10 © 2020 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 102/20 Politische und Zivilgesellschaftliche Akzeptanz von Atomwaffen Deutschland, Belgien, Niederlande, Italien – Sonderfall Frankreich Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 2 Politische und Zivilgesellschaftliche Akzeptanz von Atomwaffen Deutschland, Belgien, Niederlande, Italien – Sonderfall Frankreich Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 102/20 Abschluss der Arbeit: 14. Dezember 2020 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 4 2. Prinzipien der Nuklearen Teilhabe 7 2.1. Organisation 7 2.2. Die deutsche Situation 7 2.3. Fälle von Beendigung der Nuklearen Teilhabe 10 2.3.1. Griechenland 10 2.3.2. Kanada 10 3. Zur politischen Debatte in Deutschland 11 3.1. Bedrohung, Friedensbewegung und Nachrüstung 11 3.2. Von der Realpolitik zum INF-Vertrag 13 3.3. Von anerkannten Prinzipien zu neuen Debatten 14 4. Grundzüge der politischen Debatte in Belgien 16 5. Grundzüge der politischen Debatte in den Niederlanden 17 6. Grundzüge der politischen Debatte in Italien 18 7. Sonderfall Frankreich 20 7.1. Kurze Geschichte der Nuklearfähigkeit Frankreichs 20 7.2. Ein europäischer Atomschirm unter der Ägide Frankreichs 21 7.3. Die politische Atomwaffen-Debatte in Frankreich 26 7.4. Eine (un-)mögliche deutsch-französische Lösung 30 7.4.1. Fähigkeiten 30 7.4.2. Umsetzungsspektrum 31 8. Schlussfolgerungen 31 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 4 1. Einführung Die Einbeziehung einer gemeinsamen nuklearen Fähigkeit (Nukleare Teilhabe)1 in der Verteidigungsstrategie des Westens kann bis auf die Anfänge der am 4. April 1949 von zwölf Staaten2 gegründeten NATO (North Atlantic Treaty Organization)3 4 zurückverfolgt werden. Diese Fähigkeit wurde im ersten strategischen Konzept der Allianz auf Minister-Ebene, dem Strategischen Konzept zur Verteidigung des Nordatlantikraums (DC 6/1)5 vom 1. Dezember 1949 definiert: „Gesamtverteidigungspläne müssen (...) die Fähigkeit gewährleisten, strategische Bombenangriffe unverzüglich und mit, ausnahmslos, allen Arten von Waffen durchzuführen. Dies liegt in erster Linie in US-amerikanischer Verantwortung und wird von anderen Nationen im Rahmen des möglichen unterstützt.“ 6 7 Folglich unterstellten die USA ab Juli 1953 taktische Atomwaffen als Schlüsselelement der Vorwärtsverteidigung der NATO. Die ersten Atomwaffen kamen im September 1954 in Europa (Großbritannien) an.8 Es folgten Verlegungen nach Deutschland zwischen März und Mai 1955, 1 English: Nuclear sharing; Französisch: Partage nucléaire. 2 Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Italien, Island, Kanada, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Portugal und die USA. 3 Organisation des Nordatlantikvertrags. 4 4. April 1949: Gründung der Nato, Bundeszentrale für politische Bildung, 2. April 2012, abgerufen am 9. Dezember 2020 unter https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/126264/4-april-1949-gruendung-dernato -03-04-2012 5 The Strategic Concept for the Defense of the North Atlantic area (DC 6/1), 1. Dezember 1949, 7 S., abgerufen am 9. Dezember 2020 unter https://www.nato.int/docu/stratdoc/eng/a491201a.pdf 6 Originaltext: „Over-all defense plans must (…) [i]nsure the ability to carry out strategic bombing promptly by all means possible with all types of weapons, without exception. This is primarily a U.S. responsibility assisted as practicable by other nations.“ Punkt 7. (a), The Strategic Concept for the Defense of the North Atlantic area (DC 6/1), 1. Dezember 1949, 7 S., abgerufen am 9. Dezember 2020 unter https://www.nato.int/docu/stratdoc /eng/a491201a.pdf 7 Übersetzung des Verfassers. Keine amtliche Übersetzung. 8 The NPT [Non-Proliferation Treaty i.e. Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons] and the origins of NATO’s Nuclear Sharing Arrangements, E.d.V.] and the origins of NATO‘s Nuclear Sharing Arrangements, William Alberque, Proliferation Papers, N°. 57, Institut Français des Relations Internationales, Februar 2017, abgerufen am 9. Dezember 2020 unter https://www.ifri.org/sites/default/files/atoms/files/alberque_npt_origins _nato_nuclear_2017.pdf Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 5 Italien (1957), in die Türkei9 (1959), in die Niederlande (1960), nach Griechenland (1960) und zuletzt nach Belgien (1963). 10 11 Mit dem Inkrafttreten der Pariser Verträge am 5. Mai 195512 erlangte die Bundesrepublik Deutschland ihre Souveränität (mit einigen wenigen Einschränkungen) zurück, wodurch die NATO-Mitgliedschaft schon am 8. Mai 1955 möglich wurde. Im Jahr 1960 befanden sich ca. 3.000 US-amerikanische Atomwaffen in Europa; 1965 waren es 6.00013 und im Jahr 1971, an dem Höhepunkt des Kalten Krieges, verfügte die NATO über etwa 7.300 Atomwaffen in Europa, wovon etwa die Hälfte in West-Deutschland stationiert war.14 9 Aufgrund der zunehmend schwierigen Beziehung zwischen den USA und der Türkei, wird seit 2019 die Frage geprüft, ob die Nukleare Teilhabe der Türkei beschnitten werden sollte. Vgl. z.B. : It’s time to get US nukes out of Turkey, Steven Pifer, The National Interest, 30. Oktober 2019, abgerufen am 9. Dezember 2020 unter https://nationalinterest.org/blog/middle-east-watch/its-time-get-us-nukes-out-turkey-92081 10 The U.S. Nuclear Presence in Western Europe, 1954-1962 Part I, William Burr, 21. Juli 2020, National Security Archive, Briefing Book #714, George Washington University, abgerufen am 9. Dezember 2020 unter https://nsarchive .gwu.edu/briefing-book/nuclear-vault/2020-07-21/us-nuclear-presence-western-europe-1954-1962 und The U.S. Nuclear Presence in Western Europe, 1954-1962 Part II, William Burr, 16. September 2020, National Security Archive, Briefing Book #722, George Washington University, abgerufen am 9. Dezember 2020 unter https://nsarchive.gwu.edu/briefing-book/nuclear-vault/2020-09-16/us-nuclear-presence-western-europe-1954- 1962-part-ii 11 History of the custody and deployment of nuclear weapons July 1945 through September 1977, Appendix-B – Deployments by Country 1951-1977, Office oft he Assistant to the Secretary of Defense (Atomic Energy), February 1978, über George Washington University, abgerufen am 9. Dezember 2020 unter https://nsarchive 2.gwu.edu/news/19991020/appendix-B.pdf 12 „Nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft suchen die Westmächte zusammen mit der Bundesrepublik einen neuen Weg für einen deutschen Beitrag zur Verteidigung der westlichen Welt. Die Londoner Neun-Mächte-Konferenz findet Ende September 1954 eine Lösung: Die Bundesrepublik tritt den Militärallianzen NATO und WEU [Westeuropäische Union, A.d.V.] bei und verzichtet auf die Herstellung atomarer, biologischer und chemischer Waffen. Im Gegenzug erhält sie ihre Souveränität. Diese Regelungen werden in den sogenannten Pariser Verträgen festgeschrieben: Im leicht veränderten Deutschlandvertrag die Aufhebung des Besatzungsstatutes und die Verleihung der Souveränität, in weiteren Verträgen der Beitritt der Bundesrepublik zur WEU und zur NATO. Die Westmächte behalten jedoch ihre Rechte und Verantwortung für Berlin und Deutschland als Ganzes. (...) Am 23. Oktober 1954 wird das Vertragspaket in Paris unterzeichnet. Die Pariser Verträge werden am 27. Februar 1955 durch den Bundestag ratifiziert und treten am 5. Mai 1955 in Kraft. [Die Bundeswehr wird am 12. November 1955 gegründet, A.d.V.]“ Vgl. Souveränität, in: Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Andreas Grau und Markus Würz, abgerufen am 9. Dezember 2020 unter https://www.hdg.de/lemo/kapitel/geteiltes-deutschland-gruenderjahre /weg-nach-westen/souveraenitaet.html 13 Where they where?, Robert S. Norris, William M. Arkin & William Burr, The Bulletin of the Atomic Scientists, November/Dezember 1999, S. 29, abgerufen am 9. Dezember 2020 unter https://journals.sagepub .com/doi/full/10.2968/055006011 14 Where they where?, Robert S. Norris, William M. Arkin & William Burr, The Bulletin of the Atomic Scientists, November/Dezember 1999, S. 29, abgerufen am 9. Dezember 2020 unter https://journals.sagepub .com/doi/full/10.2968/055006011 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 6 Zwischen den 1960er Jahren und dem Anfang der 1970er Jahren wurden ca. 35 bis 40 Prozent der NATO-Atomwaffen im Rahmen der nuklearen Teilhabe den US-Alliierten unterstellt.15 Folgender Artikel der Zeitschrift Der Spiegel aus dem Jahr 1965 beschreibt stellvertretend den damaligen Zeitgeist: „Im Hangar fällt Neonlicht auf den "Starfighter" mit dem Eisernen Kreuz. An seinen Tragflächen kleben – wie Zigarren – vier Zusatztanks. Dazwischen, unter dem Rumpf, eine fünfte Zigarre, schlank, silberglänzend: eine Atombombe, befestigt an zwei Haken. Diese Bombe an der deutschen Maschine gehört zu den 5000 Atomsprengköpfen, die von den USA in Europa für ihre Verbündeten gelagert werden. US-Verteidigungsminister McNamara kündigte letzte Woche an, der Vorrat werde um 20 Prozent auf 6000 aufgestockt. (…) Zwei Jagdbombergeschwader sind als deutsche Verbände dem Nato- Befehlshaber in Europa, General Lemnitzer, für den taktischen Atomeinsatz zur Verfügung gestellt. Sie sind Glieder in der Kette der neun Nato- Staaten, die mit Atomwaffen ausgerüstet sind – die anderen: Großbritannien, Frankreich, Belgien, Kanada, Griechenland, Italien, Holland und die Türkei. Bei beiden deutschen Geschwadern stehen zu jeder Stunde je sechs "Starfighter" vollgetankt und mit vorgewärmter Elektronik zum Schnellstart bereit. Mit der Bombe am Rumpf. Sie können zum Gegenschlag binnen einer Minute in der Luft sein, nachdem die US-Schlüsselbewahrer die Bomben scharf gemacht und das Tor zur Startpiste geöffnet haben. Die 30 Einsatzmaschinen, die zu jedem der beiden deutschen Geschwader gehören, folgen der Alarm-Rotte innerhalb der nächsten 15 Minuten. Auch sie tragen Atombomben zu den Zielpunkten. Die Waffen lagern in Depots. (…)“16 15 Where they where?, Robert S. Norris, William M. Arkin & William Burr, The Bulletin of the Atomic Scientists, November/Dezember 1999, S. 29, abgerufen am 9. Dezember 2020 unter https://journals.sagepub .com/doi/full/10.2968/055006011 16 Luftwaffe – Chauffeure der Bombe, 8. Dezember 1965, Der Spiegel 50/1965, abgerufen am 4. Dezember 2020 unter https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46275306.html Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 7 2. Prinzipien der Nuklearen Teilhabe 2.1. Organisation Zurzeit werden fünf Staaten im Rahmen der Nuklearen Teilhabe eingebunden: Belgien, Deutschland, die Niederlande, Italien und die Türkei. Das Prinzip der Nuklearen Teilhabe erklärte der Friedensforscher Otfried Nassauer im November 2020 in einem Zeitungsartikel, wie folgt: „Die nukleare Teilhabe besteht aus zwei Komponenten, einer technischen und einer politischen. Zur technischen gehört als Kern die Bereitstellung europäischer Trägersysteme und ausgebildeter Bedienungsmannschaften für den Einsatz von US-Atomwaffen im Kriegsfall sowie von Lagermöglichkeiten für US-Atomwaffen. Zur politischen Teilhabe gehört die Mitarbeit in Nato-Gremien, in denen Informationen über nukleare Angelegenheiten ausgetauscht, nukleare Rüstungsplanung betrieben, Rüstungskontrollinteressen abgeglichen und nukleare Einsatzszenarien diskutiert und beschlossen werden.“17 2.2. Die deutsche Situation Die Bundesregierung bekräftigte mit der Grundsatzrede der Bundesministerin der Verteidigung, Annegret Kramp-Karrenbauer, am 17. November 2020 ihr Bekenntnis zur Nuklearen Teilhabe als einer der drei Eckpfeiler deutscher Verteidigungspolitik18 und begründete es, wie folgt: 19 „Ohne die nuklearen und konventionellen Fähigkeiten Amerikas können Deutschland und Europa sich nicht schützen. Das sind die nüchternen Fakten. (…) Nahezu 100 Prozent der Abwehrfähigkeiten gegen ballistische Raketen werden von den USA in die NATO eingebracht. Und natürlich stellen die USA den weit überwiegenden Teil der Fähigkeiten zur nuklearen Abschreckung.“ 17 Wird Europa technisch ausgetrickst? Der letzte* Text des Friedensforschers Otfried Nassauer: Die USA sind dabei, ihre militärischen Verbündeten in Sachen Nuklearstrategie kaltzustellen, Otfried Nassauer, Neues Deutschland, 16. November 2020, abgerufen am 4. Dezember 2020 unter https://www.neues-deutschland.de/artikel /1144425.globale-sicherheitspolitik-wird-europa-technisch-ausgetrickst.html * Otfried Nassauer, der langjährige Leiter des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit, war einer der profiliertesten Deutschlands; Er verstarb überraschend am 1. Oktober 2020 in Berlin. 18 Die anderen beiden Eckpfeiler sind: „1. Fähigkeiten in der Verteidigung ausbauen und dafür die Verteidigungshaushalte (…) zuverlässig stärken“ sowie „3. Beim Thema China dort, wo es mit unseren Interessen vereinbar ist, [ist] eine gemeinsame Agenda Europas mit den USA möglich und gewollt.“ 19 Zweite Grundsatzrede der Verteidigungsministerin, 17. November 2020, Universität der Bundeswehr Hamburg, abgerufen am 7. Dezember 2020 unter https://www.bmvg.de/de/aktuelles/zweite-grundsatzrede-verteidigungsministerin -akk-4482110 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 8 Konkrete Zahlen und Fakten über die tatsächlich bereitgestellten Fähigkeiten im Rahmen der Teilhabe unterliegen der Geheimhaltung. In sicherheitspolitischen Fachkreisen und in der Presse wird darüber spekuliert, dass etwa 15 bis 20 Wasserstoffbomben vom Typ B61(-12)20 sich im Rahmen der Nuklearen Teilhabe auf dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik in Lagern befänden.21 Die heutige Situation – eine faktische Situation der niedrigstmöglichen Abschreckung unter Beibehaltung einer minimalen militärischen Bereitschaft22 – hat kaum etwas mit der Lage der Hochrüstung während des Kalten Krieges gemeinsam. Nicht nur gibt es erhebliche Unterschiede, was die Anzahl der Waffen anbelangt, darüber hinaus kommt eine völlig andere Einsatzdoktrin zur Anwendung: ab 1967 hat die Doktrin der flexiblen Erwiderung (Flexible Response)23 die Doktrin der massiven Vergeltung (Massive Retaliation)24 ersetzt. Auch wenn die Außerkraftsetzung des INF-Vertrages (Washingtoner Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme) von 1987 am 2. August 2019 Grund zur Sorge sein darf,25 hat die NATO der erneuten Stationierung von Atomwaffen in Europa deeskalierend eine Absage erteilt.26 20 Die US-amerikanische Atombombe vom Typ Sandia National Laboratories B61-12 ist die neueste Iteration der B61-Familie. Es handelt sich nicht – wie oft behauptet – um eine neue Bombe sondern lediglich um eine Modernisierung von existierenden Bomben vom Typ B61-3 und B61-4 im Rahmen einer Dienstverlängerungsmaßnahme . Vgl. B61-12 team reaches milestones in nuclear deterrence mission, Michael J. Baker, 25. April 2019, Sandia LabNews, abgerufen am 7. Dezember 2020 unter https://www.sandia.gov/news/publications/labnews /articles/2019/04-26/B61-12.html 21 USA modernisieren Atombomben in Deutschland, Deutsche Welle, Nina Werkhäuser & Naomi Conrad, 26. März 2020, abgerufen am 7. Dezember 2020 unter https://www.dw.com/de/usa-modernisieren-atombomben-indeutschland /a-52856021 22 Vgl.: Military Readiness. 23 Overall Strategic Concept for the Defense of the North Atlantic Treaty Organization Area. NATO Strategy, (MC 14/3), North Atlantic Council, 16. Januar 1968, abgerufen am 7. Dezember 2020 unter https://www.nato.int/docu/stratdoc/eng/a680116a.pdf 24 Overall Strategic Concept for the Defense of the North Atlantic Treaty Organisation (MC 14/2), North Atlantic Council, 23. Mai 1957, abgerufen am 7. Dezember 2020 unter https://www.nato.int/docu/stratdoc /eng/a570523a.pdf 25 Aus für INF-Vertrag, Gefahr für die europäische Sicherheitsarchitektur, Bettina Klein, abgerufen am 10. Dezember 2020 unter https://www.deutschlandfunk.de/aus-fuer-inf-vertrag-gefahr-fuer-die-europaeische .1773.de.html?dram:article_id=455362 26 NATO will keine neuen Atomwaffen in Europa, Deutsche Welle, 1. Februar 2019, abgerufen am 4. Dezember 2020 unter https://www.dw.com/de/nato-will-keine-neuen-atomwaffen-in-europa/a-47331784 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 9 Kritiker der Fortsetzung einer deutschen nuklearen Teilhabe führen vor allem die Argumente ins Feld, dass das jetzige System in verteidigungspolitischer und militärischer Hinsicht nicht mehr zeitgemäß sei und überproportional hohe Kosten verursachen würde.27 Von Friedensaktivisten wurde in den letzten Jahren auch die neueste Fassung der amerikanischen Nukleardoktrin (2018 Nuclear Posture Review)28 heftig kritisiert29, weil dadurch der Einsatz von sogenannten „Mini-Nukes“, also Miniaturatombomben möglich gemacht werde. Doch die neueste 27 Es ist nicht Ziel dieser Arbeit, dieses Feld der aktuellen politischen Debatte wissenschaftlich zu beleuchten. Es wird an dieser Stelle deshalb auf folgende Beiträge verwiesen: 50 Jahre Nuklearwaffen in Deutschland, Otfried Nassauer, Aus Politik und Zeitgeschichte 21/2005, abgerufen am 4. Dezember 2020 unter https://www.bpb.de/apuz/29044/50-jahre-nuklearwaffen-in-deutschland?p=all , Eyes tight shut: European attitudes towards nuclear deterrence, Manuel Lafont Rapnouil, Tara Varma & Nick Witney, 19. Dezember 2018, European Council on Foreign relations, abgerufen am 4. Dezember 2020 unter https://ecfr.eu/special /eyes_tight_shut_european_attitudes_towards_nuclear_deterrence/ , Deutschland und die nukleare Teilhabe - Plädoyer für eine notwendige und ehrliche sicherheitspolitische Debatte, Rolf Mützenich, 15. Mai 2020, Internationale Politik und gesellschaft, abgerufen am 4. Dezember 2020 unter https://www.ipg-journal.de/rubriken /aussen-und-sicherheitspolitik/artikel/deutschland-und-die-nukleare-teilhabe-4342/ , Nukleare Teilhabe: Die fatale Illusion der Sicherheit, Eva Senghass-Knobloch, Blätter für Deutsche und internationale Politik, Juni 2020, abgerufen am 7. Dezember 2020 unter https://www.blaetter.de/ausgabe/2020/juni/nukleare-teilhabe-diefatale -illusion-der-sicherheit , Erweiterte nukleare Abschreckung und Teilhabe: Gemeinsam überwinden, nicht einsam aussteigen, Wolfgang Richter, Kontroversen in Militärethik & Sicherheitspolitik, Ethik und Militär, 2020/1, abgerufen am 7. Dezember 2020 unter http://www.ethikundmilitaer.de/de/themenueberblick/20201- nukleare-abschreckung/richter-erweiterte-nukleare-abschreckung-und-teilhabe-gemeinsam-ueberwinden-nichteinsam -aussteigen/ , Abschreckung und nukleare Teilhabe, Die Bündnissolidarität als Eckpfeiler der Stabilität in Europa darf nicht gefährdet werden, Rainer Glatz, Claudia Major, Wolfgang Richter & Jonas Schneider, SWP- Aktuell 2020/A 48, Stiftung Wissenschaft und Politik, Juni 2020, abgerufen am 7. Dezember 2020 unter https://www.swp-berlin.org/10.18449/2020A48/ , Kernwaffen in Deutschland, Hintergründe zur nuklearen Teilhabe, Moritz Kütt, Studie im Auftrag von Greenpeace, Oktober 2020, Greenpeace, 16 S., abgerufen am 13. Dezember 2020 unter https://www.greenpeace.de/sites/www.greenpeace.de/files/publications /s03061_gp_nukleare_teilhabe_studie_10_2020_fly_05.pdf , Wird Europa technisch ausgetrickst? Der letzte* Text des Friedensforschers Otfried Nassauer: Die USA sind dabei, ihre militärischen Verbündeten in Sachen Nuklearstrategie kaltzustellen, Otfried Nassauer, Neues Deutschland, 16. November 2020, abgerufen am 4. Dezember 2020 unter https://www.neues-deutschland.de/artikel/1144425.globale-sicherheitspolitik-wirdeuropa -technisch-ausgetrickst.html * Otfried Nassauer, der langjährige Leiter des Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit, war einer der profiliertesten Deutschlands; Er verstarb überraschend am 1. Oktober 2020 in Berlin. 28 Nuclear Posture Review 2018, Department of Defense, abgerufen am 14. Dezember 2020 unter https://media.defense .gov/2018/Feb/02/2001872886/-1/-1/1/2018-NUCLEAR-POSTURE-REVIEW-FINAL-REPORT.PDF 29 z.B.: Trump’s More Dangerous Nuclear Posture, Daryl G. Kimbal, Januar/Februar 2018, Arms Control Association, abgerufen am 14. Dezember 2020 unter https://www.armscontrol.org/act/2018-01/focus/trumpsmore -dangerous-nuclear-posture ; "Unberechenbare" Bedrohung – Strategen empfehlen Trump "Mini-Nukes", n-tv, 3. Februar 2018, abgerufen am 14. Dezember 2020 unter https://www.n-tv.de/politik/Strategen-empfehlen- Trump-Mini-Nukes-article20266357.html ; Pentagon: Geforderte Mini-Nukes nicht als Antwort auf einen Cyberangriff, Florian Rötzer, Telepolis, 1. Februar 2018, abgerufen am 14. Dezember 2020 unter https://www.heise.de/tp/features/Pentagon-Geforderte-Mini-Nukes-nicht-als-Antwort-auf-einen-Cyberangriff- 3957699.html Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 10 Fassung unterscheidet sich wenig von ihren Vorgängern und die USA setzen immer noch auf eine „Politik der Ambiguität“ hinsichtlich der Entscheidungsauslöser für einen Kernwaffeneinsatz.30 Im Jahr 2019 sind laut dem Meinungsforschungsinstitut YouGov im Rahmen einer Befragung für die dpa (Deutsche Presse Agentur) 59 Prozent der Deutschen für einen Abzug aller Atomwaffen aus Deutschland, während 18 Prozent der Befragten erklärten, mit einem Verbleib einverstanden zu sein.31 2.3. Fälle von Beendigung der Nuklearen Teilhabe 2.3.1. Griechenland Griechenland bekam die ersten US-amerikanischen Atomwaffen im Jahr 1960. Im Laufe der Jahre setzte Griechenland MIM-14 Nike Hercules Flugabwehrraketen mit nuklearem Gefechtskopf sowie Flugzeuge vom Typ Ling-Temco-Vought A-7E Corsair II zur Verbringung von atomaren Freifallbomben vom Typ B61. Im Herbst 2001 wurden die letzten 20 B61 Atombomben, die auf dem Luftstützpunkt Araxos im Rahmen der nuklearen Teilhabe stationiert waren, abtransportiert. Der Grund für die Entscheidung ist nicht offiziell bekannt gemacht worden. In der Fachliteratur findet sich der Hinweis darauf, dass die NATO 1998 an die griechische Regierung herangetreten war, mit der Bitte, sie möge die hoffnungslos veralteten A-7E Corsair II durch modernere General Dynamics F-16 Fighting Falcon ersetzen. Diese Anfrage beschied die griechische Regierung mit Verweis auf Kostenzwänge allerdings negativ. Der Ausstieg Griechenlands dürfte demnach eher mit ökonomischen Imperativen als mit einer politisch veränderten Weltanschauung zu tun haben.32 2.3.2. Kanada Die Entscheidung Kanadas ab 1963 an der Nuklearen Teilhabe mitzuwirken darf als Reaktion auf die „Kuba-Krise von 1962“ verstanden werden. Das Land verfügte ab 196333 über: 56 Boeing CIM-10 Bomarc Flugabwehrraketen mit nuklearem Gefechtskopf, 16 MGR-1/W31 Honest John 30 Präsident Trumps Kernwaffendoktrin, Benno Zogg, CSS Analysen zur Sicherheitspolitik, Nr. 223, ETH Zürich, März 2018, abgerufen am 14. Dezember 2020 unter https://css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest /gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/CSSAnalyse223-DE.pdf 31 Mehrheit für Abzug aller amerikanischen Atomwaffen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. April 2019, abgerufen am 14. Dezember 2020 unter https://www.faz.net/aktuell/politik/mehrheit-gegen-amerikanischeatomwaffen -in-deutschland-16151743.html 32 U.S. Nuclear Weapons in Europe, A Review of Post-Cold War Policy, Force Levels, and War Planning, Hans M. Kristensen, Natural Resources Defense Council, February 2005, S.55-57, abgerufen am 7. Dezember 2020 unter https://www.nrdc.org/sites/default/files/euro.pdf 33 In 1950 hatte das United States Air Force Strategic Air Command elf Atombomben in der Goose Bay Air Base für wenige Monate stationiert. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 11 Boden-Boden-Raketen mit nuklearen Gefechtskopf und 1.080 ungelenke Luft-Luft-Atomraketen vom Typ Douglas AIR-2/W25 Genie für den Abfangjäger McDonnell CF-101 Voodoo. Dazu kamen 90 bis 210 taktische Atombomben für den Canadair CF-104 Starfighter34, wovon der Großteil vermutlich in Europa beziehungsweise Deutschland stationiert wurde. Es wird geschätzt, dass Kanada zwischen 250 und 450 Atomwaffen am Höhepunkt der Zusammenarbeit mit den USA gehabt haben könnte. Kanada war auch das erste Land der Welt, das entschied keine eigene Atombombe zu bauen, obwohl es nach dem zweiten Weltkrieg über das dazu nötige Wissen beziehungsweise die dazu nötigen Ressourcen verfügte.35 Für die Beendigung der nuklearen Teilhabe im Jahr 1984 war ein langjähriges Engagement beziehungsweise eine friedenspolitische Initiative des damaligen Premiers Pierre Trudeau36 ausschlaggebend. 3. Zur politischen Debatte in Deutschland 3.1. Bedrohung, Friedensbewegung und Nachrüstung Die politische Debatte um die Nukleare Teilhabe und um die Stationierung von Atomwaffen ist in Deutschland nicht neu. Die ersten Ostermärsche der Friedensbewegung fanden vor genau 60 Jahren, am Karfreitag dem 15. April 1960, statt. Mit dem Vietnam-Krieg im Hintergrund erreichte die Bewegung ihren Höhepunkt im Jahr 1968 und konnte etwa 300.000 Demonstranten mobilisieren. Doch sie zersplitterte – nicht zuletzt wegen der ernüchternden bewaffneten Niederschlagung des Prager Frühlings (1968) durch die Sowjetarmee – kurz danach wieder.37 Als Reaktion auf die Aufstellung von sowjetischen SS-2038 Raketen, die das vorherige Gleichgewicht zu verschieben drohten, verkündeten die Westmächte den sogenannten NATO- Doppelbeschluss am 12. Dezember 1979. In diesem forderte die NATO die Aufstellung von 34 Es handelt sich um eine lizenzierte Version der Lockheed F-104 Starfighter, die in den 1960er und 1970er Jahren auch von der Bundeswehr geflogen wurde. 35 Canada's Nuclear Schizophrenia, Duane Bratt, Bulletin of the Atomic Scientists, 1. März 2002, Volume: 58/2, S: 44-50, abgerufen am 7. Dezember 2020 unter https://journals.sagepub.com/doi/pdf/10.2968/058002014 & Canadian nuclear weapons : the untold story of Canada's Cold War arsenal, John Clearwater, Dundurn Press, 1998, Toronto, S. 21-22, abgerufen am 10. Dezember 2020 unter https://archive.org/details/canadiannuclearw 00clea 36 Im Amt von April 1968 bis Juni 1979 und von März 1980 bis Juni 1984. 37 Tage unterwegs: Die ersten Ostermärsche vor 60 Jahren, Hallo Niedersachsen, NDR 1 Niedersachsen, 12. April 2020, 19:30 Uhr, abgerufen am 7. Dezember 2020 unter https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Vor-60- Jahren-Der-erste-Ostermarsch-in-Deutschland,ostermarsch2.html 38 NATO-Bezeichnung: (Surface-to-Surface) SS-20 Saber; Sowjetische Bezeichnung: RSD-10 Pioner. Die SS-20 besaß einen Gefechtskopf mit drei Mehrfach-Wiedereintrittskörpern (Multiple Independently Reentry Vehicle, MIRV) mit je einer Sprengkraft von 150kt TNT Äquivalent. Die Reichweite betrug 5.400km. Die Raketensysteme wurden 1976 in Dienst gestellt und unter dem 1987 geschlossenen INF-Vertrag bis zum Jahr 1989 ausgemustert beziehungsweise bis zum Jahr 1991 zerstört. Somit waren die SS-20 in Reichweite und Sprengkraft den Pershing II deutlich überlegen. Vgl. RSD-10, Wikipedia, abgerufen am 7. Dezember 2020 unter https://de.wikipedia .org/wiki/RSD-10 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 12 ballistischen Nuklearraketen des Typs MGM-31 Pershing II39 und landgestützten Marschflugkörpern vom Typ BGM-109 Gryphon40, vereinbarte aber auch bilaterale Abrüstungsgespräche mit der Sowjetunion über die nuklearen Mittelstrecken-Raketen (INF-Gespräche)41 42. In diesem Kontext erlebte die Friedensbewegung einen neuen Mobilisierungshöhepunkt: Etwa 300.000 Teilnehmer demonstrieren auf der Friedensdemonstration gegen die „Nachrüstung“ im Bonner Hofgarten am 10. Oktober 1981 und circa 400.000 Teilnehmer wurden am 10. Juni 1982 bei einer weiteren Großdemonstration in Bonn gezählt. Am 22. Oktober 1983 demonstrieren bundesweit deutlich über eine Millionen Menschen, wovon ca. 200.000 Teilnehmer eine Menschenkette von Stuttgart nach Neu-Ulm bildeten und etwa 500.000 im Bonner Hofgarten zusammentrafen .43 Nachdem die 1981 begonnen Abrüstungsgespräche erfolglos blieben, beschloss der Deutsche Bundestag am 22. November 1983 die Stationierung der neuen Waffen.44 39 Die MGM-31 Pershing II galt mit einer wahrscheinlichen Zielabweichung von ca. 50 bis 100m als sehr präzise für die damalige Zeit, hatte aber eine Reichweite von lediglich ca. 1.800 km und konnte somit Moskau nicht erreichen. Im Vergleich zu den SS-20 hatten die Pershing II nur einen einzigen Gefechtskopf und seine Sprengkraft betrug lediglich 5 bis 80kt TNT Äquivalent. Vgl. MGM-31 Pershing, Wikipedia, abgerufen am 7. Dezember 2020 unter https://de.wikipedia.org/wiki/MGM-31_Pershing 40 Der Boden-Boden-Marschflugkörper BGM-109G Gryphon GLCM (Ground-Launched Cruise Missile) hatte eine Reichweite von 2.500km und eine selektierbare Sprengleistung. Vgl. BGM-109 Tomahawk, Wikipedia, abgerufen am 8. Dezember 2020 unter https://de.wikipedia.org/wiki/BGM-109_Tomahawk 41 INF steht für Intermediate Nuclear Forces und betrifft Raketen mit einer Reichweite zwischen 1.000 und 5.500km. 42 Vertrag zur Begrenzung von Kurz- und Mittelstreckenraketen (INF), Factsheet, IPPNW, Februar 2019, abgerufen am 8. Dezember 2020 unter https://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Atomwaffen/factsheet_INF_A-Z.pdf 43 Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten 1981, Wikipedia, abgerufen am 7. Dezember 2020 unter https://de.wikipedia.org/wiki/Friedensdemonstration_im_Bonner_Hofgarten_1981 ; Friedensdemonstration in Bonn 1982, Wikipedia, abgerufen am 7. Dezember 2020 unter https://de.wikipedia.org/wiki/Friedensdemonstration _in_Bonn_1982 ; Menschenkette von Stuttgart nach Neu-Ulm, Wikipedia, abgerufen am 7. Dezember 2020 unter https://de.wikipedia.org/wiki/Menschenkette_von_Stuttgart_nach_Neu-Ulm ; Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten 1983, Wikipedia, abgerufen am 7. Dezember 2020 unter https://de.wikipedia.org/wiki/Friedensdemonstration _im_Bonner_Hofgarten_1983 44 Doppelbeschluß der NATO und Stand der Genfer INF-Verhandlungen, Deutscher Bundestag, 36. Sitzung, Plenarprotokoll 10/36, Bonn, Dienstag, den 22. November 1983, abgerufen am 7. Dezember 2020 unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/10/10036.pdf Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 13 3.2. Von der Realpolitik zum INF-Vertrag In seiner vielbeachteten Rede „Politische und wirtschaftliche Aspekte der westlichen Sicherheit“45 in London am 28. Oktober 1977 mahnte Bundeskanzler Helmut Schmidt die Notwendigkeit einer Reaktion des Westens auf die sowjetischen Aufrüstungsbestrebungen. Diese Haltung der „konstruktiven Stärke“ führte zur Wiederaufnahme der INF-Verhandlungen im Jahr 1985 und letztendlich zur Unterschrift des Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte-Vertrages oder INF-Vertrages am 8. Dezember 1987 zwischen Michail Gorbatschow für die Sowjetunion und Ronald Reagan für die USA. Bis Ende Mai 1991 wurden alle Kurz- und Mittelstreckensysteme der USA und der Sowjetunion – unter gegenseitiger Kontrolle – zerstört. Vertragsgemäß verschrotteten die USA46 846 Waffensysteme, während die Sowjetunion47 1.846 Waffensysteme vernichtete.48 Der INF-Vertrag war zwar nur einer von vielen Verträgen49 zur Vermeidung des Atomkrieges, aber sicherlich der erfolgreichste. Eine Erneuerung des Vertrags nach seinem Ablauf am 2. August 2019 konnte bis jetzt jedoch nicht erreicht werden.50 45 Politische und wirtschaftliche Aspekte der westlichen Sicherheit, Vortrag des Bundeskanzlers in London am 28. Oktober 1977, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin Nr.112 / S. 1013,, 8. November 1977, Bonn, über Bundeskanzler Helmut Schmidt Stiftung, abgerufen am 7. Dezember 2020 unter https://www.helmut-schmidt.de/fileadmin/Helmut_Schmidt/Lebenslauf/1977_HS_Rede_im_IISS_London.pdf 46 Die USA zerstörten Raketen vom Typ Pershing Ia und Pershing II sowie Marschflugkörper vom Typ BGM 109 Gryphon. 47 Die Sowjetunion zerstörte Raketen vom Typ SS-4, SS-5, SS-12, SS-20, SS-23 und SS-X-4. 48 Vertrag zur Begrenzung von Kurz- und Mittelstreckenraketen (INF), Factsheet, IPPNW, Februar 2019, abgerufen am 8. Dezember 2020 unter https://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Atomwaffen/factsheet_INF_A-Z.pdf 49 Andere relevante Verträge und Abkommen sind folgende: Atomteststopp-Abkommen (1963), Atomwaffensperrvertrag (1968), Vereinbarung über Atomunfälle (1971), SALT-I (Strategic Arms Limitation Talks) und der ABM- Vertrag (1972), SALT-II (1979), das START I (Strategic Arms Reduction Treaty, 1991), START II (1993)/SORT (2001), New START (2010). Vgl. Atom-Abrüstung per Vertrag - ein Überblick, Charlotte Voß, 24. Oktober 2018, Deutsche Welle, abgerufen am 7. Dezember 2020 unter https://www.dw.com/de/atom-abr%C3%BCstung-pervertrag -ein-%C3%BCberblick/a-46021817 . Weiterhin wird am 22. Januar 2021, also 90 Tage nach der 50. Ratifizierung (von Honduras), der Atomwaffenverbotsvertrag in Kraft treten. Vgl. Der Vertrag zum Verbot von Atomwaffen tritt in Kraft, Xanthe Hall & Leo Hoffmann-Axthelm, ICAN-Hintergrund, Oktober 2020, abgerufen am 10. Dezember 2020 unter https://www.icanw.de/wp-content/uploads/2020/10/20-10-23_AVV_Inkrafttreten .pdf 50 Rüstungskontrolle jenseits des INF‑Vertrags, Ansätze zur Kontrolle von Mittelstreckenraketen nach dem Ende des Abkommens, Oliver Meier, Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Aktuell 2019/A 20, April 2019, 8 S., Abgerufen am 10. Dezember 2020 unter https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell /2019A20_mro.pdf Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 14 Der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow (links) und der US-Präsident Ronald Reagan (rechts) und unterzeichnen den INF-Vertrag im Weißen Haus, 8. Dezember 1987.51 3.3. Von anerkannten Prinzipien zu neuen Debatten Im Laufe der Jahrzehnte hatte sich ein gewisser verteidigungspolitischer und gesellschaftlicher Konsens für den ausgewogenen modus vivendi einer defensiven Nuklearen Teilhabe unter Beachtung des INF-Vertrages etabliert. Dennoch wurde dieser Konsens gelegentlich infrage gestellt . 51 Photograph of President Reagan and General Secretary Gorbachev signing the INF Treaty in the East Room of the White House, White House Photographic Collection, National Archives Catalog, ARC Id. 198588, abgerufen am 9. Dezember 2020 unter https://catalog.archives.gov/id/198588 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 15 Bezugnehmen auf eine Initiative des Außenministers Guido Westerwelle (FDP) und eine Vereinbarung52 im Koalitionsvertrag von 2009 zwischen CDU/CSU und FDP verabschiedeten am 24. März 2010 alle Fraktionen im Bundestag (außer DIE LINKE) den Antrag „Deutschland muss deutliche Zeichen für eine Welt frei von Atomwaffen setzen“.53 Darin begrüßte der Deutsche Bundestag die Absicht der schwarz-gelben Bundesregierung, „im Zuge der Ausarbeitung eines neuen strategischen Konzeptes der NATO sich im Bündnis sowie gegenüber den amerikanischen Verbündeten dafür einzusetzen, dass die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abgezogen werden“. Zwei Jahre nach diesem Vorstoß musste jedoch anlässlich eines NATO-Gipfels festgestellt worden: „Die Überprüfung hat gezeigt, dass die derzeitige Nuklearwaffen-Aufstellung der Allianz den Kriterien einer effektiven Abschreckung und Verteidigung gerecht wird.“54 55 Am 3. Mai 2020 bekam die Debatte jedoch eine neue Dynamik, als der Chef der SPD-Bundestagsfraktion Rolf Mützenich in einem Interview mit dem Tagesspiegel, den Abzug aller US-Atomwaffen aus Deutschland forderte: „Es wird Zeit, dass Deutschland die Stationierung zukünftig ausschließt“.56 57 Wenig später relativierte Mützenich in einem auf Deutsch, Englisch 52 „In diesem Zusammenhang sowie im Zuge der Ausarbeitung eines strategischen Konzeptes der NATO werden wir uns im Bündnis sowie gegenüber den amerikanischen Verbündeten dafür einsetzen, dass die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abgezogen werden.“ in: Wachstum, Bildung, Zusammenhalt, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, 17. Legislaturperiode, Berlin, 26. Oktober 2009, S. 121, abgerufen am 10. Dezember 2020 unter https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=83dbb842-b2f7-bf99-6180- e65b2de7b4d4&groupId=252038 53 Deutschland muss deutliche Zeichen für eine Welt frei von Atomwaffen setzen, Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, 24. März 2010, Drucksache 17/1159, abgerufen am 10. Dezember 2020 unter https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/011/1701159.pdf 54 Nato-Erklärung: US-Atombomben bleiben, Bettina Vestring, 5. September 2012, Berliner Zeitung, abgerufen am 10. Dezember 2020 unter https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/nato-erklaerung-us-atombombenbleiben -li.8064 55 Auf demselben NATO-Gipfel wurde die Modernisierung der PANAVIA Tornado und der B-61 Atombomben beschlossen. 56 SPD fordert Abzug aller US-Atomwaffen aus Deutschland, „Es wird Zeit, dass Deutschland die Stationierung zukünftig ausschließt“, 3. Mai 2020, Tagesspiegel, abgerufen am 10. Dezember 2020 unter https://www.tagesspiegel .de/politik/spd-fordert-abzug-aller-us-atomwaffen-aus-deutschland-es-wird-zeit-dass-deutschland-diestationierung -zukuenftig-ausschliesst/25794070.html 57 Siehe ergänzend dazu: Zu Fragen der Stationierung von taktischen Atomwaffen in Deutschland im Rahmen der nuklearen Teilhabe, Dokumentation, Ergänzungsmaterial zum Sachstand WD2 - 3000 - 035/20, Wissenschaftliche Dienste des Bundestages, WD 2 - 3000 - 041/20, S.7f, 20. Mai 2020, abgerufen am 7. Dezember 2020 unter https://www.bundestag.de/resource/blob/702320/8ca6fb8cdd46ae43ae9fc16f14054e2e/WD-2-041-20-pdfdata .pdf sowie Zu Fragen der Stationierung von taktischen Atomwaffen in Deutschland im Rahmen der nuklearen Teilhabe, Wissenschaftliche Dienste des Bundestages, Sachstand, WD2 - 3000 - 035/20, 29. April 2020, abgerufen am 7. Dezember 2020 unter https://www.bundestag.de/resource /blob/702314/1fb4904aff70ef3a007a78606bb11bf0/WD-2-035-20-pdf-data.pdf Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 16 und Russisch publizierten Beitrag seine Position und betonte, dass er „keinen pazifistischen deutschen Sonderweg“ anstreben würde: 58 „Die SPD bekennt sich weiterhin zur Verankerung im transatlantischen Bündnis und sie ist auch weiterhin für die politische Teilhabe im Rahmen der Nuklearen Planungsgruppe – zusammen mit 25 weiteren nichtnuklearen NATO-Ländern, die teilweise die Stationierung von Atomwaffen in Friedenszeiten auf ihrem Territorium ausgeschlossen haben. Uns ist bewusst, dass die Bundeswehr ein Nachfolgekampfflugzeug für die altersschwachen Tornados braucht. Wir fordern nicht die sofortige Denuklearisierung der NATO. Wir fordern vielmehr vor allem neue Initiativen und Gespräche zur Abrüstung und Rüstungskontrolle“. 4. Grundzüge der politischen Debatte in Belgien Presseberichten zufolge sind ungefähr zehn bis zwanzig nukleare Fallbomben von den Typen B-61-359 und B-61-460 den belgischen Streitkräften im Rahmen der Nuklearen Teilhabe zugewiesen. Diese sind laut diesen Quellen auf dem Flugplatz Kleine Brogel stationiert und sollen bis 2024 auf den neuen Standard B61-12 modernisiert werden. Um diese Fallbomben zu verbringen, werden General Dynamics61 F-16A/B Fighting Falcon eingesetzt.62 Allerdings hat Belgien 2018 entschieden diese durch 34 Lockheed Martin F-35 Lightning II zum Preis von vier Milliarden Euros zu ersetzen.63 Das belgische Parlament lehnte am 16. Januar 2020 einen Antrag ab, der einerseits auf die Entfernung der im Land stationierten US-Atomwaffen abzielte und andererseits den Beitritt zum UN-Vertrag zum Atomwaffenverbotsvertrag forderte: 66 Abgeordnete stimmten für den Antrag, 58 Deutschland und die nukleare Teilhabe - Plädoyer für eine notwendige und ehrliche sicherheitspolitische Debatte, Rolf Mützenich, 15. Mai 2020, Internationale Politik und Gesellschaft, abgerufen am 4. Dezember 2020 unter https://www.ipg-journal.de/rubriken/aussen-und-sicherheitspolitik/artikel/deutschland-und-die-nukleare -teilhabe-4342/ 59 Maximale Sprengkraft von 170 KT (laut Presseberichten). 60 Sprengkraft von 45 KT (laut Presseberichten). 61 General Dynamics wurde 1993 von Lockheed aufgekauft und ging 1995 in Lockheed Martin über. 62 Nuclear Disarmament Belgium, NTI, 2. Januar 2019, abgerufen am 4. Dezember 2020 unter https://www.nti.org/analysis/articles/belgium-nuclear-disarmament/ 63 Belgium picks Lockheed's F-35 over Eurofighter on price, Robin Emmott, 25. Oktober 2018, Reuters, abgerufen am 4. Dezember 2020 unter https://de.reuters.com/article/us-aerospace-belgium/belgium-picks-lockheeds-f-35- over-eurofighter-on-price-idUSKCN1MZ1S0 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 17 74 dagegen.64 Belgien hatte sich 2017 nicht an den Verhandlungen über den Atomwaffenverbotsvertrag bei den Vereinten Nationen in New York beteiligt und daher nicht über dessen Annahme abgestimmt.65 Laut einer Umfrage von November 2020 befürworten 77 Prozent der Belgier den Beitritt des Landes zum Atomwaffenverbotsvertrag und 60 Prozent fordern den Abzug der Nuklearwaffen aus Belgien. Weiterhin lehnen 51 Prozent die Bewaffnung der neuen F-35 mit Nuklearwaffen ab, während 26 Prozent der Befragten dies befürworten.66 5. Grundzüge der politischen Debatte in den Niederlanden Am 10. Juni 2013 bestätigte der ehemalige67 niederländische Premierminister Ruud Lubbers die Stationierung von 22 US-Atombomben im Rahmen der Nuklearen Teilhabe auf dem Luftwaffenstützpunkt Volkel.68 Die Atombomben vom Typ B-61-369 und B-61-470 sollen bis 2024 auf den neuen Standard B61-12 modernisiert werden. Um diese Fallbomben zu verbringen, werden General Dynamics F-16A/B Fighting Falcon eingesetzt.71 64 Belgium debates phase-out of US nuclear weapons on its soil, Alexandra Brzozowski, Euractiv, 17. Januar 2020, abgerufen am 4. Dezember 2020 unter https://www.euractiv.com/section/defence-and-security/news/belgiumdebates -phase-out-of-us-nuclear-weapons-on-its-soil/ 65 How is you country doing – Belgium, International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN), YouGov- Umfrage 23-27. November, 2020, abgerufen am 4. Dezember 2020 unter https://www.icanw.org/belgium 66 77% of Belgians support joining the TPNW – Poll, International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN), YouGov Umfrage 23-27. November, 2020, abgerufen am 4. Dezember 2020 unter https://www.icanw .org/77_of_belgians_support_joining_the_tpnw_poll 67 Im Amt von 1982 bis 1994. 68 US nuclear bombs 'based in Netherlands' – ex-Dutch PM Lubbers, BBC, 10. Juni 1993, abgerufen am 4. Dezember 2020 unter https://www.bbc.com/news/world-europe-22840880 69 Maximale Sprengkraft von 170 KT (laut Presseberichten). 70 Sprengkraft von 45 KT (laut Presseberichten). 71 Nuclear Disarmament Netherlands, NTI, 2. Januar 2019, abgerufen am 4. Dezember 2020 unter https://www.nti.org/analysis/articles/netherlands-nuclear-disarmament/ Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 18 Außenpolitisch führten innerpolitische Spannungen dazu, dass die Niederlande unter dem Druck des niederländischen Parlaments sich gegen die NATO-Position72 stemmten und an den Atomwaffenverbotsvertragsverhandlungen teilnahmen, um dann doch gegen den Vertrag zu stimmen. Eine von YouGov im April 2019 durchgeführte Meinungsumfrage ergab, dass 62 Prozent der Befragten eine Unterzeichnung des Atomwaffenverbotsvertrag wünschten, wobei 18 Prozent dagegen und 19 Prozent unentschlossen waren. 73 Die Niederlande stehen darüber hinaus vermutlich vor weiteren politischen Debatten. Im Jahr 2013 hatte die Regierung entschieden, die General Dynamics F-16-Flotte mit 37 Lockheed Martin F-35 – zum Preis von fünf Milliarden Euro – zu ersetzen (2019 wurde eine weitere Tranche von neun Flugzeugen zum Preis von einer Milliarde Euro bestellt). 74 Allerdings hatte das Parlament in einer Abstimmung75 von 2012 bestimmt, dass die neuen Kampfflugzeuge nicht nuklearfähig sein sollten. Eine Implementierung dieses Beschlusses würde die Fähigkeit der Niederlande an der Teilhabe de facto beschneiden, deshalb positionierte sich die niederländische Regierung schon 2014 für eine nukleare Befähigung der F-35 entgegen der Empfehlung des Parlaments.76 77 6. Grundzüge der politischen Debatte in Italien Italien gehört zu den wenigen Länder, die ein Forschungsprogramm für Atomwaffen unterhalten haben. Dies geschah, als die Regierung sich noch nicht zwischen der transatlantischen und einer national-europäischen Lösung entschieden hatte. Mit dem Zugang zur Nuklearen Teilhabe ab 1958 entschied sich Italien für die transatlantische Lösung, die ab 1962 teilweise mit einer „Doppel-Schlüssel-Lösung“ versehen wurde. Eine eigene Fähigkeit wurde fortan nicht mehr als 72 „For a NATO member, joining the TPNW would pose considerable political problems for its membership of the Alliance, as it would challenge the political obligations of the latter.“ Vgl. NATO and the Frameworks of Nuclear Non-proliferation and Disarmament, Yasmin Afina, 29. Mai 2020, Chatam House, abgerufen am 10. Dezember 2020 unter https://www.chathamhouse.org/2020/05/nato-and-frameworks-nuclear-non-proliferationand -disarmament/5-nato-and-tpnw-legal-issues 73 How is your country doing – Netherlands, International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN), YouGov-Umfrage 23-27. November, 2020, abgerufen am 4. Dezember 2020 unter https://www.icanw.org/netherlands 74 Belgium picks Lockheed's F-35 over Eurofighter on price, Robin Emmott, 25. Oktober 2018, Reuters, abgerufen am 4. Dezember 2020 unter https://de.reuters.com/article/us-aerospace-belgium/belgium-picks-lockheeds-f-35- over-eurofighter-on-price-idUSKCN1MZ1S0 75 Dutch Parliament Says No to the F-35, 10 Juli 2012, Center for Arms Control and Non-Proliferation, abgerufen am 4. Dezember 2020 unter https://armscontrolcenter.org/dutch-parliament-says-no-to-the-f-35/ 76 Dutch Leaders: F-35 Aircraft May Have Nuclear Role, Despite Controversy, 15. Januar 2014, https://www.nti.org/gsn/article/dutch-leaders-possible-nuclear-role/ 77 The Netherlands to acquire nine additional F-35A fighter jets, Clement Charpentreau, 10. Oktober 2019, Aerotime Hub, abgerufen am 4. Dezember 2020 unter https://www.aerotime.aero/24051-the-netherlands-to-acquire -nine-additional-f-35a-fighter-jets Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 19 erstrebenswert erachtet. Das Forschungsprogramm endete mit der Ratifizierung des Atomwaffensperrvertrages am 2. Mai 1975.78 Laut unbestätigten Forschungs- und Presseberichten aus dem Jahr 2019 verfügt Italien im Rahmen der Nuklearen Teilhabe je nach Quellen über 20 bis 3579 nukleare Fallbomben vom Typ B-61 auf dem Militärflugplatz Aviano sowie etwa 20 auf dem Flugplatz Ghedi Torre. Die Atombomben vom Typ B-61-3 und B-61-4 sollen bis 2024 auf den neuen Standard B61-12 modernisiert werden. Um diese Fallbomben zu verbringen, werden General Dynamics F-16A/B Fighting Falcon sowie PANAVIA PA 200 Tornados eingesetzt.80 Diese Flugzeuge werden in den nächsten Jahren durch Lockheed F-35 Lightning II ersetzt. Italien hat insgesamt 90 Flugzeuge dieses Typs bestellt und die ersten schon 2015 in Dienst gestellt.81 82 Italien hat den Atomwaffenverbotsvertrag noch nicht ratifiziert. Im September 2017 verabschiedete das italienische Parlament einen Antrag, in dem die Regierung angewiesen wurde, „die Möglichkeit zu prüfen“, Vertragsstaat zu werden. Dies sollte „in einer Weise“ erfolgen, die „mit den NATO-Verpflichtungen [Italiens] und der Positionierung alliierter Staaten vereinbar ist“.83 Eine von YouGov im Jahr 2019 durchgeführte Meinungsumfrage ergab, dass 70 Prozent der Italienerinnen und Italiener der Meinung sind, dass ihre Regierung den Vertrag unterzeichnen sollte, 16 Prozent sind gegen die Unterzeichnung und 14 Prozent sind unentschlossen.84 78 Siehe zur Geschichte der nuklearen Bewaffnung Italiens: Extended Deterrence and National Ambitions: Italy’s Nuclear Policy, 1955-1962, Leopoldo Nuti, Journal of Strategic Studies, Vol. 39, 2016, S. 559-579 abgerufen am 10. Dezember 2020 unter https://www.tandfonline.com/doi/pdf/10.1080/01402390.2016.1168015?needAccess =true sowie Reluctant disarmer: Italy's ambiguous attitude toward NATO's nuclear weapons policy, Paolo Foradori, European Security, 23:1, 2014, S. 31-44, abgerufen am 10. Dezember 2020 unter https://www.tandfonline .com/doi/pdf/10.1080/09662839.2013.851674?needAccess=true 79 Früher: 45 bis 55. Vgl. Nuclear Disarmament Italy, NTI, 2. Januar 2019, abgerufen am 14. Dezember 2020 unter https://www.nti.org/analysis/articles/italy-nuclear-disarmament/ 80 Nuclear Disarmament Italy, NTI, 2. Januar 2019, abgerufen am 14. Dezember 2020 unter https://www.nti.org/analysis/articles/italy-nuclear-disarmament/ 81 The first Italian F-35 rolls out of the hangar, 16. März 2015, Pressemitteilung, Leonardo, abgerufen am 14. Dezember 2020 unter https://www.leonardocompany.com/en/news-and-stories-detail/-/detail/primo-first-f- 35-cameri 82 Italy's Salvini defends F-35 orders as necessary for country, Steve Scherer & Giuseppe Fonte, Reuters 14. März 2019, abgerufen am 10. Dezember 2020 unter https://www.reuters.com/article/us-italy-defense-f35-id USKCN1QV27K 83 How is you country doing – Italy, International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN), abgerufen am 14. Dezember 2020 unter https://www.icanw.org/italy 84 How is you country doing – Italy, International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN), abgerufen am 14. Dezember 2020 unter https://www.icanw.org/italy Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 20 7. Sonderfall Frankreich 7.1. Kurze Geschichte der Nuklearfähigkeit Frankreichs85 Das militärische Nuklearprogramm Frankreichs wurde 1954 initiiert.86 Am 13. Februar 1960 erfolgte der erste Kernwaffentest mit einer A-Bombe in Algerien. Am 24. August 1968 erfolgte der erste Kernwaffen Test mit einer H-Bombe. Bis 1996 wurden insgesamt 210 Tests durchgeführt. Im Jahr 1964 wurden die „Forces Aériennes Stratégiques (FAS)“ (in etwa: Strategische Luftwaffengeschwader ) ins Leben gerufen. Ein neues Flugzeug, die Dassault Mirage IV, wurde eigens für diesen Auftrag entwickelt und gebaut. Ergänzend wurde eine Tanker-Flotte aus den USA beschafft.87 88 Damit erlangte Frankreich erstmalig die tatsächliche Fähigkeit, Nuklearwaffen zur Wirkung zu bringen. Ab 1971 werden 18 S-2 Boden-Boden Nuklearraketen im Zentralmassiv aufgestellt. Diese ergänzen die nuklearen Fähigkeiten der Luftwaffe, werden aber zwischen 1996 und 1998 wieder außer Dienst gestellt. Im Jahr 1972 wurde die „Force océanique stratégique (FOSt)“ (in etwa: Strategische Seestreitkraft) ins Leben gerufen; die Nuklear-Unterseeboote des Landes sind dieser Strategischen Seestreitkraft unterstellt. Ab 1974 werden die mittlerweile ausgemusterten Flugzeugträger Foch und Clémenceau beziehungsweise deren Flugzeuge im Rahmen der Gründung einer „Force Aéronavale Nucléaire (FANu)“ (in etwa: Nuklearbewaffnetes Marinefliegergeschwader ) für den Transport und den Abwurf von Freifallnuklearbomben des Typs AN-52 befähigt. Von 1974 bis 1992 verfügten die französischen Streitkräfte über 30 taktische Kettenfahrzeugsysteme vom Typ „Pluton“, welche mit insgesamt 120 nuklearwaffenfähigen Kurzstreckenraketen bestückbar waren. Auf dem Höhepunkt seiner Fähigkeit, Anfang der 1990er Jahre, soll Frankreich um die 540 Nuklearwaffen gehabt haben. 85 Siehe dazu: Le choix atomique de la France (1945-1958), Maurice Vaïsse, Vingtième Siècle, Revue d’Histoire / N°. 36, Okt./Dez. 1992, S. 21-30, abgerufen am 10. Dezember 2020 unter https://www.persee.fr/doc AsPDF/xxs_0294-1759_1992_num_36_1_2600.pdf und Genèse de l’armement nucléaire français, Dominique Mongin, Revue Historique des Armées, 2011, S. 9-11, abgerufen am 10. Dezember 2020 unter https://journals.openedition .org/rha/7187 86 Frankreichs Forschungs- Entwicklungsarbeiten wurden maßgeblich von den USA unterstützt. Vgl. U.S. Secretly Helped France Develop Nuclear Weapons, an Expert Writes, Charles Mohr, 28 März 1989, The New York Times, https://www.nytimes.com/1989/05/28/world/us-secretly-helped-france-develop-nuclear-weapons-an-expertwrites .html 87 Dassault Mirage IV, Wikipedia, abgerufen am 14. Dezember 2020 unter https://de.wikipedia .org/wiki/Dassault_Mirage_IV 88 Boeing KC-135, Wikipedia, abgerufen am 14. Dezember 2020 unter https://de.wikipedia.org/wiki/Boeing_KC- 135#C-135F_%E2%80%93_Tanker_f%C3%BCr_Frankreich Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 21 Im Jahr 2020 verfügt Frankreich nach offizieller Bekundung über weniger als 300 Nuklearwaffen (wobei etwa 48 See-Boden-Raketen bis zu zehn nuklearen Gefechtsköpfe haben). 89 90 91 7.2. Ein europäischer Atomschirm unter der Ägide Frankreichs Präsident Charles de Gaulle unterbreitete Bundeskanzler Ludwig Erhard schon in den 1960er Jahren ein Angebot sich an den französischen Nuklearwaffen zu beteiligen92 und Präsident Nicolas Sarkozy bot Bundeskanzlerin Angela Merkel 2007 ebenfalls die Teilhabe an. In beiden Fällen wurde der Vorstoß abschlägig beschieden.93 Auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2019 wurde unter Federführung von Botschafter Wolfgang Ischinger94 erneut ausgelotet, ob ganz Europa unter den französischen Atomschirm schlüpfen könnte.95 In einem viel beachteten Gespräch mit dem Tagesspiegel am 2. Februar 2020 plädierte der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Johann Wadephul, für eine deutsch-französische Vergemeinschaftlichung der nuklearen Abschreckung: 89 Vgl. Force de dissuasion nucléaire française, Wikipedia, abgerufen am 3. Dezember 2020 unter https://fr.wikipedia .org/wiki/Force_de_dissuasion_nucl%C3%A9aire_fran%C3%A7aise 90 Le Charles-de-Gaulle : la voix de la dissuasion depuis la mer, Philippe Wodka-Gallien, Revue Défense Nationale 2015/7 (N° 782), S. 51-55, abgerufen am 5. Dezember 2020 unter https://www.cairn.info/revue-defense-nationale -2015-7-page-51.htm 91 Quelles évolutions pour la dissuasion nucléaire française ?, Nicolas Maldera, Fondation IFRAP, 6. Juli 2016, abgerufen am 3. Dezember 2020 unter https://www.ifrap.org/etat-et-collectivites/quelles-evolutions-pour-ladissuasion -nucleaire-francaise 92 Integration durch eine europäische Atomstreitmacht, Matthias Schulz, Viertelsjahrhefte für Zeitgeschichte, Institut für Zeitgeschichte, 2/2005. https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2005_2_4_schulz.pdf 93 Braucht die EU die Bombe?, Peter Dausend und Michael Thumann, Die Zeit, 16. Februar 2017, abgerufen am 20. Mai 2020 unter https://www.zeit.de/politik/ausland/2017-02/trump-nato-atomwaffen-europa/komplettansicht 94 „Botschafter Wolfgang Ischinger ist seit 2008 Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz. Als ehemaliger Staatssekretär des Auswärtigen Amts und deutscher Botschafter in Washington und London blickt Wolfgang Ischinger auf eine lange diplomatische Karriere zurück“, Vgl. Botschafter Wolfgang Ischinger, Münchner Sicherheitskonferenz, abgerufen am 10. Dezember 2020 unter https://securityconference.org/ueber-uns/vorsitz/ 95 Französische Atomraketen für Europa?, Christian F. Trippe, Deutsche Welle, 16. Februar 2019, abgerufen am 10. Dezember 2020 unter https://www.dw.com/de/franz%C3%B6sische-atomraketen-f%C3%BCr-europa/a- 47547729 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 22 „Deutschland sollte bereit sein, sich mit eigenen Fähigkeiten und Mitteln an dieser nuklearen Abschreckung zu beteiligen. Im Gegenzug sollte Frankreich sie unter ein gemeinsames Kommando der EU oder der NATO stellen“.96 Der wesentliche Unterschied zwischen dem Vorstoß von Wadephul und dem von Ischinger ist, dass Ischinger die Kommandogewalt bei Frankreich belassen würde, während Wadephul anregt die französischen Waffen unter EU- oder NATO-Kommando zu stellen. Wadephuls Vorstoß würde für Frankreich jedoch eine Souveränitätsbeschneidung bedeuten, die mit der aktuellen Doktrin des Landes nicht vereinbar ist. Am 7. Februar 2020, in einer Rede97 an der Pariser École de Guerre98, wiederholte der französische Präsident Emmanuel Macron den defensiven Charakter der Atomwaffen Frankreichs und definierte vier Achsen für den Umgang und den Einsatz der „Force de dissuasion nucléaire française“ (in etwa: „Streitmacht für nukleare Abschreckung“): 1. Europa wird nicht außen vor gelassen, 2. die französische nukleare Abschreckungsfähigkeit wird nicht der NATO unterstellt, 3. eine unilaterale Abrüstung wird vollständig ausgeschlossen, 4. Frankreich behält sich ultima ratio das Recht vor, einen nuklearen (Erst-)schlag als letzte Warnung gegen einen staatlichen Akteur durchzuführen .99 96 Interview mit Unions-Fraktionsvize Johann Wadephul – „Wir sollten uns an nuklearer Abschreckung beteiligen“, Hans Monath, 2. Februar 2020, Tagesspiegel, abgerufen am 10. Dezember 2020 unter https://www.tagesspiegel.de/politik/interview-mit-unions-fraktionsvize-johann-wadephul-wir-sollten-uns-annuklearer -abschreckung-beteiligen/25500266.html 97 Discours du Président Emmanuel Macron sur la stratégie de défense et de dissuasion devant les stagiaires de la 27ème promotion de l'école de guerre, 7. Februar 2020, Pressemitteilung, Palais de l‘Élysée, abgerufen am 10. Dezember 2020 unter https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2020/02/07/discours-du-president-emmanuelmacron -sur-la-strategie-de-defense-et-de-dissuasion-devant-les-stagiaires-de-la-27eme-promotion-de-lecole-deguerre ; Offizielle Übersetzung in English abrufbar unter https://www.elysee.fr/emmanuelmacron /2020/02/07/speech-of-the-president-of-the-republic-on-the-defense-and-deterrence-strategy.en 98 Es handelt sich in etwa um die militärische Führungsakademie Frankreichs. 99 Im Wortlaut: „En cas de méprise sur la détermination de la France à préserver ses intérêts vitaux, un avertissement nucléaire, unique et non renouvelable, pourrait être délivré à un agresseur étatique pour signifier clairement que le conflit vient de changer de nature et rétablir la dissuasion“. Zu Deutsch: „Im Falle eines Missverständnisses der Entschlossenheit Frankreichs, seine vitalen Interessen zu wahren, könnte ein staatlicher Angreifer eine einzigartige und nicht erneuerbare nukleare Warnung erhalten, um deutlich zu machen, dass der Konflikt gerade seine Natur geändert hat, und um die Abschreckung wiederherzustellen“. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 23 Macron bot den anderen Europäern in seiner Rede die „Eröffnung eines strategischen Dialogs über die Rolle der französischen Atomwaffen innerhalb des kollektiven Sicherheitssystems [Europas]“100.101 Frankreich erhofft sich daraus sicherlich auch die Übernahme eines Teils der Gesamtkosten der sogenannten „Force de dissuasion nucléaire“. Diese belaufen sich auf 37,5 Milliarden Euro für den Zeitraum 2018-2035, also in etwa 5,35 Milliarden Euro pro Jahr. Laut einem Bericht des französischen Senats machte die „Force de dissuasion“ für das Jahr 2012 etwa 10 Prozent der Verteidigungsausgaben beziehungsweise ca. 1,2 Prozent der Staatsausgaben aus. Zurzeit des Kalten Krieges betrug der Budgetanteil der „Force de dissuasion“ am gesamten Materialbeschaffungswesen etwa 30 Prozent; seit dem Jahr 1995 sind es nur noch circa 20 Prozent.102 Allerdings ist die Kostenfrage für Frankreich von äußerst wichtiger Bedeutung, denn das Staatsdefizit des Landes hat seit Ende der 1970er Jahren kontinuierlich zugenommen. Dieses betrug etwa 20 Prozent im Jahr 1980 während er im Jahr 2019 fast 100103 Prozent der Wirtschaftsleistung betrug und für die Jahren 2021-2025 auf etwa 120-125 Prozent geschätzt wird.104 Die verschiedenen Auslandsoperationen belasten Frankreich außerdem spürbar: Im Jahr 2019 mussten 1,4 Milliarden Euro dafür budgetiert werden.105 Frankreich verfügt heute nach offiziellen Angaben aus dem Weißbuch „Livre Blanc Défense et Sécurité Nationale 2013“ (Verteidigung und Nationale Sicherheit 2013) über weniger als 300 Nuklearköpfe.106 Darüber hinaus sei die Produktionsfähigkeit von waffenfähigem 100 Übersetzung des Verfassers. Keine amtliche Fassung. 101 Dissuasion nucléaire : Emmanuel Macron tend la main à ses partenaires européens, Actualités, DiCOD, Ministère des Armées, 10. Februar 2020, abgerufen am 3. Dezember 2020 unter https://www.defense.gouv.fr/actualites /articles/dissuasion-nucleaire-emmanuel-macron-tend-la-main-a-ses-partenaires-europeens 102 Projet de loi de finances pour 2005 : Défense - Nucléaire, espace et services communs, (Teil C: Un poids financier qui se réduit dans le budget de la Défense). Avis n° 77 (2004-2005) de M. Xavier Pintat, fait au nom de la commission des affaires étrangères, déposé le 25 novembre 2004, Sénat, abgerufen am 3. Dezember 2020 unter http://www.senat.fr/rap/a04-077-4/a04-077-47.html 103 98,12 Prozent 104 Frankreich: Staatsverschuldung von 1980 bis 2019 und Prognosen bis 2025 in Relation zum Bruttoinlandsprodukt , Statista, mit Daten vom International Monetary Fund, Oktober 2020, abgerufen am 3. Dezember 2020 unter https://de.statista.com/statistik/daten/studie/167258/umfrage/staatsverschuldung-von-frankreich-in-relationzum -bruttoinlandsprodukt-bip/#:~:text=Im%20Jahr%202019%20betr%C3%A4gt%20die,6%20Prozent %20des%20Bruttoinlandsprodukts%20prognostiziert. 105 Armées : Florence Parly défend son budget en hausse et rassure sur le surcoût des opérations extérieures, Public Sénat, Guillaume Jacot, 13. Oktober 2020, abgerufen am 14. Dezember 2020 unter https://www.publicsenat.fr/article/parlementaire/armees-florence-parly-defend-son-budget-en-hausse-et-rassure -sur-le-surcout 106 Livre Blanc Défense et Sécurité Nationale 2013, Ministère de la Défense, Paris, 29. April 2013, S. 76, abgerufen am 3. Dezember 2020 unter https://www.defense.gouv.fr/portail/enjeux2/politique-de-defense/le-livre-blancsur -la-defense-et-la-securite-nationale-2013/livre-blanc-2013 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 24 spaltbarem Material irreversibel eingestellt worden.107 Nach ebenfalls offiziellen Angaben von dem damaligen Staatspräsidenten François Holland108 verfügte Frankreich im Jahr 2015 über 48 U-Bootgestützte ballistische Atomraketen vom Typ M51109 mit einer Reichweite von über 6.000110 Kilometern.111 Diese können auf insgesamt vier nuklearangetriebenen U-Booten112 verteilt werden, wobei jedes U-Boot der Triomphant-Klasse113 mit bis zu 16 Raketen bestückt werden kann. Jede Rakete der aktuellen Version M51.2 – geschätzte Reichweite von über 8.000 Kilometern114 – besitzt 10 Gefechtsköpfe, wobei jeder dieser Köpfe eine Zerstörungskraft von etwa 100 Kilotonnen TNT- Äquivalent oder „siebenmal Hiroshima“ hat. Bei vollständiger Bewaffnung mit 16 Raketen à zehn Gefechtsköpfen ergibt sich eine Zerstörungskraft von „1000-mal Hiroshima pro U-Boot“.115 116 107 Livre Blanc Défense et Sécurité Nationale 2013, Ministère de la Défense, Paris, 29. April 2013, S. 76, abgerufen am 3. Dezember 2020 unter https://www.defense.gouv.fr/portail/enjeux2/politique-de-defense/le-livre-blancsur -la-defense-et-la-securite-nationale-2013/livre-blanc-2013 108 Le président Hollande dévoile les capacités nucléaires françaises, Laurent Lagneau, 19. Februar 2015, OPX360.com, abgerufen am 3. Dezember 2020 unter http://www.opex360.com/2015/02/19/le-president-hollande -devoile-les-capacites-nucleaires-francaises/ 109 Diese Gesamtzahl entspricht drei Sätzen à 16 Stück. Jedes der vier SNLE-NG oder Sous-marin Nucléaire Lanceur d'Engins de Nouvelle Génération (U-Boot mit ballistischen Raketen, Neue Generation) kann mit einem vollen Satz bestückt werden. Aufgrund von regelmäßigen Wartungs- und Ausbildungsmaßnahmen, wird davon ausgegangen, dass eins von vier U-Booten im Rotationsprinzip für Einsätze nicht verfügbar ist. 110 Laut übereinstimmenden Presseberichten könnte die Reichweite bis zu 9.000 Kilometer betragen. 111 Missiles balistiques stratégiques (MSBS), SIRPA Marine, Ministère des Armées, 28. Januar 2020, abgerufen am 3. Dezember 2020 unter https://www.defense.gouv.fr/marine/equipements/missiles/missiles-balistiquesstrategiques -msbs 112 U-Boot mit ballistischen Raketen, englische Bezeichnung: SSBN (Ship Submersible Ballistic Nuclear); französische Bezeichnung SNLE (Sous-marin Nucléaire Lanceur d’Engins). 113 Le Triomphant (Indienststellung: 1997), Le Téméraire (Indienststellung: 1999), Le Vigilant (Indienststellung: 2004), Le Terrible (Indienststellung: 2010). 114 Quelles évolutions pour la dissuasion nucléaire française ?, Nicolas Maldera, Fondation IFRAP, 6. Juli 2016, abgerufen am 3. Dezember 2020 unter https://www.ifrap.org/etat-et-collectivites/quelles-evolutions-pour-ladissuasion -nucleaire-francaise 115 Le SNLE Le Vigilant retrouve L’Île Longue, Vincent Groizeleau, 22. Oktober 2012, Mer et Marine, abgerufen am 5. Dezember 2020 unter https://www.meretmarine.com/fr/content/le-snle-le-vigilant-retrouve-lile-longue 116 In der Fachliteratur werden die Atomwaffen Frankreichs in der Regel als „prästrategisch“ (Französisch: préstratégique) bezeichnet. In der Bewertung des Verfassers sollten zumindest die unterseeboot-gestützten Atomwaffen, besonders in der heutigen Iteration, jedoch als vollwertig strategisch betrachtet werden, denn sie können praktisch jeden Punkt der Welt erreichen und eine Zerstörungskraft entfalten, die weit über die taktische oder operationelle Ebene hinaus geht. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 25 Zu dem maritimen Arsenal kommen 54 Luft-Boden-Raketen vom Typ ASMP-A117 118, die von einem Flugzeug119 aus gestartet werden können. Die ab 2009/2010 in Dienst gestellten ASMP-A- Raketen vom Hersteller MBDA haben eine geschätzte120 Reichweite von ca. 500-600km, eine geschätzte Geschwindigkeit von Mach 3121 und eine geschätzte Sprengkraft von ca. 300 Kilotonnen TNT-Äquivalent (etwa 20-mal die Sprengkraft der Hiroshima-Bombe).122 Letztlich ist zu erwähnen, dass der 2001 in Dienst gestellte nuklearbetriebe Flugzeugträger Charles de Gaulle eine sogenannte Force Aéronavale Nucléaire (FANu) – zu Deutsch etwa: Nuklearbewaffnetes Marinefliegergeschwader123 – mitführt. Dieses Geschwader setzt Dassault Rafale M Jagdflugzeuge im Verbund mit einer unbekannten Anzahl von Luft-Boden-Raketen vom Typ ASMP-A ein.124 Von 1961 bis 1994 galt in Frankreich die Abschreckungsdoktrin „Vom Schwachen zum Starken“125 und war ausschließlich gegen die Sowjetunion gerichtet. Mit dem Weißbuch von 1994 wurde die 117 Air-Sol Moyenne Portée-Amélioré zu Deutsch: Luft-Boden-(Rakete) Mittlere Reichweite-Verbessert. Die Rakete wurde 2009 eingeführt 118 Air-Sol Moyenne Portée (ASMP/ ASMP-A), Missile Threat, CSIS Missile Defense Project, Center for Strategic and International Studies, 119 Die Trägerflugzeuge sind Dassault Rafale B F3 aus den Jagd-Staffeln 2/4 La Fayette und 1/4 Gascogne stationiert auf dem Militärflugplatz (Base Aérienne) BA 113 in Saint Dizier in der Champagne (Etwa 300 Kilometer Luftlinie von Köln entfernt. 120 Die genauen Daten unterliegen der Geheimhaltung. 121 Mach 3.0 entspricht in etwa 1.000 Meter pro Sekunde. 122 Dissuasion nucléaire. La France a testé un missile air-sol de moyenne portée amélioré, Philippe Chapleau, Ouest-France, 5. Februar 2019, abgerufen am 3. Dezember 2020 unter https://www.ouest-france.fr/politique/defense /dissuasion-nucleaire-la-france-teste-un-missile-air-sol-de-moyenne-portee-ameliore-6211070 123 Übersetzung des Verfassers. 124 Le Charles-de-Gaulle : la voix de la dissuasion depuis la mer, Philippe Wodka-Gallien, Revue Défense Nationale 2015/7 (N° 782), S. 51-55, abgerufen am 5. Dezember 2020 unter https://www.cairn.info/revue-defense-nationale -2015-7-page-51.htm 125 In französischer Sprache „Dissuasion du faible au fort“. In einer Präsidial-Direktive vom 16. Dezember 1961 beschrieb der Staatspräsident Charles de Gaulle das Ziel der nuklearen Abschreckung nach diesem Prinzip als die Fähigkeit, mindestens 50 Prozent der wirtschaftlichen Funktion der Sowjetunion zu zerstören. (In einem späteren Kommentar sprach er von der Fähigkeit, 80 Millionen Russen zu töten, eine höhere Anzahl von Menschen als die Bevölkerungsstärke Frankreichs zu dieser Zeit. Das Prinzip der Doktrin bestand darin, dass das stärkste Land (die Sowjetunion) keinerlei Interesse an einer militärischen Auseinandersetzung mit dem kleinen Land (Frankreich) haben kann, wenn die Erreichung seines Zieles (die Zerstörung oder Besetzung des kleinen Landes) die Zerstörung der Hälfte des eigenen Territoriums oder eines Großteils seiner Bevölkerung bedeuten würde. Diese Doktrin blieb bis zum Verteidigungsweissbuch von 1994 (Livre blanc sur la Défense de 1994) weitestgehend unverändert. Vgl. La dissuasion nucléaire française après la Guerre Froide: continuité, ruptures, interrogation, Bruno Tertrais, Analyse et Recherche en Relations Internationales (AFRI), Volume I, 2000, Université Paris II, abgerufen am 10. Dezember 2020 unter https://www.afri-ct.org/article/la-dissuasionnucleaire -francaise/ Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 26 Abschreckungsdoktrin einer Revision unterzogen und orientiert sich fortan am „Schutz der Vitalinteressen Frankreichs“, blieb im Grunde aber dem Prinzip einer Abschreckung „vom Schwachen zum Starken“ treu. Gemäß dem aktuell geltenden Weißbuch Livre Blanc Défense et Sécurité Nationale (Weißbuch Verteidigung und Nationale Sicherheit) aus dem Jahr 2013 bekennt sich Frankreich zur „Aufrechterhaltung der nuklearen Abschreckungsfähigkeit auf einem Niveau strikter Notwendigkeit, das heißt auf einem möglichst niedrigen Niveau im Hinblick auf den strategischen Kontext“126. 7.3. Die politische Atomwaffen-Debatte in Frankreich Insgesamt lässt sich sagen, dass es in Frankreich von Anfang an einen festen und belastbaren politischen Konsens um die „Force de dissuasion nucléaire“127 (in etwa: „Streitmacht für nukleare Abschreckung“) gab. Dieser Konsens spiegelt sich sowohl in dem Grundprinzip des Weißbuchs von 2013 wider: „Frankreichs strategische Autonomie basiert auf der nationalen Beherrschung der für seine Verteidigung und Sicherheit wesentlichen Fähigkeiten“128, als auch im politischen Diskurs. Im Jahr 2015 beteuerte der damalige Staatspräsident François Hollande: „Die nukleare Abschreckung ermöglicht es uns, frei zu leben“ [aber] „Die nukleare Waffe hat keinen Platz in einer offensiven Strategie, sie wird lediglich in einer Logik der Defensive eingeplant“129. In einer weiteren Pressemitteilung des Élysée-Palastes über den Kurzmitteillungsdienst Twitter aus dem 126 Livre Blanc Défense et Sécurité Nationale 2013, Ministère de la Défense, Paris, 29. April 2013, S. 76, abgerufen am 3. Dezember 2020 unter https://www.defense.gouv.fr/portail/enjeux2/politique-de-defense/le-livre-blancsur -la-defense-et-la-securite-nationale-2013/livre-blanc-2013 abrufbar in englischer Sprache unter http://www.livreblancdefenseetsecurite.gouv.fr/pdf/the_white_paper_defence_2013.pdf 127 Offizielle Bezeichnung. In den französischsprachigen und internationalen Medien sehr oft – allerdings inkorrekter Weise – als „Force de Frappe“ (Schlagkraft) bezeichnet. Der Begriff „Force de Frappe“ ist auf die Rede Charles de Gaulle an der École militaire de Saint-Cyr (das französische Pendant zur Offizierschule des Heeres in Dresden) am 3. November 1959 zurückzuführen. Vgl. Discours de Charles de Gaulle devant l'Ecole militaire de Saint-Cyr (3 novembre 1959), Université du Luxembourg, abgerufen am 10. Dezember 2020 unter https://www.cvce.eu/content/publication/1999/1/1/c45374f7-6791-41cb-866f-1e1523201df9/publishable_fr.pdf 128 Original: „L’autonomie stratégique de la France repose sur la maîtrise nationale de capacités essentielles à sa défense et à sa sécurité“ (Übersetzung des Verfassers). Vgl. Livre Blanc Défense et Sécurité Nationale 2013, Ministère de la Défense, Paris, 29. April 2013, S. 20, abgerufen am 3. Dezember 2020 unter https://www.defense .gouv.fr/portail/enjeux2/politique-de-defense/le-livre-blanc-sur-la-defense-et-la-securite-nationale- 2013/livre-blanc-2013 abrufbar in englischer Sprache unter http://www.livreblancdefenseetsecurite .gouv.fr/pdf/the_white_paper_defence_2013.pdf 129 Original: „La dissuasion nucléaire nous permet de vivre libres“ (...) „L’arme nucléaire n’a pas sa place dans une stratégie offensive, elle n’est envisagée que dans une logique défensive“ (Übersetzung des Verfassers). Vgl. Le président Hollande dévoile les capacités nucléaires françaises, Laurent Lagneau, 19. Februar 2015, OPX360.com, abgerufen am 3. Dezember 2020 unter http://www.opex360.com/2015/02/19/le-president-hollande -devoile-les-capacites-nucleaires-francaises/ Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 27 Jahr 2015 betonte Hollande darüber hinaus: „Ich bekräftige feierlich, dass Frankreich keine Atomwaffen gegen Länder einsetzen wird, die solche Waffen nicht haben.“130 Einzige und bemerkenswerte Ausnahme dieses überparteilichen Konsenses war die neue von Staatspräsident Jacques Chirac131 angedeutete Novellierung der Doktrin im Jahr 2006. Während eines Besuches auf dem Marine-Stützpunkt Île Longue bei Brest in der Bretagne, dem Heimathafen der Nuklear-U-Boote Frankreichs, sagte er, dass Frankreich sich den Einsatz von „nicht konventionellen Waffen“ gegen „Staatsoberhäupter, die terroristische Mittel gegen uns einsetzen“ vorbehalten würde.132 Dieser Vorstoß wurde nie umgesetzt, denn sein Nachfolger im Élysée-Palast, Nicolas Sarkozy, signalisierte schon Anfang 2008 in einer verteidigungspolitischen Ansprache die Rückkehr zu der klassischen, ausschließlich defensiven, Abschreckungsdoktrin und stellte fest: „Die Nukleare Abschreckung ist die ultimative [Sicherheits-]Garantie (…) Deshalb ist eine eigene nukleare Abschreckungsfähigkeit wichtig. Diese ist ausschließlich defensiver Natur. Der Einsatz von Atomwaffen wäre offenkundig nur unter extremen Umständen der Selbstverteidigung denkbar, ein Recht, das in der Charta der Vereinten Nationen verankert ist. (…) Jeder, der drohen würde, unsere vitalen Interessen anzugreifen, 130 Original: „Je réaffirme solennellement que la France n’utilsera pas l’arme nucléaire contre des pays qui n’en sont pas dotés“ (Übersetzung des Verfassers). Vgl. Offizielles Twitter-Konto des Élysée-Palastes, Mitteilung vom 19. Februar 2015, Twitter.com, abgerufen am 3. Dezember 2020 unter https://twitter.com/Elysee/status /568433561696497664?ref_src=twsrc%5Etfw%7Ctwcamp%5Etweetembed%7Ctwterm %5E568433561696497664%7Ctwgr%5E%7Ctwcon%5Es1_&ref_url=http%3A%2F%2Fwww.opex360.com %2F2015%2F02%2F19%2Fle-president-hollande-devoile-les-capacites-nucleaires-francaises%2F 131 In Frankreich ist der Präsident der Republik auch „Chef des Armées“, also Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt (IBuK), und kann die Streitkräfte ohne Parlamentsvorbehalt in Bewegung setzen. 132 Chirac se réserve le droit d'une risposte nucléaire, Le Nouvel Observateur, 20. Januar 2006, abgerufen am 3. Dezember 2020 unter https://www.nouvelobs.com/politique/20060119.OBS2800/chirac-se-reserve-le-droit-dune -risposte-nucleaire.html Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 28 würde sich einer heftigen Reaktion Frankreichs aussetzen, die ihm inakzeptablen Schaden zufügen würde, und in keinem Verhältnis zu seinen Zielen stünde“.133 In seiner Rede vom 7. Februar 2020 vor den Offizieren der Pariser École de Guerre wiederholte der französische Präsident Macron zwar die ausschließlich defensive Natur der Atomwaffen Frankreichs, ließ aber unausgesprochen erkennen, dass Frankreich einen nuklearen Erstschlag134 durchführen würde, wenn die Vitalinteressen des Landes bedroht werden würden, womöglich selbst dann, wenn die Bedrohung nicht atomarer Natur wäre: „Im Falle eines Missverständnisses der Entschlossenheit Frankreichs, seine vitalen Interessen zu wahren, könnte ein staatlicher Angreifer eine einzigartige und nicht erneuerbare nukleare Warnung erhalten, um deutlich zu machen, dass der Konflikt gerade seine Natur geändert hat, und um die Abschreckung wiederherzustellen“.135 133 Original: „La dissuasion nucléaire en est la garantie ultime. (…) C'est pour cela que nous tenons à notre dissuasion nucléaire. Elle est strictement défensive. L'emploi de l'arme nucléaire ne serait à l'évidence concevable que dans des circonstances extrêmes de légitime défense, droit consacré par la Charte des Nations Unies (…)Tous ceux qui menaceraient de s'en prendre à nos intérêts vitaux s'exposeraient à une riposte sévère de la France, entraînant des dommages inacceptables pour eux, hors de proportion avec leurs objectifs“ (Übersetzung des Verfassers) in Déclaration de M. Nicolas Sarkozy, Président de la République, sur le Livre blanc sur la défense et la sécurité nationale, la dissuasion nucléaire et sur la non prolifération des armes nucléaires, à Cherbourg le 21 mars 2008, 21 März 2008, Service de Presse de l’Élysée, abgerufen am 5. Dezember 2020 unter https://www.elysee.fr/nicolas-sarkozy/2008/03/21/declaration-de-m-nicolas-sarkozy-president-de-larepublique -sur-le-livre-blanc-sur-la-defense-et-la-securite-nationale-la-dissuasion-nucleaire-et-sur-la-nonproliferation -des-armes-nucleaires-a-cherbourg-le-21-mars-2008 134 Offizielle Atommächte sind nur: China, Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA; Indien, Israel, Nordkorea und Pakistan gelten als faktische Atommächte. Von den insgesamt neun Nuklearmächten (China, Frankreich, Großbritannien, Indien, Israel, Nordkorea, Pakistan, Russland, USA) haben lediglich zwei (China und Indien) verkündet auf einen nuklearen Erstschlag zu verzichten. Vgl. China states 'no first use' nuke policy, 20. Januar 2009, UPI, abgerufen am 11. Dezember 2020 unter https://www.upi.com/Top_News/2009/01/20/China-states-no-first-use-nuke-policy/15471232462751/?ur3=1 sowie Modi says committed to no first use of nuclear weapons, Douglas Busvine, 14. April 2014, Reuters, abgerufen am 11. Dezember 2020 unter https://in.reuters.com/article/uk-india-election-nuclear-id INKBN0D20QB20140416 135 Übersetzung des Verfassers. Keine amtliche Fassung. Original: „En cas de méprise sur la détermination de la France à préserver ses intérêts vitaux, un avertissement nucléaire, unique et non renouvelable, pourrait être délivré à un agresseur étatique pour signifier clairement que le conflit vient de changer de nature et rétablir la dissuasion" in Discours du Président Emmanuel Macron sur la stratégie de défense et de dissuasion devant les stagiaires de la 27ème promotion de l'école de guerre, 7. Februar 2020, Pressemitteilung, Palais de l‘Élysée, abgerufen am 10. Dezember 2020 unter https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2020/02/07/discours-du-president -emmanuel-macron-sur-la-strategie-de-defense-et-de-dissuasion-devant-les-stagiaires-de-la-27eme-promotion -de-lecole-de-guerre ; Offizielle Übersetzung in English abrufbar unter https://www.elysee.fr/emmanuelmacron /2020/02/07/speech-of-the-president-of-the-republic-on-the-defense-and-deterrence-strategy.en Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 29 Mit anderen Worten liegt die Anwendungsdoktrin Emmanuel Macrons zwischen der von Jacques Chiracs und der von François Hollandes – tendenziell jedoch näher an Hollande – und ist nur leicht offensiver gestaltet als die Nicolas Sarkozys. Laut einer unabhängigen Umfrage für den Pressedienst der französischen Armee136 aus dem Jahr 1995 sagten 67 Prozent der Französinnen und Franzosen, dass die Nukleare Abschreckung eine Stärke der französischen Verteidigungspolitik und somit zu befürworten sei. Zeitgleich waren jedoch 59 Prozent gegen die Atomtests die Frankreich in diesem Rahmen ab 1996 führen wollte beziehungsweise geführt hat.137 Laut einer unabhängigen Umfrage für die katholische Tageszeitung La Croix aus dem Jahr 2018 waren 56 Prozent der Befragten gegen eine Modernisierung der Atomwaffen des Landes, während 44 Prozent sich dafür aussprachen. Allerdings ist dieser letzte Wert deutlich höher als im Jahr 2012, als nur 36 Prozent diese Frage bejahen. In der Langzeitachse erodiert zwar die zivilgesellschaftlich (fast) uneingeschränkte Befürwortung für die Nuklearwaffe zugunsten von dringlich nötigen Sozialreformen, bleibt aber insgesamt auf relativ hohem Niveau. Aus der gleichen Umfrage geht auch hervor, dass die französische Bevölkerung den Verteidigungshaushalt konsolidieren möchte: 2010 erklärten 45 Prozent der Befragten, dass die Verteidigungsausgaben gesenkt werden müssten, wenn die öffentlichen Ausgaben gesenkt werden. 2012 bejahten nur noch 37 Prozent der Befragten diese Frage und 2018 lediglich 18 Prozent.138 139 Dennoch sind 67 Prozent der Befragten für eine Ratifizierung des Atomwaffenverbotsvertrages140 (obwohl Frankreich, genauso, wie die anderen Atommächte diesen opponiert). 136 Service de presse des armées (Sirpa). 137 Nucléaire: les Français sont pour la bombe mais contre les essais. Selon un sondage du Sirpa, la dissuasion est jugée nécessaire, Alexandra Schwatzbrod, 19. August 1995, Libération, abgerufen am 11. Dezember 2020 unter https://www.liberation.fr/france-archive/1995/08/19/nucleaire-les-francais-sont-pour-la-bombe-mais-contre-lesessais -selon-un-sondage-du-sirpa-la-dissua_141158 138 Les Français, les dépenses militaires et l’élimination des armes atomiques, Sondage Ifop pour Le Mouvement de la Paix en partenariat avec La Croix et Planète Paix, Jérôme Fourquet, Romain Bendavid & Delphine Poët, IFOP, abgerufen am 14. Dezember 2020 unter https://www.ifop.com/wp-content/uploads/2018/07/115653- R%C3%A9sultats.pdf 139 Grund für diese Priorisierung dürften die Terroranschläge sein, die Frankreich in den letzten Jahren heimgesucht haben (Anschlag vom Bataclan am 13. November 2015 in Paris, Anschlag in Nizza am 14. Juli 2016, usw.) 140 Der Atomsperrvertrag (AVV) oder Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons (TPNW) wird am 22. Januar 2021 in Kraft treten und soll Entwicklung, Produktion, Test, Erwerb, Lagerung, Transport, Stationierung und Einsatz von Kernwaffen verbieten. Vgl. Treaty on the prohibition of nuclear weapons, Office for Disarmament Affairs, United Nation, abgerufen am 5. Dezember 2020 unter https://www.un.org/disarmament/wmd/nuclear /tpnw/ Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 30 7.4. Eine (un-)mögliche deutsch-französische Lösung 7.4.1. Fähigkeiten Trotz Abrüstung nach dem Ende des Kalten Krieges hat die französische „Force de dissuasion nucléaire“ im Weltvergleich an relativer Bedeutung zugenommen, da die Abrüstung der USA und Russlands gegenüber Frankreich überproportional war. Nichts desto trotz bleibt die französische Fähigkeit mit unter zwei Prozent der weltweit verfügbaren Nuklearköpfe eine Nischenfähigkeit im Vergleich zu den beiden großen Akteuren, den USA (6.185 Nuklearköpfe) und Russland (6.500 Nuklearköpfe)141. Schätzungsweise sind etwa 4.000 der weltweiten Atomwaffen sofort einsatzfähig und circa 1.800 sollen in ständiger Höchstalarmbereitschaft sein.142 1966 1976 1986 1991 1996 2006 2016 Nukleare Gefechtsköpfe (FRA) 36 212 355 540 450 350 <300 Nukleare Gefechtsköpfe (Welt) 38.700 48.025 69.368 55.260 37.181 24.892 15.405 Anteil Frankreichs in der Welt 0,1% 0,4% 0,5% 1,0% 1,2% 1,4% 1,9% Quantitative Entwicklung des französischen Atomarsenals 1966-2016143 141 World nuclear forces, SIPRI Yearbook 2019, Shannon N. Kile & Hans M. Kristensen, Stockholm International Peace Research Institut, abgerufen am 5. Dezember 2020 unter https://www.sipri.org/yearbook/2019/06 142 Nuclear weapon modernization continues but the outlook for arms control is bleak, SIPRI (Stockholm Peace Research Institut), 15. Juni 2020, Pressemitteilung, abgerufen am 14. Dezember 2020 unter https://www.sipri.org/media/press-release/2020/nuclear-weapon-modernization-continues-outlook-arms-control -bleak-new-sipri-yearbook-out-now und Warum es immer noch 13.400 Atombomben gibt, Deutschland Funk, 16. Juli 2020, abgerufen am 14. Dezember 2020 unter https://www.deutschlandfunk.de/atomwaffen-warum -es-immer-noch-13-400-atombomben-gibt.2897.de.html?dram:article_id=480337 143 Quelles évolutions pour la dissuasion nucléaire française ?, Nicolas Maldera, Fondation IFRAP, 6. Juli 2016, abgerufen am 3. Dezember 2020 unter https://www.ifrap.org/etat-et-collectivites/quelles-evolutions-pour-ladissuasion -nucleaire-francaise (Mit Daten aus: Global nuclear weapons inventories 1945-2010, Bulletin of the Atomic Scientists, Robert S. Norris & Hans M. Kristensen, Juli-August 2010; Status of Nuclear Forces, Federation of American Scientists, Robert S. Norris & Hans M. Kristensen, 2016). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 31 7.4.2. Umsetzungsspektrum In den letzten Jahren – etwa seit der Krimkrise von 2014 – sind sich Deutschland und Frankreich auf dem verteidigungspolitischen Spielfeld näher gekommen. Diese Annährung schließt auch die Überlegung zu den richtigen Umgang mit Atomwaffen ein. Doch erhebliche Unterschiede bleiben noch bestehen. Die Pariser Denkfabrik Institut français des relations internationales (Ifri) veranschaulicht diese Unterschiede ausführlich in der Studie „The Franco-German Tandem: Bridging the Gap on Nuclear Issues“ aus dem Jahr 2019.144 Vereinfacht kann das Paradigma mit dem Titel eines Artikels aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aus dem 14. Februar 2019 anlässlich der Absage Macrons, die Münchener Sicherheitskonferenz zu besuchen, ausgedrückt werden: „Frankreich will Deutschland keinen nuklearen Schutz garantieren“.145 8. Schlussfolgerungen Die Kritik und die Infragestellung von (Verteidigungs-)Ausgaben gehören zum gesunden Meinungsaustausch im Ringen um den politischen Kurs in einer Demokratie. Tatsächlich ist die zivilgesellschaftliche Stimmung in keinem anderen EU-Land wie in Deutschland so markant gegen Atomwaffen eingestellt. Das ist allerdings nicht besonders überraschend für ein Land, das nach den erlebten Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges vier Jahrzehnte lang als mögliches Schlachtfeld im Kalten Krieg gehandelt wurde. Doch die sicherheitspolitischen Imperative Deutschlands sind kaum mit den Kanadas oder Griechenlands beziehungsweise Belgiens, den Niederlanden oder Italien zu vergleichen. Somit sind die gesellschaftlichen Debatten sowie die sicherheitspolitischen Entscheidungen in diesen Ländern insgesamt nur begrenzt aussagefähig und kaum auf die Bundesrepublik übertragbar. Nüchtern betrachtet, kann man sich in der heutigen Lage – unter anderem aufgrund der allgemeinen und vor allem nuklearen146 Wiedererstarkung Russlands – des Eindruckes nicht erwehren, dass ein unilateraler und kompensationsloser Abschied aus dem Konzept der nuklearen 144 The Franco-German Tandem: Bridging the Gap on Nuclear Issues, Institut français des relations internationales, Emmanuelle Maître, Proliferation Papers N°. 61, Januar 2019, abgerufen am 3. Dezember 2020 unter https://www.ifri.org/sites/default/files/atoms/files/maitre_french_german_tandem_nuclear_issues_2019.pdf 145 Frankreich will Deutschland keinen nuklearen Schutz garantieren, Michaela Wiegel, 14. Februar 2019, abgerufen am 3. Dezember 2020 unter https://www.faz.net/aktuell/politik/sicherheitskonferenz/frankreich-willdeutschland -keinen-nuklearen-schutz-garantieren-16039605.html 146 Die neueste Abschreckungs-Doktrin Russlands von Juni 2020 bleibt defensiv, sieht aber eine Reihe neuer Bedingungen vor, unter denen ein Atomschlag möglich ist. Vgl. Putin stellt neue Atomwaffen vor, Der Spiegel, 1. März 2018, abgerufen am 14. Dezember 2020 unter https://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-wladimirputin -stellt-neue-atomwaffen-vor-a-1195988.html , Putin setzt Atomwaffen-Pakt aus – Putin setzt Atomwaffen- Pakt aus, 3. Juli 2019, Heute, ZDF, abgerufen am 14. Dezember 2020 unter https://www.zdf.de/nachrichten /heute/inf-vertrag-mit-den-usa-putin-setzt-atomwaffen-pakt-aus-100.html und Russland hat neue Bedingungen für den Einsatz von Atomwaffen genannt, Nikolaj Litowkin, 24. Juli 2020, Russia Beyond, abgerufen am 14. Dezember 2020 unter https://de.rbth.com/wissen-und-technik/83789-russland-neue-bedingungen-einsatzvon -atomwaffen Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 102/20 Seite 32 Teilhabe zu einer letztendlich unerwünschten Fähigkeits- und Partnerschaftslücke führen würde, die zurzeit weder (friedens-)diplomatisch, noch konventionell militärisch zu kompensieren und somit kontraproduktiv wäre. Eine rein europäische Lösung unter Einbeziehung – und Weiterentwicklung – der Fähigkeiten Frankreichs böte zwar sinnstiftende Auswege aus dem Dilemma der Abhängigkeit von einem Drittland, ist aber aufgrund einer nicht vorhandenen gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union bisweilen keine realistische Option, zumal Frankreich in der aktuellen Situation keine veritable Vergemeinschaftlichung seiner Fähigkeiten anstrebt (beziehungsweise laut eigener Doktrin147 anstreben kann). Selbst eine (erweiterungsfähige) kerneuropäische Lösung mit Deutschland und Frankreich als Startpartner, würde zum jetzigen Zeitpunkt offenkundig sowohl an den unterschiedlichen politischen und parlamentarischen Entscheidungswegen als auch an den unterschiedlichen realpolitischen Interessen sowie an den (noch) kaum überwindbaren verteidigungspolitischen und doktrinalen Unterschieden beider Kernstaaten scheitern.148 149 *** 147 Als unüberwindbar und unverhandelbar gilt unter anderem, dass das Grundgesetz eine Parlamentsbeteiligung im Falle des Einsatzes von militärischer Gewalt als zwingend notwendig vorschreibt, während in Frankreich nach den Maßgaben der Verfassung der V. Republik, die Verantwortung dafür ausschließlich beim Staatschef liegt. 148 Es ist hier nicht Aufgabe der Arbeit das Für und Wider der Nuklearen Teilhabe wissenschaftlich zu beleuchten. Es wird lediglich festgestellt, dass die ins Gespräch gebrachten Ansätze (unilateraler Abschied aus der Nuklearen Teilhabe seitens Deutschlands bzw. Europäische Lösung unter der Ägide Frankreichs) sich nach verteidigungspolitischen und wissenschaftlichen Maßstäben zurzeit augenscheinlich nicht ohne erhebliche Nachteile sicherheitsrelevanter Natur für die Bundesrepublik realisieren lassen können. 149 Siehe dazu: The European Equation of Nuclear Deterrence – Variables and Possible Solutions, Quentin Lopinot, Éditoriaux de l’Ifri, Institut français des relations internationales, 6. Juli 2020, abgerufen am 3. Dezember 2020 unter https://www.ifri.org/sites/default/files/atoms/files/lopinot_european_nuclear_deterrence_2020.pdf