© 2021 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 101/20 Aktuelle Außenpolitik der Türkei Einflussnahmen in verschiedenen Regionen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 101/20 Seite 2 Aktuelle Außenpolitik der Türkei Einflussnahmen in verschiedenen Regionen Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 101/20 Abschluss der Arbeit: 4. Januar 2021 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 101/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung und Übersicht 4 2. Energiesektor als Einflussfaktor der Türkei auf bedeutsame Regionen und Staaten 6 3. Beziehungen der Türkei zu relevanten Regionen/Staaten mit erheblichen Möglichkeiten zur Einflussnahme 7 3.1. Europa 7 3.2. Naher und Mittlerer Osten 11 3.3. Afrika 14 3.4. Kaukasus und Zentralasien 17 3.5. Balkan 19 3.6. Vereinigte Staaten von Amerika 19 4. Zusammenfassung 21 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 101/20 Seite 4 1. Einleitung und Übersicht Für die weitere Darstellung erscheint ein kurzer Rekurs auf frühe Orientierungspunkte und aktuelle Grundlinien türkischer Außenpolitik sinnvoll.1 Von einer ursprünglich neutralen, pro westlich und status-quo-orientierten Außenpolitik ("Frieden zuhause, Frieden in der Welt") der Türkei ausgehend, ist seit Regierungsübernahme durch die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) 2002 eine Neujustierung des außenpolitischen Fokus feststellbar. Die Türkei ist seitdem bestrebt, ihren Einfluss in der Großregion, vor allem im Nahen und Mittleren Osten, im Mittelmeer, Kaukasus und Balkan, aber darüber hinaus auch in Afrika, zu stärken. Hierbei spielen vor allem strategische Erwägungen eine vorrangige Rolle. Die sukzessive Verschiebung der Prioritäten in den türkischen Außenbeziehungen geht einher mit einem abnehmenden Interesse an einer Mitgliedschaft in der EU oder einer Intensivierung des Engagements in der NATO. Die Türkei liegt geostrategisch an der Nahtstelle zwischen westlicher und islamischer Welt, was ihr eine besondere machtpolitische Position, aber auch eine Vermittlermöglichkeit einräumt. Sie verfolgt aktuell eher eine "Schaukelpolitik" zwischen dem Westen/NATO und Russland, um sich von der jeweiligen Seite Vorteile zu sichern. Dies spiegelt eine wenig konsistente Wertebindung der Türkei wider. Für den Westen, insbesondere die EU-Staaten, könnte eine konfrontative Position gegenüber der Türkei zur Folge haben, dass diese ihre "Erpressungskapazität" einsetzt, um das (latente) Migrationsproblem durch "Öffnung des Tors nach Westen" für Flüchtlinge wieder aufleben zu lassen. Mittels ihrer islamistischen Verbindungen, ihrer militärischen und handelspolitischen Zusammenarbeit , mit vor allem arabischen und afrikanischen Staaten, strebt die Türkei eine Vormachtstellung in der Großregion an. Mit dieser Neuausrichtung geht der Trend zur stärkeren Distanzierung , nicht Loslösung, von der westlichen Staatengemeinschaft einher. Ausdruck dessen ist z. B. die in der türkischen Öffentlichkeit aktuell feststellbare Perzeption, die USA eher als Sicherheitsrisiko denn als Sicherheitspartner wahrzunehmen. 1 Dazu Henrich, Christian Johannes, Die türkische Außenpolitik, in: Bundeszentrale für politische Bildung, Dossier : Türkei vom 11. Juni 2015, https://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/208099/aussenpolitik, S. 1f., 4 (Eingesehen am 27. November 2020); Steinbach, Udo, Artikel "Die Türkei und der Westen", vom 18. Mai 2018, https://www.udosteinbach.eu/veroeffentlichungen/texte/9-texte-von-udo-steinbach/71-die-tuerkei-und-der-westen -kuenftig-eine-prekaere-partnerschaft-mai-2018, S. 1; Henrich, Christian Johannes, "Neue außenpolitische Herausforderungen und die Rolle der Neuen Türkei, S. 225-241, in: Yoldas, Yunus/Gümüs, Burak/Gieler, Wolfgang (Hrsg.), Die Neue Türkei. Eine grundlegende Einführung in die Innen- und Außenpolitik unter Recep Tayyip Erdogan, Frankfurt/Main 2015, hier S. 230ff., 233ff; Adar, Sinem and Toygür, Ilke, „Turkey, the EU and the Eastern Mediterranean Crisis, SWP-Comment, No 62, December 2020, https://www.swp-berlin.org/fileadmin /contents/products/comments/2020C62_EasternMediterraneanCrisis.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 101/20 Seite 5 Die Türkei versteht sich als Schutzmacht der türkischen Minderheiten auf dem Balkan und der Turkmenen im Irak. Sie lehnt die Gründung eines eigenständigen kurdischen Staates ab, um die Unabhängigkeitsbestrebungen der türkischen Kurden zu unterbinden. Die Kurdenfrage stellt das vorrangige innenund außenpolitische Sicherheitsproblem für die Türkei dar. Im Energiebereich verfügt die Türkei über zahlreiche nicht-energetische Rohstoffe, hat allerdings selbst keine nennenswerten eigenen Erdöl- und Erdgasvorkommen. Laut Prognosen des staatlichen türkischen Energieunternehmens TRAPO wird die Energieabhängigkeit weiter zunehmen. Um die wachsende Energielücke zu schließen, soll künftig auch verstärkt auf Nuklearenergie gesetzt werden.2 In Deutschland leben etwa drei Mio. Menschen mit türkischem Migrationshintergrund und hiervon etwa 1,5 Mio. mit deutscher Staatsangehörigkeit. Hierdurch ergeben sich für türkische Interessen Einwirkungsmöglichkeiten auf die deutsch-türkische Gemeinschaft durch türkische Medien , transnationale (Migrations-) Organisationen, durch hochrangige Besuche türkischer Politiker , insbesondere in Vorwahlkampfphasen der Türkei, sowie durch in der Türkei ausgebildete Imame in den Moscheen.3 2 Seufert, Günter, Türkei, in: Hilpert, Hans Günther/Mildner,Stormy-Annika (Hrsg.), Nationale Alleingänge oder internationale Kooperation?, S. 158-163, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien /2013_S01 hlp_mdn.pdf, hier S. 158ff. (Eingesehen am 27. November 2020); Özalp, Mustafa/Sahingöz, Hasan , Die geostrategische Bedeutung der Türkei für die Zukunft der Nachbarstaaten, S. 4-33, in: Yildiz, Mustafa /Özalp, Mustafa (Hrsg.)., Die Türkei im Dschungel der internationalen Beziehungen, Baden-Baden 2019, Pro- Quest Ebook Central, https://ebookcentral-proquest-com.access.authkb.kb.nl/lib/kb/detail.action ?docID=5830503, hier S. 27, 30 (Eingesehen am 27. November 2020); Özalp, Mustafa, Die Pipeline-Politik der Türkei auf dem Weg zur Regionalmacht, S. 137-157, in: Yildiz, Mustafa/Özalp, Mustafa (Hrsg.), Die Türkei im Dschungel der internationalen Beziehungen, Baden-Baden 2019, ProQuest Ebook Central, https://ebookcentral -proquest-com.access.authkb.kb.nl/lib/kb/detail.action?docID=5830503, hier S. 146ff., 150ff., 153ff., die Türkei deckte etwa 88 Prozent ihres Energiebedarfs aus fossilen Energieträgern, davon entfielen auf Erdgas 31 Prozent , auf Erdöl 30 Prozent und auf Kohle 27 Prozent. Der Anteil erneuerbarer Energien betrug etwa 12 Prozent. 2016 importierte die Türkei über 90 Prozent ihres Erdölverbrauchs, davon 22 Prozent aus dem Irak, 19 Prozent aus Russland, 18 Prozent aus dem Iran, 10 Prozent aus Indien, 6 Prozent aus Kuwait und 6 Prozent aus Saudi- Arabien, 4 Prozent aus Israel und 14 Prozent aus anderen Staaten. Beim Erdgas importierte die Türkei mehr als die Hälfte (53 Prozent) aus Russland, 17 Prozent aus dem Iran, 14 Prozent aus Aserbaidschan, 9 Prozent aus Algerien , 3 Prozent aus Nigeria, 2 Prozent aus Katar und 2 Prozent aus anderen Staaten (Eingesehen am 27. November 2020). 3 Aydin, Yasar, "AKP als neuer Akteur in der türkeistämmigen transnationalen Diaspora in Deutschland: Spielräume und Grenzen ihrer Mobilitätsmöglichkeiten“, S. 379-392, in: Yoldas, Yunus/Gümüs, Burak/Gieler, Wolfgang (Hrsg.), Die Neue Türkei. Eine grundlegende Einführung in die Innen- und Außenpolitik unter Recep Tayyip Erdogan, Frankfurt/Main 2015, hier S. 380f.; Siehe dazu auch Artikel von Poser, Alan "Wir brauchen eine deutsche Imam-Ausbildung", Die Welt vom 30. Oktober 2020, https://www.welt.de/debatte/kommentare /article218827230/Islam-Wir-brauchen-eine-deutsche-Imam-Ausbildung.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 101/20 Seite 6 2. Energiesektor als Einflussfaktor der Türkei auf bedeutsame Regionen und Staaten Die Türkei verfügt zwar kaum über eigene Erdöl- und Erdgasvorkommen, jedoch werden Pipelines durch das gesamte Land geführt; insoweit spielt die Türkei als Transitland energiepolitisch eine wichtige Rolle, nicht zuletzt auch für die EU. Hierdurch gewinnt sie als Energiebrücke an strategischer Bedeutung zwischen Ost und West. Die Türkei ist bestrebt, zu einer Drehscheibe des Energiehandels zwischen den europäischen Absatzmärkten und den energiereichen Ländern des Nahen Ostens und des Kaspischen Beckens zu werden. Dies eröffnet auch die Möglichkeit , in gestalterischer Form auf den zentralasiatischen Raum einzuwirken. Bisher hat die Türkei viele Projekte, wie die Baku-Tiflis-Ceyhan-Ölpipeline (2006) und die Baku-Tiflis-Erzurum-Gas- Pipeline (2007), realisiert. Es gibt aber noch etliche Pipeline-Projekte, wie TANAP (Trans-Anatolien -Gaspipeline) und Turk Stream, die die Energiereserven aus Zentralasien, aus dem Kaspischen Becken und auch aus Russland über die Türkei nach Europa transportieren können. Durch die über ihr Territorium laufenden Energietransportlinien versucht die Türkei, ihren wirtschaftlichen und politischen Einfluss in den Energie-Herkunftsregionen sowie in Europa zu sichern. Hinzu kommt, dass sich aufgrund des Wirtschaftswachstums der Türkei ihr Energieverbrauch in den letzten fünfzehn Jahren nahezu verdoppelt hat. Über 99 Prozent des türkischen Gasbedarfs und über 92 Prozent des Erdölbedarfs werden jährlich durch Importe abgedeckt. Daher hat das Land jährlich einen hohen Devisenbedarf für die Zahlung der Energieimporte, abhängig von den schwankenden Energiepreisen.4 4 Özalp, Mustafa/Sahingöz, Hasan, Die geostrategische Bedeutung der Türkei für die Zukunft der Nachbarstaaten, S. 4-33, in: Yildiz, Mustafa/Özalp, Mustafa (Hrsg.), Die Türkei im Dschungel der internationalen Beziehungen, Baden-Baden 2019, ProQuest Ebook Central, https://ebookcentral-proquest-com.access.authkb.kb.nl/lib/kb/detail .action?docID=5830503, hier S. 27, 30 (Eingesehen am 2. November 2020); Özalp, Mustafa, Die Pipeline-Politik der Türkei auf dem Weg zur Regionalmacht, S. 137-157, in: Yildiz, Mustafa/Özalp, Mustafa (Hrsg.)., Die Türkei im Dschungel der internationalen Beziehungen, Baden-Baden 2019. ProQuest Ebook Central, https://ebookcentral -proquest-com.access.authkb.kb.nl/lib/kb/detail.action?docID=5830503, hier S. 144f., 150ff. (Eingesehen am 27. November 2020). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 101/20 Seite 7 3. Beziehungen der Türkei zu relevanten Regionen/Staaten mit erheblichen Möglichkeiten zur Einflussnahme 3.1. Europa5 Die Beziehungen zu Europa sind aktuell vor allem gekennzeichnet durch den quasi Stillstand der Beitrittsverhandlungen mit der EU. Im neuesten Fortschrittsbericht vom Oktober 2020 hat die EU-Kommission bezüglich der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei hervorgehoben, dass die Türkei „im Berichtszeitraum keine Fortschritte bei der Korruptionsbekämpfung“ gemacht habe, immer noch keine effektive Gewaltenteilung im Land zu verzeichnen sei und „weiterhin ernsthafte Bedenken über die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft bestehen“. Und ferner: „Die Türkei bewegt sich nach wie vor immer weiter weg von der Europäischen Union und verzeichnet ernsthafte Rückschritte mit Blick auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und Unabhängigkeit der Justiz. Die anhaltenden Verhaftungen von Oppositionsführern, Menschenrechtsaktivisten, Journalisten , Mitgliedern der Zivilgesellschaft und Akademikern im Rahmen der umfassenden Anti- Terror-Gesetzgebung sind zutiefst besorgniserregend“ 6 Das zwischen der EU und der Türkei am 18. März 2016 vereinbarte Flüchtlingsabkommen ist fragil . In der Türkei leben ca. 3,6 Mio. syrische Flüchtlinge. Seit 2016 sind die Grenzen geschlossen, wie es im Flüchtlingsabkommen beschlossen wurde. Am 27. Februar 2020 hatte die türkische Regierung angekündigt, Asylsuchende und Migranten könnten die Türkei verlassen, um die Europäische Union zu erreichen. Grund für diesen Schritt sei, so die Türkei, die zu erwartende Ankunft vieler Flüchtlinge aus der syrischen Stadt Idlib, wo knapp eine Mio. Menschen vertrieben wurde. Im März 2020 veranlasste die türkische Regierung das Verbringen von zehntausenden von Flüchtlingen an die türkisch-griechische Grenze mit dem Ziel, diese Richtung Europa abziehen zu lassen. Die Flüchtlinge steckten indes alsbald fest, da auf griechischer Seite die Grenze weiterhin geschlossen war. Griechische Grenzsicherungskräfte verhinderten einen Übertritt der Flüchtlinge , zum Teil durch Einsatz von Wasserwerfern und Tränengas. Am 19. März 2020 schloss die 5 Hierzu Steinbach, Udo, Artikel "Die Türkei und der Westen", vom 18. Mai 2018, https://www.udosteinbach .eu/veroeffentlichungen/texte/9-texte-von-udo-steinbach/71-die-tuerkei-und-der-westen-kuenftig-eine-prekaere -partnerschaft-mai-2018, S. 1, 3f.; Höhler, Gerd, "Erdogan setzt mit seiner aggressiven Außenpolitik die Zukunft des Landes aufs Spiel", Handelsblatt vom 21. Oktober 2020, https://www.handelsblatt.com/meinung /kommentare/kommentar-erdogan-setzt-mit-seiner-aggressiven-aussenpolitik-die-zukunft-des-landes-aufsspiel /26294094.html?ticket=ST-3147193-kWSvLgUwVxWcdgsYMRLd-ap4, S. 3; Seufert, Günter, "Die Türkei verlagert den Schwerpunkt ihrer Außenpolitik", SWP-Aktuell 6. Februar 2020, https://www.swp-berlin.org/publikation /die-tuerkei-verlagert-den-schwerpunkt-ihrer-aussenpolitik/, S. 3; Seufert, Günter, Artikel "Erdgasstreit im Mittelmeer: Störenfried aus Ankara", Die Zeit vom 28. Oktober 2020, https://www.zeit.de/politik/ausland /2020-08/erdgasstreit-mittelmeer-tuerkei-europaeische-union-reaktion-seerecht-griechenland, S.1, 4; Beitrag Günter Seufert "Für Ankara ist Zypern eine Sicherheitsfrage", DW-Online vom 23. Juli 2019, https://www.dw.com/de/f%C3%BCr-ankara-ist-zypern-prim%C3%A4r-eine-sicherheitsfrage/a-49698960, S. 2; Hackensberger, Alfred, "Erdogans Großmachtpläne: Wie die Türkei weltweit ihren militärischen Einfluss ausbaut ", Die Welt vom 29. Juli 2020, https://www.welt.de/politik/ausland/plus212463803/Tuerkei-Wie-Erdoganweltweit -seinen-militaerischen-Einfluss-ausbaut.html, S. 1. 6 Artikel „EU-Kommission ist gegen Beschleunigung von Beitrittsgesprächen mit der Türkei“, Parstoday vom 7. Oktober 2020, https://parstoday.com/de/news/middle_east-i53959-eu_kommission_ist_gegen_beschleunigung _von_beitrittsgespr%C3%A4chen_mit_der_t%C3%BCrkei, S. 1. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 101/20 Seite 8 Türkei die Grenze wieder, offiziell aufgrund der Corona-Pandemie. Die Wiederholung einer derartigen "Öffnung des Tors nach Westen" durch die Türkei zur Durchsetzung ihrer politischen Anliegen kann nicht ausgeschlossen werden.7 Deutschland ist wichtigster Handelspartner und größter ausländischer Investor in der Türkei. 2019 sind die deutschen Exporte wegen der anhaltenden Wirtschaftskrise in der Türkei jedoch von 20,4 auf 18 Milliarden Euro zurückgegangen. Die Zahl deutscher Unternehmen bzw. türkischer Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung in der Türkei beträgt über 7.400. Deutschland ist das Land mit der größten türkischen Gemeinschaft (ca. drei Mio.) in Europa.8 Griechenland Mit dem Nachbarn Griechenland bestehen "klassische" Konflikte (u.a. Festlegung des Grenzverlaufs ) und subregionale Konfliktfelder, wie der Zypernkonflikt, sowie Kontroversen um Energieexploration und sicherheitspolitische Aspekte in der Ägäis. Unterschiedliche Positionen zwischen der Türkei und Griechenland bestehen auch hinsichtlich der Inanspruchnahme des Luftraums in der Ägäis. Aktuell im Vordergrund stehen Bestrebungen der Türkei, in der zwar international, aber nicht von ihr anerkannten griechischen ausschließlichen Wirtschaftszone in der östlichen Ägäis Bohrungen nach Erdgas vorzunehmen. Im Kern des Streits zwischen Griechenland und der Türkei geht es um die Abgrenzung exklusiver Wirtschaftszonen. Griechenland, Zypern, Israel und Ägypten haben ihre jeweiligen exklusiven Wirtschaftszonen /EWZ im gegenseitigen Einvernehmen und auf Grundlage des Internationalen Seerechts voneinander abgegrenzt. Auch sind diese Staaten die Triebkräfte hinter dem EastMed Gas Forum (EMGF), das sich im Januar 2019 im Wesentlichen mit Spitze gegen die Türkei gegründet hat. Die Türkei liegt mit all diesen Staaten wegen ihrer EWZ im Konflikt. Vor diesem Hintergrund schloss sie am 27. November 2019 mit der libyschen Regierung ein Abkommen zur gegenseitigen Abgrenzung ihrer Festlandsockel im Mittelmeer. Damit ist es der Türkei erstmals gelungen, mit einem anderen Anrainerstaat einvernehmlich eine Grenze im östlichen Mittelmeer festzulegen, was die Legitimität der türkischen Position erhöht. Der Vertrag orientiert sich an der bislang nur von der 7 Siehe dazu auch Beitrag „Die Situation an der griechischen Grenze“/November 2020, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, https://www.lpb-bw.de/flucht-grenze-griechenland#c56371; Wissenschaftliche Dienste/Deutscher Bundestag, WD2-3000-028/20 vom 31. März 2020, „Push-backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des Völkerrechts, https://www.google.de/search?sxsrf=ALeKk03B2uk179rK8SjURp VJZNS3bc-0lA:1608119782277&q=Pushbacks+an+der+t%C3%BCrkisch+griechischen+Grenze+Gutachten +wissenschaftlicher+Dienst+Bundestag+Fl%C3%BCchtlingszwischenfall+an+Grenze+zu+Griechenland +M%C3%A4rz+2020&spell=1&sa=X&ved=2ahUKEwitrYODudLtAhXCCOwKHQ0bA_8QBSg AegQIBxA6&biw=1536&bih=806#spf=1608120216793. 8 Artikel „Deutschland und die Türkei: Bilaterale Beziehungen“ vom 2. November 2020, https://www.auswaertiges -amt.de/de/aussenpolitik/laender/tuerkei-node/bilateral/201968. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 101/20 Seite 9 Türkei vertretenen These, dass Inseln keinen eigenen Festlandsockel und deshalb auch keine eigenen EWZs etablieren können. Die Türkei rüstet in diesem Zusammenhang ihre Marine auf und will allein in den kommenden drei Jahren zwanzig weitere Schiffe in Betrieb nehmen.9 Zypern Die Türkei ist das einzige Land, das die Republik Zypern nicht anerkennt und hat in der türkischen Republik Nordzypern ca. 30.000 türkische Soldaten stationiert. Neuerdings schürt die Türkei erneut den Konflikt mit Griechenland durch den Ausbau von Famagusta zu einem türkischen Marinestützpunkt sowie der angekündigten Öffnung der Stadt Varosha (militärisches Sperrgebiet der Türkei und ehemaliges Wohngebiet der von dort vertriebenen Griechenzyprer) für voraussichtlich touristische Zwecke.10 Auch die ausschließliche Wirtschaftszone Zyperns wird von der Türkei nicht anerkannt; sie nimmt dort Bohrungen nach Erdgas vor. Eine Lösung der Zypernfrage im Sinne einer Wiedervereinigung scheint derzeit nicht realisierbar .11 Russland Die türkischen Beziehungen zu Russland sind traditionell ambivalent und über zwei Jahrhunderte von Konflikten und Kriegen geprägt. Aktuell bestehen, trotz punktueller Gemeinsamkeiten, unterschiedliche Interessen mit Blick auf den Nahen Osten, das Schwarze Meer, den Kaukasus 9 Avenarius, Tomas und Zick, Tobias, "Worum es im Streit zwischen Griechenland und der Türkei geht", SZ vom 23. September 2020, https://www.sueddeutsche.de/politik/griechenland-tuerkei-erdgas-1.5040423; Kadritzke, Niels, "Grenzstreit im östlichen Mittelmeer", Le monde diplomatique vom 10. September 2020, https://mondediplomatique .de/artikel/!5709141; DW-Artikel (Autor Schmitz, Florian) vom 15. September 2020 "Griechenland und Türkei": Der Streit ist nicht unlösbar", https://www.dw.com/de/griechenland-und-t%C3%BCrkei-der-streitist -nicht-unl%C3%B6sbar/a-54936933; Christides, Giorgos und Popp, Maximilian, "Der schreckliche Nachbar", Der Spiegel vom 16. Januar 2020, https://www.spiegel.de/politik/ausland/konflikt-zwischen-griechenland-undder -tuerkei-der-schreckliche-nachbar-a-497be64b-97ba-492e-bccf-546afae9f5ab. 10 Zum Hintergrund ferner Wissenschaftliche Dienste/Deutscher Bundestag, WD2-3000-096/2020 vom 3. Dezember 2020 „Die Öffnung der nordzyprischen Stadt Varosha im Lichte des Völkerrechts“, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/813402/6fa46a1bf67cde45a15ed08518f32aec/WD-2-096-20-pdfdata .pdf, zuletzt abgerufen am 5. Januar 2021. 11 Dazu auch Artikel der Bundeszentale für politische Bildung "Vor 60 Jahren: Gründung der unabhängigen Republik Zypern" vom 13. August 2020, https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/210919/unabhaengigkeitzyperns ; DW-Artikel "Quo vadis Zypern?, vom 26. Oktober 2020, https://www.dw.com/de/quo-vadis-zypern/a- 55402224; Martens, Michael, "Wie eine Geisterstadt eine Präsidentenwahl beeinflusst", FAZ vom 18. Oktober 2020, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/geisterstadt-varoscha-symbolisiert-die-praesidentenwahl-innordzypern -17007674-p3.html; Artikel "Erdogan fordert dauerhafte Zwei-Staaten-Lösung", Zeit-Online vom 15. November 2020, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-11/zypern-recep-tayyip-erdogan-zwei-staaten-loesung -tuerkei-griechenland. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 101/20 Seite 10 (mit seinen muslimischen Minderheiten) sowie Zentralasien. Es besteht eine taktische Allianz mit Russland, gleichwohl dürfte die Türkei die NATO nicht verlassen.12 Es bestehen enge wirtschaftliche Beziehungen (Russland ist wichtigster Energielieferant der Türkei ), und die Türkei stellt für Millionen von Russen ein beliebtes Urlaubsziel dar. Rivalitäten bestehen indes in den von beiden Ländern beanspruchten Einflusszonen im Kaukasus und Zentralasien . Aufgrund des Abschusses eines russischen Kampfjets durch die türkische Armee nahe der türkisch-syrischen Grenze im November 2015, kam es zu einer erheblichen Verschlechterung des bilateralen Verhältnisses. So verfügte die russische Regierung Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei, u. a. Einschränkungen für den Touristenverkehr zwischen beiden Ländern. Hierauf kam es zum Einbruch des russischen Touristenaufkommens um über 90 Prozent (2015 über eine halbe Mio. russischer Touristen). Im Oktober 2016 wurde indes ein Vertrag über das zuvor "eingefrorene " Gaspipeline-Projekt Turkish Stream geschlossen; zudem erhielt die russische Atomenergie- Agentur Rosatom den Auftrag für den Bau des ersten türkischen Atomkraftwerks "Akkyu". Nachdem die Türkei im September 2017 mit Russland einen Vertrag über den Kauf des russischen Luftabwehrsystems des Typs S-400 - entgegen der dringenden Empfehlung der NATO – abgeschlossen hatte, erfolgte die erste Lieferung 2019. Im Oktober 2020 bestätigte Erdogan dann Tests des Raketenabwehrsystems. Die US-Regierung hatte die türkische Regierung mehrfach vor dem Einsatz des russischen Raketenabwehrsystems S-400 gewarnt und mit Strafmaßnahmen gedroht. Wegen dessen Einsatz verhängten die USA im Dezember 2020 Sanktionen gegen den NATO- Bündnispartner Türkei. Kontroverse Themen zwischen der Türkei und Russland bilden die Krimannexion (Türkei erkennt diese nicht an), der Umgang mit dem Bürgerkriegsland Syrien (Russland und Türkei unterstützten divergierende Kriegsgruppierungen) sowie die unterschiedliche Unterstützung der Konfliktgegner in Libyen und in Aserbaidschan.13 12 Bigalke, Silke und Krüger, Paul Anton, „Mal Freund, mal Feind“, SZ vom 15. Juni 2020, https://www.sueddeutsche .de/politik/russland-tuerkei-syrien-putin-erdogan-1.4935995?print=true. 13 Siehe dazu auch Birol, Yilmaz, Der Krieg in Syrien und sein Einfluss auf die Beziehungen zwischen der Türkei und Russland, S. 111-136, in: Yildiz, Mustafa/Özalp, Mustafa (Hrsg.)., Die Türkei im Dschungel der internationalen Beziehungen, Baden-Baden 2019, ProQuest Ebook Central, https://ebookcentral-proquest-com.access.authkb .kb.nl/lib/kb/detail.action?docID=5830503, hier S. 133ff.(Eingesehen am 27. November 2020); Artikel „USA verhängen Sanktionen gegen die Türkei“, SZ vom 14. Dezember 2020, https://www.sueddeutsche.de/politik /streit-um-luftabwehrraketen-usa-verhaengen-sanktionen-gegen-die-tuerkei-1.5148081; Siehe auch Artikel "Russische Touristen dürfen wieder in die Türkei“, Ostexperte vom 29. Juni 2016, https://ostexperte.de/russland -tuerkei-sanktionen-und-flugverbote-vor-ende/. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 101/20 Seite 11 3.2. Naher und Mittlerer Osten14 Israel Verschlechtert haben sich die einst guten türkisch-israelischen Beziehungen nach dem Jahr 2006. Hintergrund bildete der Angriff Israels auf den Gazastreifen sowie der sog. Mavi Marmara-Zwischenfall im Jahr 2010, als ein türkisches Schiff als Teil eines Hilfskonvois die israelische Seeblockade nach Palästina durchbrechen wollte und dabei neun türkische Aktivisten zu Tode kamen . An Bord befanden sich auch die deutschen Bundestagsabgeordneten der Partei Die Linke, Annette Groth und Inge Höger, sowie deren ehemaliger außenpolitischer Sprecher Norman Paech. Als Folge dieses gewalttätigen Ereignisses wurde seitens der Türkei u.a. das Militärabkommen mit Israel aufgekündigt. Zur Entfremdung der beiden Länder geführt hat auch die Nähe der türkischen Regierung zur palästinensischen Hamas, die auf der gemeinsamen Verbundenheit zur Ideologie der Muslimbrüder basiert.15 Syrien Erdogan hatte bereits 2011 auf den Sturz des Diktators Bashar al-Assad gesetzt und dafür mit der Unterstützung des Westens gerechnet. Als diese jedoch nicht erfolgte, hat er zeitweise islamistische Gruppierungen in ihrem Kampf gegen Assad gefördert. Oberstes Ziel der türkischen Politik in Syrien ist nicht mehr ein Systemwechsel; vielmehr versucht die Türkei mit allen Mitteln zu verhindern, dass die Kurden (von der Türkei als "Terroristen " betrachtet) in Syrien die Voraussetzung für einen autonomen Status schaffen. Dieser wird als gefährlicher Präzedenzfall für die Zukunft der Kurden in der Türkei erachtet. 14 Hierzu Steinbach, Udo, Artikel "Die Türkei und der Westen" vom 18. Mai 2018, https://www.udosteinbach .eu/veroeffentlichungen/texte/9-texte-von-udo-steinbach/71-die-tuerkei-und-der-westen-kuenftig-eine-prekaere -partnerschaft-mai-2018, S. 2; Artikel "Wie Erdogan seine internationale Macht ausbaut", Die Presse vom 30. Juli 2020, https://www.diepresse.com/5846376/wie-erdogan-seine-internationale-macht-ausbaut; Sydow, Christoph „Kampfansage an den Kronprinzen“. Neuer türkischer Militärstützpunkt in Katar, Der Spiegel vom 17. August 2019, https://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-errichtet-militaerbasis-in-katar-kampfansagean -saudi-arabien-a-1282094.html, S. 3f. 15 Artikel DW "Iran und Türkei: Partnerschaft mit Hindernissen" vom 26. Juni 2020, S. 1, https://www.dw.com/de/iran-und-t%C3%BCrkei-partnerschaft-mit-hindernissen/a-53958055; Visser, Yochanan "Jerusalem gehört uns" - Was steckt hinter der erstaunlichen Behauptung der Türkei? Israel heute vom 11. Oktober 2020, https://www.israelheute.com/erfahren/jerusalem-gehoert-uns-was-steckt-hinter-der-erstaunlichenbehauptung -der-tuerkei; Hollstein M. und Vitzthum T., „Die Linke nutzt Israels Angriff aus“, Die Welt vom 1. Juni 2010, https://www.welt.de/politik/deutschland/article7873501/Die-Linkspartei-nutzt-Israels-Angriffaus .html Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 101/20 Seite 12 Der Einmarsch der türkischen Armee in die von Kurden bewohnte syrische Region von Afrin 2018 und im Nordosten Syriens 2019 ist auf internationale Kritik gestoßen. Diese türkische Intervention mit Billigung Russlands hat die Türkei auf die politische Linie Russlands mit Blick auf die Zukunft des syrischen Regimes gebracht. Heute hält die Türkei mehrere Gebiete in Syrien besetzt . Dort wird in den Schulen Türkisch unterrichtet und die Türkische Lira als Zahlungsmittel benutzt. In Syrien kooperierte Russland in jüngster Zeit eng mit der Türkei, weil beiden daran gelegen ist, ein regionales Konfliktmanagement unter Ausschluss der westlichen Akteure zu verfolgen. In Syrien ist es der Türkei nicht gelungen, die ihr nahestehenden Muslimbrüder an die Macht zu bringen und das Land als Tor für eine türkische Machtexpansion im Nahen Osten zu nutzen. Zudem sind die Kurden in Syrien, bedingt durch den Verfall syrischer Staatlichkeit, zu politischen und militärischen Akteuren geworden. Die Kurden Syriens konnten sich nur dank eines Bündnisses mit den USA zu einem Machtfaktor entwickeln, so dass die Vereinigten Staaten von Amerika aus Sicht der türkischen Regierung und Bevölkerung zur primären Bedrohung für die Sicherheit des türkischen Staates geworden sind.16 Libyen Die Türkei unterstützt im libyschen Bürgerkrieg mit modernen Waffen und in Syrien angeheuerten Söldnertruppen (ca. 15.000 Soldaten) die libysche Regierung unter Fayez al Sarraj. Dies basiert auf einem Vertrag vom 27. November 2019 über militärischen Beistand und Zusammenarbeit . Das erdölreiche nordafrikanische Land bezahlt für den türkischen Militäreinsatz. Der Wiederaufbau Libyens kann zudem lukrative Möglichkeiten für türkische Wirtschaftsunternehmen eröffnen. Die Türkei handelt hierbei aus strategischen Erwägungen. Der Krieg in Syrien ist für sie zwar verloren , doch strebt sie infolgedessen eine günstige Ausgangslage am Mittelmeer an. Libyen hat die größten Erdölreserven Afrikas und ist zudem ein Schlüsselstaat für Migranten auf dem Weg nach 16 Avenarius, Tomas, "Ein Schein von Frieden", SZ vom 18. Oktober 2020, https://www.sueddeutsche.de/politik /syrien-ein-schein-von-frieden-1.5079159; Wieland, Carsten, Bundeszentrale für politische Bildung, Dossier: Syrien vom 18. Juni 2020, https://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/54705/syrien; Zu neuen Entwicklungen im Syrienkonflikt siehe Artikel "Bürgerkrieg in Syrien: Acht Milizionäre bei mutmasslich israelischen Luftangriffen getötet", NZZ-Redaktion vom 25. November 2020, https://www.nzz.ch/international /idlib-das-neuste-im-kampf-um-syriens-letzte-rebellenbastion-ld.1536230.; Vgl. auch Ernst, Oliver, "Die Kurdenfrage in der Türkei und der Krieg in Syrien", in: APUZ 8/2016, S. 1ff., https://www.bpb.de/apuz/221174/diekurdenfrage -in-der-tuerkei-und-der-krieg-in-syrien?p=0. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 101/20 Seite 13 Europa. Die Türkei agiert auch hier zusammen mit dem Iran, also in Gegnerschaft zu Saudi-Arabien und Russland, die wiederum den mit der Gegenregierung in Tobruk verbundenen General Haftar unterstützen.17 Saudi-Arabien Die Betonung islamischer Werte hat Staatspräsident Erdogan in die Nähe der Muslimbruderschaft geführt. Hierdurch hat er sich die Gegnerschaft von Saudi-Arabien und Ägypten zugezogen , wo die Muslimbruderschaft durch die jeweiligen Regierungen verfolgt wird. In dem Konflikt zwischen Saudi-Arabien und Katar steht die Türkei auf Seiten Katars.18 Katar Das kleine Emirat ist ein geostrategisch wichtiges Land am Persischen Golf und einer der wichtigsten Verbündeten der Türkei. 2016 erhielt diese eine Militärbasis in Katar; heute sollen dort mindestens 3.000 türkische Soldaten stationiert sein. Zudem exportiert die Türkei Drohnen, gepanzerte Fahrzeuge und andere Rüstungsgüter nach Katar. Dieses beteiligt sich großzügig an den Kriegskosten seines Partners. Beide Länder sympathisieren mit islamistischen Gruppen, insbesondere mit den Muslimbrüdern. 2017 verhängten Saudi-Arabien und andere Golfstaaten deshalb eine Blockade gegen Katar. Es entstand ein wachsender Tourismus katarischer Staatsbürger in die Türkei (in den ersten vier Monaten 2019 allein 30.000 Personen). Das Handelsvolumen zwischen den beiden Ländern stieg 2020 um sechs Prozent auf 1,34 Mrd. Euro.19 Irak Die Türkei befürchtet, dass der Irak einen kurdischen Staat dulden könnte und sich durch dessen Bildung im Nordirak der Kurden-Konflikt in der Türkei verschärfen könnte. Der jüngste türkische Militäreinsatz fand in der autonomen Kurdenregion im Nordirak statt. Türkische Eliteeinheiten 17 Seufert, Günter,"Die Türkei verlagert den Schwerpunkt ihrer Außenpolitik, SWP-Aktuell/A06, Februar 2020, S. 1f.; Welt-online vom 29. Juli 2020, "Erdogans Großmachtpläne: Wie die Türkei weltweit ihren militärischen Einfluss ausbaut", S. 1; Artikel DW vom 26. Juni 2020, "Iran und Türkei: Partnerschaft mit Hindernissen", S. 1, https://www.dw.com/de/iran-und-t%C3%BCrkei-partnerschaft-mit-hindernissen/a-53958055. 18 Vgl. ferner Seibert, Thomas, "Boykottaufruf gegen Erdogan", Tagesspiegel vom 20. Oktober 2020, https://www.tagesspiegel.de/politik/streit-zwischen-der-tuerkei-und-arabischen-staaten-boykottaufruf-gegenerdogan /26291462.html. 19 Artikel "Türkei und Katar wollen Beziehungen intensivieren", Hurryet vom 29. November 2020, https://www.hurriyet.de/news_tuerkei-und-katar-wollen-beziehungen-intensivieren115330_143543025.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 101/20 Seite 14 drangen bis zu 40 Kilometer tief in irakisches Gebiet vor und errichteten über 30 „temporäre Basen “. Erklärtes Ziel ist die Bekämpfung der sowohl von der Türkei als auch dem Irak verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK). Bisher hatte die Türkei die Miliz in dieser Region hauptsächlich aus der Luft angegriffen.20 Iran Zwischen Iran und der Türkei besteht nicht nur aufgrund der geostrategischen Lage, sondern auch aufgrund der konfessionellen Ausrichtung (türkischer – überwiegend sunnitischer - Islam konkurriert mit iranischem – überwiegend schiitischem - revolutionärem Islam) beider Staaten ein Rivalitätsverhältnis. Verbessert sich das Verhältnis der Türkei zu den USA und Israel, hat dies nahezu gleichzeitig eine Verschlechterung des türkisch-iranischen Verhältnisses zur Folge, weil der Iran notorisch schlechte Beziehungen bzw. ein Feindverhältnis zu den USA und Israel hat. Auch duldet der Iran weitgehend Aktivitäten der PKK auf seinem Territorium. Die Türkei erkennt das Recht des Iran zur friedlichen Nutzung von Kernenergie sowie eine entsprechende Kontrolle der iranischen Aktivitäten durch die IAEO in Wien an. Im Konflikt um das iranische Nuklearprogramm hat die Türkei verschiedentlich zu vermitteln versucht. Die Türkei stimmte gegen die Sanktionen der Vereinten Nationen infolge des iranischen Nuklearprogramms und wurde diesbezüglich insbesondere von Israel stark kritisiert.21 3.3. Afrika Die Zusammenarbeit mit Afrika genießt hohe Priorität für die Türkei; dies wird belegt durch zahlreiche - in den vergangenen fünfzehn Jahren fast 40 - Reisen von Staatspräsident Recep Tyyip Erdogan nach Afrika. In 41 Ländern des afrikanischen Kontinents unterhält die Türkei Auslandsvertretungen, 2009 waren es noch 12. In den vergangenen fünfzehn Jahren hat sich zudem das Handelsvolumen der Türkei mit afrikanischen Ländern versechsfacht – auf über 14 Mrd. Euro im Jahr 2017. Die staatliche Fluggesellschaft Turkish Airlines fliegt inzwischen 54 Städte auf dem afrikanischen Kontinent an. Mit seinem dortigen Engagement will Erdogan vor allem den Rohstoff- und Energiebedarf seines Landes sichern. Sowohl in Libyen wie im bislang noch unerschlossenen Somalia setzte sich Staatspräsident Erdogan dafür ein, dass türkische Erdölgesellschaften Förderlizenzen erhalten. 20 Vgl. auch Rohde, Achim, Bundeszentrale für politische Bildung, Dossier: Irak, 24. September 2020, https://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/54603/irak. 21 Brakel, Kristian, Artikel vom 1. Oktober 2019 "Die ungleichen Brüder - Die Türkei und der Iran im Atomstreit, https://www.boell.de/de/2019/10/01/die-ungleichen-brueder-die-tuerkei-und-der-iran-im-atomstreit, S.1 (Eingesehen am 27. November 2020). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 101/20 Seite 15 Bislang spielte Afrika für die Türkei nur eine untergeordnete Rolle; etwa 6,6 Prozent der türkischen Exporte gingen dorthin und die Importe beliefen sich auf über ein Prozent. Für Afrika stellt die EU bislang mit etwa 50 Prozent Außenhandelsanteil (u. a. 36 Prozent Warenhandel, 40 Prozent Direktinvestitionen EU-Mitgliedstaaten) noch den wichtigsten Handelspartner dar.22 Sudan 2018 pachtete die Türkei die sudanesische Suakin-Insel am Roten Meer für 99 Jahre. Der historische Hafen aus der osmanischen Zeit soll touristisch erschlossen werden. Im Bauplan sollen jedoch auch Docks für zivile und militärische Zwecke vorgesehen sein. Der Standort an der maritimen Handelsroute zum Golf von Aden ist von strategischer Bedeutung. Mit einem Besuch bei Präsident Omar Baschir hatte Erdogan 2017 die Beziehungen beider Länder intensiviert; hierauf erfolgte auch eine Kooperation in der Rüstungsindustrie. Innerhalb eines Jahres wuchs der Handelsumfang von 500 Mio. auf zehn Mrd. US-Dollar.23 Somalia Der gescheiterte Staat am Horn von Afrika liegt geopolitisch an einem Hauptknotenpunkt der globalen Seehandelswege. Westliche Staaten und die VR China machen eher einen Bogen um das zerrüttete Somalia. Diese Lücke will die Türkei als Neuling auf dem afrikanischen Schauplatz für sich nutzen. Dem türkischen Bau- und Logistikkonzern Albayrak obliegt das Management des Hafens von Mogadischu, die wichtigste Finanzquelle des Landes. Den Hauptstadt-Flughafen betreibt wiederum das türkische Unternehmen Favori. Ebenso leistet die Türkei Hilfestellung beim Aufbau der Zentralbank Somalias. Somalia erhält mit etwa 265 Mio. Euro nach Syrien die größte Entwicklungshilfe seitens der Türkei. 22 Hierzu Welt-online vom 29. Juli 2020, "Erdogans Großmachtpläne: Wie die Türkei weltweit ihren militärischen Einfluss ausbaut", S. 2; Artikel DW-Online vom 28. Februar 2020 „Erdogan will mehr Einfluss in Afrika“, https://www.dw.com/de/erdogan-will-mehr-einfluss-in-afrika/a-42775841?maca=de-EMail-sharing, S. 2f.; Dieterich , Johannes, „Afrikas wahrer Freund“?, Frankfurter Rundschau vom 11. März 2020, https://www.fr.de/politik /afrikas-wahrer-freund-13594379.html, S. 2, 4; Müller, Björn, „Was will Ankara in Afrika?“ Militärhilfe für Somalia, FAZ vom 30. September 2017, https://www.faz.net/-gpf-91n82?GEPC=s5, S. 1ff.; Artikel „Die Türkei hat tausende Somalier ausgebildet. Wird ihr Ziel Libyen sein?", Mena Research and Study Center vom 19. August 2020, https://mena-studies.org/de/tuerkei-hat-tausende-somalier-ausgebildet-wird-ihr-ziel-libyen-sein/, S. 1f.; Dazu auch Nathanson, Roby, Länderbericht Türkei, Study Nr. 385/Mai 2018, S. 178 Tabelle Ex- und Importe der Türkei nach Ländergruppen 2015, https://www.boeckler.de/pdf/p_study_hbs_385.pdf; https://ec.europa .eu/commission/sites/beta-political/files/soteu2018-factsheet-africa-europe_de.pdf, S. 3. 23 Vgl. auch Artikel "Sudan und die Muslimbruderschaft. Konflikt der verlorenen Macht", Mena Research Center, 15. Juni 2020, https://mena-studies.org/de/tuerkei-sudan-und-die-muslimbruderschaft-konflikt-der-verlorenenmacht . Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 101/20 Seite 16 Seit 2017 unterhält die Türkei eine Militärbasis in Somalia. Ihr Bau kostete etwa 50 Mio. US-Dollar und ist mit ca. 400 Hektar die größte Militäreinrichtung der Türkei im Ausland. In einem militärischen Trainingscamp in der Nähe des Flughafens von Mogadischu sollen in den nächsten Jahren rund 200 türkische Armeeangehörige etwa 10.000 somalische Soldaten ausbilden. Hinzu kommt Beratung bei militärischer Organisation und Logistik. Des Weiteren baut die Türkei in Somalia Schulen, Krankenhäuser, Straßen und vergibt Stipendien für türkische Universitäten. Das Auslandsbildungsprogramm leitet die Maarif-Stiftung. Sie ist in insgesamt 43 Ländern auf sechs Kontinenten aktiv und vermittelt türkische Kultur und Sprache. Ihre Schulen gelten als islamisch geprägt.24 Jemen Der Jemen ist seit Jahren Ort einer indirekten Auseinandersetzung zwischen dem Iran und Saudi- Arabien. Seit geraumer Zeit soll auch die Türkei in dem Land an der Südspitze der arabischen Halbinsel präsent sein. Diese Präsenz sei jedoch nicht offenkundig, vielmehr agiere die Türkei verdeckt durch die Hilfsorganisation "Turkish Humanitarian Relief Organisation". Diese stehe unter dem Einfluss der Muslimbrüder, also der Organisation, die aufgrund ihrer sozialrevolutionären Ideologie der Regierung in Saudi-Arabien als besonders gefährlich gilt. Unterstützt wird die Türkei auch hier von Katar. Im Jemen soll sich damit ein loses türkisch-katarisches Bündnis etabliert haben, das auch Beziehungen zum Iran pflegt. Dieses biete sich der jemenitischen Regierung als politische und ökonomische Alternative zu Saudi-Arabien an. Für die Türkei und Katar ist der Ausbau ihrer Präsenz an der Meerenge zwischen Rotem Meer und dem Golf von Aden, der wichtigsten Schifffahrtslinie zwischen Europa und Asien, von strategischer Bedeutung.25 Nigeria Die Türkei soll in Nigeria Waffen an Boko Haram, einen Ableger der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), geliefert haben. Die Gruppierung ist vor allem wegen Massakern an Zivilisten und Entführung von Schülerinnen und Schülern berüchtigt. Durch derartige Waffenlieferungen sollen 24 Dieterich, Johannes, Artikel „Afrikas ´´wahrer Freund``?, FR vom 11. März 2020, https://www.fr.de/politik/afrikas -wahrer-freund-13594379.html.; Artikel „Die Türkei hat tausende Somalier ausgebildet. Wird ihr Ziel Libyen sein?", Mena Research and Study Center vom 19. August 2020, https://mena-studies.org/de/tuerkei-hat-tausende -somalier-ausgebildet-wird-ihr-ziel-libyen-sein/, S. 1f.; Artikel DW-Online vom 28. Februar 2020 „Erdogan will mehr Einfluss in Afrika“, https://www.dw.com/de/erdogan-will-mehr-einfluss-in-afrika/a- 42775841?maca=de-EMail-sharing, S. 2f. 25 Siehe dazu auch Artikel DW "Iran und Türkei: Partnerschaft mit Hindernissen" vom 26. Juni 2020, S. 1, https://www.dw.com/de/iran-und-t%C3%BCrkei-partnerschaft-mit-hindernissen/a-53958055. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 101/20 Seite 17 „islamische Gruppen“ vor „Staatsterrorismus“ geschützt werden. Boko Haram ist eine von mehreren extrem-islamistischen Gruppen in Westafrika, die in den letzten Jahren zu einer steigenden Bedrohung für die Zivilbevölkerung wurden.26 Niger 2020 schlossen die Türkei und Niger offiziell ein Militärabkommen und eine Kooperation im Kampf gegen Terrorismus ab. Für die Türkei ist Niger als Nachbarland Libyens ein wichtiger Partner. Auch in Niger soll Boko Haram für brutale Gewaltaktionen verantwortlich sein.27 3.4. Kaukasus und Zentralasien28 Die Türkei versucht, ihren Einfluss auf die Turkvölker im Kaukasus und Zentralasien zu erweitern . Zu diesen Staaten bestehen Gemeinsamkeiten in Kultur, Geschichte, Ethnie und Sprache. Armenien Die türkischen Beziehungen zu Armenien sind weiterhin belastet. Armenien erkennt die Grenze zur Türkei, nach dem Vertrag von Kars 1921, nicht an. Die Türkei lehnt eine Verantwortung für den Genozid an den Armeniern im Ersten Weltkrieg ab und ordnet diese in den Zusammenhang der "Folgen von Kriegshandlungen" ein. Die Besetzung der völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörenden Region Bergkarabach durch Armenien belastet das Verhältnis zur Türkei, da sich diese als Schutzmacht Aserbaidschans versteht . Umgekehrt wird Armenien in diesem Konflikt von Russland protegiert. Die russische Armee hat mehrere Luftwaffenbasen in Armenien. 26 Vgl. auch Artikel "Zusammengetrieben und getötet", SZ vom 29. November 2020, https://www.sueddeutsche .de/politik/boko-haram-anschlag-borno-1.5131377. 27 Siehe dazu auch Artikel "Sechs französische Entwicklungshelfer in Niger getötet", SZ vom 10. August 2020, https://www.sueddeutsche.de/politik/niger-entwicklungshelfer-angriff-1.4994611. 28 Dazu Isachenko, Daria „ Türkei-Russland-Partnerschaft im Krieg um Bergkarabach“, SWP-Aktuell Nr. 88 November 2020, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2020A88_Isachenko_BergKarabach _WEB.pdf, S. 2, 4. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 101/20 Seite 18 Im September 2020 war es nach 1994 zum zweiten Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien gekommen, bei dem insgesamt über 4.000 aserbaidschanische und armenische Soldaten getötet wurden und Tausende ihre Heimat verlassen mussten. Durch Vermittlung Russlands konnte am 10. November 2020 ein Waffenstillstand erreicht werden. Auslöser der Kampfhandlungen war ein seit Jahrzehnten schwelender Konflikt um die Region Bergkarabach sowie sieben aserbaidschanische Provinzen in deren Umgebung, die seit 1994 de facto von Armenien kontrolliert wurden . Die selbst ernannte Republik Bergkarabach bzw. seit 2017 "Republik Arzach" ist nahezu ausschließlich von armenischen Christen bewohnt, wird aber international nicht anerkannt. Russland betrachtet die gesamte Region Südkaukasus als seine exklusive Einflusszone. Daher ist eine Einmischung externer Akteure in dieses Gebiet für den Kreml nicht akzeptabel. Dies gilt umso mehr, als es sich bei dem externen Akteur um ein NATO-Mitglied handelt, der beabsichtigt , einen Militärstützpunkt in Russlands unmittelbarer Nachbarschaft zu errichten.29 Aserbaidschan Mit ihrer Einmischung auf Seiten Aserbaidschans im Konflikt um Bergkarabach verfolgt die Türkei in erster Linie das Ziel, den gegenwärtigen Status quo des Gebiets in Frage zu stellen. Die Türkei will sich vor allem einen Platz bei den Verhandlungen über eine Lösung des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan sichern. Aserbaidschan ist seit drei Jahrzehnten ein treuer Verbündeter der Türkei im Kaukasus. Die Türkei unterstützt das Militär des „Bruders“ jährlich mit mehreren hundert Mio. US-Dollar. Aserbaidschan wiederum liefert zu günstigen Bedingungen Erdgas in die Türkei.30 29 Dossier Bundeszentrale für politische Bildung vom 19. November 2020 "Waffenstillstand im Krieg um Berg-Karabach ", https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/319137/waffenstillstand-in-berg-karabach; Wissenschaftliche Dienste/Deutscher Bundestag,WD2-3000-13/2020 vom 5. November 2020, Aktueller Begriff "Krieg um Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan“; Schmidt, Friedrich, "Siegestrunken in Baku", FAZonline vom 10. Dezember 2020, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/erdogan-und-alijew-schuechternarmenien -ein-17095521/machtdemonstration-vor-dem-17095601.html; Masimov, Asif, "Bergkarabach: Stille Übereinkunft zwischen Russland und der Türkei" vom 2. November 2020, https://masimovasif.net/bergkarabach -stille-uebereinkunft-zwischen-russland-und-der-tuerkei/; Avenarius, Tomas, "Was im Südkaukasus auf dem Spiel steht", SZ vom 28. September 2020, https://www.sueddeutsche.de/politik/suedkaukasus-konflikt-armenien -1.5047196. 30 Isachenko, Daria „ Türkei-Russland-Partnerschaft im Krieg um Bergkarabach“, SWP-Aktuell Nr. 88 November 2020, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2020A88_Isachenko_BergKarabach _WEB.pdf, S. 1; Welt-online vom 29. Juli 2020, "Erdogans Großmachtpläne: Wie die Türkei weltweit ihren militärischen Einfluss ausbaut", S. 2f.; Die Presse vom 30. Juli 2020, "Wie Erdogan seine internationale Macht ausbaut, https://www.diepresse.com/5846376/wie-erdogan-seine-internationale-macht-ausbaut, S. 1. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 101/20 Seite 19 3.5. Balkan Die Türkei setzt sich vor allem für die Belange der türkischen Minderheiten sowie dortiger muslimischer Gruppierungen in Bosnien-Herzegowina und Bulgarien ein. Sie ist bestrebt, ihre wirtschaftliche Präsenz und ihr Engagement im kulturell-religiösen Sektor auf dem Balkan erkennbar zu erhöhen. Vor allem in Bosnien-Herzegowina und später im Kosovo hat die Türkei ihre Schutzmachtfunktion für die muslimische Bevölkerung betont - "als größter Bruder des muslimischen Volkes in der Region", wie Erdogan vor einigen Jahren verlauten ließ. Eine traditionell enge Beziehung pflegt Ankara zu Bosnien-Herzegowina. Reisen in die Türkei werden von Ankara subventioniert, in Kulturzentren gibt es Türkischunterricht. Hinzu kommen türkische Investitionen im Bankenbereich, in den Straßenbau sowie Tankstellenausbau - und der Versuch, die Ausrichtung des Islam mitzuprägen, beispielsweise durch die Ausbildung von Imamen . Im Kosovo betreibt ein von der türkischen Regierungspartei AKP kontrolliertes Unternehmen den Flughafen der Hauptstadt Pristina. Auch das Stromnetz im Land gehört der Firma. Die türkische Regierung erkannte bereits früh die Unabhängigkeit des Kosovo an und half beim Wiederaufbau. In Albanien hat die Türkei in Fluggesellschaften, Telekommunikation und Infrastrukturprojekte sowie ins Bankwesen investiert. Die älteste private Universität befindet sich in türkischer Hand. Ihr Präsident Edi Rama sieht in Erdogan einen "engen Freund" und war Gast bei der Hochzeit von dessen Tochter Sümeyye. Der Flughafen von Nordmazedoniens Hauptstadt Skopje gehört einem türkischen Unternehmen. Zum überwiegend slawisch-orthodox geprägten Serbien bemüht sich Erdogan um ein gutes Verhältnis . Die Türkei ist im serbischen Energiesektor aktiv. So soll eine Gaspipeline zwischen beiden Ländern gebaut werden. Die Türkei lässt zudem in der gesamten Region Denkmäler und Moscheen restaurieren und errichten . Subtiler ist der Einfluss über Fernsehproduktionen. Exporthit auf dem Balkan sind Liebesgeschichten , die im Osmanischen Reich spielen.31 3.6. Vereinigte Staaten von Amerika Im Verhältnis der Türkei zu den USA hat sich eine Distanzierung ergeben. Die USA werden in türkischen Regierungskreisen vor allem beschuldigt, über die Putschpläne (Putschversuch im Juli 31 Schneider, Anna-Sophie, "Erdogan Balkan-Missverständnis", Der Spiegel vom 19. November 2019, https://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-recep-tayyip-erdogans-aussenpolitik-auf-dem-balkan-a- 1296415.html; DW-Artikel vom 28. September 2018, "Die Türkei will zurück auf den Balkan", https://www.dw.com/de/die-t%C3%BCrkei-will-zur%C3%BCck-auf-den-balkan/a-45673389. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 101/20 Seite 20 2016) informiert gewesen zu sein und nichts dagegen unternommen zu haben. Unter den 165 türkischen Generälen und Admirälen, die aus der Armee/Marine nach dem Putschversuch entfernt wurden, war ein unverhältnismäßig großer Anteil über die jeweiligen Ausbildungen und Auslandsaufenthalte mit der NATO vertraut; diese Personen galten innerhalb des Militärsektors als "Atlantiker".Die USA werden in der türkischen Öffentlichkeit heute eher als Sicherheitsrisiko denn als Sicherheitspartner wahrgenommen. Dies hängt nicht zuletzt mit deren Unterstützung der schiitisch dominierten Regierung im Irak zusammen, aber auch wegen ihrer Kooperation mit den syrischen Kurden und ihrer Weigerung, Fethullah Gülen, den angeblichen Drahtzieher des Putschversuchs von 2016, auszuliefern. Hierdurch hat sich der US-amerikanische Einfluss auf die Türkei massiv vermindert.32 Ein aktueller Konfliktpunkt zwischen der Türkei und den USA besteht aufgrund des Streits um den im September 2017 erfolgten Kauf des russischen Luftabwehrsystem S-400 – trotz mehrfacher Warnungen der USA und der Nato hierzu. Im Dezember 2020 verhängten die USA, nach dem Einsatz des russischen Luftabwehrsystems durch die Türkei, Sanktionen gegen diese. Die US-Regierung hatte insbesondere kritisiert, dass der Einsatz des Systems nicht mit den Verpflichtungen der Türkei als NATO-Partner vereinbar sei. Grundlage für die US-Sanktionen ist das Caatsa-Gesetz („Countering America´s Adversaries through Sanctions“) aus dem Jahr 2017. Dies ermöglicht es dem US-Präsidenten, Strafmaßnahmen gegen eine dritte Partei bei einer „bedeutenden Transaktion“ mit dem Verteidigungssektor der russischen Regierung zu verhängen. Hintergrund ist die Befürchtung der USA, dass Russland über das Radar des S-400-Systems an Daten über die Tarnkappenfähigkeiten des F-35-Jets gelangt. Die Türkei war Partner beim Bau des F-35- Kampfjets und wollte zahlreiche dieser Flugzeuge kaufen. Wegen der Rüstungsvereinbarung mit Russland haben die USA die Türkei bereits aus dem F-35 Programm ausgeschlossen.33 32 Seufert, Günter, "Die Türkei wird Teil des Nahen Ostens", S. 39-42, in: Perthes, Volker (Hrsg.), Krisenlandschaften . Ausblick 2017, SWP Januar 2017/S01, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien /2017S01_ild.pdf, hier S. 42; Spiegel-Artikel vom 14. November 2020, "US-Außenminister Pompeo brüskiert Erdogan", https://www.spiegel.de/politik/ausland/usa-mike-pompeo-fliegt-in-die-tuerkei-aber-nicht-zuerdogan -a-8a32f5e4-1240-482d-a74c-69a1cd49a9a5. 33 Artikel „USA verhängen Sanktionen gegen die Türkei“, SZ vom 14. Dezember 2020, https://www.sueddeutsche .de/politik/streit-um-luftabwehrraketen-usa-verhaengen-sanktionen-gegen-die-tuerkei-1.5148081; Artikel "USA verhängen Sanktionen gegen Türkei wegen russischem Raketensystem", Handelsblatt vom 14. Dezember 2020, https://www.handelsblatt.com/politik/international/nato-partner-usa-verhaengen-sanktionen-gegen-tuerkei -wegen-russischem-raketensystem/26237806.html?ticket=ST-12013981-nNM6nelpkpqhLegTwd6d-ap4. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 101/20 Seite 21 4. Zusammenfassung34 Staatspräsident Erdogan versteht sich als türkischer Nationalist und Protagonist für einen Wiederaufstieg der islamischen Welt insgesamt. Diese Position beinhaltet eine starke antiwestliche Komponente, zumal er sich auf die Geschichte und imperiale Größe des Osmanischen Reiches zurückbesinnt. Gemessen an den ursprünglichen Parametern der türkischen Außenpolitik, hat ihr zunehmend interventionistischer und damit konfliktbetonter Charakter (im Nordirak, in Syrien, in Libyen, in Aserbaidschan) eine neue Qualität erreicht. Angesichts des aktuellen Standes der Beitrittsverhandlungen der Türkei (stark rückläufige demokratische Entwicklung) mit der EU erscheint eine neue realistische europäische Kooperationsperspektive für die Türkei unterhalb der EU-Mitgliedschaft erwägenswert und auch vermittelbar. *** 34 Steinbach, Udo, Artikel "Die Türkei und der Westen", vom 18. Mai 2018, https://www.udosteinbach.eu/veroeffentlichungen /texte/9-texte-von-udo-steinbach/71-die-tuerkei-und-der-westen-kuenftig-eine-prekaere-partnerschaft -mai-2018, S. 3f.; Beitrag Seufert, Günter, "Für Ankara ist Zypern eine Sicherheitsfrage", DW-Online v. 23.07.2019, https://www.dw.com/de/f%C3%BCr-ankara-ist-zypern-prim%C3%A4r-eine-sicherheitsfrage/a- 49698960, S. 2; Spiegel-Artikel vom 6. Oktober 2020, „EU-Kommission sieht „schwerwiegende Rückschritte“ in der Türkei“, https://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-eu-kommission-sieht-schwerwiegende-rueckschritte -bei-beitrittskandidat-a-4cd50415-f0bd-4cb7-8a30-454839a2915d.