© 2017 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 099/17 Rechtsfolgen einer Verletzung des EU/Türkei-Assoziierungsrechts vor dem Hintergrund des türkisch-zypriotischen Konflikts Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Vertragsverletzung im Sinne der Wiener Vertragsrechtskonvention 6 3.1. Vertragsbruch 7 3.2. Erhebliche Verletzungen des Assoziierungsabkommens 7 3.2.1. Wirtschaftliche Betrachtung 8 3.2.2. Politische Betrachtung 9 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 099/17 Seite 4 1. Verhalten der Türkei gegenüber Zypern mit Blick auf die Zollunion EU/Türkei Der Beitritt zahlreicher mittel- und osteuropäischer Staaten zur Europäischen Union im Jahr 2004 machte deren Einbeziehung in die seit 1996 bestehende Zollunion1 zwischen der Europäischen Union und der Türkei notwendig. Dafür wurde am 29. Juli 2005 ein Zusatzprotokoll zum Assoziierungsabkommen (AssAbk) von 1963 (sog. „Ankara-Protokoll“) unterzeichnet. In einer Protokollerklärung (Interpretationserklärung)2 brachte die Türkei zum Ausdruck, dass sie an der Nicht- Anerkennung der Republik Zypern festhalte und sich die Zollunion aus türkischer Sicht nicht auf Zypern beziehe. Die Europäische Union wies diese Interpretation in einer Gegenerklärung vom 21. September 2005 zurück, worin sie die Pflicht zur ausnahmslosen Einbeziehung der Republik Zypern in die Verpflichtungen aus der Zollunion klarstellte.3 Gleichwohl versäumt es die Türkei bis heute, die in der Zollunion geschaffene Warenverkehrsfreiheit in Form eines freien Zugangs zypriotischer Schiffe, Flugzeuge und LKW auf türkisches Hoheitsgebiet zu gewährleisten. So zeigt sich etwa das Europäische Parlament enttäuscht darüber , „dass die Türkei trotz ihrer vertraglichen Verpflichtungen weiterhin Einschränkungen gegenüber unter zypriotischer Flagge fahrenden und aus Häfen der Republik Zypern einlaufenden Schiffen aufrechterhält, denen sie den Zugang zu türkischen Häfen verwehrt, ebenso wie gegenüber zypriotischen Flugzeugen, denen sie die Überflugrechte über die Türkei und die Landerechte auf türkischen Flughäfen verweigert.“4 1 Die Zollunion wurde festgelegt mit Beschluss Nr. 1/95 des EU/Türkei-Assoziationsrates vom 22.12.1995 auf der Grundlage des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Türkei vom 12.9.1963. Vgl. dazu näher das Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste WD 2 - 3000 - 147/16 vom 1. Dezember 2016, „Rechtsfragen zur Zollunion zwischen der EU und der Türkei“. 2 Interpretationserklärungen dienen – anders als Vorbehalte i.S.v. Art. 2 Abs. 1 lit. d) WVRK – lediglich der Klarstellung , eine bestimmte Auslegung der Norm durchzusetzen, ohne diese zu ändern oder auszuschließen. Die Übergänge zwischen bloßer Erklärung und echtem Vorbehalt sind fließend, was bei einer Abgrenzung im Einzelfall zu Schwierigkeiten führen kann – vgl. näher dazu Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München, 6. Aufl. 2014, § 15, Rdnr. 4 sowie eingehend Heymann, Monika, Einseitige Interpretationserklärungen zu multilateralen Verträgen , Berlin 2005. 3 Vgl. näher Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste, WD 11 Nr. 46/06 vom 26.9.2006, „Der Zypernkonflikt und seine Auswirkungen auf die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei“, https://www.bundestag.de/blob/513234/1353e35605225047f18e5be49cfaec0b/zypernkonflikt-data.pdf. 4 Vgl. Entschließung des EP vom 27.6.2006 zu den Fortschritten der Türkei auf dem Weg zum Beitritt (2006/2118(INI)), Ziff. 58. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 099/17 Seite 5 2. Verstoß gegen die Regeln der Zollunion 2.1. Gegenstand der Zollunion Das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Türkei von 1963 (AssAbk)5 sieht in Art. 2 Abs. 2 die schrittweise Errichtung einer Zollunion vor. Gem. Art. 10 AssAbk erstreckt sich diese auf den gesamten Warenaustausch. Die Zollunion umfasst bei der Ein- und Ausfuhr für die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei untereinander das Verbot von Zöllen, Abgaben gleicher Wirkung, mengenmäßigen Beschränkungen sowie sonstigen Maßnahmen gleicher Wirkung (Art. 10 Abs. 2 AssAbk). Auch der Beschluss Nr. 1/95 des Assoziationsrates EG-Türkei vom 22.12.19956, der die Zollunion vollendete, enthält in Kapitel 1 Regelungen über den freien Warenverkehr, dem diskriminierende Einfuhr-, Ausfuhr- und Durchfuhrverbote der Vertragsstaaten entgegenstehen. Vom freien Warenverkehr umfasst ist etwa die Löschung zypriotischer Schiffe in türkischen Häfen. 2.2. Bewertung des türkischen Verhaltens durch die politischen Organe der EU und Deutschlands Das Verhalten der Türkei ist von den politischen Organen einhellig als Verstoß gegen die Regeln der Zollunion gewertet worden: So hat der Rat der Europäischen Union die Verletzungen durch die Türkei fortgesetzt kritisiert und im Dezember 2006 die teilweise Aussetzung der Beitrittsverhandlungen beschlossen. Laut Auskunft des Auswärtigen Amtes blieben acht Verhandlungskapitel bis zur Lösung des Zypernkonfliktes und der nicht-diskriminierenden Umsetzung des Ankara-Protokolls durch die Türkei ungeöffnet. Wegen Ausbleibens von Fortschritten bei der Umsetzung des „Ankara-Protokolls“ habe der Rat diesen Beschluss seit 2006 jährlich erneuert. Die Bundesregierung hat im Jahre 2011 auf die Frage hin, ob das Verhalten der Türkei gegenüber Zypern einen Verstoß gegen die Regeln der Zollunion darstellt, geantwortet, sie „teile die Auffassung , dass die Türkei verpflichtet ist, das sog. Ankara-Protokoll zügig umzusetzen.“7 Eine dezidierte rechtliche Bewertung nahm das Europäische Parlament vor. In seiner Entschließung vom 27. September 2006 weist das EP die Türkei darauf hin, dass „diese Praxis einen Verstoß der Türkei gegen das Abkommen von Ankara, das diesbezügliche Abkommen über die 5 Abgedruckt im ABl. EG, L Nr. 217 vom 29.12.1964, S. 3687 ff., verfügbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:21964A1229(01):DE:HTML. 6 Abgedruckt in: ABl. EG, L Nr. 35 vom 13.2.1996. 7 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, BT-Drs. 17/6669 vom 20.7.2011, http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/066/1706669.pdf (Frage 16). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 099/17 Seite 6 Zollunion und das Zusatzprotokoll darstellt, da die Einschränkungen das Prinzip des freien Warenverkehrs verletzen.“8 2.3. Gerichtliche Klärung Eine gerichtliche Klärung des türkischen Verhaltens gegen Zypern ist bislang noch nicht erfolgt. Art. 61 f. des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 1/95 (ARB) sieht einen politischen Streitschlichtungsmechanismus – darunter die Möglichkeit der Einsetzung eines Schiedsverfahrens – vor, der aber nur Streitigkeiten über den Geltungsbereich und die Dauer von Schutzmaßnahmen nach Art. 63 ARB zum Gegenstand hat. Unbeschadet davon bleibt Art. 25 Abs. 2 des Assoziierungsabkommens EG/Türkei von 1963, wonach der Assoziationsrat beschließen kann, die Beilegung der Streitigkeit dem EuGH in Luxemburg oder einem anderen Gericht zu unterbreiten. Da für einen solchen Unterbreitungsbeschluss jedoch Einstimmigkeit im Assoziationsrat zwischen den Vertretern der Türkei und denen der EU herrschen muss (vgl. Art. 23 Abs. 3 AssAbk), wird eine gerichtliche Befassung mit dem türkischen Verhalten gegenüber Zypern regelmäßig am Veto der Türkei scheitern. 3. Vertragsverletzung im Sinne der Wiener Vertragsrechtskonvention Die Frage, ob ein Verstoß gegen die Regeln der EU/Türkei-Zollunion einen „Vertragsbruch“ im Sinne der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVRK) darstellt, ist im Rahmen des Assoziierungsrechts – soweit ersichtlich – noch nicht erörtert worden. Mit der Annahme eines Vertragsbruches, der in der Folge das Recht zur Beendigung bzw. Suspendierung eines völkerrechtlichen Vertrages beinhaltet, wäre das seit 1963 existierende Assoziierungsprojekt zwischen der Türkei und der EU und damit wohl auch die Beitrittsperspektive ernsthaft rechtlich in Frage gestellt. Die hohen tatbestandlichen Hürden eines „Vertragsbruches“, die Art. 60 WVRK aufstellt, tragen dem Umstand Rechnung, dass es sich bei Art. 60 WVRK um eine – eng auszulegende – Ausnahmebestimmung zum fundamentalen Völkerrechtsgrundsatz pacta sunt servanda handelt. Der Vertragsbruch muss sich also als so gravierend darstellen, dass er eine Fortsetzung der vertraglichen Beziehungen zwischen den Vertragsparteien als unzumutbar erscheinen lässt. 8 Entschließung des Europäischen Parlaments zu den Fortschritten der Türkei auf dem Weg zum Beitritt (2006/2118(INI)) v. 27.9.2006, http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P6- TA-2006-0381+0+DOC+XML+V0//DE. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 099/17 Seite 7 Der „Ausnahmecharakter“ des Art. 60 WVRK wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass selbst ein Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen den Vertragsparteien die zwischen ihnen begründeten Vertragsbeziehungen unberührt lässt (vgl. Art. 63 WVRK). 3.1. Vertragsbruch Für einen „Vertragsbruch“ i.S.v. Art. 60 Abs. 1 WVRK ist eine „erhebliche Verletzung“ (material breach) des Vertrages seitens einer Vertragspartei erforderlich.9 Dabei geht es um die Verletzung einer für die Erreichung des Vertragszieles wesentlichen Bestimmung (sog. „object and purpose test“),10 welche Ziel und Zweck des Vertrages als Ganzes ernsthaft gefährdet.11 Nach den Vorstellungen der International Law Commission, deren Vorarbeiten für die Kodifikation der WVRK maßgeblich waren, geht es dabei (nur) um Bestimmungen, „which might have been very material for a State´s decision to become a party because it considered them as essential to the effective execution of the treaty.”12 Abzugrenzen sind „erhebliche“ Vertragsverletzungen von „geringeren“, „trivialen“ bzw. „einfachen “ Verletzungen von Vertragspflichten, die den Vertrag als Ganzen nicht in gleicher Weise berühren. Im Ergebnis lässt sich die Frage, ob eine „erhebliche Vertragsverletzung“ (material breach) seitens einer Vertragspartei vorliegt, wohl nicht losgelöst davon beantworten, welche Bedeutung die Vertragsparteien einer Vertragsbestimmung (subjektiv) zumessen. Dafür können u.a. die politischen Umstände und Motive anlässlich des Vertragsschlusses sowie das Verhalten der Vertragsparteien als einer „späteren Übung bei der Anwendung des Vertrages“ (im Sinne von Art. 31 Abs. 3 lit b) WVRK) relevant sein. 3.2. Erhebliche Verletzungen des Assoziierungsabkommens Für die Annahme einer „erheblichen Vertragsverletzung“ (material breach) i.S.v. Art. 60 Abs. 1 WVRK erforderlich sind schwere Verstöße der Türkei gegen das Assoziierungsabkommen von 9 Ipsen (Hrsg.), Völkerecht, München: Beck, 6. Aufl. 2014, § 16, Rdnr. 79. 10 In Art. 60 Abs. 3 lit b) WVRK heißt es: „Eine erhebliche Verletzung im Sinne dieses Artikels liegt in der Verletzung einer für die Erreichung des Vertragsziels oder des Vertragszwecks wesentlichen Bestimmung.“ 11 Giegerich, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of Treaties, A Commentary, Vol. 2, Heidelberg: Springer 2012, Art. 60, Rdnr. 32. 12 Vgl. insoweit Giegerich, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of Treaties, A Commentary , Vol. 2, Heidelberg: Springer 2012, Art. 60, Rdnr. 20. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 099/17 Seite 8 1963.13 Das Assoziierungsabkommen (AssAbk) selbst enthält indes kaum konkrete Verpflichtungen , sondern erschöpft sich weitgehend in prozeduralen und institutionellen Vorschriften über die Fortentwicklung eines auf die Zollunion ausgerichteten vertraglichen Integrationsprogramms . Allein Art. 7 AssAbk verpflichtet die Vertragsparteien „alle Maßnahmen zu unterlassen, welche die Verwirklichung der Ziele des Abkommens gefährden könnten“. Zu diesen Zielen gehört gem. Art. 2 Abs. 1 AssAbk eine „beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien“. Zur Verwirklichung dieser Ziele ist die schrittweise Errichtung einer Zollunion (Art. 10 AssAbk) vorgesehen. Im Ergebnis sprechen indes gewichtige Überlegungen dagegen, die türkischen Verstöße gegen die Zollunion als eine schwere Verletzung des Assoziierungsabkommens von 1963 anzusehen. Die Überlegungen sollen im Folgenden kurz skizziert werden. Dabei bieten sich im Wesentlichen zwei Betrachtungsweisen an: Zum einen eine wirtschaftliche, rein auf die Verletzung der Warenverkehrsfreiheit gerichtete Betrachtungsweise (dazu 3.2.1) und zum anderen eine politische Betrachtungsweise , die dem Umstand Rechnung trägt, dass es bei dem Verhalten der Türkei gegenüber Zypern weniger um wirtschaftliche Aspekte als vielmehr um den türkisch-zypriotischen Konflikt geht (dazu 3.2.2). 3.2.1. Wirtschaftliche Betrachtung Bei einer wirtschaftlichen Betrachtung des türkischen Verhaltens gegenüber der Republik Zypern lässt sich argumentieren, dass „punktuelle“ Verstöße der Türkei gegen die Warenverkehrsfreiheit mit Blick auf ein einzelnes, wirtschaftlich eher unbedeutendes EU-Mitgliedsland das Ziel des Assoziierungsabkommen, nämlich die „verstärkten Handels- und Wirtschaftsbeziehungen “ zwischen der EU und der Türkei, nicht nachhaltig beeinträchtigen. Der Warenhandel zwischen der Türkei und Zypern beträgt nur einen Bruchteil des Gesamthandelsvolumens zwischen den Vertragspartnern des AssAbk – nämlich der EU als Ganzes und der Türkei. Im Übrigen werden türkische Häfen nur für Schiffe unter zypriotischer Flagge gesperrt. Waren aus Zypern könnten also theoretisch auch auf anderen Wegen, z.B. als Teil der Ladung eines italienischen Schiffes, in die Türkei gelangen. Eine vollständige Reduzierung des Warenaustauschs mit Zypern lässt sich seitens der Türkei daher kaum erreichen. Das Ziel des Assoziierungsabkommens, also die schrittweise Errichtung einer Zollunion, die mit Beschluss des Assoziationsrates Nr. 1/95 seit 1996 vollendet wurde, wird daher durch (punktuelle ) Verstöße der Türkei gegen die die Warenverkehrsfreiheit in Bezug auf Zypern weder nachhaltig behindert, noch revidiert oder grundsätzlich in Frage gestellt. 13 Verstöße gegen sekundäres Assoziierungsrecht – also etwa Beschlüsse des Assoziationsrates – schlagen regelmäßig nicht auf die Primärrechtsebene durch und reichen als Vertragsverletzung daher nicht aus. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 099/17 Seite 9 Vertragsverletzungen gehören zum „Alltag“ von multinationalen wirtschaftsvölkerrechtlichen Verträgen. Solche Verletzungen werden von den Vertragsstaaten vertragsintern sanktioniert und erschüttern regelmäßig auch nicht den Wunsch nach einer Fortsetzung des Vertragsverhältnisses , der eine „erhebliche Vertragsverletzung“ i.S.v. Art. 60 WVRK entgegenstünde. So kommt es selbst unter den Mitgliedstaaten der EU immer wieder zu Verletzungen der Regeln über die Zollunion bzw. der EU-Grundfreiheiten, was zahllose Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH belegen. Zur Sanktionierung von Vertragsverstößen sieht der EU-Vertrag obligatorische gerichtsförmige Streitschlichtungs-, Sanktionsmechanismen (z.B. Art. 7 EUV) und Klageverfahren vor, die auszuschöpfen sind, ehe über einen Rekurs auf die völkerrechtlichen Regeln der Vertragsbeendigung nachgedacht werden kann. Verstöße einzelner WTO-Mitgliedstaaten gegen das Meistbegünstigungsprinzip des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) werden – um nur ein anderes Beispiel zu nennen – über den dispute settlement-Mechanismus sanktioniert. Auch das Assoziierungsabkommen von 1963 sieht einen entsprechenden Streitschlichtungsmechanismus vor (Art. 25 Abs. 2 AssAbk). Lässt sich dieser im Einzelfall politisch nicht in Gang setzen, so bedeutet dies in der Folge nicht, dass „einfache“ Vertragsverletzungen stattdessen über den Weg einer Vertragsbeendigung nach Art. 60 WVRK sanktioniert werden könnten. 3.2.2. Politische Betrachtung Einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise des Verhaltens der Türkei gegenüber Zypern ließe sich entgegenhalten, dass es sich hierbei im Grunde nicht nur um eine Verletzung der Warenverkehrsfreiheit – also um „einfache“ Verstöße gegen die Zollunion – handelt, sondern um gezielte politische Diskriminierungen eines EU-Mitgliedstaates, die im türkisch-zypriotischen Konflikt, d.h. in der politischen Nicht-Anerkennung Zyperns durch die Türkei wurzeln. Damit gewinnt die handelsrechtliche Kontroverse eine politische Dimension. Zollunionsrechtliche Diskriminierungen der Republik Zypern durch die Türkei werden folglich durch den „Zypern-Konflikt“ politisch „aufgeladen“. Fraglich bleibt jedoch, ob dadurch auch ein (einfacher) Verstoß der Türkei gegen die wirtschaftsvertraglichen Regeln der Zollunion rechtlich zu einem „erheblichen Vertragsverstoß“ i.S.v. Art. 60 WVRK erstarkt, welcher Ziel und Zweck des Vertrages ernsthaft gefährdet und deshalb zu einer Beendigung des Vertragsverhältnisses seitens der EU berechtigen würde. Zu berücksichtigen sind in diesem Zusammenhang neben den politischen Umständen auch das Verhalten der Vertragsparteien als „spätere Übung bei der Anwendung des Vertrages“ (gem. Art. 31 Abs. 3 lit. a WVRK). Mit der Erweiterung der EU um die Republik Zypern im Jahre 2004 und dem eingangs erwähnten Zusatzprotokoll zum Assoziierungsabkommen („Ankara-Protokoll“) von 2005 wurde der „Zypern-Konflikt“ gewissermaßen sehenden Auges in das Abkommen zwischen der EU und der Türkei politisch „inkorporiert“. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 099/17 Seite 10 Durch die entsprechende Ratifikation des „Ankara-Protokolls“ im Jahre 2005 haben sowohl die EU als auch die Türkei – ungeachtet des Streits um die türkische Interpretationserklärung in Bezug auf Zypern – deutlich gemacht, dass sie trotz der ungelösten „Zypern-Frage“ am Fortbestand des Assoziierungsabkommens auch nach einer Erweiterung der EU (um Zypern) festhalten wollten, auch wenn politische Spannungen zwischen der Türkei und dem Neumitglied Zypern praktisch „vorprogrammiert“ waren. Verstöße der Türkei gegen die Regelungen der Zollunion wurden (und werden) von den politischen Instanzen der EU seit über 10 Jahren regelmäßig verbal „sanktioniert“, ohne dass damit ein Abbruch des Assoziierungsprozesses mit der Türkei impliziert wäre. Über den politischen Willen der EU-Mitgliedstaten zum Festhalten am Assoziierungsprojekt mit der Türkei lässt sich an dieser Stelle nur spekulieren. Fest steht, dass die wirtschaftlichen (und politischen) Interessen an einer Fortsetzung der Wirtschaftsbeziehungen mit der Türkei zwischen den EU-Mitgliedstaaten stark variieren. Gleiches gilt für den Beitrittsprozess mit der Türkei , der über Art. 28 des Assoziierungsabkommens mit der wirtschaftlichen Assoziierung verbunden ist und bislang noch nicht formell aufgegeben wurde. Um diesen Prozess zu beenden, bedarf es einer politischen Verständigung unter den EU-Mitgliedsstaaten; der rechtliche Weg über die Ausnahmeklausel der Vertragsbeendigung (Art. 60 WVRK) erscheint dafür ungeeignet. ***