechtslage diskutiert.91 88 Obst gegen Deutschland, Beschwerde-Nr. 425/03, Schüth gegen Deutschland, Beschwerde-Nr. 1620/03, beide Urteile vom 23. September 2010, abrufbar unter hudoc.coe.int. 89 Siehe dazu etwa Sebastian Müller, Kirchliches Selbstbestimmungsrecht und individuelles Arbeitsrecht. Eine menschenrechtliche Bewertung, Deutsches Institut für Menschenrechte: Policy Paper Nr. 29 (April 2015), http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Policy_Paper/Policy_Paper _29_Kirchliches_Selbstbestimmungsrecht_und_individuelles_Arbeitsrecht.pdf. 90 Enerji Yapı-Yol Sen gegen die Türkei, Urteil vom 21.04.2009, Beschwerde-Nr. 68959/01, abrufbar unter hudoc .coe.int, siehe dort insbesondere Rn. 32. 91 Siehe zur Debatte mit zahlreichen Nachweisen Jürgen Bröhmer, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar, Fn. 37, Band I, Kapitel 19, S. 1161–1232, Rn. 109 f. und Fn. 326 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 26 4. Frankreich 4.1. Stellung der EMRK und der Urteile des EGMR in der nationalen Rechtsordnung 4.1.1. EMRK Nach Art. 55 der französischen Verfassung haben ratifizierte völkerrechtliche Verträge einen höheren Rang in der Normenhierarchie als einfache Gesetze.92 Die Plena der beiden obersten Gerichte Frankreichs der ordentlichen und der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die Cour de Cassation (Kassationsgerichtshof) und der Conseil d’État (Staatsrat), haben übereinstimmend entschieden, dass die Verfassung gegenüber völkerrechtlichen Verträgen im Kollisionsfall Vorrang genießt.93 Der Conseil Constitutionnel (Verfassungsrat), das französische Verfassungsgericht, hat sich in zwei Entscheidungen für nicht zuständig erklärt. Er hat die Kontrolle der Vereinbarkeit von Gesetzen mit völkerrechtlichen Verpflichtungen Frankreichs der Fachgerichtsbarkeit zugewiesen.94 Damit werden völkerrechtliche Verträge zwischen Verfassung und einfachen Gesetzen eingeordnet ; sie haben also im Gegensatz zu Deutschland einen Zwischenrang. Nach nationalen Angaben hat die EMRK – im Gegensatz zum Unionsrecht – keinen besonderen Status im Vergleich zu anderen völkerrechtlichen Vorschriften. 4.1.2. EGMR-Urteile Nach nationalen Angaben ist der höhere Rang der EGMR-Urteile gegenüber der internen Rechtsordnung in Frankreich anerkannt. Die Verwaltung sei aufgerufen, die Rechtsprechung des EGMR vollumfänglich anzuerkennen; Gerichte könnten die Anwendung von Gesetzen verweigern, die ihr widersprechen. Im Bedarfsfall komme es zu Rechtsänderungen, um die Anwendung des jeweiligen Urteils zu ermöglichen. Bei Konflikten kann der reguläre Rechtsweg zu den Zivil- oder Verwaltungsgerichten beschritten werden; die Zuständigkeit richtet sich nach allgemeinen Vorschriften . In Bezug auf die (höherrangige) Verfassung seien Widersprüche mit der EGMR-Rechtsprechung theoretisch denkbar, da der EGMR von einem Vorrang seiner Urteile auch gegenüber der Verfassung ausgehe. Allerdings habe es bislang aufgrund der Zusammenarbeit der Gerichte keine Konfliktfälle gegeben. 92 Wortlaut: « les traités ou accords régulièrement ratifiés ou approuvés ont, dès leur publication, une autorité supérieure à celle des lois, sous réserve, pour chaque accord ou traité, de son application par l'autre partie ». 93 Conseil d’État (Assemblée), Entscheidung vom 30.10.1998 (Sarran, Levacher et autres); Cour de cassation (Assemblée plénière), Entscheidung vom 02.06.2000 (Fraisse). 94 Conseil Constitutionnel, Entscheidungen vom 15.01.1975, Nr. 74-54 DC, Interruption Volontaire de Grossesse (Schwangerschaftsabbruch) und vom 12.05.2010. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 27 4.2. Zur Umsetzungspraxis von EGMR-Urteilen 4.2.1. Quoten Laut Jahresbericht des MK für 2015 gingen 2014 und 2015 jeweils 22 neue Urteile beim MK zur Überwachung ein, die Frankreich betrafen. Davon wurden 2014 14 Fälle als Leiturteile eingeordnet ; einer davon wurde zunächst der enhanced supervision zugewiesen. 2015 wurden zehn neue Umsetzungsverfahren als Leitverfahren klassifiziert (neun im Standardverfahren, ein Fall noch nicht zugeordnet).95 Zum Berichtszeitpunkt waren 2014 54, 2015 69 Fälle (davon 41 Leiturteile) beim MK anhängig.96 Abgeschlossen wurden 2014 18, 2015 sieben Umsetzungsverfahren (darunter 5 Leiturteile).97 Frankreich wird für 2015 an Platz neun der zehn Staaten geführt, gegen die die meisten Urteile gefallen waren (3,28 Prozent).98 Fünf der 55 Urteile, die dem MK aktuell zur Umsetzung vorliegen, unterliegen der enhanced supervision , davon vier Leiturteile; ein neues Urteil ist noch nicht eingestuft.99 Auch Frankreich wird in der Übersicht der Fälle unter enhanced supervision der Jahre 2011-2015 (s. dazu 3.2.1.) nicht aufgeführt. 4.2.2. Beispiele für Rechtsänderungen nach EGMR-Urteilen Nach nationalen Angaben hat es bereits zahlreiche Rechtsänderungen infolge von EGMR-Urteilen gegeben, darunter die Änderung von Gesetzen und Verordnungen. Dies betreffe auch sehr sen- 95 Jahresbericht des MK 2015, Fn. 15, Anhang 1, S. 63. Vergleichszahlen für alle Mitgliedsstaaten: 96 (2014) bzw. 131 (2015) neue Umsetzungsverfahren. 96 Ebd., S. 65. Vergleichszahlen für alle Mitgliedsstaaten: 10.904 (2014) bzw. 10.652 (2015) anhängige Umsetzungsverfahren . 97 Ebd., S. 68. Dabei ermöglicht die Anzahl der anhängigen wie abgeschlossenen Umsetzungsverfahren keinen verlässlichen Rückschluss auf die Umsetzungsbereitschaft oder auf die Lage der Menschenrechte in dem jeweiligen Staat (s. Einleitung). Vergleichszahlen für alle Mitgliedsstaaten: 1.502 (2014) bzw. 1.537 (2015) abgeschlossene Umsetzungsverfahren. 98 EGMR, The ECHR in Facts & Figures; 2015, Fn. 70, S. 3. Frankreich war jedoch nicht unter den zehn Staaten mit den meisten anhängigen Fällen am 31.12.2015, s. S. 4. Zur Zahl der ergangenen Urteile – nach Mitgliedsstaat und Konventionsverletzung geordnet – siehe die Übersichten des EGMR für 2015 bzw. für 1959–2015, s. jeweils Fn. 70. Laufend aktualisierte Statistiken für 2016 sind abrufbar unter http://www.echr.coe.int/Documents/Stats_annual_2016_ENG.pdf und http://www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending_2016_BIL.pdf (Stand bei Bearbeitungsschluss: 31.08.2016). 99 Suchmechanismus unter http://www.coe.int/t/dghl/monitoring/execution/Reports/pendingCases_en.asp. (Stand: 05.10.2016). Unter den Urteilen befinden sich auch solche wie Mennesson und Labassée, die seitens des Europarats gleichzeitig als Positivbeispiele eingeordnet werden (dazu sogleich unten). Dies muss nicht notwendigerweise einen Widerspruch darstellen – siehe dazu die Erläuterungen in der Einführung und unter 3.2.2. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 28 sible Bereiche, darunter den Polizeigewahrsam und Gewerkschaften in den Streitkräften. Verwiesen wird insofern auf die Berichte der französischen Delegation der PACE, in denen auch die Umsetzung von EGMR-Urteilen in Frankreich thematisiert wird.100 Dieser Bericht stellt u. a. folgende Beispiele heraus, bei denen Frankreich aus Sicht des Autors eine „sehr zufriedenstellende Umsetzung“ gelungen sei (S. 62–71): - Peduzzi gegen Frankreich (Beschwerde-Nr. 23487/12, Urteil vom 21. Mai 2015): Einführung einer gesetzlichen Vorschrift zur Begründung von bestimmten Strafurteilen der Cour d’Assises durch ein Gesetz vom 10. August 2011, überwacht durch die Cour de Cassation - Matelly und Adefdromil gegen Frankreich (Beschwerde-Nrn. 10609/10 und 32191/09, Urteile vom 2. Oktober 2014 – Gewerkschaften in den Streitkräften): Aus einem vom Autor hervorgehobenen presseöffentlichen Konsultations- und Anhörungsprozess seitens des Verteidigungsausschusses der französischen Nationalversammlung und der interministeriellen Arbeitsgruppe sei das Gesetz vom 28. Juli 2015 hervorgegangen. Nunmehr erlaube Art. L.4121-4 des Verteidigungsgesetzbuches den Angehörigen der Streitkräfte, unter Beachtung der Landesinteressen Frankreichs nationale Berufsvereinigungen zu bilden. Der Berichterstatter betont die besondere Schwierigkeit der Umsetzung dieses Urteils aufgrund des „sensiblen Charakters“ des Themas (Weiteres zu diesem Komplex s. u.). - Yengo gegen Frankreich (Beschwerde-Nr. 50494/12, Urteil vom 21. Mai 2015 – Rechtsbehelf gegen schlechte Haftbedingungen): Der Autor verweist auf die Reform des Strafvollzugsrechts mit Gesetz vom 24. November 2009, wonach das Verwaltungsgericht im einstweiligen Rechtsschutz die Verbesserung von Haftbedingungen anordnen könne, die gegen die Menschenwürde verstießen. Er betont die Bedeutung der letztinstanzlichen Zuständigkeit von Richterinnen und Richtern des Conseil d’État im Eilverfahren sowie der Rechtsprechung des Conseil d’État. Ferner sehe Art. 707 der Strafprozessordnung nunmehr vor, dass das zuständige Gericht bei Anträgen auf Hafterleichterungen/Vollzugslockerungen die Belegung der Haftanstalt und die Haftbedingungen berücksichtigen müsse. - Mennesson und Labassée gegen Frankreich (Beschwerde-Nrn. 65192/11 und 65941/11, Urteil vom 26. Juni 2014 – Transkription von Geburtsurkunden im Ausland geborener Kinder mit mindestens einem französischen Elternteil nach vermuteter illegaler Leihmutterschaft ): Ermöglichung der Transkription durch Änderung der langjährigen Rechtsprechung zu Art. 47 des Zivilgesetzbuches durch die Urteile Dominique X und Patrice Y der Assemblée plénière der Cour de cassation vom 3. Juli 2015 (Weiteres zu diesem Komplex s. u.). Der Berichterstatter verweist darauf, dass mit diesen Urteilen nicht alle Auslegungsfragen geklärt seien. Insbesondere bestehe Uneinigkeit, ob die „Sorgemutter“ (mère d’intention ) das Kind adoptieren dürfe. 100 Siehe beispielsweise für 2014/2015 den Rapport d’information von René Rouquet, http://www2.assemblee-nationale .fr/documents/notice/14/rap-info/i3832/%28index%29/depots, insbesondere S. 62–71. Auf S. 71 ff. erhält der Bericht auch Hinweise auf die möglichen Auswirkungen von Urteilen gegenüber anderen Mitgliedstaaten. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 29 Der Bericht des Legal Affairs and Human Rights Department der PACE101 erwähnt für Frankreich folgende Umsetzungsbeispiele: - Anerkennung der neuen Identität nach geschlechtsangleichender Operation infolge des Urteils B gegen Frankreich (Beschwerde-Nr. 13343/87, Urteil vom 25. März 1992) durch letztinstanzliches Urteil der Cour de Cassation von Dezember 1992 - Beseitigung von Diskriminierungen beim Erbrecht unehelicher Kinder infolge des Urteils Mazurek gegen Frankreich (Beschwerde-Nr. 34406/97, Urteil vom 1. Februar 2000) zunächst durch Gerichte, dann durch den Gesetzgeber mit Gesetz Nr. 2001-1135 vom 3. Dezember 2001 (Änderungsgesetz zum Code civil) - Einführung rechtlicher Grenzen für Telekommunikationsüberwachung infolge der Urteile vom 24. April 1990, Kruslin gegen Frankreich (Beschwerde-Nr. 11801/85) und Huvig gegen Frankreich (Beschwerde-Nr. 11105/84), durch das Gesetz Nr. 91.646 vom 10. Juli 1991 - Abschaffung des Spezialstraftatbestands der Beleidigung eines Staatsoberhauptes mit Gesetz Nr. 2013-711 vom 5. August 2013 - mehrere Gesetzesreformen zum effektiven Schutz vor häuslicher Sklaverei infolge der Urteile Siliadin gegen Frankreich (Beschwerde-Nr. 73316/01, Urteil vom 26. Juli 2005) sowie C.N. und V. gegen Frankreich (Beschwerde-Nr. 67724/09, Urteil vom 11. Oktober 2012): Änderung des Strafgesetzbuches im März 2003 (Einführung einer Verletzlichkeitsvermutung für betroffene Minderjährige, Erhöhung des Strafmaßes), im November 2007 (Strafbarkeit des Menschenhandels) und mit Gesetz Nr. 2013-711 vom 5. August 2013 (Definition des Menschenhandels, Wieder- bzw. Neueinführung von Straftatbeständen für Sklaverei, Leibeigenschaft und Zwangsarbeit) - Aufhebung des Verbotes der Gewerkschaftsgründung und -mitgliedschaft von Militärangehörigen durch Gesetz Nr. 2015-917 vom 28. Juli 2015 infolge des Urteils Matelly gegen Frankreich (Beschwerde-Nr. 10609/10, Urteil vom 2. Oktober 2014) - Einführung des Suspensiveffekts von Widersprüchen gegen die Ablehnung von Asylanträgen infolge des Urteils Gebremedhin (Gaberamadhien) gegen Frankreich (Beschwerde -Nr. 25389/05, Urteil vom 26. April 2007) mit Gesetz vom 20. November 2007 (Änderungsgesetz zum französischen Asyl-, Einwanderungs- und Aufenthaltsgesetz ) 101 Siehe oben Fn. 75, S. 13 f. m. w. N. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 30 - Erleichterung des Verständnisses der Gründe für eine strafrechtliche Verurteilung durch Einführung eines Beiblattes mit Elementen der Urteilsbegründung in bestimmten Gerichtsverfahren als Reaktion auf ein Urteil gegen Belgien (Taxquet gegen Belgien , Beschwerde-Nr. 926/05, Urteil der Großen Kammer vom 16. November 2010)102 - Einführung einer Beschwerdemöglichkeit (über zwei Instanzen) zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der gerichtlichen Anordnung von Durchsuchungen durch Steuerbehörden infolge des Urteils Ravon u. a. gegen Frankreich (Beschwerde-Nr. 18497/03, Urteil vom 21. Februar 2008) durch Gesetz Nr. 2008-776 vom 4. August 2008 (Änderung des Steuerverfahrensgesetzbuches)103 - Anerkennung von Elternschaft durch (legale) Leihmutterschaft im Ausland infolge der Urteile vom 26. Juni 2014, Mennesson gegen Frankreich (Beschwerde-Nr. 65192/11) und Labassée gegen Frankreich (Beschwerde-Nr. 65941/11), durch Plenarentscheidung der Cour de Cassation vom 3. Juli 2015104 4.2.3. Beispiele für Widerstände bei der Umsetzung von EGMR-Urteilen Laut aktuellem Bericht der französischen Delegation der PACE sei Frankreich mittlerweile vorbildlich in der Umsetzung von EGMR-Urteilen. Der Berichterstatter erwähnt jedoch – ohne weitere Begründung –, dass dies nicht immer so gewesen sei.105 Literaturstimmen106 weisen darauf hin, dass die Umsetzungswahrscheinlichkeit und -geschwindigkeit hoch sei, wenn der EGMR einen klaren Verstoß französischer Vorschriften gegen die EMRK feststelle. Als Beispiel wird auf die zügige Umsetzung der Urteile Kruslin und Huvig gegen Frankreich (s.o.) durch Gesetzesänderungen verwiesen. Dagegen habe Frankreich die Tendenz, Urteile des EGMR eng auszulegen, die Autorität des EGMR im Rahmen der Interpretation oder des Verfahrensrechts nicht anzuerkennen oder jedenfalls aus seinen Urteilen keine Änderungsnotwendigkeit abzuleiten. 102 Dies führte nach dem Bericht dazu, dass das Verfahren Matis gegen Frankreich (Beschwerde-Nr. 43699/13, Unzulässigkeitsentscheidung vom 06.10.2015) unter Verweis auf die ausreichende Rechtslage in Frankreich nicht zur Entscheidung angenommen wurde. 103 Dies führte nach dem Bericht dazu, dass das Verfahren Société Provitel Saint-Georges und J. Emery gegen Frankreich (Beschwerde-Nr. 29437/08, Unzulässigkeitsentscheidung vom 09.11.2010) nicht zur Entscheidung angenommen wurde. 104 Cass., ass. plén., P+B+R+I, Nr. 14-21.323 und Nr. 15-50.002. 105 Rapport d’information von René Rouquet, Fn. 100, S. 57–73. 106 Siehe zum Folgenden Lambert Abdelgawad/Weber, Fn. 79, S. 126–131, mit zahlreichen weiteren Nachweisen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 31 Seien tief verwurzelte französische (Rechts-)Traditionen und Praktiken betroffen (z.B. Laizismus , Rechte und Verpflichtungen im Zivilrecht, Anklagen und Sanktionen im Strafprozess, Institutionen des Verwaltungsrechts, Disziplinarrecht), gestalteten sich Rechtsänderungen schwierig. So habe Frankreich etwa im Verwaltungsprozessrecht – trotz mehrfacher Verurteilungen seit 2001107 – zunächst nur minimale Veränderungen bei der Rolle des früheren commissaire du gouvernement 108 vorgenommen. Erst mit Dekret vom 1. August 2006 sei dieser von den Verhandlungen zur Urteilsfindung ausgeschlossen bzw. könne – vor dem Conseil d’État – auf Antrag davon ausgeschlossen werden.109 Bis in die späten 1990er Jahre hinein hätten die französischen obersten Fachgerichte die Tendenz gehabt, die Rechtsprechung des EGMR zum Schutze nationaler Standards nicht anzuwenden bzw. eine entgegenstehende Rechtsauffassung anzunehmen oder aber sie zu umgehen, indem sie das nationale Recht kurzerhand für vereinbar mit der Rechtsprechung des EGMR erklärten.110 Als Beispiel für die erste Lösung werden etwa die Telekommunikationsüberwachung111 oder das Erbrecht von nicht-ehelichen Kindern112 angeführt. Für die zweite Strategie werden die Kontrolle bzw. Zensur ausländischer Publikationen113, die Präsenz des commissaire du gouvernement bei der Urteilsfindung (s. o.) oder die Verweigerung von Entschädigungen im Rahmen der Stadtplanung 114 genannt. 107 Siehe z.B. Kress gegen Frankreich (Urteil vom 07.06.2001); Martinie gegen Frankreich (Urteil der Großen Kammer vom 12. April 2006). 108 Seit 01.02.2009 rapporteur public (Art. 1 Nr. 1 Dekret Nr. 2009-14 (Décret n° 2009-14 du 7 janvier 2009 relatif au rapporteur public des juridictions administratives et au déroulement de l’audience devant ces juridictions) vom 07.01.2009. Der commissaire du gouvernement, selbst nicht Richter, sondern eine Art staatlicher Berater, schlug dem Verwaltungsgericht – bis hoch zum obersten Verwaltungsgericht – seine Erwägungen und seinen Urteilsvorschlag vor, durfte aber bei der Urteilsfindung anwesend sein. Der EGMR sah darin einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK). 109 Lambert Abdelgawad/Weber, Fn. 79, S. 128 f. 110 Katarzyna Blay-Grabarczyk/Christophe Maubernard, France: ‘Je t’aime, moi non plus’, in: Patricia Popelier/Sarah Lambrecht/Koen Lemmens (Hrsg.), Criticism of the European Court of Human Rights, Shifting the Convention System: Counter-Dynamics at the National and EU Level, Cambridge: Intersentia (2016), S. 269–294, S. 288 ff. Dies hänge auch damit zusammen, dass offener Widerspruch in der französischen Rechtstradition unüblich sei, da französische Urteile i. d. R. keine Meinungen und selten Begründungen enthielten, ebd., S. 288. 111 Cour de Cassation, Cass crim, Urteil vom 23.07.1985; Nr. 85–92574, Bull. 275, entgegen EGMR, Malone gegen das Vereinigte Königreich (1984), Serie A, Nr. 82. Zitiert nach Blay-Grabarczyk/Maubernard, Fn. 110, dort Fn. 70. 112 Cour de Cassation, Cass civ 1ère, Urteil vom 25.06.1996, Bull. civ I, 268, entgegen EGMR, Marckx gegen Belgien (1979), Serie A, und Marckx gegen Belgien (1991), Serie A, Nr. 213-C. Zitiert nach Blay-Grabarczyk/Maubernard, Fn. 110, dort Fn. 71. 113 Conseil d’État, Association Ekin, RFDA 1997, S. 1284, entgegen EGMR, Ekin gegen Frankreich, Beschwerde-Nr. 39288/98, Urteil vom 17.07.2001. Zitiert nach Blay-Grabarczyk/Maubernard, Fn. 110, dort Fn. 73. 114 Conseil d’État, Bitouzet, Lebon 1998, S. 288. Zitiert nach Blay-Grabarczyk/Maubernard, Fn. 110, dort Fn. 73. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 32 Diesen „Widerstand“ der obersten Fachgerichte – insbesondere bei der Telekommunikationsüberwachung , im Jagd-, Erb- und Verwaltungsprozessrecht – habe letztlich der Gesetzgeber beenden müssen.115 Jedoch habe insbesondere die Verwaltungsgerichtsbarkeit (allen voran der Conseil d’État) ihre Rechtsprechung in den 2000nder Jahren in verschiedenen Bereichen an den EGMR angepasst, um der Vielzahl von Verurteilungen in Wiederholungsfällen entgegenzuwirken.116 Heute wird von einem Dialogverhältnis zwischen den obersten Fachgerichten und dem EGMR ausgegangen. Frankreich setze die Rechtsprechung des EGMR im Wesentlichen um; die (moderate ) Kritik am EGMR und die Rufe nach einer stärkeren Überwachung des Gerichtshofs entstammten derzeit vor allem dem politischen Bereich.117 Auch wenn das von Verfassungs wegen grundsätzlich monistisch ausgestaltete System mit Vorrang des internationalen Rechts die Umsetzung der EGMR-Rechtsprechung befördert habe, wird darauf hingewiesen, dass die französische Form der Gewaltenteilung eine gewisse Zurückhaltung des Verfassungsrates gebiete. So könne der Verfassungsrat die Verfassung bei seiner Auslegung nicht unbegrenzt erweitern, sondern gehe in einigen Fällen von einem Interpretationsvorbehalt (verfassungskonforme Auslegung ) aus oder verweise auf die Zuständigkeit und die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers.118 115 Siehe dazu die Nachweise bei Blay-Grabarczyk/Maubernard, Fn. 110, dort Fn. 74, sowie oben 4.2.2. 116 Lambert Abdelgawad/Weber, Fn. 79, S. 128 f. 117 Hierzu und zur Entwicklung Blay-Grabarczyk/Maubernard, Fn. 110, S. 290, 294. Noch zurückhaltender Constance Grewe, The ECHR in French law: Status, Implementation and Debates, in: Katja S. Ziegler/Elizabeth Wicks/Loveday Hodson (Hrsg.), The UK and European Human Rights: A Strained Relationship?, Oxford: Hart Publishing (2015), S. 341–359, S. 181, 183 f. 118 Grewe, Fn. 117, S. 175 ff., 181, 183 f. Siehe insbesondere die Fallbeispiele auf S. 175–177. Dies hänge damit zusammen , dass der Verfassungsrat nicht selbst Recht setzen, sondern eine Regelung grds. nur als vereinbar oder unvereinbar mit der Verfassung einstufen dürfe. Siehe auch Lambert Abdelgawad/Weber, Fn. 79, S. 116. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 33 5. Vereinigtes Königreich 5.1. Stellung der EMRK und der Urteile des EGMR in der nationalen Rechtsordnung 5.1.1. EMRK Nach nationalen Angaben müsse die EMRK von Verfassungs wegen wie alle völkerrechtlichen Verträge119 grundsätzlich ausdrücklich in nationales Recht umgesetzt werden, bevor allgemeine Rechtswirkungen für Private entstehen könnten. Diese Umsetzung geschähe regelmäßig vor Ratifikation und ermögliche Individuen, den nationalen Rechtsweg zu beschreiten, wobei das angerufene Gericht den Vertrag selbst nicht direkt anwende. Ohne Umsetzung bestehe nach britischer Rechtsauffassung grundsätzlich nur eine völkerrechtliche Bindungswirkung für den Staat, aber keine Rechte und Pflichten der Individuen und damit keine unmittelbare na-tionale Rechtswirkung (direct domestic legal effect). Unter gewissen Umständen sei aber eine indirekte oder mittelbare Rechtswirkung (indirect domestic legal effect) – etwa bei verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten – denkbar.120 Dagegen bestehe ein Unterschied hinsichtlich des Grades der Transformation. So verfüge die EMRK durch ihren Umsetzungakt, dem Human Rights Act (HRA) von 1998, im Recht des Vereinigten Königreichs über einen besonderen Status.121 Durch drei Normen des HRA werde die EMRK gewissermaßen zur nationalen Menschenrechtsverfassung (constitutional bill of rights): - Nach § 6 HRA gelte jeder Verstoß einer öffentlichen Stelle (mit Ausnahme des Parlaments ) gegen die Rechte der EMRK als rechtswidrig. - § 3 HRA verpflichte die Gerichte – soweit möglich – zur konventionskonformen Auslegung von Gesetzesrecht. - Ist eine solche Auslegung nicht möglich, können Gerichte nach § 4 HRA eine Unvereinbarkeitserklärung abgeben. Dies mache Parlament und Regierung auf Änderungsbedarf aufmerksam. Das Gericht könne allerdings die Vorschrift bei Verstoß von Gesetzesrecht gegen die EMRK selbst nicht für unwirksam erklären. 119 Zusätzlich zur Ratifikation, selbst mit Parlamentsbeteiligung. Zur Rolle des Parlaments wird verwiesen auf Arabella Lang, Parliament's new statutory role in ratifying treaties, House of Commons Library (2011), Commons Briefing papers SN05855, http://researchbriefings.parliament.uk/ResearchBriefing/Summary/SN05855#fullreport . 120 Siehe hierzu Lord Bingham of Cornhill, maiden speech im Oberhaus (House of Lords), Debatte vom 03.07.1996, c1465 ff.; mit weiteren Fallbeispielen Alasdair Henderson, War remains inside the court room – Part 2: the Torture Convention, in: UK Human Rights Blog, 14.09.2016, https://ukhumanrightsblog.com/2016/09/14/war-remains -inside-the-court-room-part-2-the-torture-convention/#more-31057. 121 Etwa im Vergleich zur VN-Antifolterkonvention: Hiervon habe das vereinigte Königreich nur Art. 4 in nationales Recht umgesetzt, sodass sich Individuen nicht auf die anderen Vorschriften der Konvention berufen könnten . Vgl. hierzu § 134 Criminal Justice Act (1988) und Al-Saadoon u.a. gg. Secretary of State for Defence, 09.09.2016, [2016] WLR(D) 491, [2016] EWCA Civ 811, http://www.bailii.org/ew/cases/EWCA/Civ/2016/811.html, Rn. 188 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 34 Noch weiter gehend ist die Rechtslage in Schottland, Wales und Nordirland, denen im Zuge der Dezentralisierung durch den Scotland Act (1998), den Northern Ireland Act (1998) und den Government of Wales Act (2006) Kompetenzen übertragen worden sind. Nach diesen Gesetzen sei es nicht nur rechtswidrig, wenn die entsprechende Regionalregierung gegen die EMRK verstoße . Vielmehr legten sie darüber hinaus fest, dass die Regionalparlamente keine Legislativakte entgegen der EMRK erlassen dürfen. Stelle ein Gericht122 einen Verstoß gegen die EMRK fest, könne es den betreffenden Legislativakte selbst für unwirksam erklären. 5.1.2. EGMR-Urteile Nach § 2 HRA müssen Gerichte alle für die Entscheidung relevanten EGMR-Urteile berücksichtigen (must take into account). Unabhängig von verschiedenen Auslegungen der Berücksichtigungspflicht bestehe Einigkeit, dass die nationalen Gerichte nicht die gleiche Herangehensweise bei der Interpretation der Konventionsrechte wählen müssten wie der EGMR. In der Praxis wichen nationale Gerichte jedoch nur selten von der EGMR-Rechtsprechung ab. 5.2. Zur Umsetzungspraxis von EGMR-Urteilen 5.2.1. Quoten Laut Jahresbericht des MK für 2015 gingen 2014 15 und 2015 fünf neue Urteile beim MK zur Überwachung ein, die das Vereinigte Königreich betrafen. Davon wurden 2014 drei Fälle als Leiturteile eingeordnet (alle Standardverfahren). 2015 wurden zwei neue Umsetzungsverfahren als Leiturteile klassifiziert; davon wurde einer der enhanced supervision zugeordnet.123 Zum Berichtszeitpunkt waren 2014 26, 2015 19 Fälle (davon acht Leiturteile) beim MK anhängig.124 Abgeschlossen wurden 2014 16, 2015 12 Umsetzungsverfahren (darunter vier Leiturteile).125 122 Verwerfungskompetenz haben nach nationalen Quellen die folgenden Gerichte: in England und Wales High Court (Gericht 1. Instanz), Court of Appeal (Berufungsgericht) und der Supreme Court (Oberstes Gericht), in Schottland das Outer House of the Court of Session und das Inner House of the Court of Session, in Nordirland High Court und Court of Appeal. Der Supreme Court verfügt als höchste Instanz über eine Sonderzuständigkeit für die Überprüfung der Vereinbarkeit der Legislativakte der Regionalparlamente mit der EMRK. 123 Jahresbericht des MK, Anhang 1, Fn. 15, S. 64. Vergleichszahlen für alle Mitgliedsstaaten: 96 (2014) bzw. 131 (2015) neue Umsetzungsverfahren. 124 Ebd., S. 67. Vergleichszahlen für alle Mitgliedsstaaten: 10.904 (2014) bzw. 10.652 (2015) anhängige Umsetzungsverfahren . 125 Ebd., S. 70. Dabei ermöglicht die Anzahl der anhängigen wie abgeschlossenen Umsetzungsverfahren keinen verlässlichen Rückschluss auf die Umsetzungsbereitschaft oder auf die Lage der Menschenrechte in dem jeweiligen Staat (s. Einführung). Vergleichszahlen für alle Mitgliedsstaaten: 1.502 (2014) bzw. 1.537 (2015) abgeschlossene Umsetzungsverfahren. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 35 Das Vereinigte Königreich war nicht unter den zehn Staaten, gegen die 2015 die meisten Urteile gefallen oder gegen die die meisten Fälle in Straßburg anhängig waren.126 13 der 22 Urteile, die dem MK aktuell zur Umsetzung vorliegen, unterliegen der enhanced supervision , davon vier Leiturteile; drei Urteile sind noch nicht eingestuft.127 Auch das Vereinigte Königreich wird in der Übersicht der Fälle unter enhanced supervision der Jahre 2011-2015 (s. dazu 3.2.1.) nicht aufgeführt.128 5.2.2. Beispiele für Rechtsänderungen nach EGMR-Urteilen Nach nationalen Auskünften hat das Vereinigte Königreich sein Recht in einer Vielzahl von Fällen nach Verurteilungen durch den EGMR geändert. Hierzu wird auf die umfangreichen Aufstellungen in Forschungsarbeiten verwiesen.129 Zudem gibt das Justizministerium jährlich Berichte zur Umsetzung von EGMR-Urteilen heraus, die hierzu Angaben enthalten.130 Beispielsweise wurden im Bereich Telekommunikationsüberwachung infolge des Urteils Malone gegen Vereinigtes Königreich vom 26. April 1985 (Beschwerde-Nr. 8691/79) im gleichen Jahr mit dem Interception of Communications Act eine Regelung für das Abhören von Telefonen geschaffen . Drei Jahren nach dem Urteil Halford gegen Vereinigtes Königreich von 1997 (Beschwerde-Nr. 20605/92) traten mit der Regulation of Investigatory Powers Act neue Straftatbestände gegen das Abhören privater Telefone in Kraft. Im Bereich der Diskriminierung nach geschlechtsangleichenden Operationen verabschiedete das Vereinigte Königreich nach dem grundlegenden Urteil der Großen Kammer im Fall Christine 126 EGMR, The ECHR in Facts & Figures; 2015, S. 3 und 4. Zur Zahl der ergangenen Urteile – nach Mitgliedsstaat und Konventionsverletzung geordnet – siehe die Übersichten des EGMR für 2015 bzw. für 1959–2015, s. jeweils Fn. 70. Laufend aktualisierte Statistiken für 2016 sind abrufbar unter http://www.echr.coe.int/Documents/Stats_annual_2016_ENG.pdf und http://www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending_2016_BIL.pdf (Stand bei Bearbeitungsschluss: 31.08.2016). 127 Suchmechanismus unter http://www.coe.int/t/dghl/monitoring/execution/Reports/pendingCases_en.asp. (Stand: 05.10.2016). Auffällig sind die vielen Altfälle, siehe dazu 5.2.2. 128 Umfangreichere kommentierte Statistiken bis 2010 zum Gerichtshof finden sich bei Alice Donald/Jane Gordon /Philip Leach, The UK and the European Court of Human Rights, Human Rights and Social Justice Research Institute/London Metropolitan University, Equality and Human Rights Commission, Research report 83, https://www.equalityhumanrights.com/sites/default/files/83._european_court_of_human_rights.pdf, S. 30–43. 129 Siehe etwa Donald/Gordon/Leach, Fn. 128. 130 Siehe hierfür Responding to human rights judgments: Report to the Joint Committee on Human Rights on the Government response to human rights judgments, https://www.gov.uk/government/collections/human-rightsthe -governments-response-to-human-rights-judgments; der letzte Bericht für 2013/2014 stammt vom 18.12.2014. Zu den Umsetzungsmaßnahmen zu neueren anhängigen Fällen wird dort ab S. 16 Stellung genommen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 36 Goodwin gegen Vereinigtes Königreich vom 11. Juli 2002 (Beschwerde-Nr. 28957/95), im Jahr 2004 den Gender Recognition Act. Der Bericht des Legal Affairs and Human Rights Department der PACE131 verweist über die genannten Urteile hinaus noch auf folgende Entscheidungen als positive Beispiele: - Einführung von Richtlinien zur Beschränkung von Medienberichterstattung bei öffentlichem Interesse in engen Ausnahmefällen durch den Contempt of Court Act von 1981 infolge des Urteils Sunday Times gegen Vereinigtes Königreich (Nr. 1) (Beschwerde-Nr. 6538/74, Urteil vom 26. April 1979) - Abschaffung der Strafbarkeit von Homosexualität in Nordirland infolge des Plenarurteils Dudgeon gegen das Vereinigte Königreich (Beschwerde-Nr. 7525/76, Plenarurteil vom 22. Oktober 1981) - Aufhebung des Verbots des Militärdienstes für Homosexuelle und Stärkung ihrer Privatsphäre im Militär infolge der Urteile Smith und Grady gegen das Vereinigte Königreich (Beschwerde-Nrn. 33985/96 und 33986/96, Urteil vom 27 September 1999) sowie Lustig- Prean und Beckett gegen das Vereinigte Königreich (Beschwerde-Nrn. 31417/96 und 32377/96, Urteile vom 27. September 1999) - Einführung einer Verpflichtung für die Polizei, Betroffene vor Todesdrohungen (z.B. durch Stalker) zu warnen und zu schützen (Osman warnings) infolge des Urteils Osman gegen das Vereinigte Königreich (Beschwerde-Nr. 23452/94, Urteil der Großen Kammer vom 28. Oktober 1998); zudem Zusage, Vorwürfe von Untätigkeit der Polizei im Rahmen von Ermittlungen zu prüfen (s. a. Resolution DH(99) 720) - Verbot körperlicher Züchtigung in staatlichen Schulen (1986) infolge des Urteils Campbell und Cosans gegen das Vereinigte Königreich (Beschwerde-Nrn. 7511/76 und 7743/76, Urteil vom 25. Februar 1982; s.a Resolution DH (87) 9) - Verbot der unbefristeten Speicherung von DNA-Profilen und Fingerabdrücken nicht-verurteilter Personen infolge des Urteils der Großen Kammer S. und Marper gegen das Vereinigte Königreich (Beschwerde-Nrn. 30562/04 und 30566/04, Urteil vom 16. Januar 2007) durch den Protection of Freedoms Act von 2012, der die Speicherung nur noch unter besonderen Umständen befristet erlaubt (s. action report, DD(2015)836). - Änderung der Gesetze zur Telekommunikationsüberwachung durch die Polizei infolge des Plenarurteils Malone gegen das Vereinigte Königreich (Beschwerde-Nr. 8691/79, Urteil vom 2. August 1984) durch den Interception of Communications Act (s. Resolution DH (86) 1) 131 Siehe oben Fn. 75, S. 41 ff. m. w. N. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 37 - Einführung der Verpflichtung der schottischen Polizei, Beschuldigten vor ihrer Vernehmung Zugang zu anwaltlichem Beistand anzubieten, infolge des Urteils der Großen Kammer im Fall Salduz gegen die Türkei (Beschwerde-Nr. 36391/02, Urteil vom 27. November 2008, s. Cadder v Her Majesty’s Advocate [2010] UKSC 43) Weitere Fälle sind einer umfangreichen nationalen Studie zu entnehmen.132 5.2.3. Beispiele für Widerstände bei der Umsetzung von EGMR-Urteilen Als Paradebeispiel wird – aus nationaler wie internationaler Perspektive – der generelle Ausschluss des Gefangenenwahlrechts angeführt. So haben sich wechselnde Regierungen – nach nationalen Angaben unter Berufung auf die entgegenstehende öffentliche Meinung – bis heute offen geweigert, das Urteil Hirst (Nr. 2) gegen das Vereinigte Königreich133 und seine Folgeurteile134 umzusetzen . Die Regierung habe verschiedene Wege zur Umsetzung des Urteils erwogen, jedoch keinen Entwurf eingebracht. Aus Sicht der Regierung(en) obliege es allein dem nationalen Parlament , über die Einführung eines Gefangenenwahlrechts zu entscheiden.135 Nach nationalen Angaben habe die Forschung ergeben, dass es sich bei der Nicht-Umsetzung dieses Urteils um eine Ausnahme handele.136 Europarat und nationale Organe seien sich einig, dass die Umsetzungspraxis im Wesentlichen (eher) gut sei.137 132 Donald/Gordon/Leach, Fn. 128, S. 143 f. Für weitere Beispiele siehe Samantha Besson, The Reception Process in Ireland and the United Kingdom, in: Helen Keller/Alec Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights: The Impact of the ECHR on National Legal Systems, Oxford: Oxford University Press (2008), S. 31–106, S. 65 ff. 133 EGMR, Große Kammer, Hirst (Nr. 2) gegen das Vereinigte Königreich, Urteil vom 06.10.2005, Beschwerde-Nr. 74025/01, abrufbar über hudoc.echr.coe.int. 134 Siehe etwa EGMR, Greens und MT gegen das Vereinigte Königreich, Piloturteil vom 23.11.2010, Beschwerde- Nrn. 60041/08 und 60054/08, abrufbar über hudoc.echr.coe.int, sowie weitere Folgefälle. Siehe hierzu die Zusammenfassung im aktuellsten Bericht des Justizministeriums von Dezember 2014, Fn. 130, S. 28 ff., 29. 135 Siehe hierzu folgende ausführliche Gutachten der britischen Parlamentsdienste: Isobel White/Alexander Horne, Prisoners' voting rights (2005 to May 2015), Commons Briefing papers SN01764, http://researchbriefings.parliament .uk/ResearchBriefing/Summary/SN01764#fullreport, sowie Jack Simson Caird, Prisoners' voting rights: developments since May 2015, Commons Briefing papers CBP-7461, http://researchbriefings.intranet.parliament .uk/ResearchBriefing/Summary/CBP-7461. 136 Bezug genommen wird hier auf Jeff King, Parliament’s Role Following Declarations of Incompatibility under the Human Rights Act, in: Murray Hunt/Hayley Hooper/Paul Yowell (Hrsg.), Parliaments and Human Rights: Redressing the Democratic Deficit, Hart (2015). 137 Siehe auch die Nachweise bei Donald/Gordon/Leach, Fn. 128, S. 144. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 38 Im letzten nationalen Umsetzungsbericht für 2013/2014 ist ein Abschnitt den Urteilen gewidmet, die vor dem 1. August 2013 endgültig geworden und noch beim MK anhängig waren.138 Aufgeführt sind hier folgende Urteile: - S. und Marper gegen das Vereinigte Königreich (Beschwerde-Nrn. 30562/04 und 30566/04, Urteil vom 16. Januar 2007 – DNA-Proben und Fingerabdrücke, s. 5.2.2.) - Al Skeini gegen das Vereinigte Königreich (Beschwerde-Nr. 55721/07, Urteil der Großen Kammer vom 7. Juli 2011 – extra-territoriale Anwendung der EMRK) - Hirst (Nr. 2) gegen das Vereinigte Königreich und seine Folgeurteile (s.o. – Gefangenenwahlrecht ) - Vinter, Bamber und Moore gegen das Vereinigte Königreich (Beschwerde-Nrn. 66069/09, 130/10 und 3896/10, Urteil der Großen Kammer vom 9. Juli 2013 – Verurteilung zu lebenslanger Haftstrafe ohne Möglichkeit der Überprüfung der Haftdauer). In einer umfangreichen Forschungsarbeit werden u.a. folgende Urteile aufgeführt, in denen nationale Gerichte mit dem EGMR uneinig gewesen seien bzw. Straßburg die Gefolgschaft verweigert hätten139: - Al-Khawaja und Tahery gegen das Vereinigte Königreich (Beschwerde-Nrn. 26766/05 und 22228/06, Urteil vom 20. Januar 2009, Urteil der Großen Kammer vom 15. Dezember 2011 – Beweis vom Hörensagen im Strafprozess: Verurteilung allein oder entscheidend aufgrund der Aussage einer in der Hauptverhandlung abwesenden Zeugin ohne Möglichkeit der Befragung durch den Angeklagten).140 Die Autorinnen und der Autor der Studie betonen allerdings, dass die britischen Gerichte gerade ihrer Berücksichtigungspflicht Genüge getan und auf dieser Grundlage zu einer anderen Schlussfolgerung gekommen seien.141 Infolge der Darlegung der Bedenken sei die Große Kammer zu dem Schluss gekommen, dass die britische Regelung nicht automatisch einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK darstelle , und habe das Kammerurteil aufgehoben.142 - In seinem Urteil R (Animal Defenders) v Secretary of State for Culture, Media and Sport ([2008] 1 AC 1312) habe sich das House of Lords – unter Berücksichtigung der Auffassung des EGMR – geweigert, ein Urteil umzusetzen, das die Aufgabe der strikten Medienneutralität vor Wahlen erfordert hätte. Das Parlament habe die Interpretationshoheit des EGMR anerkannt, einen möglichen Verstoß gegen Art. 10 EMRK gesehen und dennoch 138 Responding to human rights judgments, Fn. 130, “Consideration of other significant judgments that became final before 1 August 2013 and which are still under the supervision of the Committee of Ministers”, S. 25 ff. 139 Donald/Gordon/Leach, Fn. 128, S. 131–134. 140 Siehe den Widerspruch des Berufungsgerichts und des House of Lords auf Grundlage des Criminal Justice Act von 2003 in R v Horncastle and others (Appellants) [2009] UKSC 14. 141 Donald/Gordon/Leach, Fn. 128, S. 131, Fn. 401. 142 Donald/Gordon/Leach, Fn. 128, S. 132. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 39 diese allgemeine Regelung getroffen. Einer solchen Entscheidung des demokratisch legitimierten Parlaments müsse von den Gerichten großes Gewicht beigemessen werden.143 Die Autorinnen und der Autor der Studie kommen zu dem Schluss, dass offener Widerstand nationaler Gerichte selten sei und Abweichungen in der Regel auf einer anderen Herangehensweise der Gerichte beruhten. Im Wesentlichen sei auch hier von einem Dialog zwischen den nationalen Gerichten und dem EGMR auszugehen.144 Hinsichtlich der Rolle des Parlamentes und der Regierung bei der Umsetzung verweisen die Autorinnen und der Autor auf die international beispielhafte Umsetzung seit Inkrafttreten der HRA – mit Ausnahme des Falles des Gefangenenwahlrechts – sowie den Beitrag des Joint Committee on Human Rights.145 Andere weisen auf Verzögerungen bei der Umsetzung unter anderem in drei Bereichen hin: - Fallgruppe zu Ermittlungen nach Gewalt von Sicherheitskräften in Nordirland - Streitfälle im Rahmen von Entscheidungen mit einwanderungsrechtlichen Implikationen unter Art. 8 EMRK - Vorfälle im Rahmen internationaler bewaffneter Konflikte.146 Hiervon zu trennen sind jahrelange politische Widerstände gegen das Menschenrechtsschutzsystem des Europarates, die u. a. aus den Diskussionen um eine British bill of rights ersichtlich sind. Ziel der Pläne ist u. a., durch einen neuen Umsetzungsakt anstelle des HRA die „Oberhand“ britischer Gerichte gegenüber dem EGMR zu garantieren.147 143 Donald/Gordon/Leach, Fn. 128, S. 133 f. 144 Donald/Gordon/Leach, Fn. 128, S. 141, 138 f. So auch Besson, Fn. 132, S. 98. 145 Donald/Gordon/Leach, Fn. 128, S. 152 f., 148 ff. Zur politischen Kritik am EGMR ebd., S. 174 ff. 146 Besson, Fn. 132, S. 67 mit weiteren Nachweisen. Siehe ferner ausführlich die Beiträge von Reuven (Ruvi) Ziegler , Helen Fenwick, Mark Ockelton und Claire Owey in Teil II des Sammelbandes von Katja S. Ziegler/Elizabeth Wicks/Loveday Hodson (Hrsg.), The UK and European Human Rights: A Strained Relationship?, Oxford: Hart Publishing (2015), S. 165–248. 147 Siehe hierzu etwa das Positionspapier der Conservatives, Protecting Human Rights in the UK: The Conservatives ’ Proposals for Changing Britain’s Human Rights Laws, unter https://www.conservatives.com/~/media /Files/Downloadable%20Files/HUMAN_RIGHTS.pdf. Siehe zu den Regierungsplänen ferner z.B. Mike Leftly, British Bill of Rights to be fast-tracked into law by next summer, in: Independent (Onlineausgabe vom 17.10.2015), http://www.independent.co.uk/news/uk/politics/british-bill-of-rights-to-be-fast-tracked-into-lawby -next-summer-a6698261.html; Jessica Elgot, UK bill of rights will not be scrapped, says Liz Truss, in: The Guardian (Onlineausgabe vom 22.08.2016), https://www.theguardian.com/law/2016/aug/22/uk-bill-of-rightswill -not-be-scrapped-says-liz-truss. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 40 6. Italien 6.1. Stellung der EMRK und der Urteile des EGMR in der nationalen Rechtsordnung 6.1.1. EMRK Die EGMR genießt in Italien Gesetzesrang; ihr Status ist im Wesentlichen mit dem Rang der EMRK in Deutschland (dazu 3.1.1.) vereinbar.148 Italien ist in Hinblick auf Völkervertragsrecht ein dualistischer Staat149; umgesetzte völkerrechtliche Verträge können vom Verfassungsgerichtshof (Corte Costituzionale, CC) an der Verfassung gemessen werden. Nach Art. 117 Abs. 1 der Verfassung (geändert 2001) sind die Gesetzgebungskörperschaften des Staates und der Regionen verpflichtet , Völkerrecht – insbesondere völkerrechtliche Verträge – bei der Ausübung ihrer Kompetenzen zu beachten.150 Nach der Rechtsprechung der CC und das Kassationsgerichts konkret zur EMRK kommt auch der Konvention grundsätzlich kein höherer Rang zu. Allerdings verfüge sie aufgrund der grundlegenden Werte über eine besondere „Widerstandskraft“, sodass spätere nationale Gesetze nicht von ihr abweichen könnten. In der italienischen Rechtsliteratur wird dagegen davon ausgegangen, dass es sich bei der EMRK um ein Spezialgesetz handele, das Vorrang vor allgemeinen Gesetzen genieße. Seit 2001 ergebe sich die Verpflichtung zur effektiven Umsetzung der EMRK ohnehin aus Art. 117 Abs. 1 der Verfassung.151 Italienische Gerichte haben die EMRK lange Zeit nicht direkt angewendet, da sie ihre Vorschriften teilweise nicht als verbindliche Verpflichtungen, sondern als Programmsätze eingestuft hätten .152 Erst in zwei Urteilen vom 24. Oktober 2007 habe die CC erstmals ein Gesetz wegen Verstoßes gegen Art. 117 Abs. 1 der Verfassung für unwirksam erklärt. Darüber hinaus betonte sie in diesen Entscheidungen, dass italienische Gerichte dazu verpflichtet seien, nationales Recht im 148 Grabenwarter/Pabel, Fn. 13, § 3 Rn. 5; Jörg Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (1993), Heidelberg/New York: Springer, S. 305 f. 149 Vgl. aber Art. 10 der Verfassung zur direkten Inkorporation von Völkergewohnheitsrecht im Range des Verfassungsrechts , dazu Karin Oellers-Frahm, Das italienische Verfassungsgericht und das Völkerrecht – eine unerfreuliche Beziehung, in: EuGRZ 42 (2015), Heft 1–4, S. 8–16, S. 15. 150 Mercedes Candela Soriano, The Reception Process in Spain and Italy, in: Helen Keller/Alec Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights: The Impact of the ECHR on National Legal Systems, Oxford: Oxford University Press (2008), S. 392–530, S. 404 f. 151 Hierzu mit weiteren Literatur- und Rechtsprechungsnachweisen Candela Soriano, Fn. 150, S. 405. 152 Siehe hierzu u.a. Kassationsgerichtshof, Strafsenat I, Nr. 2194, Urteil vom 10.07.1993, Medrano, Rivista di diritto internazionale, Band 77 (1994), S. 530, zitiert nach Candela Soriano, Fn. 150, S. 405. Siehe ferner die Nachweise und Fn. 42 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 41 Einklang mit den völkerrechtlichen Normen auszulegen. Sei eine völkerrechtskonforme Auslegung nicht möglich, müsse eine Normenkontrollvorlage an die CC erfolgen.153 Diese sogenannten „Zwillingsurteile“ von 2007 hat der ICC kürzlich in drei Entscheidungen – Nr. 238 vom 22. Oktober 2014 sowie Nrn. 49 und 50 (März 2015) – neu akzentuiert154, nach Verständnis der Literatur weit gehend auf „völkerrechtsunfreundliche“ Weise.155 Alle drei Urteile befassten sich mit der Verbindlichkeit der Entscheidungen internationaler Gerichte: 6.1.2. EGMR-Urteile Im Rahmen seines Urteils Nr. 238 entschied die CC, dass das Urteil des Internationalen Gerichtshofs (IGH) im Fall des Immunitätsstreits von Deutschland gegen Italien „unbeachtlich“ sei.156 In der Entscheidung Nr. 49/2015 befasste sich die CC konkret mit der Maßgeblichkeit der Urteile des EGMR für die italienische Rechtsordnung. Anlass war das EGMR-Urteil Varvara gegen Italien (Beschwerde-Nr. 17475/09, Urteil vom 29. Oktober 2013), in dem der EGMR in der Auslegung einer baurechtlichen Norm zur Einziehung illegaler Bauwerke durch den Kassationsgerichtshofes eine Verletzung von Art. 7 Abs. 1 EMRK gesehen hatte. Daraufhin beantragte der Kassationsgerichtshof bei der CC, die Norm in der Auslegung des EGMR für verfassungswidrig zu erklären .157 Die CC erklärte diese Vorlage u.a. mit der Begründung für unzulässig, dass keine „konsolidierte Rechtsprechung“ des EGMR vorliege, die zur Einleitung eines Normenkontrollverfahrens berechtige. Italien sei nur zur Befolgung von Piloturteilen oder von „konsolidierter Rechtsprechung “ verpflichtet und müsse nur in einem solchen Fall die Auslegung der nationalen Rechtsnormen im Lichte der EGMR-Entscheidung berücksichtigen. Anderenfalls genieße die verfassungskonforme Auslegung Vorrang vor der konventionskonformen Auslegung.158 Nach der Literatur ermögliche diese Entscheidung letztlich den italienischen Gerichten, entgegen Art. 117 der 153 CC, Urteile vom 24.10.2007, Nrn. 348, 349, Gazzetta Ufficiale vom 31.10.2007, zitiert nach Candela Soriano, Fn. 150, S. 406. Ausführlich zu diesen Urteilen siehe Oreste Pollicino, The European Court of Human Rights and the Italian Constitutional Court: No ‘Groovy Kind of Love’, in: Katja S. Ziegler/Elizabeth Wicks/Loveday Hodson (Hrsg.), The UK and European Human Rights: A Strained Relationship?, Oxford: Hart Publishing (2015), S. 361– 377, S. 365 ff., sowie zusammenfassend Giuseppe Martinico, Italy: Between Constitutional Openness and Resistance , in: Patricia Popelier/Sarah Lambrecht/Koen Lemmens, Criticism of the European Court of Human Rights, Shifting the Convention System: Counter-Dynamics at the National and EU Level (Hrsg.), Cambridge: Intersentia (2016), S. 177–197, S. 184 f. 154 Zu zwischenzeitlichen weiteren Urteilen siehe Pollicino, Fn. 153, S. 372. 155 Siehe hierzu die Urteilsbesprechungen von Oellers-Frahm, Fn. 149, S. 8–16, sowie Davide Faris/Karin Oellers- Frahm, Zwei weitere völkerrechts"unfreundliche" Entscheidungen des italienischen Verfassungsgerichtshofs aus dem Jahr 2015, in: EuGRZ 43 (2016), Heft 10-12, S. 245–252. 156 IGH, Jurisdictional immunities of the State (Germany v. Italy, Greece Intervening), Urteil vom 03.02.2012, HRLJ 2012, S. 41. Hierzu ausführlich und kritisch Oellers-Frahm, Fn. 149, insbesondere S. 14 f. 157 Genauer zur Ausgangssituation Rn. 13–24 des EGMR-Urteils sowie Faris/Oellers-Frahm, Fn. 155, S. 248. 158 Faris/Oellers-Frahm, Fn. 155, S. 249, mit Übersetzung von Punkt 7 des Urteils. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 42 Verfassung darüber zu entscheiden, ob eine Rechtsprechung bereits hinreichend „konsolidiert“ ist und Beachtung gebietet. Dies wird als Rückschritt bei der Umsetzung der EMRK verstanden, zumal eine Individualverfassungsbeschwerde zur CC derzeit nicht möglich sei.159 Auch der EGMR hat die neue Rechtsprechung bereits am Rande zur Kenntnis genommen.160 6.2. Zur Umsetzungspraxis von EGMR-Urteilen 6.2.1. Quoten Laut Jahresbericht des MK für 2015 gingen 2014 52 und 2015 26 neue Urteile beim MK zur Überwachung ein, die Italien betrafen. Davon wurden 2014 16 Fälle als Leiturteile eingeordnet (12 im Standardverfahren, vier noch nicht zugeordnet). 2015 wurden acht neue Umsetzungsverfahren als Leiturteile klassifiziert; zwei davon wurden der enhanced supervision zugewiesen, zwei weitere waren noch nicht zugeordnet.161 Zum Berichtszeitpunkt waren 2014 2.622, 2015 2.421 Fälle (davon 81 Leiturteile) beim MK anhängig.162 Abgeschlossen wurden 2014 23, 2015 228 Umsetzungsverfahren (darunter sechs Leiturteile).163 Italien wird an Platz zehn der Staaten geführt, gegen die 2015 die meisten Urteile gefallen sind (2,92 Prozent), und an Platz vier, was die Zahl der anhängigen Fälle zum 31. Dezember 2015 betrifft (11,6 Prozent). Laut Statistiken des EGMR sind gegen Italien mit 2.336 Urteilen seit 1959 insgesamt die zweitmeisten Urteile ergangen. Insgesamt zeichneten Italien und vier weitere Staaten (die Türkei, Russland, Rumänien und Polen) für mehr als 50 Prozent der Urteile des EGMR zwischen 1959 und 2015 verantwortlich.164 159 Hierzu ausführlich und mit weiteren Nachweisen ebd., S. 249 f., 252 f. 160 EGMR, Parillo gegen Italien, Beschwerde-Nr. 46470/11, Urteil der Großen Kammer vom 28.08.2015, Rn. 100– 104, und Sondervotum der Richterinnen und Richter Casadevall, Raimondi, Berro, Nicolaou und Dedov, Rn. 8. 161 Jahresbericht des MK, Fn. 15, Anhang 1, S. 63. Vergleichszahlen für alle Mitgliedsstaaten: 96 (2014) bzw. 131 (2015) neue Umsetzungsverfahren. 162 Ebd., S. 66. Vergleichszahlen für alle Mitgliedsstaaten: 10.904 (2014) bzw. 10.652 (2015) anhängige Umsetzungsverfahren . 163 Ebd., S. 69. Dabei ermöglicht die Anzahl der anhängigen wie abgeschlossenen Umsetzungsverfahren keinen verlässlichen Rückschluss auf die Umsetzungsbereitschaft oder auf die Lage der Menschenrechte in dem jeweiligen Staat (s. Einführung). Vergleichszahlen für alle Mitgliedsstaaten: 1.502 (2014) bzw. 1.537 (2015) abgeschlossene Umsetzungsverfahren. 164 EGMR, The ECHR in Facts & Figures; 2015, S. 3 und 4. Zur Zahl der ergangenen Urteile – nach Mitgliedsstaat und Konventionsverletzung geordnet – siehe die Übersichten des EGMR für 2015 bzw. für 1959–2015, s. jeweils Fn. 70. Laufend aktualisierte Statistiken für 2016 sind abrufbar unter http://www.echr.coe.int/Documents/Stats_annual_2016_ENG.pdf und http://www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending_2016_BIL.pdf (Stand bei Bearbeitungsschluss: 31.08.2016). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 43 2.237 der 2.475 Urteile, die dem MK aktuell zur Umsetzung vorliegen, unterliegen der enhanced supervision, davon 22 Leiturteile; 12 neue Urteile sind noch nicht eingestuft.165 Italien wird in der Übersicht der Fälle unter enhanced supervision der Jahre 2011–2015 (s. dazu 3.2.1.) für alle betrachteten Jahre aufgeführt. Danach zeichnete Italien 2015 für 7 Prozent der Gesamtzahl dieser Fälle verantwortlich, 2014 für 8 Prozent, 2013 für 5, 2012 für 8 und 2011 für 7 Prozent. 6.2.2. Beispiele für Rechtsänderungen nach EGMR-Urteilen Der Bericht des Legal Affairs and Human Rights Department der PACE166 verweist über die genannten Urteile hinaus noch auf folgende Entscheidungen als Beispiele für Rechtsänderungen: - Recht auf Befragung von Belastungszeuginnen und -zeugen bzw. Verwendung einer Zeugenaussage ohne Befragung der beschuldigten Person nur mit deren Einverständnis: Verfassungs - und Gesetzesänderungen infolge des Urteils Lucà gegen Italien (Beschwerde-Nr. 33354/96, Urteil vom 27. Mai 2001; s.a. Resolution ResDH(2005)86) - Verbesserung der Rechtsstellung bei der Geburt zurückgelassener Kinder: Aufhebung des Verbots, ihre Herkunft zu erfahren, durch Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes Nr. 184/1983 durch die CC infolge des Urteils Godelli gegen Italien (Beschwerde- Nr. 33783/09, Urteil vom 25. September 2012; s. a. Resolution CM/ResDH(2015)176) - Abschaffung des Gewahrsams vor Vollstreckung einer angeordneten oder angestrebten Präventivmaßnahme (z. B. Residenzpflicht) durch Gesetz Nr. 327 vom 3. August 1988 im Vorfeld der Plenarentscheidung Cuilla gegen Italien (Beschwerde-Nr. 11152/84, Urteil vom 22. Februar 1989), aber nach dem Kommissionsbericht vom 8. Mai 1987 (s. a. Resolution DH (90) 13) - Einführung gesetzlicher Maßnahmen zur Verringerung der Überbelegung von Gefängnissen infolge des Piloturteils Torreggiani gegen Italien (Beschwerde-Nrn. 43517/09 u. a., Urteil vom 8. Januar 2013)167 - Verbot willkürlicher Überprüfung von Gefangenenpost infolge des Urteils Calogero Diana gegen Italien (Beschwerde-Nr. 15211/89, Urteil vom 21. Oktober 1996) durch Gesetzesänderung (s. a. Resolution ResDH(2005)55) 165 Suchmechanismus unter http://www.coe.int/t/dghl/monitoring/execution/Reports/pendingCases_en.asp. (Stand: 05.10.2016). Hinzu kommt ein weiteres Leiturteil unter enhanced supervision gegen Italien und Griechenland . 166 Siehe oben Fn. 75, S. 21 ff. m. w. N. 167 Diese Maßnahmen erkannte der EGMR in seinen Unzulässigkeitsentscheidungen vom 16.09.2014, Stella u. a. gegen Italien (Beschwerde-Nrn. 49169/09 u.a.) und Rexhepi u. a. gegen Italien (Beschwerde-Nrn. 47180/10 et al.) als effektiv an. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 44 - Reformen zur Verringerung der gerichtlichen Verfahrenslänge: o u. a. Einführung einer Entschädigung in Längeverfahren mit Gesetz Nr. 89 vom 24. März 2001 (‘Pinto’-Gesetz) infolge der Urteile Ceteroni gegen Italien (Beschwerde- Nrn. 22465/93 und 22461/93, Urteil vom 15. November 1996) und Bottazzi gegen Italien (Beschwerde-Nr. 34884/97, Urteil der Großen Kammer vom 28. Juli 1999) o Einführung eines vereinfachten Verfahrens im Zivilprozess, eines außergerichtlichen Streitbeilegungsverfahrens, von Digitalisierungmaßnahmen (elektronische Akte), Einstellung von Hilfsrichterinnen und -richtern an Berufungsgerichten, Einrichtung von Assistenzstellen am Kassationsgerichtshof usw. infolge des Urteils Gaglione u. a. gegen Italien (Beschwerde-Nrn. 45867/07 u. a., Urteil vom 21. Dezember 2010) - Reform des Insolvenzverfahrens infolge der Urteile Luordo gegen Italien (Beschwerde-Nr. 32190/96) und Bottaro gegen Italien (Beschwerde-Nr. 56298/00) vom 17. Juli 2003 durch Legislativdekret Nr. 5/2006 Weitere Beispiele sind der Literatur zu entnehmen.168 6.2.3. Beispiele für Widerstände bei der Umsetzung von EGMR-Urteilen In der Literatur wird darauf eingegangen, dass das italienische Rechtssystem – Gesetzgeber ebenso wie Rechtsprechung – zwar stark von den Entscheidungen des EGMR beeinflusst worden sei, es aber an der (vollständigen) Umsetzung vieler Entscheidungen in zahlreichen Bereichen fehle.169 Bereits aus den o. a. Quoten (6.2.1.) ergibt sich ein erhebliches Umsetzungsdefizit, das von den Organen des Europarates immer wieder angeprangert wird. Inwiefern die Verzögerungen generell oder in einzelnen Bereichen als möglicherweise politisch motivierte „Widerstände“ bezeichnet werden können, kann nicht abschließend festgestellt werden. Als Hauptproblem identifiziert das Committee on Legal Affairs and Human Rights der PACE in seinem Bericht vom September 2015 die Nicht-Umsetzung von Urteilen in den folgenden Bereichen : – übermäßige Länge von Gerichtsverfahren und Fehlen effektiver Rechtsbehelfe zur Verfahrensbeschleunigung – Ausweisung bzw. Abschiebung von Nicht-Staatsangehörigen unter Verletzung der EMRK – schlechte Haftbedingungen.170 168 Siehe z. B. Candela Soriano, Fn. 150, S. 426 ff. 169 Candela Soriano, Fn. 150, S. 425. 170 PACE, Committee on Legal Affairs and Human Rights, Implementation of judgments of the European Court of Human Rights, Report, 09.09.2015, Doc. 13864, S. 9, Rn. 13.1. Siehe auch die Auszüge der Anhörungen des Ausschusses von 2012 zu den gleichen Themen, http://www.assembly.coe.int/Committee- Docs/2015/ajdoc132013.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 45 In seiner Rechtsprechung hat der EGMR im Laufe der Jahre eine Reihe von strukturellen Problemen im italienischen Rechtssystem festgestellt.171 So wird u.a. die Möglichkeit strafrechtlicher Verurteilungen in Abwesenheit des/der Angeklagten kritisiert, aber auch das Fehlen von Entschädigungen bei staatlichen Enteignungen.172 Auch die verabschiedeten Gesetzesänderungen seien teilweise begrenzt effektiv – so habe etwa die Einführung eines Rechtsbehelfs bei Längeverfahren letztlich einen weiteren Anstieg der Zahl der nationalen Gerichtsverfahren hervorgerufen. Außerdem enthielten die Rechtsgrundlagen zur Beschränkung der Verfahrenslänge Ausnahmen, etwa für komplizierte Fälle.173 Zuletzt identifizierte das MK in seinem Jahresbericht 2015 mit Verweis auf die Feststellungen des EGMR ein weiteres strukturelles Problem: So seien die italienischen Strafgesetze in Hinblick auf die Bestrafung von Folter unzureichend; es fehle am nötigen Abschreckungseffekt, um vergleichbare Verletzungen des Folterverbots (Art. 3 EMRK) zu verhindern.174 Allerdings werden – vor und auch auch in dem gerügten Verfahren Nr. 49/2015 – auch positive Beispiele für einen Dialog zwischen der CC und dem EGMR gesehen. Insbesondere wird darauf hingewiesen, dass die CC dem EGMR einige Präzisierungsmöglichkeiten für die weiteren bei der Großen Kammer anhängigen Verfahren vorgeschlagen bzw. empfohlen habe.175 171 Zur Qualität und Effizienz der Justizsysteme siehe auch die aktuelle Studie der Europäischen Kommission für die Wirksamkeit der Justiz (CEPEJ) des Europarates European judicial systems: Efficiency and quality of justice, CEPEJ Studies Nr. 23, Auflage 2016 (Daten von 2014), http://www.coe.int/t/dghl/cooperation/cepej/evaluation /2016/publication/CEPEJ%20Study%2023%20report%20EN%20web.pdf. 172 Candela Soriano, Fn. 150, S. 418, 415 ff. mit zahlreichen Urteilsverweisen. 173 Candela Soriano, Fn. 150, S. 427. 174 Infolge des Falles Cestaro gegen Italien, Beschwerde-Nr. 6884/11, Urteil endgültig am 07.07.2015, vgl. Jahresbericht 2015, Fn., S. 117, 126. 175 Faris/Oellers-Frahm, Fn. 155, S. 248. S.a. Candela Soriano, Fn. 150, S. 428 f., 446. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 46 7. Russland 7.1. Stellung der EMRK und der Urteile des EGMR in der nationalen Rechtsordnung 7.1.1. EMRK Die Verfassung der Russischen Föderation von 1993 stellte einen Paradigmenwechsel nach Ende der Sowjetunion dar; erstmals wurde Vorschriften des von Russland ratifizierten Völkervertragsrechts Vorrang vor nationalen Gesetzen eingeräumt (Art. 5 Abs. 4 der Verfassung). Insgesamt misst die Verfassung dem Völkerrecht und der internationalen Dimension der Menschenrechte an mehreren Stellen eine hohe Bedeutung bei.176 Die Mehrheit in der Literatur geht wohl von einem monistischen Verständnis aus.177 Umstritten sei dagegen gewesen – in Auslegung von Art. 15 Abs. 1 und 4 sowie Art. 55 Abs. 1 der Verfassung – ob die EMRK als internationaler Menschenrechtsvertrag den gleichen Rang wie die Verfassung genieße oder ob sie einen Rang zwischen Verfassung und einfachen Gesetzen einnehme . Von einer Minderheit wurde sogar ein Rang über der Verfassung angenommen.178 Internationales Aufsehen erregte die Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 14. Juli 2015, die den Vorrang der Verfassung vor der EMRK zementierte (siehe dazu sogleich 7.1.2.).179 7.1.2. EGMR-Urteile Art. 15 Abs. 4 der Verfassung erkannt ausdrücklich den evolutiven Charakter des Völkerrechts an. Hieraus und aus dem Wortlaut des Ratifikationsgesetzes zur EMRK wird in der Literatur und vom Verfassungsgericht geschlossen, dass russische Gerichte verpflichtet seien, die Rechtsprechung des EGMR zu befolgen. Dennoch sei der Status der Urteile innerhalb der Rechtsordnung 176 Siehe hierzu mit weiteren Nachweisen Angelika Nußberger, The Reception Process in Russia and Ukraine, in: Helen Keller/Alec Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights: The Impact of the ECHR on National Legal Systems, Oxford: Oxford University Press (2008), S. 603–674, S. 615 f. Siehe zum komplexen russischen Rechtssystem auch ausführlich Anatoly I. Kovler, Russia: European Convention on Human Rights in Russia: Fifteen years after , in: Iulia Motoc/Ineta Ziemele (Hrsg.), The Impact of the ECHR on Democratic Change in Central and Eastern Europe: Judicial Perspectives, Cambridge: Cambridge University Press (2016), S. 351–372. 177 Mit weiteren Nachweisen Nußberger, Fn. 176, S. 616. 178 Siehe den Streitstand bei Nußberger, Fn. 176, S. 617. 179 Siehe hierzu Maria Smirnova, Russian Constitutional Court Affirms Russian Constitution’s Supremacy over ECtHR Decisions, in: UK Const. L. Blog, Eintrag vom 17. Juli 2015, https://ukconstitutionallaw .org/2015/07/17/maria-smirnova-russian-constitutional-court-affirms-russian-constitutions-supremacyover -ecthr-decisions/. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 47 umstritten. In der Literatur werde teilweise davon ausgegangen, dass die Urteile nur dann Bestandteil der Rechtsordnung seien, wenn sie allgemein anerkannte Grundsätze des Völkerrechts widerspiegelten.180 Die obersten Gerichtshöfe (oberster Gerichtshof und oberster Wirtschaftsgerichtshof [Arbitragegerichtshof ]) haben in bestimmten Bereichen quasi-gesetzgeberische Kompetenzen; sie können untergeordnete Gerichte per Dekret (postanovleniya) unabhängig vom konkreten Fall mit bindender Wirkung Auslegungs- und Verhaltensweisen vorschreiben. In diesem Rahmen hat der oberste Gerichtshof den nachgeordneten Gerichten bereits die Anwendung von EGMR-Rechtsprechung und das Zitieren von EGMR-Urteilen empfohlen oder darauf hingewiesen, dass Normen wegen Verstoßes gegen Völkerrecht verworfen werden können.181 Das russische Verfassungsgericht (RCC) kann verbindliche Auslegungen treffen. Der RCC hat seit dem Beitritt 1998 bereits häufig auf EGMR-Urteile – auch gegen andere Staaten – Bezug genommen , allerdings im Rahmen der Begründung. Prüfungsmaßstab blieb die russische Verfassung.182 Mit dem Urteil vom 14. Juli 2015 zeichnet sich jedoch ein Paradigmenwechsel ab. So führte der RCC – in englischer Übersetzung – aus: „…the participation of the Russian Federation in any international treaty does not mean giving up national sovereignty. Neither the ECHR, nor the legal positions of the ECtHR based on it, can cancel the priority of the Constitution. Their practical implementation in the Russian legal system is only possible through recognition of the supremacy of the Constitution’s legal force.“183 Er schloss daraus, dass im Konfliktfalle die (wörtliche) Umsetzung der entsprechenden EGMR- Entscheidung nicht möglich sei. Aus seinen weiteren Überlegungen ist in der Literatur geschlossen worden, dass der RCC dem Gesetzgeber ans Herz lege, Verfahrensvorschriften zum Schutz des Vorrangs der Verfassung zu schaffen.184 Smirnova zitiert in diesem Zusammenhang den Vertreter des Präsidenten, der bei der Anhörung – wie in Russland üblich – zugegen gewesen sei. Dieser habe die Bindungswirkung der EMRK nicht bezweifelt, jedoch ihre begrenzte Reichweite betont. Die Urteile stellten Rechtsverletzungen in Bezug auf spezifische Individuen in einem konkreten Fall fest. Insbesondere könnten EGMR-Urteile, die Mängel der nationalen Gesetzgebung feststellten, nicht bedingungslos umgesetzt werden. Diese Auffassung entspreche dem Tenor des 180 Nußberger, Fn. 176, S. 617, mit weiteren Nachweisen. 181 Nußberger, Fn. 176, S. 651 ff. 182 Nußberger, Fn. 176, S. 619 ff. mit zahlreichen Beispielen. 183 Übersetzung bei Smirnova, Fn. 179. 184 Smirnova, Fn. 179. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 48 Urteils.185 Ein politischer Zusammenhang wird trotz der gegenteiligen Aussage des RCC von einigen Literaturstimmen vermutet.186 Am 14. Dezember 2015 trat ein Änderungsgesetz zum Verfassungsgerichtsgesetz in Kraft, wonach staatliche Organe den RCC anrufen können, wenn sie die Umsetzung einer Entscheidung eines internationalen Spruchkörpers für „unmöglich“ erachten. Nach Auffassungen in der Literatur wird hiermit der verbindliche Effekt des Art. 46 EMRK erstmals von einem Mitgliedstaat offen in Frage gestellt.187 Die Entscheidung des RCC und das russische Gesetz sind in der Literatur und von den Organen des Europarates stark kritisiert worden; das Committee on Legal Affairs and Human Rights der PACE hat es der Venedig-Kommission des Europarates zur Prüfung vorgelegt .188 In einem Urteil vom 19. Februar 2016 wandte der RCC das Gesetz an und stellte fest, dass EGMR und RCC in einen „konstruktiven Dialog“ eintreten müssten, allerdings unter der Bedingung, dass die Rechtsprechung des RCC Vorrang habe. Im konkreten Fall hielt er allerdings das zugrunde liegende EGMR-Urteil zum Gefangenenwahlrecht (Anchugov und Gladkov gegen Russland ) grundsätzlich ohne Anpassungen für umsetzbar. In der Literatur wird allerdings auf unüberbrückbare Widersprüche innerhalb des Urteils des RCC aufmerksam gemacht, die eine Umsetzung unmöglich machten; de facto handele es sich um einen Verstoß gegen die völkerrechtliche Umsetzungspflicht.189 7.2. Zur Umsetzungspraxis von EGMR-Urteilen 7.2.1. Quoten Laut Jahresbericht des MK für 2015 gingen 2014 150 und 2015 120 neue Urteile beim MK zur Überwachung ein, die Russland betrafen. Davon wurden 2014 12 Fälle als Leiturteile eingeordnet ; sechs davon wurden der enhanced supervision zugewiesen. 2015 wurden sieben neue Umsetzungsverfahren als Leiturteile klassifiziert; einer davon wurde unter enhanced supervision gestellt , zwei Fälle waren noch nicht zugeordnet.190 Zum Berichtszeitpunkt waren 2014 1.474, 2015 185 Übersetzung nach der englischen Übersetzung von Smirnova, Fn. 179. 186 Smirnova, Fn. 179.; siehe mit weiteren Nachweisen auch Philip Leach/Alice Donald, Russia Defies Strasbourg: Is Contagion Spreading?, in: ejiltalk, Eintrag vom 19. Dezember 2015, http://www.ejiltalk.org/russia-defies-strasbourg -is-contagion-spreading/, und Kanstantsin Dzehtsiarou/Sergey Golubok/Maxim Timofeev, The Russian Response to the Prisoner Voting Judgment, in: ECHR Blog, Eintrag vom 19. April 2016, http://echrblog .blogspot.de/2016/04/the-russian-response-to-prisoner-voting.html. 187 Leach/Donald, Fn. 186. 188 Hierzu mit weiteren Nachweisen Leach/Donald, Fn. 186. 189 Ausführlich zum Urteil Dzehtsiarou/Golubok/Timofeev, Fn. 186. 190 Jahresbericht des MK, Fn. 15, Anhang 1, S. 64. Vergleichszahlen für alle Mitgliedsstaaten: 96 (2014) bzw. 131 (2015) neue Umsetzungsverfahren. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 49 1.549 Fälle (davon 197 Leiturteile) beim MK anhängig.191 Abgeschlossen wurden 2014 drei, 2015 44 Umsetzungsverfahren (darunter kein Leiturteil; 2014: 1).192 Laut Statistiken des EGMR sind gegen Russland 2015 mit 14,09 Prozent die meisten Urteile aller Mitgliedsstaaten ergangen. Darüber hinaus steht Russland an Platz zwei hinsichtlich der Zahl der anhängigen Fälle zum 31. Dezember 2015 (14,02 Prozent). Insgesamt sind gegen Russland mit 1.720 Urteilen seit 1959 die drittmeisten Urteile ergangen; gemeinsam mit der Türkei, Italien, Rumänien und Polen zeichnet es für mehr als 50 Prozent der Urteile des EGMR zwischen 1959 und 2015 verantwortlich.193 1.068 der 1.651 Urteile, die dem MK aktuell zur Umsetzung vorliegen, unterliegen der enhanced supervision, davon 57 Leiturteile; 95 neue Urteile sind noch nicht eingestuft.194 Russland wird in der Übersicht der Fälle unter enhanced supervision der Jahre 2011–2015 (s. dazu 3.2.1.) für alle betrachteten Jahre aufgeführt. Danach entfielen auf die Russische Föderation 2015 und 2014 jeweils 16 Prozent der Gesamtzahl dieser Fälle, 2013 11 Prozent, 2012 15 und 2011 12 Prozent. 7.2.2. Beispiele für Rechtsänderungen nach EGMR-Urteilen Hervorgehoben werden in der Literatur u. a. die Reformen bzw. Neufassungen des Straf- und Zivilprozessrechts und des Gesetz über die psychiatrische Behandlung. 195 So habe etwa das Urteil Kalaschnikow gegen Russland (Beschwerde-Nr. 47095/99, Urteil vom 15. Juli 2002) zu einer Än- 191 Ebd., S. 66. Vergleichszahlen für alle Mitgliedsstaaten: 10.904 (2014) bzw. 10.652 (2015) anhängige Umsetzungsverfahren . 192 Ebd., S. 70. Dabei ermöglicht die Anzahl der anhängigen wie abgeschlossenen Umsetzungsverfahren keinen verlässlichen Rückschluss auf die Umsetzungsbereitschaft oder auf die Lage der Menschenrechte in dem jeweiligen Staat (s. Einführung). Vergleichszahlen für alle Mitgliedsstaaten: 1.502 (2014) bzw. 1.537 (2015) abgeschlossene Umsetzungsverfahren. 193 EGMR, The ECHR in Facts & Figures; 2015, S. 3 und 4. Zur Zahl der ergangenen Urteile – nach Mitgliedsstaat und Konventionsverletzung geordnet – siehe die Übersichten des EGMR für 2015 bzw. für 1959–2015, s. jeweils Fn. 70. Laufend aktualisierte Statistiken für 2016 sind abrufbar unter http://www.echr.coe.int/Documents/Stats_annual_2016_ENG.pdf und http://www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending_2016_BIL.pdf (Stand bei Bearbeitungsschluss: 31.08.2016). 194 Suchmechanismus unter http://www.coe.int/t/dghl/monitoring/execution/Reports/pendingCases_en.asp. (Stand: 05.10.2016). 195 Nußberger, Fn. 176, S. 655 ff. mit zahlreichen weiteren Beispielen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 50 derung des Straf- und Strafprozessrechts und in der Folge zur Verringerung der Zahl der Untersuchungshäftlinge und zur Verbesserung der Haftbedingungen geführt.196 Hingewiesen wird jedoch auf den häufig unzureichenden oder unvollständigen Charakter dieser Gesetze.197 Der Bericht des Legal Affairs and Human Rights Department der PACE198 verweist auf folgende Entscheidungen als Beispiele für Rechtsänderungen nach EGMR-Urteilen: - Einführung eines Entschädigungsanspruches und eines Rechtsbehelfs wegen mangelnder Umsetzung nationaler Urteile zum Staatshaftungsanspruch wegen gesundheitlicher Schäden infolge der Katastrophe von Tschernobyl: Verabschiedung eines nationalen Entschädigungsgesetzes sowie diverser Änderungsgesetze und Maßnahmen infolge der Urteile Burdov gegen Russland (Beschwerde-Nr. 59498/00, Urteil vom 7. Mai 2002) und Burdov gegen Russland (Nr. 2; Beschwerde-Nr. 33509/04, Urteil vom 15. Januar 2009). Siehe auch Resolution CM/ResDH(2011)293. - Ausweitung der Pressefreiheit auf Kritik gegenüber Amtsträgerinnen und Amtsträgern durch bindendes Plenarurteil des Obersten Gerichtshofs vom 24. Februar 2005 (Dekret Nr. 3 hinsichtlich der Anwendung von Art. 152 des Zivilgesetzbuches) infolge der EGMR-Urteile Grindberg gegen Russland (Beschwerde-Nr. 23472/03, Urteil vom 21. Juli 2005) und Zakharov gegen Russland (Beschwerde-Nr. 14881/03, Urteil vom 5. Oktober 2006; s. a. Resolution CM/ResDH(2008)18) - Errichtung von Sonderermittlungseinheiten zu komplexen Straftaten von Sicherheitskräften infolge des Urteils Mikheyev gegen Russland (Beschwerde-Nr. 77617/01, Urteil vom 26. Januar 2006) und weiterer EGMR-Urteile - Verschärfung der Voraussetzungen für Untersuchungshaft zur Verringerung der Überfüllung von Haftanstalten und zur Verbesserung von Haftbedingungen infolge des Piloturteils Ananyev u. a. gegen Russland (Beschwerde-Nrn. 42525/07 und 60800/08, Urteil vom 10. Januar 2012) durch Änderung der Strafprozessordnung im Dezember 2012 - Verschärfung der Voraussetzungen für Untersuchungshaft und Verbesserung der Untersuchungshaftbedingungen (u. a. Notwendigkeit einer begründeten gerichtlichen Entscheidung , Befristung der Haftdauer, Regelungen zur Berechnung der Haftdauer, Verringerung der Gesamtdauer, Alternativen zur Untersuchungshaft wie Entlassung auf Kaution) durch zahlreiche Gesetzesänderungen – vor allem zwischen 2008 und 2011 – und Urteile des RCC und des obersten Gerichtshofes infolge der Urteilsgruppen Ananyev u.a. sowie Klyakhin gegen Russland (Beschwerde-Nr. 46082/99, Urteil vom 30. November 2004; s. a. Resolution CM/ResDH(2015)249). 196 Siehe dazu die Nachweise bei Susan Stewart, Russland und der Europarat, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, Studie Nr. 10 (2013), http://www.swp-berlin .org/fileadmin/contents/products/studien/2013_S10_stw.pdf, S. 20. 197 Nußberger, Fn. 176, S. 655 ff. mit zahlreichen weiteren Beispielen. 198 Siehe oben Fn. 75, S. 32 ff. m. w. N. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 51 7.2.3. Beispiele für Widerstände bei der Umsetzung von EGMR-Urteilen Allgemein wird darauf verwiesen, dass Russland die vom EGMR angeordneten individuellen Umsetzungsmaßnahmen (z. B. Entschädigungszahlungen an die Beschwerdeführenden) eher umsetze als die generellen Maßnahmen, die eine Änderung des Rechts oder seiner Anwendung voraussetzen .199 Teilweise werden substantielle Rechtsänderungen in zahlreichen Bereichen durch Gesetzgeber und Gerichte anerkannt, aber auf die unzureichende Änderung der Rechtsanwendung verwiesen.200 Die Rechtsliteratur hat sich umfassend mit systematischer Nicht-Umsetzung von EGMR-Urteilen durch Russland in verschiedenen Rechtsbereichen beschäftigt. Eines der Paradebeispiele hierfür sind – trotz ihrer Erwähnung im vorigen Abschnitt – die Urteile im Fall Burdov gegen Russland (Beschwerde-Nr. 59498/00, Urteil vom 7. Mai 2002) und Burdov gegen Russland (Nr. 2) (Beschwerde -Nr. 33509/04, Urteil vom 15. Januar 2009) zur Entschädigung wegen der Katastrophe von Tschernobyl und zur Nicht-Umsetzung nationaler Gerichtsurteile.201 Als Hauptproblem identifiziert das Committee on Legal Affairs and Human Rights der PACE im Bericht vom September 2015 die langfristige, kontinuierliche Nicht-Umsetzung von EGMR-Urteilen in den folgenden Bereichen: – Nicht-Umsetzung nationaler Gerichtsentscheidungen – Verletzung des Grundsatzes der Rechtssicherheit durch die Aufhebung rechtskräftiger Urteile im Rahmen des „Aufsichtsverfahrens” – schlechte Untersuchungshaftbedingungen insbesondere in Untersuchungshaftanstalten – überlange Dauer der Untersuchungshaft; Fehlen relevanter und hinreichender Gründe für Untersuchungshaft – Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und Fehlen effektiver Ermittlungen – Handlungen von Sicherheitskräften im Nordkaukasus – verschiedene Konventionsverletzungen in Hinblick auf geheime Auslieferungen in frühere Sowjetrepubliken Zentralasiens – Verbot von LGBT-Versammlungen homo-, bisexueller Menschen sowie von Trans*personen (LGBT).202 199 Stewart, Fn. 196, S. 20, mit weiteren Nachweisen. 200 Kovler, Fn. 176, S. 371. 201 Dazu und zum Beispielcharakter ausführlich Philip Leach/Helen Hardman/Svetlana Stephenson, Can the European Court’s pilot judgment procedure help resolve systemic human rights violations? Burdov and the fail-ure to implement domestic court decisions in Russia, in: Human Rights Law Review, Band 10 (2) (2010), S. 346– 359, und Lisa McIntosh Sundstrom, Advocacy beyond litigation: Examining Russian NGO efforts on implementation of European Court of Human Rights judgments, in: Communist and Post-Communist Studies 45 (2012), S. 255–268, http://dx.doi.org/10.1016/j.postcomstud.2012.06.003. 202 PACE, Committee on Legal Affairs and Human Rights, Fn. 170, S. 9, Rn. 13.3. Siehe auch die Auszüge der Anhörungen des Ausschusses von 2012 zu den gleichen Themen, Fn. 170. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 52 Kovler ergänzt und konkretisiert dieser Liste der anhaltenden strukturellen Defizite, die vom EGMR festgestellt worden sind, in seinem aktuellen Beitrag wie folgt: - Qualität medizinischer Behandlung von Gefangenen - Ineffizienz der Ermittlungen von Verschwindenlassen im Nord-Kaukasus sowie von Misshandlungen im Rahmen von Arrest, Befragungen und Ermittlungen - Aussetzen der Reform zum „Aufsichtsverfahren“ im Zivilprozesssrecht - anhaltendes, flächendeckendes Zurückgreifen auf Arrest und Inhaftierung (auch präventiv ); Unregelmäßigkeiten bei der Prüfung von Anträgen auf Hafterleichterungen oder Verbesserung der Haftbedingungen - willkürliche Auslegung von Vorschriften zur operationellen Fahndung; Verurteilung zu langen Haftstrafen für Drogenhandel allein aufgrund des Einsatzes von Lockspitzeln - fehlende Waffengleichheit im Zivil- und Strafverfahren (z. B. Zeugenbefragung durch die Verteidigung, Recht auf effektive Verteidigung, Möglichkeit der Beantragung von Fachgutachten oder der Bestellung von Zeuginnen und Zeugen zur Beweisführung).203 Vertiefende Literaturhinweise zu diesen und anderen Umsetzungsdefiziten sind Abschnitt 9.6. zu entnehmen. Einen kurzen Überblick bietet etwa die Studie von Stewart. Ausführlichere Erörterungen , etwa hinsichtlich der Umsetzung der Urteile hinsichtlich Tschetschenien und Transnistrien, finden sich (trotz seines Alters) im Beitrag der derzeitigen EGMR-Richterin Angelika Nußberger.204 203 Kovler, Fn. 176, S. 370 f. 204 Stewart, Fn. 196, S. 19 f.; Nußberger, Fn. 176, S. 636 ff, 655 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 53 8. Türkei 8.1. Stellung der EMRK und der Urteile des EGMR in der nationalen Rechtsordnung 8.1.1. EMRK Nach nationalen Angaben205 richtet sich der Status internationaler Verträge nach Art. 90 der türkischen Verfassung von 1982. Im Zuge der Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union (EU) habe die Türkei am 7. Mai 2004 mit Rechtsakt Nr. 5170 Abs. 5 S. 3 hinzugefügt, wonach ratifizierte und in Kraft befindliche internationale Menschenrechtsverträge Vorrang gegenüber nationalen Gesetzen genießen206: “In the case of a conflict between international agreements, duly put into effect, concerning fundamental rights and freedoms and the laws due to differences in provisions on the same matter, the provisions of international agreements shall prevail”).207 Die Verfassung genieße jedoch Vorrang gegenüber den internationalen Verträgen. Konflikte zwischen Verfassung und Abkommen könne das türkische Verfassungsgericht (nur) durch konventionskonforme Auslegung beseitigen.208 Konflikte zwischen Gesetzen und Abkommen löse das türkische Verfassungsgericht, indem es den Vorrang des Völkerrechts betone. Es nutze die Grundsätze der EMRK, um die Grundprinzipien und Merkmale der Republik aus Art. 2 der Verfassung – Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte – auszulegen.209 Die EMRK beeinflusse das türkische Rechtssystem demnach auf zwei Arten: Zum einen seien einige Vorschriften der Verfassung auf die EMRK zurückzuführen. Dies liege an zahlreichen Änderungen, mit denen die Verfassung internationalen Standards – allen voran der EMRK und ihrer Auslegung durch den EGMR – angepasst werden sollte. Zum anderen präge die EMRK die Auslegung des nationalen Rechts durch türkische Gerichte.210 205 Die Quellenangaben in Abschnitt 8.1., 8.2., 8.2.2. und 8.2.3. beruhen zu großen Teilen auf den Verweisen der nationalen Zulieferung. Sie konnten von dieser Stelle aus nicht verifiziert werden. 206 Selin Esen, How Influential Are The Standards of The European Court Of The Human Rights On The Turkish Constitutional System In Banning Political Parties, Ankara Law Review, Band 9, Nr. 2 (Winter 2012), S. 140–141. 207 Englische Übersetzung der türkischen Verfassung, zitiert nach https://global.tbmm.gov.tr/docs/constitution _en.pdf. Auf der Seite von Christian Rumpf (http://www.tuerkei-recht.de/downloads/verfassung.pdf) findet sich folgende deutsche Übersetzung des Abs. 5 (Stand: 2016): „Die verfahrensgemäß in Kraft gesetzten völkerrechtlichen Verträge haben Gesetzeskraft. Gegen sie kann das Verfassungsgericht mit der Behauptung der Verfassungswidrigkeit nicht angerufen werden. Soweit Grundrechte und -freiheiten regelnde Vorschriften verfahrensgemäß in Kraft gesetzter völkerrechtlicher Verträge mit gesetzlichen Bestimmungen mit gleichem Regelungsgehalt nicht übereinstimmen , finden die Bestimmungen der völkerrechtlichen Verträge vorrangig Anwendung.“ 208 Esen, Fn. 206, S. 141. 209 Esen, Fn. 206, S. 136. 210 Esen, Fn. 206, S. 135. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 54 8.1.2. EGMR-Urteile Nach nationaler Auskunft sind EGMR-Urteile wegen Art. 90 der Verfassung für die Türkei innerstaatlich bindend, da sie EMRK-Vorschriften interpretierten, erläuterten und konkretisierten. Die Türkei habe die Autorität der (früheren) Europäischen Menschenrechtskommission erstmals 1987 für drei Jahre anerkannt und diese Erklärung bis zum Inkrafttreten von Protokoll 11 zur EMRK durchgehend befristet erneuert. 1990 habe die Türkei die zwingende Zuständigkeit des EGMR anerkannt.211 In der zugänglichen Literatur wird dagegen darauf verwiesen, dass kein türkisches Gericht dafür zuständig sei, nationale Gesetze wegen Verstoßes gegen die EMRK für nichtig zu erklären. Gerichte könnten die Anwendung nationalen Rechts bei Verstoß gegen die EMRK oder gegen die EGMR-Rechtsprechung nach Art. 90 Abs. 5 der Verfassung ablehnen. Da die Nichtanwendung nationaler Normen aber der türkischen Rechtstradition widerspreche und das Justizministerium nicht dafür werbe, werde die sehr klare Verfassungsnorm in der Praxis uneinheitlich gehandhabt und teilweise sogar vergessen. Richterinnen und Richter wichen demzufolge im Ergebnis häufig von der EGMR-Rechtsprechung ab.212 8.2. Zur Umsetzungspraxis von EGMR-Urteilen Nach nationalen Auskünften bestehe innerhalb des Directorate General for International Law and Foreign Relations im türkischen Justizministerium seit August 2011 eine Menschenrechtsabteilung . Ihre Aufgabe sei die Vorbereitung der Prozessvertretung vor dem EGMR (insbesondere das Verfassen von Schriftsätzen) und ggf. dem türkischen Verfassungsgericht sowie die Federführung bei der Umsetzung der EGMR-Urteile. Ferner verfolge sie die Umsetzung des Aktionsplans zur Verhinderung von Konventionsverletzungen (Action Plan on Prevention of ECHR Violations213) vom 24. Februar 2014.214 Der Aktionsplan des MK sehe 14 Haupt- und 46 Unterziele vor und definiere erforderliche Maßnahmen und Aktivitäten, darunter Gesetzesänderungen (s. hierzu beispielhaft 8.2.3.). Das Justizministerium verfasse jährlich einen Umsetzungsbericht. 211 Ayşe Özkan Duvan, The Judicial Application of Human Rights Law in Turkey, Journal of Penal Law and Criminology , Band 3, Nr. 1 (2015), p. 68. 212 Olgun Akbulut, Turkey: The European Convention on Human Rights as a Tool for Modernisation, in: Patricia Popelier/Sarah Lambrecht/Koen Lemmens (Hrsg.), Criticism of the European Court of Human Rights, Shifting the Convention System: Counter-Dynamics at the National and EU Level, Cambridge: Intersentia (2016), S. 413– 446, S. 442. 213 Nicht-amtliche englische Übersetzung erhältlich unter: http://www.coe.int/t/commissioner/source/NAP/Turkey -National-Action-Plan-on-Human-Rights.pdf. 214 Verwiesen wird hierzu auf die Seiten des Justizministeriums unter http://www.inhak.adalet.gov.tr/. Die englischsprachigen Seiten zur Menschenrechtsabteilung unter http://www.uhdigm.adalet.gov.tr/english/eng_index .html sind derzeit nicht erreichbar. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 55 8.2.1. Quoten Laut Jahresbericht des MK für 2015 gingen 2014 181 und 2015 141 neue Urteile beim MK zur Überwachung ein, die die Türkei betrafen. Davon wurden 2014 15 Fälle als Leiturteile eingeordnet ; einer davon wurde zunächst der enhanced supervision zugewiesen, vier weitere Fälle waren noch nicht zugeordnet. 2015 wurden 13 neue Umsetzungsverfahren als Leiturteile klassifiziert. Davon unterliegt ein Fall der enhanced supervision, zwei Fälle waren bei Redaktionsschluss noch nicht zugeordnet.215 Zum Berichtszeitpunkt waren 2014 1.500, 2015 1.591 Fälle (davon 178 Leiturteile) beim MK anhängig.216 Abgeschlossen wurden 2014 409, 2015 50 Umsetzungsverfahren (darunter drei Leiturteile).217 Laut Statistiken des EGMR sind gegen die Türkei 2015 die zweitmeisten Urteile aller Mitgliedstaaten ergangen (10,57 Prozent). In der Gesamtübersicht der Urteile zwischen 1959 und 2015 nimmt sie mit 3.182 Urteilen sogar den ersten Platz ein. Die Türkei wird darüber hinaus an dritter Position geführt, was die Zahl der anhängigen Fälle zum 31. Dezember 2015 betrifft (13 Prozent ).218 638 der 1.619 Urteile, die dem MK aktuell zur Umsetzung vorliegen, unterliegen der enhanced supervision, davon 35 Leiturteile; 32 Urteile sind noch nicht eingestuft.219 Die Türkei wird in der Übersicht der Fälle unter enhanced supervision der Jahre 2011–2015 (s. dazu 3.2.1.) für alle betrachteten Jahre aufgeführt. Danach entfielen auf die Türkei 2015 10 Prozent der Gesamtzahl dieser Fälle, 2014 acht Prozent, 2013 13 Prozent, 2012 12 und 2011 13 Prozent. 8.2.2. Beispiele für Rechtsänderungen nach EGMR-Urteilen Nach nationaler Auffassung stelle die Rechtsprechung zu politischen Parteien ein gutes Beispiel dafür dar, wie die EMRK und der EGMR einerseits und die Verfassungsänderungen aufgrund von 215 Jahresbericht des MK, Fn. 15, Anhang 1, S. 64. Vergleichszahlen für alle Mitgliedsstaaten: 96 (2014) bzw. 131 (2015) neue Umsetzungsverfahren. 216 Ebd., S. 67. Vergleichszahlen für alle Mitgliedsstaaten: 10.904 (2014) bzw. 10.652 (2015) anhängige Umsetzungsverfahren . 217 Ebd., S. 70. Dabei ermöglicht die Anzahl der anhängigen wie abgeschlossenen Umsetzungsverfahren keinen verlässlichen Rückschluss auf die Umsetzungsbereitschaft oder auf die Lage der Menschenrechte in dem jeweiligen Staat (s. Einführung). Vergleichszahlen für alle Mitgliedsstaaten: 1.502 (2014) bzw. 1.537 (2015) abgeschlossene Umsetzungsverfahren. 218 EGMR, The ECHR in Facts & Figures; 2015, S. 3 und 4. Zur Zahl der ergangenen Urteile – nach Mitgliedsstaat und Konventionsverletzung geordnet – siehe die Übersichten des EGMR für 2015 bzw. für 1959–2015, s. jeweils Fn. 70. Laufend aktualisierte Statistiken für 2016 sind abrufbar unter http://www.echr.coe.int/Documents/Stats_annual_2016_ENG.pdf und http://www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending_2016_BIL.pdf (Stand bei Bearbeitungsschluss: 31.08.2016). 219 Suchmechanismus unter http://www.coe.int/t/dghl/monitoring/execution/Reports/pendingCases_en.asp. (Stand: 05.10.2016). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 56 EU-Standards andererseits zu einer Öffnung der Rechtsprechung des türkischen Verfassungsgerichts geführt hätten.220 Ferner wird auf insgesamt zehn Verfassungsänderungen zwischen 1987 und 2010 hingewiesen, von denen mehrere der Umsetzung europäischer (Menschenrechts-)Standards (EU und Europarat) gedient hätten. Folgende Beispiele werden hierfür angeführt: - Änderung des Art. 13 (2001): Umstellung der Herangehensweise von einer allgemeinen Beschränkung der Grundrechte hin zu einer Grundrechtsschutzklausel, insbesondere durch Einführung des Verhältnismäßigkeitsprinzips nach Rechtsprechung des EGMR und des BVerfG sowie eines Kernbereichschutzes221 - Einführung des Rechts auf ein faires Verfahren (vgl. Art. 6 Abs. 1 EMRK) - Änderung des Art. 143 (1999, 2004): zunächst Änderung der Zusammensetzung, schließlich Abschaffung der Staatsschutzgerichtsbarkeit - Herabsetzung der Arrestdauer für gemeinschaftlich begangene Verbrechen von 15 auf vier Tage infolge eines EGMR-Urteils222 Die rechtlichen und institutionellen Fortschritte der Türkei im Bereich Menschenrechte – inkl. der Umsetzung der Verpflichtungen aus der EMRK – stellt das türkische Justizministerium in einer Broschüre von 2016 vor.223 Auch in der Literatur wird anerkannt, dass die Türkei ihre Gesetze und ihre Verfassung auf einigen Gebieten teilweise weitreichend geändert habe, um eine Harmonisierung mit europäischen Standards und eine Transformation des türkischen Rechtssystems zu ermöglichen; die EGMR-Rechtsprechung wird dabei als treibende Kraft eingeordnet. Dabei wird allerdings neben den Sicherheitsgesetzen und der Effizienz, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtssystems gerade die Gesetzgebung zu den politischen Parteien als defizitär bezeichnet.224 Ob die Entwicklung hin zu einer Modernisierung aufrechterhalten oder fortgesetzt wird, erscheint in Hinblick auf die derzeitige Sach- und Rechtslage in der Türkei fraglich.225 220 Esen, Fn. 206, S. 136. 221 Beide Grundsätze seien bereits vorher vom Verfassungsgericht genutzt, 2001 aber ausdrücklich im Verfassungstext verankert worden. 222 Esen, Fn. 206, S. 138–139. 223 Türkisches Justizministerium, Turkey and Human Rights, http://www.inhak.adalet.gov.tr/duyurular/faaliyet _duyurular/2016/Haziran/Duyuru4/BRO%C5%9E%C3%9CR%20%C4%B0ngilizce%20v4.pdf. 224 Akbulut, Fn. 2012, S. 445. 225 Siehe dazu den Bericht des Menschenrechtskommissars des Europarates vom 07.10.2016, Memorandum on the human rights implications of the measures taken under the state of emergency in Turkey, by Nils Muižnieks, Council of Europe Commissioner for Human Rights, CommDH(2016)35, https://wcd.coe.int/View- Doc.jsp?p=&Ref=CommDH(2016)35&Language=lanEnglish&direct=true. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 57 Der Bericht des Legal Affairs and Human Rights Department der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Kooperation mit dem Menschenrechtszentrum der University of Essex226 führt ergänzend folgende Urteile als Beispiele für Rechtsänderungen auf: - Einführung engerer Beschränkungen für die Auflösung politischer Parteien infolge des Urteils der Großen Kammer im Fall United Communist Party of Turkey u. a. gegen die Türkei (Beschwerde-Nr. 19392/92, Urteil vom 30. Januar 1998) und weiterer Urteile u. a. durch Rechtsreformen von 2001 und 2003 (vgl. Resolution CM/ResDH(2007)100) - Rechtsbehelf bei Zwangsräumungen durch die Polizei infolge des Urteils Doğan u. a. gegen die Türkei (Beschwerde-Nrn. 8803/02 u.a., Urteil vom 29. Juni 2004) durch Gesetz (Law on Compensation for Losses resulting from Terrorism and the Fight against Terrorism ) vom 27. Juli 2004 (vgl. Resolution CM/ResDH(2008)60)227 - Abschaffung der Militärrichter in Staatsschutzgerichten (s. o.) infolge (u. a.) der Urteile Incal gegen die Türkei (Beschwerde-Nr. 22678/93, Urteil vom 9. Juni 1998), Karataş gegen die Türkei (Beschwerde-Nr. 23168/94, Urteil der Großen Kammer vom 8. Juli 1999) und Çıraklar gegen die Türkei (Beschwerde-Nr. 19601/92, Urteil vom 28. Oktober 1998; vgl. Resolution ResDH(2006)79 und Resolution DH (99) 555) - Einführung der Individualbeschwerde zum Verfassungsgericht durch Verfassungsänderung von 2010, gebilligt durch den EGMR in seiner Unzulässigkeitsentscheidung Uzun gegen die Türkei (Beschwerde-Nr. 10755/13, Entscheidung vom 30. April 2013) - Einführung von Prozesskostenhilfe für Beschuldigte im Ermittlungsverfahren und des Rechts auf anwaltlichen Beistand vor und während der Beschuldigtenvernehmung infolge des Urteils der Großen Kammer im Fall Salduz gegen die Türkei (Beschwerde-Nr. 36391/02, Urteil vom 27. November 2008) durch Gesetz Nr. 4928 vom 15. Juni 2003 und Neufassung der Strafprozessordnung (Inkrafttreten: 1. Juli 2005) Weitere Änderungen der Verfassung, der Gesetze oder der Rechtspraxis finden sich in der Rechtsliteratur.228 226 Fn. 75, S. 40. Siehe auch die dortigen Verweise auf Urteile und MK-Resolutionen. 227 Der EGMR erklärte diesen Rechtbehelf in seiner Unzulässigkeitsentscheidung İçyer gegen die Türkei (Beschwerde -Nr. 18888/02, 09.02.2006) für konventionskonform. 228 Siehe etwa Ibrahim Özden Kaboglu/Stylianos-Ioannis G. Koutnatzis, The Reception Process in Greece and Turkey , in: Helen Keller/Alec Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights: The Impact of the ECHR on National Legal Systems, Oxford: Oxford University Press (2008), S. 451–530, S. 494 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 58 8.2.3. Beispiele für Widerstände bei der Umsetzung von EGMR-Urteilen Zahlreiche Interimsresolutionen des MK widmen sich – teilweise in scharfen Worten – der ausdrücklichen Weigerung der Türkei, bestimmte Urteile und Urteilsgruppen des EGMR umzusetzen . Auch in der türkischen Literatur sei anerkannt, dass sich aus den Urteilen eine Verpflichtung zur Umsetzung auch durch Änderung der Gesetze oder der Rechtspraxis ergebe, die nötigen Reformen häufig – aus welchen Gründen auch immer – aber nicht stattfänden.229 Als Hauptproblem identifiziert das Committee on Legal Affairs and Human Rights der PACE in seinem Bericht vom September 2015 die Nicht-Umsetzung von Urteilen in den folgenden Bereichen: – Fehlen eines Wiederaufnahmeverfahrens bei unfairen Strafprozessen – wiederholte Inhaftierung bei Verweigerung des Militärdienstes aus Gewissensgründen – Verletzung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit – überlange Untersuchungshaft – Handlungen von Sicherheitskräften – Angelegenheiten, die Nordzypern betreffen.230 In den jährlichen Fortschrittsberichten der Europäischen Kommission im Rahmen des Beitrittsprozesses wird regelmäßig auf das bestehende Umsetzungsdefizit hingewiesen.231 Nach dem Bericht für 2015 – noch zur Sach- und Rechtslage vor dem Putsch – sei seit 2013 ein erheblicher Rückschritt insbesondere bei Urteilen in den Bereichen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu verzeichnen. Der Aktionsplan von 2014 gewähre Sicherheitskräften weite Ermessensspielräume ohne unabhängige parlamentarische oder gerichtliche Kontrolle; die Türkei solle Reichweite und Monitoring des Aktionsplans auf alle Rechte der EMRK und alle EGMR-Urteile ausdehnen. Antiterrormaßnahmen in den Konflikten im Süden und Osten müssten verhältnismäßig sein. Umsetzungsdefizite sieht die Kommission vor allem in folgenden Bereichen: - Verletzung der Meinungsfreiheit durch willkürlich enge Auslegung der Gesetze, politischen Druck, Entlassungen und Gerichtsverfahren gegen die Presse - übermäßige Beschränkung der Versammlungsfreiheit in Recht und Praxis durch unverhältnismäßigen Gewalteinsatz bei Demonstrationen und Mangel an Sanktionen - Diskriminierung und Missachtung der Rechte der Angehörigen von Minderheiten sowie von verletzlichen Gruppen qua Gesetz und in der Praxis, insbesondere geschlechtsspezifische Gewalt, Hassrede gegen Minderheiten und Verletzung der Rechte homo-, bi- und intersexueller Menschen sowie Trans*personen (LGBTI) - mangelnde Vereinbarkeit der Straf- und Antiterrorgesetze mit der EGMR-Rechtsprechung und mangelnde Verhältnismäßigkeit bei ihrer Anwendung.232 229 S. die Nachweise – insbes. zur Nordzypern-Rechtsprechung – bei Kaboglu/Koutnatzis, Fn. 228, S. 493 f., 498. 230 PACE, Committee on Legal Affairs and Human Rights, Fn. 170, S. 9, Rn. 13.2. Siehe auch die Auszüge der Anhörungen des Ausschusses von 2012 zu den gleichen Themen, Fn. 170. 231 S. im letzten Bericht vom 10.11.2015 – Commission Staff Working Document, Turkey 2015 Report accompanying the Document Communication from the Commission to the European Parliament, the Council, the European Economic and Social Committee and the Committee of the Regions, SWD(2015) 216 final, – Kapitel 2.4, 23, 19. 232 Ebd., 2.4, S. 21 f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 59 9. Literaturhinweise zur Vertiefung Zur Vertiefung bieten sich u. a. folgende Literaturquellen an: 9.1. Allgemein - Anja Seibert-Fohr/Mark E. Villiger (Hrsg.), Judgments of the European Court of Human Rights – effects and implementation, Studies of the Max Planck Institute Luxembourg for International, European and regulatory procedural law, Band 2, Baden-Baden: Nomos (2014), insbesondere: o Almut Wittling-Vogel, The Role of the Legislative Branch in the Implementation of the Judgments of the European Court of Human Rights, S. 59–74. o Jacek Chlebny, How a National Judge Implements Judgments of the Strasbourg Court, S. 237–250. o Andreas Paulus, From Implementation to Transformation: Applying the ECtHR Judgments in the Domestic Legal Orders, S. 267–284. o Linos-Alexander Sicilianos, The Role of the European Court of Human Rights in the Execution of its own Judgments: Reflections on Article 46 ECHR, S. 285–315. - Alec Stone Sweet/Helen Keller, The Reception of the ECHR in National Legal Orders, in: Helen Keller/Alec Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights: The Impact of the ECHR on National Legal Systems, Oxford: Oxford University Press (2008), S. 3–26. - Helen Keller/Alec Stone Sweet, Assessing the Impact of the ECHR on National Legal Systems , in: ebd., S. 677–710. - Dia Anagnostou, Politics, courts and society in the national implementation and practice of European Court of Human Rights case law, in: dies. (Hrsg.), The European Court of Human Rights: Implementing Strasbourg’s Judgments on Domestic Policy, Edinburgh: Edinburgh University Press (2013), S. 211–231. - Janneke Gerards/Joseph Fleuren, Comparative Analysis, in: dies. (Hrsg.), Implementation of the European Convention on Human Rights and of the Judgments of the ECtHR in national case-law: a comparative analysis, Cambridge: Intersentia (2014), S. 333–375. 9.2. Deutschland - Mads Andenas/Eirik Bjorge, National Implementation of ECHR Rights: Kant’s Categorical Imperative and the Convention, University of Oslo Faculty of Law Legal Studies, Research Paper Series No. 2011-15, http://ssrn.com/abstract=1818845. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 60 - Jörg Polakiewicz/Adriana Kessler, Das Streikverbot für deutsche BeamtInnen: die Bedeutung der Rechtsprechung des EGMR für deutsche Gerichte, in: NVwZ, Band 31 (2012), Nr. 14, S. 841– 845. - Kathrin Mellech, Die Rezeption der EMRK sowie der Urteile des EGMR in der französischen und deutschen Rechtsprechung, Tübingen: Mohr Siebeck (2012). - Burkhard Kämper (Hrsg.), Straßburg und das kirchliche Arbeitsrecht: welche Folgen hat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte für das kirchliche Arbeitsrecht in Deutschland?, Berlin: Duncker & Humblot (2013). - Eckart Klein, Germany, in: Janneke Gerards/Joseph Fleuren (Hrsg.), Implementation of the European Convention on Human Rights and of the Judgments of the ECtHR in national case-law: a comparative analysis, Cambridge: Intersentia (2014), S. 185–217. - Angelika Nußberger, Auswirkungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf das deutsche Arbeitsrecht, Referat anlässlich des Europarechtlichen Symposiums des Bundesarbeitsgerichts in Erfurt, 26./27. April 2012, http://www.bundesarbeitsgericht.de/symposion/rev_nussberger.pdf. - dies., Subsidiarity in the Control of Decisions Based on Proportionality: An Analysis of the Basis of the Implementation of ECtHR Judgments into German Law, in: Anja Seibert- Fohr/Mark E. Villiger (Hrsg.), Judgments of the European Court of Human Rights – effects and implementation, Studies of the Max Planck Institute Luxembourg for International, European and regulatory procedural law, Band 2, Baden-Baden: Nomos (2014), S. 165–186. - Thomas Giegerich, The Struggle by the German Courts and Legislature to Transpose the Strasbourg Case Law on Preventive Detention into German Law, in: ebd., S. 207–236. - Thomas Haug, Die Bedeutung der EMRK in Deutschland und ihre Auslegung durch den EGMR, AfP 2016, S. 223–227. - Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste (WD 3), Bedeutung der Europäischen Konvention für Menschenrechte und der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für die deutsche Gesetzgebung, WD 3 – 3000 – 162/16 (Ausarbeitung, 2016). - Elisabeth Lambert Abdelgawad/Anne Weber, The Reception Process in France and Germany , in: Helen Keller/Alec Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights: The Impact of the ECHR on National Legal Systems, Oxford: Oxford University Press (2008), S. 107–164. - Sebastian Müller/Christoph Gusy, The interrelationship between domestic judicial mechanisms and the Strasbourg Court rulings in Germany, in: Dia Anagnostou (Hrsg.), The European Court of Human Rights: Implementing Strasbourg’s Judgments on Domestic Policy, Edinburgh: Edinburgh University Press (2013), S. 27–48. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 61 - Julia Rackow, From Conflict to Cooperation: The Relationship Between Karlsruhe and Strasbourg, in: Katja S. Ziegler/Elizabeth Wicks/Loveday Hodson (Hrsg.), The UK and European Human Rights: A Strained Relationship?, Oxford: Hart Publishing (2015), S. 341–359. - Katharina Pabel, Germany: The Long Way of Integrating the Strasbourg Perspectives into the Protection of Fundamental Rights, in: Patricia Popelier/Sarah Lambrecht/Koen Lemmens (Hrsg.), Criticism of the European Court of Human Rights, Shifting the Convention System: Counter-Dynamics at the National and EU Level, Cambridge: Intersentia (2016), S. 155–175. 9.3. Frankreich - Mads Andenas/Eirik Bjorge, National Implementation of ECHR Rights: Kant’s Categorical Imperative and the Convention, University of Oslo Faculty of Law Legal Studies, Research Paper Series No. 2011-15, http://ssrn.com/abstract=1818845. - Kathrin Mellech, Die Rezeption der EMRK sowie der Urteile des EGMR in der französischen und deutschen Rechtsprechung, Tübingen: Mohr Siebeck (2012). - Michel Fromont, Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention in der französischen Rechtsordnung, DÖV 2005, S. 1–10. - Céline Lageot, France, in: Janneke Gerards/Joseph Fleuren (Hrsg.), Implementation of the European Convention on Human Rights and of the Judgments of the ECtHR in national case-law: a comparative analysis, Cambridge: Intersentia (2014), S. 145–184. - Elisabeth Lambert Abdelgawad/Anne Weber, The Reception Process in France and Germany , in: Helen Keller/Alec Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights: The Impact of the ECHR on National Legal Systems, Oxford: Oxford University Press (2008), S. 107–164. - Constance Grewe, The ECHR in French law: Status, Implementation and Debates, in: Katja S. Ziegler/Elizabeth Wicks/Loveday Hodson (Hrsg.), The UK and European Human Rights: A Strained Relationship?, Oxford: Hart Publishing (2015), S. 341–359. - Katarzyna Blay-Grabarczyk/Christophe Maubernard, France: ‘Je t’aime, moi non plus’, in: Patricia Popelier/Sarah Lambrecht/Koen Lemmens (Hrsg.), Criticism of the European Court of Human Rights, Shifting the Convention System: Counter-Dynamics at the National and EU Level, Cambridge: Intersentia (2016), S. 269–294. 9.4. Vereinigtes Königreich - Mads Andenas/Eirik Bjorge, National Implementation of ECHR Rights: Kant’s Categorical Imperative and the Convention, University of Oslo Faculty of Law Legal Studies, Research Paper Series No. 2011-15, http://ssrn.com/abstract=1818845. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 62 - Merris Amos, The dialogue between United Kingdom Courts and the European Court of Human Rights, in: International and comparative law quarterly, Band 61 (2012), Nr. 3, S. 557–584, http://dx.doi.org/10.1017/S0020589312000206. - Katrin Durst, "Strasbourg has developed mission creep": Wie berechtigt ist die Kritik der britischen Konservativen Partei am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte?, in: Zeitschrift für europarechtliche Studien, Band 18 (2015), Nr. 2, S. 207–226, http://dx.doi.org/10.5771/1435-439X-2015-2-207. - Ed Bates, The Russian Constitutional Court on the ECHR (and UK parallels?), in: ukstrasbourgspotlight , Eintrag vom 22. Juli 2015, https://ukstrasbourgspotlight.wordpress .com/2015/07/22/the-russian-constitutional-court-on-the-echr-and-uk-parallels/. - Ders., The continued failure to implement Hirst v UK, in: ejiltalk, Eintrag vom 15. Dezember 2015, http://www.ejiltalk.org/the-continued-failure-to-implement-hirst-v-uk/. - Katja S. Ziegler/Elizabeth Wicks/Loveday Hodson, Introduction – The UK and European Human Rights: A Strained Relationship?, in: dies. (Hrsg.), The UK and European Human Rights: A Strained Relationship?, Oxford: Hart Publishing (2015); online erhältlich unter University of Leicester School of Law Research Paper Nr. 15-08, https://ssrn.com/abstract =2568704. - Elizabeth Wicks/Katja S. Ziegler/Loveday Hodson, The UK and European Human Rights: Some Reflections, in: Katja S. Ziegler/Elizabeth Wicks/Loveday Hodson (Hrsg.), The UK and European Human Rights: A Strained Relationship?, Oxford: Hart Publishing (2015) ; online erhältlich unter University of Leicester School of Law Research Paper Nr. 15-09, http://ssrn.com/abstract=2568723. - Samantha Besson, The Reception Process in Ireland and the United Kingdom, in: Helen Keller/Alec Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights: The Impact of the ECHR on National Legal Systems, Oxford: Oxford University Press (2008), S. 31–106. - Kimberley Bayson/Gabriel Swain, The European Court of Human Rights and minorities in the United Kingdom: catalyst for change or hollow rhetoric?, in: Dia Anagnostou (Hrsg.), The European Court of Human Rights: Implementing Strasbourg’s Judgments on Domestic Policy, Edinburgh: Edinburgh University Press (2013), S. 188–210. - Roger Masterman, The United Kingdom: From Strasbourg Surrogacy Towards a British Bill of Rights?, in: Patricia Popelier/Sarah Lambrecht/Koen Lemmens (Hrsg.), Criticism of the European Court of Human Rights, Shifting the Convention System: Counter-Dynamics at the National and EU Level, Cambridge: Intersentia (2016), S. 155–175. - Ders., The United Kingdom, in: Janneke Gerards/Joseph Fleuren (Hrsg.), Implementation of the European Convention on Human Rights and of the Judgments of the ECtHR in national case-law: a comparative analysis, Cambridge: Intersentia (2014), S. 297–330. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 63 - Siehe ferner die zahlreichen Aufsätze verschiedener Autorinnen und Autoren in: Katja S. Ziegler/Elizabeth Wicks/Loveday Hodson (Hrsg.), The UK and European Human Rights: A Strained Relationship?, Oxford: Hart Publishing (2015), Teil I und II (S. 21–248). 9.5. Italien - Karin Oellers-Frahm, Das italienische Verfassungsgericht und das Völkerrecht - eine unerfreuliche Beziehung, in: EuGRZ 42 (2015), Heft 1–4, S. 8–16. - Davide Faris/Karin Oellers-Frahm, Zwei weitere völkerrechts"unfreundliche" Entscheidungen des italienischen Verfassungsgerichtshofs aus dem Jahr 2015, in: EuGRZ 43 (2016), Heft 10-12, S. 245–252. - Mercedes Candela Soriano, The Reception Process in Spain and Italy, in: Helen Keller /Alec Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights: The Impact of the ECHR on National Legal Systems, Oxford: Oxford University Press (2008), S. 392–530. - Serena Sileoni, Between political inertia and timid judicial activism: the attemps to overcome the Italian ‘implementation failure’, in: Dia Anagnostou (Hrsg.), The European Court of Human Rights: Implementing Strasbourg’s Judgments on Domestic Policy, Edinburgh: Edinburgh University Press (2013), S. 49–70. - Oreste Pollicino, The European Court of Human Rights and the Italian Constitutional Court: No ‘Groovy Kind of Love’, in: Katja S. Ziegler/Elizabeth Wicks/Loveday Hodson (Hrsg.), The UK and European Human Rights: A Strained Relationship?, Oxford: Hart Publishing (2015), S. 361–377. - Giuseppe Martinico, Italy: Between Constitutional Openness and Resistance, in: Patricia Popelier/Sarah Lambrecht/Koen Lemmens, Criticism of the European Court of Human Rights, Shifting the Convention System: Counter-Dynamics at the National and EU Level (Hrsg.), Cambridge: Intersentia (2016), S. 177–197. 9.6. Russland - Mads Andenas/Eirik Bjorge, National Implementation of ECHR Rights: Kant’s Categorical Imperative and the Convention, University of Oslo Faculty of Law Legal Studies, Research Paper Series No. 2011-15, http://ssrn.com/abstract=1818845. - Lisa McIntosh Sundstrom, Advocacy beyond litigation: Examining Russian NGO efforts on implementation of European Court of Human Rights judgments, in: Communist and Post-Communist Studies 45 (2012), S. 255–268, http://dx.doi.org/10.1016/j.postcomstud .2012.06.003. - Philip Leach/Helen Hardman/Svetlana Stephenson, Can the European Court’s pilot judgment procedure help resolve systemic human rights violations? Burdov and the failure to Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 104/16 Seite 64 implement domestic court decisions in Russia, in: Human Rights Law Review, Band 10 (2) (2010), S. 346–359. - Eleanor Bindman, Russia, Chechnya and Strasbourg: Russian Official and Press Discourse on the ‘Chechen Cases’ at the European Court of Human Rights, in: Europe-Asia Studies (2013), Band 65, Nr. 10, S. 1954–1977, http://dx.doi.org/10.1080/09668136.2013.848640. - Anatoly I. Kovler/Olga Chernishova, The June 2013 Resolution No. 21 of the Russian Supreme Court: a move towards implementation of the judgments of the European Court of Human Rights, in: Human rights law journal (HRLJ), Band 33 (2013), S. 263–266. - Anatoly I. 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Juli 2015, https://ukstrasbourgspotlight.wordpress .com/2015/07/22/the-russian-constitutional-court-on-the-echr-and-uk-parallels/. - Angelika Nußberger, The Reception Process in Russia and Ukraine, in: Helen Keller/Alec Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights: The Impact of the ECHR on National Legal Systems, Oxford: Oxford University Press (2008), S. 603–674. - Olga Chernishova, Russia’s Response to the European Court of Human Rights’ Systematic Findings: Words or Actions?, in: Katja S. Ziegler/Elizabeth Wicks/Loveday Hodson (Hrsg.), The UK and European Human Rights: A Strained Relationship?, Oxford: Hart Publishing (2015), S. 401–414. - Bill Bowring, The Russian Federation and the Strasbourg Court: The Illegitimacy of Sovereignty ?, in: Katja S. 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Koutnatzis, The Reception Process in Greece and Turkey, in: Helen Keller/Alec Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights: The Impact of the ECHR on National Legal Systems, Oxford: Oxford University Press (2008), S. 451–530. - Dilek Kurban/Haldun Gülalp, A complicated affair: Turkey’s Kurds an the European Court of Human Rights, in: Dia Anagnostou (Hrsg.), The European Court of Human Rights: Implementing Strasbourg’s Judgments on Domestic Policy, Edinburgh: Edinburgh University Press (2013), S. 166–187. - Olgun Akbulut, Turkey: The European Convention on Human Rights as a Tool for Modernisation , in: Patricia Popelier/Sarah Lambrecht/Koen Lemmens (Hrsg.), Criticism of the European Court of Human Rights, Shifting the Convention System: Counter-Dynamics at the National and EU Level, Cambridge: Intersentia (2016), S. 413–446. Ende der Bearbeitung