© 2020 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 098/20 Mögliche Folgen für Deutschland bei einer Ratifikation der ILO-Konvention 169 zum Schutz der indigenen Völker Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 098/20 Seite 2 Mögliche Folgen für Deutschland bei einer Ratifikation der ILO-Konvention 169 zum Schutz der indigenen Völker Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 098/20 Abschluss der Arbeit: 3. Dezember 2020 (zugleich letzter Zugriff auf Internetquellen) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 098/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung und Fragestellung 4 2. Rechtsfolgen der Ratifikation in Deutschland 5 2.1. ILO-Konvention 169 und verschiedene Definitionen der indigenen Völker 6 2.2. Sorben und Wenden als indigenes Volk in Deutschland 9 2.3. Reichweite der Bestimmungen der ILO-Konvention 169 außerhalb eines indigenen Volkes in Deutschland 11 3. Auswirkungen für deutsche Unternehmen im Ausland nach der Ratifikation in Deutschland 12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 098/20 Seite 4 1. Einleitung und Fragestellung Das Übereinkommen Nr. 169 über eingeborene und in Stämmen lebende Völker (weiter: ILO- Konvention 169) wurde auf der Allgemeinen Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organization - ILO) im Juni 1989 in Genf verabschiedet.1 Von den 187 Ländern , die der ILO als einer Sonderorganisation der Vereinten Nationen angehören,2 haben bis November 2020 lediglich 23 Länder diese Konvention ratifiziert.3 Da gem. Art. 38 Abs. 2 ILO-Konvention 169 eine Ratifikation durch zwei Mitgliedsstaaten für das Inkrafttreten erforderlich und ausreichend ist, trat sie im September 1991 in Kraft. Gem. Art. 38 Abs. 1 ILO-Konvention 169 bindet sie nur diejenigen Mitgliedsstaaten, deren Ratifikation durch den Generaldirektor der ILO eingetragen wurde. Ratifiziert haben bisher vor allem lateinamerikanische Länder: Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, Dominica, Ecuador, Guatemala, Honduras, Kolumbien, Mexiko, Nicaragua, Paraguay , Peru und Venezuela; ferner fünf europäische Länder: Dänemark, Luxembourg, die Niederlande , Norwegen und Spanien. Weltweit haben ansonsten nur Fidschi, Nepal und Zentralafrikanische Republik die ILO-Konvention 169 ratifiziert.4 Deutschland hat die ILO-Konvention 169 bisher nicht ratifiziert. Mit dem Antrag vom 22. April 2015 (18. Legislaturperiode) hat die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von der Bundesregierung gefordert, die ILO-Konvention 169 dem Bundestag zur Ratifikation vorzulegen.5 Dieser Antrag wurde jedoch in der Plenarsitzung des Bundestages am 23. März 2017 mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen mehrheitlich abgelehnt.6 Die Ratifikation der ILO-Konvention 169 ist jedoch durch die Bundesregierung laut Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD für die 19. Legislaturperiode (S. 155), beabsichtigt: 1 Internationale Arbeitsorganisation, Übereinkommen 169, Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern, 1989, deutsche Übersetzung verfügbar unter: https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---ed_norm/---normes/documents/normativeinstrument /wcms_c169_de.htm. 2 Siehe Übersicht der Internationalen Arbeitsorganisation, https://www.ilo.org/public/english/download /pp/191004_member%20state%20list_MASTER-EN-FR-SP.pdf. 3 ILO, Ratifications of C169 - Indigenous and Tribal Peoples Convention, 1989 (No. 169), https://www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=NORMLEXPUB:11300:0::NO::P11300_INSTRUMENT_ID:312314. 4 Siehe ILO, Ratifications of C169 (Fn. 3). 5 Deutscher Bundestag Drucksache 18/4688, 22. April 2015, Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Rechte indigener Völker stärken durch Ratifikation der ILO-Konvention 169, https://dip21.bundestag .de/dip21/btd/18/046/1804688.pdf. 6 Deutscher Bundestag Plenarprotokoll 18/225, Stenografischer Bericht, 225. Sitzung, 23. März 2017, S. 22606 ff., https://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/18/18225.pdf#P.22606. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 098/20 Seite 5 „Wir streben die Ratifikation […] der ILO-Konvention 169 zum Schutz der indigenen Völker an.“ Konkrete Schritte zur Ratifikation der ILO-Konvention 169 wurden durch die Bundesregierung in der 19. Legislaturperiode, soweit ersichtlich, bisher nicht unternommen. Zuletzt hat die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit ihrem Antrag vom 16. Oktober 2019 wieder gefordert, die ILO- Konvention 169 zu ratifizieren.7 Nicht zu verwechseln ist die ILO-Konvention 169 mit der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker in der Resolution 61/295 der VN-Generalversammlung.8 Für diese Resolution stimmte die überwiegende Mehrheit der VN-Staaten, insbesondere auch Deutschland und alle EU-Staaten .9 Diese Resolution der VN-Generalversammlung stellt jedoch eine rein politische Absichtserklärung dar und ist – im Gegenzug zu der ILO-Konvention, hierzu siehe unten – nicht rechtsverbindlich.10 Vor diesem Hintergrund behandelt diese Ausarbeitung die Fragen, welche Rechtsfolgen sich aus der Ratifikation der ILO-Konvention 169 für Deutschland und seine Staatsorgane ergeben würden (hierzu unter 2.) und welche Auswirkungen eine solche Ratifikation auf deutsche Unternehmen im Ausland hätte (unter 3.) 2. Rechtsfolgen der Ratifikation in Deutschland Gem. Art. 59 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz (GG) bedürfen völkerrechtliche Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen , der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes. Anders als die allgemeinen Regeln des Völkerrechts , die gem. Art. 25 GG keines deutschen Umsetzungsaktes bedürfen und den Gesetzen vorgehen , stehen die völkerrechtlichen Verträge nach der Ratifizierung grundsätzlich anderen Gesetzen gleich.11 Ein – in der Regel durch ein Bundesgesetz – ratifizierter völkerrechtlicher Vertrag 7 Deutscher Bundestag Drucksache 19/14107, 16. Oktober 2019, Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Rechte indigener Völker stärken durch Ratifikation der ILO-Konvention 169-Koalitionsvertrag umsetzen, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/141/1914107.pdf. 8 Vereinte Nationen, Resolution 61/295 der Generalversammlung, verabschiedet auf der 107. Plenarsitzung am 13. September 2007, https://www.un.org/esa/socdev/unpfii/documents/Declaration%28German%29.pdf. 9 Siehe Aufzählung in der Resolution 61/295 (Fn. 9), S. 16. 10 Rathgeber, Theodor, Einführung in die ILO 169 und internationaler Überblick, in: Häfner, Daniel/Laschewski, Lutz (Hrsg.), Die Rechte indigener Völker an natürlichen Ressourcen und die Sorben/Wenden, 2013, S. 8, https://www.researchgate.net/publication/299142756_Die_Rechte_indigener_Volker_an_naturlichen_Ressourcen _und_die_SorbenWenden. 11 Siehe Graf von Kielmansegg, Sebastian, Eurpäisches Parlament, Ratifikation völkerrechtlicher Verträge: eine rechtsvergleichende Perspektive Deutschland, Studie, April 2018, S. 8 f., https://www.europarl.europa.eu/Reg- Data/etudes/STUD/2018/620232/EPRS_STU(2018)620232_DE.pdf#page=13&zoom=100,133,164. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 098/20 Seite 6 gilt damit zum einen verbindlich für die deutschen Staatsorgane, die daran aufgrund des Rechtsstaatsprinzips nach Art. 20 Abs. 3 GG gebunden sind.12 Zum anderen entfaltet der völkerrechtliche Vertrag nach seiner Ratifizierung auch direkte Bindungswirkung gegenüber dem innerstaatlichen Rechtsanwender, aber nur und soweit die darin enthaltenen Normen aus sich heraus vollzugsfähig , also nach ihrem Inhalt, Struktur und Zweck ohne weitere gesetzliche Konkretisierung Verwaltungsbehörden und Gerichten als Entscheidungsgrundlage dienen bzw. den Einzelnen berechtigen oder verpflichten können (sog. Selbstvollzug oder self-executing norm).13 Enthält ein völkerrechtlicher Vertrag dagegen Normen, die aus sich heraus nicht vollzugsfähig sind, so müssen diese durch den Gesetzgeber umgesetzt werden, also im Rahmen der Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten nach Art. 70 GG entweder durch den Bund oder durch die Bundesländer.14 Insofern ist zunächst zu prüfen, inwieweit und unter welchen Voraussetzungen die ILO-Konvention 169 in Deutschland nach ihrer Ratifikation direkt anwendbar wäre. Grundlegende Frage ist dabei, ob in Deutschland eine Menschengruppe existiert, die als indigenes Volk anzusehen ist. 2.1. ILO-Konvention 169 und verschiedene Definitionen der indigenen Völker Es gibt keine allgemeingültige Definition eines indigenen Volkes im Völkerrecht. Eine solche wird in der überwiegenden Kommentarliteratur auch nicht für notwendig gehalten, da es nicht Aufgabe des Völkerrechts sei, Definitionen der Ureinwohner-Völker oder der in Stämmen lebenden Völker vorzunehmen, sondern Instrumente zu schaffen, um der Diskriminierung dieser Völkergruppen effektiv entgegenzuwirken.15 Vielmehr bedient sich die internationale Rechtswissenschaft bis heute aus praktischen Gründen unterschiedlicher Beschreibungen der indigenen bzw. in Stämmen lebenden Völkern.16 So verzichtet auch die oben erwähnte Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker17 gänzlich auf eine Definition von indigenen Völkern . Die Definition des Begriffs indigenes Volk spielte bei der Diskussion des Entwurfs der ILO-Konvention 169 auf der ILO-Konferenz im Jahr 1989 eine geringere Rolle; eine Einigung der Länder- 12 Graf von Kielmansegg (Fn. 11), S. 9 f. mit weiteren Nachweisen. 13 Graf von Kielmansegg (Fn. 11), S. 10 mit weiteren Nachweisen. 14 Siehe hierzu Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Umsetzung völkerrechtlicher Verträge, Ausarbeitung vom 12. März 2009, WD 3 - 3000 - 069/09, https://www.bundestag.de/resource /blob/422892/f7cbf0463a8d7bf1e386350e26b4b09a/wd-3-069-09-pdf-data.pdf. 15 Heintze, Hans-Joachim, Völkerrecht und Indigenous Peoples, ZaöRV 1990, 40, 44. 16 United Nations Permanent Forum on Indigenous Issues (UNPFII), The Concept Of Indigenous Peoples, Background paper, 19.-21. Januar 2004, S. 4, https://www.un.org/esa/socdev/unpfii/documents/workshop _data_background.doc; Gesellschaft für Bedrohte Völker, ILO-169, Indigene Völker und ihr Menschenrechtsschutz auf die Ilo-Konvention Nr. 169, Dossier, letzte Aktualisierung: 11. März 2004, Ziffer 1.2.1, http://www.gfbv.it/3dossier/diritto/ilo169-pd.html. 17 Siehe Fn. 8. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 098/20 Seite 7 vertreter erfolgte schnell, ohne einen Anspruch auf die abschließende Definition des Begriffes indigenes Volk zu erheben.18 Folgender Anwendungsbereich wurde im Artikel 1 ILO-Konvention 169 festgelegt: „1. Dieses Übereinkommen gilt für a) in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern, die sich infolge ihrer sozialen , kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnisse von anderen Teilen der nationalen Gemeinschaft unterscheiden und deren Stellung ganz oder teilweise durch die ihnen eigenen Bräuche oder Überlieferungen oder durch Sonderrecht geregelt ist; b) Völker in unabhängigen Ländern, die als Eingeborene gelten, weil sie von Bevölkerungsgruppen abstammen, die in dem Land oder in einem geographischen Gebiet, zu dem das Land gehört, zur Zeit der Eroberung oder Kolonisierung oder der Festlegung der gegenwärtigen Staatsgrenzen ansässig waren und die, unbeschadet ihrer Rechtsstellung , einige oder alle ihrer traditionellen sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Einrichtungen beibehalten. 2. Das Gefühl der Eingeborenen- oder Stammeszugehörigkeit ist als ein grundlegendes Kriterium für die Bestimmung der Gruppen anzusehen, auf die die Bestimmungen dieses Übereinkommens Anwendung finden. […]“ Auffällig dabei ist einerseits, dass im Absatz 1 zwischen den in Stämmen lebenden Völkern (unter a)) und den als eingeboren bzw. indigen geltenden Völkern (im der englischen Originalfassung : „peoples […] who are regarded as indigenous“) (unter b)) unterschieden wird. Während bei den als „eingeboren“ bezeichneten Völkern ihr Unterschied zu den anderen Teilen der nationalen (Mehrheits-)Gemeinschaft hervorgehoben wird, ist bei den als „indigen bezeichneten Völkern deren Abstammung und teilweise Beibehaltung von traditionellen Einrichtungen entscheidend. Die gesonderte Erwähnung von „in Stämmen lebenden Völkern“ hat den Grund, dass diese nicht im buchstäblichen Sinne indigen sind, weil sie nicht seit längerer Zeit auf einem bestimmten Territorium leben. Jedoch leben sie unter ähnlichen Bedingungen wie indigene Völker und sollten daher im gleichen Maße geschützt werden.19 Diese Unterscheidung wird jedoch durch den Art. 1 Abs. 2 ILO-Konvention 169 relativiert, der aus subjektiver Sicht auf eine Selbstdefinition des Volkes als in Stämmen lebend oder als indigen als zentrales Definitionskriterium abstellt. Hintergrund dieser zweistufigen objektiv-subjektiven Beschreibung ist die Tatsache, dass weltweit viele indigene Völker leben, die sich nicht nur voneinander teils sehr stark in ihrer Kultur und Lebensweise unterscheiden, sondern auch von den Rechtsordnungen der Staaten, in denen sie leben, sehr unterschiedlich eingeordnet und behandelt werden. Der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen Martinez Cobo hat in den 1970er und 1980er Jahren versucht, die Rechtsordnungen von 37 Staaten zu analysieren, um zu einer verallgemeinerungsfähigen Definition zu 18 Heintze, Hans-Joachim, Völkerrecht und Indigenous Peoples, ZaöRV 1990, S. 40, 42. m.w.N. 19 United Nations Permanent Forum on Indigenous Issues (UNPFII), The Concept Of Indigenous Peoples, Background paper, 19.-21. Januar 2004, S. 4, https://www.un.org/esa/socdev/unpfii/documents/workshop _data_background.doc. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 098/20 Seite 8 kommen, womit er jedoch auf einen grundlegenden Einspruch des World Council of Indigenious People stieß.20 Aus dieser Erfahrung heraus stellte Martinez Cobo in seinem Abschlussbericht vor allem auch auf die Selbstdefinition eines Volkes und seiner Mitglieder als indigen ab: „Indigenous communities, peoples and nations are those which, having a historical continuity with preinvasion and pre-colonial societies that developed on their territories , consider themselves distinct from other sectors of the societies now prevailing in those territories, or parts of them. They form at present nondominant sectors of society and are determined to preserve, develop and transmit to future generations their ancestral territories, and their ethnic identity, as the basis of their continued existence as peoples, in accordance with their own cultural patterns, social institutions and legal systems.“21 Auf der Grundlage der Definion von Martinez Cobo werden durch das United Nations Human Rights Office of High Commissioner (OHCHR) die vier folgenden Kriterien eines indigenen Volkes beschrieben:22 1) historische Kontinuität mit den Ureinwohnern eines bestimmten Gebietes vor dessen Eroberung oder Besiedlung von außen; 2) Nicht-Dominanz, also eine marginale Stellung am Rande der (Mehrheits-)Gesellschaft; 3) kulturelle Distanzierung von der Mehrheitsgesellschaft; 4) Selbstidentifikation als Volk mit dem Ziel, eigene Kultur zu erhalten, zu entwickeln und den Nachfahren zu überliefern. Das United Nations Permanent Forum on Indigenous Issues (UNPFII) hebt zusätzlich folgende Merkmale eines indigenen Volkes hervor: 23 - starke Verbindung zu dem Territorium, auf dem es lebt und den darauf befindlichen natürlichen Ressourcen;24 - von der Mehrheitsgesellschaft abweichende soziale, ökonomische und politische Systeme; 20 Siehe dazu Heintze (Fn. 18), S. 44 f. m.w.N. 21 J.R. Martinez Cobo, Study of the Problem of Discrimination Against Indigenous Populations, Volume 5, Conclusions , Proposals and Recommendations, Rn. 379, https://undocs.org/en/E/CN.4/Sub.2/1986/7/Add.4. 22 Siehe United Nations Human Rights Office of High Commissioner (OHCHR), Indigenous Peoples and the United Nations Human Rights System, Fact Sheet No. 9/Rev.2,2013, S. 2 f., https://www.ohchr.org/Documents/Publications /fs9Rev.2.pdf; Humanrights.ch, Was sind «Indigene Völker»?, Minderheitenrechte – Dossier vom 26. Juli 2016, https://www.humanrights.ch/de/ipf/menschenrechte/diskriminierung/minderheitenrechte-dossier/begriffe /definition-indigene-gruppen. 23 OHCHR (Fn. 22), S. 3; Gesellschaft für Bedrohte Völker, ILO-169, Indigene Völker und ihr Menschenrechtsschutz auf die Ilo-Konvention Nr. 169, Dossier, letzte Aktualisierung: 11. März 2004, Ziffer 1.2.1, http://www.gfbv.it/3dossier/diritto/ilo169-pd.html. 24 Dieses Merkmal wird auch hervorgehoben von Amnesty International, Menschenrechte und indigene Völker, Was sind indigene Völker?, Stand: 15. Oktober 2019, https://amnesty-indigene.de/begriff/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 098/20 Seite 9 - von der Mehrheitsgesellschaft abweichende Sprache, Kultur und Glaube. Alle diese Definitionen können bei der Frage, inwieweit ein Volk als schutzwürdiges indigenes Volk zu betrachten ist, damit der Anwendungsbereich der ILO-Konvention 169 in Deutschland eröffnet ist, herangezogen werden. 2.2. Sorben und Wenden als indigenes Volk in Deutschland Bereits bei den ILO-Verhandlungen im Jahr 1989 haben sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch die Deutsche Demokratische Republik erklärt, auf ihrem Territorium existiere kein indigenes Volk, auf das die Bestimmungen der ILO-Konvention 169 anwendbar sein könnten.25 Die gleiche Auffassung vertreten die Bundesregierung bzw. die einzelnen Bundesländer bis heute.26 Nichtsdestotrotz könnte insbesondere das Volk der Sorben und Wenden, welches in bestimmten Gebieten in Brandenburg und Sachsen ansässig und als nationale Minderheit anerkannt ist,27 auch die oben erläuterten Merkmale eines indigenen Volkes erfüllen. Diese Frage gewinnt zunehmend an Bedeutung in der rechtswissenschaftlichen und politischen Diskussion.28 Es ist unbestritten, dass die Vorfahren der Sorben und Wenden bereits vor ca. 1.500 Jahren in das Gebiet zwischen der Ostsee und Erzgebirge kamen und – obwohl die Mehrzahl seit dem 11. Jahrhundert auf dem Großteil dieses Gebietes assimiliert wurde – seitdem insbesondere in der Oberund Niederlausitz beheimatet sind.29 Die Sorben und Wenden konnten in diesem Gebiet über Jahrhunderte auch ihre Sprache und kulturelle Eigenarten beibehalten, die auch die Politik der Nationalsozialisten im Dritten Reich überdauert haben.30 Insofern passen die oben angeführten objektiven Kriterien des Art. 1 b) der ILO-Konvention 169 auch auf die Sorben und Wenden.31 25 Siehe hierzu Heintze (Fn. 18), S. 40. 26 Plenarprotokoll 18/225, Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 225. Sitzung vom 23. März 2017, Rede des Abgeordneten Frank Schwabe (SPD), S. 22606 https://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/18/18225.pdf#P.22606. 27 Hierzu siehe Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages vom 26. April 2012, Voraussetzungen für die Anerkennung als nationale Minderheit, WD 3 – 3000 – 101/12, https://www.bundestag.de/resource /blob/421012/b1be669ea55e1ded9670fbefca951248/wd-3-101-12-pdf-data.pdf. 28 Siehe Kosel, Heiko, Sind die Sorben ein indigenes Volk?, in: Häfner/Laschewski (Fn. 10), S. 37 ff.; Welt online vom 8. August 2019, Sachsen: Linke-Politiker: Sorben als indigenes Volk anerkennen, https://www.welt.de/regionales /sachsen/article198187597/Linke-Politiker-Sorben-als-indigenes-Volk-anerkennen.html; Lausitzer Allgemeine Zeitung, Sorben als indigenes Volk: Die Fehlende offizielle Anerkennung, https://www.lausitzer-allgemeine -zeitung.org/sorben-als-indigenes-volk-die-fehlende-offizielle-anerkennung/. 29 Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, Landeskunde Brandenburg, Das sorbische Volk, https://www.politische-bildung-brandenburg.de/themen/das-sorbische-volk. 30 Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung (Fn. 28). 31 So auch Kosel (Fn. 28), S. 39 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 098/20 Seite 10 Die Sorben und Wenden waren jedoch genauso wie die restliche mehrheitlich deutschsprachige Bevölkerung von der Industrialisierung im 19. Jahrhundert betroffen, sodass ein bedeutender Teil der Landbevölkerung in die Industrieregionen und Städte auswanderte und dort blieb.32 Insofern dürften die Sorben und Wenden die objektiven Kriterien der Definition eines indigenen Volkes nach Martinez Cobo bzw. des OHCHR und des UNPFII33 nicht erfüllen. Denn sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Lebens- und Arbeitsweise, ihrer sozialer und ökonomischer Systeme nicht hinreichend von der deutschen Mehrheitsbevölkerung. Insbesondere fehlt den Sorben und Wenden auch eine besondere Verbindung zu den natürlichen Ressourcen in der Ober- und Niederlausitz .34 Die große Mehrheit der Sorben und Wenden, die in dem Braunkohletagebau tätig war, arbeitete dort – ebenso wie die deutschstämmige Mehrheitsbevölkerung –freiwillig und bewusst, weil dort ein besseres Einkommen zu erzielen war.35 Sehr schwierig zu beurteilen ist die Frage, ob sich die Sorben und Wenden selbst als ein indigenes Volk wahrnehmen. Ohne Frage sehen sich diese als eine nationale Minderheit, die ihre Sprache und Kultur bewahren will sowie ihr Recht, in den angestammten Siedlungsgebieten wohnen zu dürfen und über die Zukunft der Region mitzugestalten. Ob dies als Selbstidentifikation als indigenes Volk im Sinne des Art. 1 Abs. 2 ILO-Konvention ausreichend ist, erscheint unklar. Zwar sprechen sich dafür einige politische Vertreter des sorbischen und wendischen Volkes aus, insbesondere Heiko Kosel, ein Abgeordneter der im November 2018 gewählten Sorbischen Volksvertretung .36 Andere Vertreter der Sorben und Wenden, wie etwa der Vorsitzende des Regionalverbandes Hoyerswerda des sorbischen Dachverbandes Domowina Marcel David Baumann spricht sich jedoch dagegen aus.37 Aussagekräftige Befragungen unter Sorben und Wenden bzw. repräsentative Studien zu dieser Frage existieren – soweit ersichtlich – nicht. Inwieweit einer (Neu-)Herausbildung einer solchen Selbstwahrnehmung in der Zukunft noch möglich ist, kann von hier aus nicht beurteilt werden. Insofern kann festgehalten werden, dass die Sorben und Wenden, jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt , nicht die Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 2 der ILO-Konvention 169 und auch nicht der 32 Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung (Fn. 28). 33 Siehe oben, Fn. 20-22. 34 So Marcel David Braumann, „Indigen“ sind wir Sorben – bitte! – nicht, Artikel vom 29. September 2019, https://marceldavidbraumann.com/2019/09/27/indigen-sind-wir-sorben-bitte-nicht/. 35 Marcel David Braun (Fn. 34). 36 Heiko Kosel (Fn. 28), S. 37 ff. 37 Marcel David Braumann (Fn. 34). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 098/20 Seite 11 anderen Definitionen eines indigenen Volkes erfüllen dürften.38 Gleiches dürfte auch für die anderen anerkannten nationalen Minderheiten der Friesen, Dänen und Sinti und Roma gelten.39 2.3. Reichweite der Bestimmungen der ILO-Konvention 169 außerhalb eines indigenen Volkes in Deutschland Die ILO-Konvention 169 enthält zahlreiche Rechte von indigenen und in Stämmen lebenden Völkern sowie Schutz- und Rücksichtnahmepflichten eines Staates gegenüber solchen Völkern. Hierzu gehören insbesondere das Recht auf Inanspruchnahme und volle Gewährleistung der Menschenrechte und Grundfreiheiten ohne Unterschiede (Art. 2, 3)40; das Recht auf Gleichberechtigung vor Verwaltung und Justiz (Art. 2, 8, 9, 12); das Recht auf einen umfassenden Schutz der Individualrechte (Art. 4); das Recht auf kulturelle Identität (Art. 4, 5); das Recht auf gemeinschaftliche Strukturen und Traditionen (Art. 4, 5); das Recht auf Beteiligung bei der Findung von Entscheidungen, die diese Völker betreffen (Art. 6); das Recht die eigene wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung selbst in die Hand zu nehmen (Art. 7) sowie das Recht sich frei für persönliche Dienstleistungen zu entscheiden (Art. 11).41 In Teil II. (Art. 13-19) finden sich Rechte der indigenen Völker, die mit Grund und Boden verbunden sind, in den Teilen III. und IV (Art. 20-24) Arbeits- und Berufswahlrechte, in Teil V. (Art. 24, 25) Gesundheits- und Sozialrechte und im Teil VI. (Art. 26-31) schließlich Bildungsrechte. Diese genannten Rechte dürften so hinreichend bestimmt sein, dass sie im Sinne eines Selbstvollzuges (siehe oben) unmittelbare Pflichten der Exekutive und der Judikative bzw. jedenfalls einen Anspruch auf Tätigwerden des Gesetzgebers begründen würden. Die meisten Rechte, insbesondere solche, die das Ergreifen „besonderer Maßnahmen“ (etwa Art. 4 Abs. 1) bzw. die Einleitung „geeigneter Verfahren“ (Art. 6 Abs. 1) vorsehen, setzen jedoch nach ihrem Wortlaut bzw. dem Sinn und Zweck voraus, dass es sich um ein indigenes Volk auf dem deutschen Staatsgebiet handelt. Mangels eines solchen Volkes (siehe oben), würden diese Pflichten also weitgehend leer laufen. Für den Schutz der im Ausland lebenden indigenen und Stammes-Völker bleibt nach der ILO- Konvention 169 der jeweilige Staat zuständig, in dem das betroffene Volk lebt. Dies gilt insbesondere auch für die Rechte der indigenen Völker auf den Grund und Boden in ihren angestammten 38 Davon geht auch der Koordinationskreis ILO 169, jedoch ohne dieses Ergebnis zu begründen, siehe: Rechte Indigener Völker Stärken, Ratifzierung – warum?, https://www.ilo169.de/die-ueblichen-verdaechtigen-argumentedie -angeblich-gegen-die-ratifizierung-der-ilo-169-sprechen-und-wie-sie-widerlegt-werden-koennen/. 39 Zu der Anerkennung der genannten Völker als nationale Minderheiten siehe Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages vom 26. April 2012 (Fn. 27). 40 Weiter alle Artikel ohne gesonderte Angabe solche der ILO-Konvention 169. 41 Siehe Zusammenfassung bei der Gesellschaft für Bedrohte Völker, ILO-169, Indigene Völker und ihr Menschenrechtsschutz auf die Ilo-Konvention Nr. 169, Dossier, letzte Aktualisierung: 11. März 2004, Ziffer 3.4.2. http://www.gfbv.it/3dossier/diritto/ilo169-pd.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 098/20 Seite 12 Gebieten gem. Teil II der ILO-Konvention 169. Deutschland hat wegen des Grundsatzes der Staatensouveränität bzw. Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten42 nämlich keine Möglichkeit , in die Gestaltung der entsprechenden Konsultationsverfahren mit indigenen Völkern direkt einzugreifen und die Einhaltung ihrer Rechte durch eine Regelung von in dem jeweiligen Staat geltenden Rechtsnormen sicherzustellen. Deutschland kann daher nach dem Sinn und Zweck der ILO-Konvention dazu nicht verpflichtet werden. Art. 32 enthält Vorgaben für die internationale Zusammenarbeit der Staaten, aber nur für den Fall, dass grenzüberschreitende Kontakte der indigenen bzw. in Stämmen lebenden Völkern ermöglicht werden sollen. Mangels indigener Völker in Deutschland (siehe oben) bzw. in der unmittelbaren Nachbarschaft, ergeben sich dadurch für Deutschland keine wirksamen Verpflichtungen . In formeller Hinsicht müsste Deutschland nach der Ratifikation der ILO-Konvention 169 grundsätzlich alle fünf Jahre bei der ILO einen Bericht über die Umsetzung der Konvention einreichen und darin über die legislative und praktische Umsetzung der Konventionsbestimmungen Rechenschaft ablegen.43 Ferner wäre Deutschland verpflichtet, auf das Verlangen der ILO darüber eine weitergehende Auskunft zu erteilen.44 Darüber hinaus könnten die indigenen Völker ihre eigenen Berichte zu der Situation in Deutschland an die ILO direkt oder über Gewerkschaftsverbände senden. Bei besonders schwerwiegenden Verstößen kann die ILO von der sogenannten direct contacts-procedure Gebrauch machen, wobei die ILO in direkter Absprache mit der jeweiligen Regierung eine Untersuchungskommission in das betreffenden Land sendet, um eine Lösung herbeizuführen .45 Da die Umsetzungspflichten für Deutschland mangels eines eigenen indigenen Volkes weitgehend leer laufen (siehe oben), würde diese Berichtspflicht in der Praxis wohl wenig Bedeutung haben. 3. Auswirkungen für deutsche Unternehmen im Ausland nach der Ratifikation in Deutschland Wie oben bereits dargelegt, enthält die ILO-Konvention 169 zwar vollzugsfähige Rechte und Verpflichtungen zum Schutz der indigenen bzw. in Stämmen lebenden Völker. Diese richten sich jedoch an die Organe des Staates, in dem das betroffene Volk lebt. Dieser Staat ist nach der ILO- Konvention 169 grundsätzlich dafür zuständig, für die Einhaltung aller Rechte des indigenen Volkes durch Ergreifen von besonderen Maßnahmen, etwa Durchführung eines geeigneten Konsultationsverfahrens nach Art. 6 der ILO-Konvention, zu sorgen. 42 Vgl. Heinze, Hans-Joachim, in: Ipsen, Knut (Hrsg.), Völkerrecht, 6. Aufl. 2014, § 5 Rn. 138 ff. 43 Gesellschaft für Bedrohte Völker, ILO-169, Dossier (Fn. 41), Ziffer 3.6.2.. 44 Gesellschaft für Bedrohte Völker, ILO-169, Dossier (Fn. 41), Ziffer 3.6.2. 45 Gesellschaft für Bedrohte Völker, ILO-169, Dossier (Fn. 41), Ziffer 3.6.2.; siehe auch Koordinationskreis ILO 169 (Fn. 39), der insoweit von einem internationalen Streitschlichtungsmechanismus spricht. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 098/20 Seite 13 Die ILO-Konvention 169 enthält dagegen keine vollzugsfähigen Verpflichtungen für private Unternehmen und auch keine Verpflichtung für ein Mitgliedstaat der Konvention, für Schaffung solcher Verpflichtungen für private Unternehmen außerhalb des eigenen Territoriums zu sorgen. Deutschland wäre damit auch nicht etwa verpflichtet, einen Bericht über die Einhaltung des Schutzes der indigenen Bevölkerung im Rahmen der Außenwirtschaftsförderung gegenüber der ILO vorzulegen.46 Allerdings ist auch anzumerken, dass die ILO-Konvention 169 einem Mitgliedstaat genauso wenig verbietet, Rechte indigener Völker dadurch zu schützen, dass privaten Unternehmen etwa im Rahmen einer Außenwirtschaftsförderung bestimmte Pflichten bei der Tätigkeit im Ausland in angestammten Gebieten der indigenen Völker auferlegt werden. Solche Pflichten können jedoch auch unabhängig von der Ratifikation der ILO-Konvention 169 durch den deutschen Gesetzgeber begründet werden. *** 46 So aber der Koordinationskreis ILO 169 (Fn. 38).