WD 2 - 3000 - 103/17 (13. November 2017) © 2017 Deutscher Bundestag Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Der VN-Sicherheitsrat hat gem. Art. 39 VN-Charta (Kapitel VII) die Kompetenz festzustellen, ob eine Angriffshandlung vorliegt, um dann weitere militärische bzw. nicht-militärische Maßnahmen zu ergreifen. Diese Feststellung enthält primär eine politische, wohl aber auch eine rechtliche Bewertung einer etwaigen Gewaltanwendung durch einen VN-Mitgliedstaat. Der Sicherheitsrat handelt bei seinen Entscheidungen nicht losgelöst von völkerrechtlichen Bindungen, z.B. an die Aggressionsdefinition der VN-Generalversammlung.1 Insoweit stellt sich die Frage, ob und inwieweit auch der Internationale Strafgerichtshof, wenn er denn mit dieser Gewaltanwendung später gerichtlich befasst werden sollte, an eine entsprechende Sicherheitsrats-Resolution, die das Vorliegen einer Aggressionshandlung festgestellt (oder nicht festgestellt hat) hat, gebunden wäre. Eine solche Bindung besteht zumindest gem. Art. 25 der VN-Charta zumindest für alle VN- Mitgliedstaaten. Der Internationale Strafgerichtshof ist zwar selbst kein VN-Organ, wohl aber über einen entsprechenden institutionellen Vertrag, der die Beziehungen zwischen IStGH und VN regelt (sog. „Beziehungsabkommen“, vgl. Art. 2 des Römischen Statuts) mit diesen verbunden .2 Zur Auslegung des Begriffs der "Aggressionshandlung" oder zur Frage einer darauf bezogenen Bindungswirkung von Sicherheitsratsresolutionen gibt der Vertrag indes nichts her. 1 Pichon, J., IStGH und Sicherheitsrat der VN, Heidelberg 2010, S. 151; Talmon, S., The Security Council as World legislator, AJIL 2005, S. 175 (178). 2 Das Abkommen ist verfügbar unter: https://asp.icc-cpi.int/iccdocs/asp_docs/Resolutions/ICC-ASP-ASP3-Res-01- ENG.pdf. Wissenschaftliche Dienste Kurzinformation Zum Verhältnis und zu (politischen) Konflikten zwischen dem VN-Sicherheitsrat und dem Internationalen Strafgerichtshof in Bezug auf das Aggressionsverbrechen Kurzinformation Zum Verhältnis und zu (politischen) Konflikten zwischen dem VN-Sicherheitsrat und dem Internationalen Strafgerichtshof in Bezug auf das Aggressionsverbrechen Fachbereich WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Seite 2 Gem. Art. 103 VN-Charta haben die Verpflichtungen aus der VN-Charta Vorrang vor allen Verpflichtungen aus anderen internationalen Übereinkünften. Vor diesem Hintergrund wird in der völkerrechtlichen Literatur eine grundsätzliche Bindung des IStGH an Resolutionen des Sicherheitsrates im Ergebnis bejaht.3 Bezüglich des Verhältnisses der Rolle des Sicherheitsrats beim crime of aggression hat es während der Beratungen zum Aggressionsverbrechen Divergenzen u.a. zwischen den Sicherheitsratsmitgliedern gegeben, ob ein konstitutives Mitwirken des Sicherheitsrates hinsichtlich der Feststellung einer Aggression erforderlich ist.4 Diese Ansätze haben sich im Ergebnis aber nicht durchsetzen können. Vielmehr verleiht Art. 4 des Römischen Statuts dem IStGH eine hinreichende Unabhängigkeit gegenüber dem Sicherheitsrat. Die Entscheidungsgrundlagen des IStGH, zu denen Resolutionen des Sicherheitsrats nicht gehören, sind in Art. 21 des Römischen Statuts normiert. So wird dann Art. 39 der VN-Charta in der Weise interpretiert, dass eine etwaige Feststellung des Sicherheitsrates über das Vorliegen einer Angriffshandlung rechtlich nur die Wirkung hätte, um den „Mechanismus“ von Kapitel VII der VN-Charta in Gang zu setzen, selbst aber keine Präzedenzwirkung gegenüber anderen internationalen Organisationen wie dem IStGH entfaltet. Letzterer könnte dann unabhängig über die Frage entscheiden, ob sich etwa ein Staatsoberhaupt einer Aggressionshandlung schuldig gemacht hat.5 Beide Organe haben in ihrer Entscheidung eine unterschiedliche Stoßrichtung – der IStGH als Gericht urteilt über die Schuld einen Angeklagten anlässlich eines Aggressionsverbrechens; der Sicherheitsrat soll den Weltfrieden gegenüber einem potentiellen Aggressor-Staat schützen. Eine rechtliche Bindung des IStGH an Feststellungen des VN-Sicherheitsrats hinsichtlich des Vorliegens einer Aggressionshandlung lässt sich im Ergebnis daher nicht annehmen. Umgekehrt stellt sich die Frage, inwieweit ein etwaiges Urteil des IStGH, welches sich mit dem Aggressionsverbrechen auseinandersetzt und dieses rechtlich „ausbuchstabiert“, den Sicherheitsrat für seine künftigen Feststellungen nach Art. 39 VN-Charta binden kann. Dies wird vor dem Hintergrund der ius cogens-Bindung des Sicherheitsrats, zu dem auch der Aggressionstatbestand (in seiner Auslegung durch ein internationales Gericht) gehört,6 so gesehen. 3 Vgl. Pichon, J., IStGH und Sicherheitsrat der VN, Heidelberg 2010, S. 214 ff. m.w.N. in Anm. 726. 4 Dazu Seibert-Fohr, Das Verbrechen der Aggression im Rom-Statut, Zeitschrift für int. Strafrechtsdogmatik 2008, S. 361 ff., http://www.zis-online.com/dat/artikel/2008_8_254.pdf 5 Vgl. näher Glennon, M., The Blank-Prose Crime of Aggression, Yale Journal of International Law 2010, S. 72-114 (105), http://digitalcommons.law.yale.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1380&context=yjil; grundlegend zum Verhältnis der beiden Organe vgl. Pichon, J., IStGH und Sicherheitsrat der VN, Heidelberg 2010, S. 214 ff. 6 Pichon, J., IStGH und Sicherheitsrat der VN, Heidelberg 2010, S. 179. Kurzinformation Zum Verhältnis und zu (politischen) Konflikten zwischen dem VN-Sicherheitsrat und dem Internationalen Strafgerichtshof in Bezug auf das Aggressionsverbrechen Fachbereich WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Seite 3 Insoweit könnte man sich vorstellen, dass der VN-Sicherheitsrat, dem an seiner politischen Einschätzungsprärogative im Rahmen von Art. 39 VN-Charta gelegen ist, nicht an einer rechtlichen „Einengung“ seiner Kompetenzen durch ein Urteil des IStGH zum Aggressionstatbestand „interessiert “ ist. Von daher wird der Sicherheitsrat möglicherweise noch zurückhaltender sein wird, dem IStGH gem. Art. 13 b) des Römischen Statuts Fälle vorzulegen, bei denen es (auch) um den Tatbestand des Angriffskrieges geht. Daraus ergibt sich in gewisser Weise das „Dilemma“, dass der IStGH mit dem Beschluss der Mitgliedstaaten des IStGH-Statuts im Dezember 2017 zwar die Jurisdiktion über den Tatbestand des Aggressionsverbrechens erhalten wird, aber es dabei völlig unklar ist, ob und wann er Gelegenheit erhält, diese anhand eines praktischen Falles auch auszuüben.